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Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764.

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I Theil. Erstes Capitel.

Unter den Griechen in Klein-Asien, deren Sprache, nach ihrer Wan-
derung aus Griechenland hierher, reicher an Selbstlauten, (Vocalen,) sanf-
ter und mehr Musicalisch wurde, weil sie daselbst einen glücklichern Him-
mel noch, als die übrigen Griechen, genossen, erweckete und begeisterte eben
dieser Himmel die ersten Dichter; die Griechische Weltweisheit bildete sich
auf diesem Boden; ihre ersten Geschichtschreiber waren aus diesem Lande;
ja Apelles, der Maler der Gratie, war unter diesem wollüstigen Himmel er-
zeuget. Diese Griechen aber, welche ihre Freyheit vor der angränzenden
Macht der Perser nicht vertheidigen konnten, waren nicht im Stande, sich
in mächtige freye Staaten, wie die Athenienser, zu erheben, und die
Künste und Wissenschaften konnten daher in dem Jonischen Asien ihren
vornehmsten Sitz nicht nehmen. In Athen aber, wo nach Verjagung der
Tyrannen ein Democratisches Regiment eingeführet wurde, an welchem
das ganze Volk Antheil hatte, erhob sich der Geist eines jeden Bürgers,
und die Stadt selbst über alle Griechen. Da nun der gute Geschmack
allgemein wurde, und bemittelte Bürger durch prächtige öffentliche Gebäu-
de und Werke der Kunst sich Ansehen und Liebe unter ihren Bürgern er-
wecketen, und den Weg zur Ehre bahneten, floß in dieser Stadt, bey
ihrer Macht und Größe, wie ins Meer die Flüsse, alles zusammen.
Mit den Wissenschaften ließen sich hier die Künste nieder; hier nahmen sie
ihren vornehmsten Sitz, und von hier giengen sie in andere Länder aus.
Daß in angeführten Ursachen der Grund von dem Wachsthume der Kün-
ste in Athen liege, bezeugen ähnliche Umstände in Florenz, da die Wis-
senschaften und Künste daselbst in neueren Zeiten nach einer langen Finster-
sterniß anfiengen beleuchtet zu werden.

Man
I Theil. Erſtes Capitel.

Unter den Griechen in Klein-Aſien, deren Sprache, nach ihrer Wan-
derung aus Griechenland hierher, reicher an Selbſtlauten, (Vocalen,) ſanf-
ter und mehr Muſicaliſch wurde, weil ſie daſelbſt einen gluͤcklichern Him-
mel noch, als die uͤbrigen Griechen, genoſſen, erweckete und begeiſterte eben
dieſer Himmel die erſten Dichter; die Griechiſche Weltweisheit bildete ſich
auf dieſem Boden; ihre erſten Geſchichtſchreiber waren aus dieſem Lande;
ja Apelles, der Maler der Gratie, war unter dieſem wolluͤſtigen Himmel er-
zeuget. Dieſe Griechen aber, welche ihre Freyheit vor der angraͤnzenden
Macht der Perſer nicht vertheidigen konnten, waren nicht im Stande, ſich
in maͤchtige freye Staaten, wie die Athenienſer, zu erheben, und die
Kuͤnſte und Wiſſenſchaften konnten daher in dem Joniſchen Aſien ihren
vornehmſten Sitz nicht nehmen. In Athen aber, wo nach Verjagung der
Tyrannen ein Democratiſches Regiment eingefuͤhret wurde, an welchem
das ganze Volk Antheil hatte, erhob ſich der Geiſt eines jeden Buͤrgers,
und die Stadt ſelbſt uͤber alle Griechen. Da nun der gute Geſchmack
allgemein wurde, und bemittelte Buͤrger durch praͤchtige oͤffentliche Gebaͤu-
de und Werke der Kunſt ſich Anſehen und Liebe unter ihren Buͤrgern er-
wecketen, und den Weg zur Ehre bahneten, floß in dieſer Stadt, bey
ihrer Macht und Groͤße, wie ins Meer die Fluͤſſe, alles zuſammen.
Mit den Wiſſenſchaften ließen ſich hier die Kuͤnſte nieder; hier nahmen ſie
ihren vornehmſten Sitz, und von hier giengen ſie in andere Laͤnder aus.
Daß in angefuͤhrten Urſachen der Grund von dem Wachsthume der Kuͤn-
ſte in Athen liege, bezeugen aͤhnliche Umſtaͤnde in Florenz, da die Wiſ-
ſenſchaften und Kuͤnſte daſelbſt in neueren Zeiten nach einer langen Finſter-
ſterniß anfiengen beleuchtet zu werden.

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[26/0076] I Theil. Erſtes Capitel. Unter den Griechen in Klein-Aſien, deren Sprache, nach ihrer Wan- derung aus Griechenland hierher, reicher an Selbſtlauten, (Vocalen,) ſanf- ter und mehr Muſicaliſch wurde, weil ſie daſelbſt einen gluͤcklichern Him- mel noch, als die uͤbrigen Griechen, genoſſen, erweckete und begeiſterte eben dieſer Himmel die erſten Dichter; die Griechiſche Weltweisheit bildete ſich auf dieſem Boden; ihre erſten Geſchichtſchreiber waren aus dieſem Lande; ja Apelles, der Maler der Gratie, war unter dieſem wolluͤſtigen Himmel er- zeuget. Dieſe Griechen aber, welche ihre Freyheit vor der angraͤnzenden Macht der Perſer nicht vertheidigen konnten, waren nicht im Stande, ſich in maͤchtige freye Staaten, wie die Athenienſer, zu erheben, und die Kuͤnſte und Wiſſenſchaften konnten daher in dem Joniſchen Aſien ihren vornehmſten Sitz nicht nehmen. In Athen aber, wo nach Verjagung der Tyrannen ein Democratiſches Regiment eingefuͤhret wurde, an welchem das ganze Volk Antheil hatte, erhob ſich der Geiſt eines jeden Buͤrgers, und die Stadt ſelbſt uͤber alle Griechen. Da nun der gute Geſchmack allgemein wurde, und bemittelte Buͤrger durch praͤchtige oͤffentliche Gebaͤu- de und Werke der Kunſt ſich Anſehen und Liebe unter ihren Buͤrgern er- wecketen, und den Weg zur Ehre bahneten, floß in dieſer Stadt, bey ihrer Macht und Groͤße, wie ins Meer die Fluͤſſe, alles zuſammen. Mit den Wiſſenſchaften ließen ſich hier die Kuͤnſte nieder; hier nahmen ſie ihren vornehmſten Sitz, und von hier giengen ſie in andere Laͤnder aus. Daß in angefuͤhrten Urſachen der Grund von dem Wachsthume der Kuͤn- ſte in Athen liege, bezeugen aͤhnliche Umſtaͤnde in Florenz, da die Wiſ- ſenſchaften und Kuͤnſte daſelbſt in neueren Zeiten nach einer langen Finſter- ſterniß anfiengen beleuchtet zu werden. Man

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Zitationshilfe: Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764, S. 26. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/winckelmann_kunstgeschichte01_1764/76>, abgerufen am 20.04.2024.