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Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764.

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I Theil. Erstes Capitel.
die Music nicht lernen und üben wollten, verfielen wiederum in ihre natür-
liche Wildheit, und wurden von allen Griechen verabscheuet.

E. Der Rö-
mer.

In Ländern, wo nebst dem Einflusse des Himmels einiger Schatten
der ehemaligen Freyheit mit wirket, ist die gegenwärtige Denkungsart
der ehemaligen sehr ähnlich; dieses zeiget sich noch itzo in Rom, wo der
Pöbel unter der Priesterlichen Regierung eine ausgelassene Freyheit ge-
nießet. Es würde noch itzo aus dem Mittel desselben ein Haufen der
streitbarsten und unerschrockensten Krieger zu sammlen seyn, die, wie ihre
Vorfahren, dem Tode trotzeten, und Weiber unter dem Pöbel, deren Sit-
ten weniger verderbt sind, zeigen noch itzo Herz und Muth, wie die alten
Römerinnen; welches mit ausnehmenden Zügen zu beweisen wäre, wenn
es unser Vorhaben erlaubete.

F. Fähigkeit
der Engellän-
der zur Kunst.

Das vorzügliche Talent der Griechen zur Kunst zeiget sich noch
itzo in dem großen fast allgemeinen Talente der Menschen in den wärmsten
Ländern von Italien; und in dieser Fähigkeit herrschet die Einbildung,
so wie bey den denkenden Britten die Vernunft über die Einbildung.
Es hat jemand nicht ohne Grund gesagt, daß die Dichter jenseits der Ge-
bürge durch Bilder reden, aber wenig Bilder geben; man muß auch ge-
stehen, daß die erstaunenden theils schrecklichen Bilder, in welchen Mil-
tons Größe mit bestehet, kein Vorwurf eines edlen Pinsels, sondern ganz
und gar ungeschickt zur Malerey sind. Die Miltonischen Beschreibungen
sind, die einzige Liebe im Paradiese ausgenommen, wie schön gemalte
Gorgonen, die sich ähnlich und gleich fürchterlich sind. Bilder vieler an-
dern Dichter sind dem Gehöre groß, und klein dem Verstande. Im

Homero

I Theil. Erſtes Capitel.
die Muſic nicht lernen und uͤben wollten, verfielen wiederum in ihre natuͤr-
liche Wildheit, und wurden von allen Griechen verabſcheuet.

E. Der Roͤ-
mer.

In Laͤndern, wo nebſt dem Einfluſſe des Himmels einiger Schatten
der ehemaligen Freyheit mit wirket, iſt die gegenwaͤrtige Denkungsart
der ehemaligen ſehr aͤhnlich; dieſes zeiget ſich noch itzo in Rom, wo der
Poͤbel unter der Prieſterlichen Regierung eine ausgelaſſene Freyheit ge-
nießet. Es wuͤrde noch itzo aus dem Mittel deſſelben ein Haufen der
ſtreitbarſten und unerſchrockenſten Krieger zu ſammlen ſeyn, die, wie ihre
Vorfahren, dem Tode trotzeten, und Weiber unter dem Poͤbel, deren Sit-
ten weniger verderbt ſind, zeigen noch itzo Herz und Muth, wie die alten
Roͤmerinnen; welches mit ausnehmenden Zuͤgen zu beweiſen waͤre, wenn
es unſer Vorhaben erlaubete.

F. Faͤhigkeit
der Engellaͤn-
der zur Kunſt.

Das vorzuͤgliche Talent der Griechen zur Kunſt zeiget ſich noch
itzo in dem großen faſt allgemeinen Talente der Menſchen in den waͤrmſten
Laͤndern von Italien; und in dieſer Faͤhigkeit herrſchet die Einbildung,
ſo wie bey den denkenden Britten die Vernunft uͤber die Einbildung.
Es hat jemand nicht ohne Grund geſagt, daß die Dichter jenſeits der Ge-
buͤrge durch Bilder reden, aber wenig Bilder geben; man muß auch ge-
ſtehen, daß die erſtaunenden theils ſchrecklichen Bilder, in welchen Mil-
tons Groͤße mit beſtehet, kein Vorwurf eines edlen Pinſels, ſondern ganz
und gar ungeſchickt zur Malerey ſind. Die Miltoniſchen Beſchreibungen
ſind, die einzige Liebe im Paradieſe ausgenommen, wie ſchoͤn gemalte
Gorgonen, die ſich aͤhnlich und gleich fuͤrchterlich ſind. Bilder vieler an-
dern Dichter ſind dem Gehoͤre groß, und klein dem Verſtande. Im

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[28/0078] I Theil. Erſtes Capitel. die Muſic nicht lernen und uͤben wollten, verfielen wiederum in ihre natuͤr- liche Wildheit, und wurden von allen Griechen verabſcheuet. In Laͤndern, wo nebſt dem Einfluſſe des Himmels einiger Schatten der ehemaligen Freyheit mit wirket, iſt die gegenwaͤrtige Denkungsart der ehemaligen ſehr aͤhnlich; dieſes zeiget ſich noch itzo in Rom, wo der Poͤbel unter der Prieſterlichen Regierung eine ausgelaſſene Freyheit ge- nießet. Es wuͤrde noch itzo aus dem Mittel deſſelben ein Haufen der ſtreitbarſten und unerſchrockenſten Krieger zu ſammlen ſeyn, die, wie ihre Vorfahren, dem Tode trotzeten, und Weiber unter dem Poͤbel, deren Sit- ten weniger verderbt ſind, zeigen noch itzo Herz und Muth, wie die alten Roͤmerinnen; welches mit ausnehmenden Zuͤgen zu beweiſen waͤre, wenn es unſer Vorhaben erlaubete. Das vorzuͤgliche Talent der Griechen zur Kunſt zeiget ſich noch itzo in dem großen faſt allgemeinen Talente der Menſchen in den waͤrmſten Laͤndern von Italien; und in dieſer Faͤhigkeit herrſchet die Einbildung, ſo wie bey den denkenden Britten die Vernunft uͤber die Einbildung. Es hat jemand nicht ohne Grund geſagt, daß die Dichter jenſeits der Ge- buͤrge durch Bilder reden, aber wenig Bilder geben; man muß auch ge- ſtehen, daß die erſtaunenden theils ſchrecklichen Bilder, in welchen Mil- tons Groͤße mit beſtehet, kein Vorwurf eines edlen Pinſels, ſondern ganz und gar ungeſchickt zur Malerey ſind. Die Miltoniſchen Beſchreibungen ſind, die einzige Liebe im Paradieſe ausgenommen, wie ſchoͤn gemalte Gorgonen, die ſich aͤhnlich und gleich fuͤrchterlich ſind. Bilder vieler an- dern Dichter ſind dem Gehoͤre groß, und klein dem Verſtande. Im Homero

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Zitationshilfe: Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764, S. 28. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/winckelmann_kunstgeschichte01_1764/78>, abgerufen am 28.03.2024.