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Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764.

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Von der Kunst unter den Aegyptern etc.
Stande gerechnet. Es wählete sich niemand die Kunst aus eingepflanzter
Neigung, und aus besonderm Antriebe, sondern der Sohn folgete, wie in
allen ihren Gewerken und Ständen, der Lebensart seines Vaters, und
einer setzte den Fuß in die Spur des andern, so daß niemand scheinet einen
Fußstapfen gelassen zu haben, welcher dessen eigener heißen konnte. Folg-
lich kann es keine verschiedene Schulen der Kunst in Aegypten, wie unter
den Griechen, gegeben haben. In solcher Verfassung konnten die Künstler
weder Erziehung, noch Umstände haben, die fähig waren, ihren Geist zu
erheben, sich in das Hohe der Kunst zu wagen; es waren auch weder Vor-
züge, noch Ehre für dieselben zu hoffen, wenn sie etwas außerordentliches
hervorgebracht hatten. Den Meistern der Aegyptischen Statuen kommt
daher das Wort Bildhauer in seiner eigentlichen ersten Bedeutung zu:
sie meißelten ihre Figuren nach einer festgesetzten Maaß und Form aus,
und das Gesetz, nicht davon abzugehen, wird ihnen also nicht hart gewesen
seyn. Der Name eines einzigen Aegyptischen Bildhauers hat sich nach
Griechischer Aussprache erhalten; er hieß Memnon 1), und hatte drey
Statuen am Eingange eines Tempels zu Theben gemachet, von welchen
die eine die größte in ganz Aegypten war.

Was die Wissenschaft der Aegyptischeu Künstler betrifft, so muß esD.
In der Wis-
senschaft der
Künstler.

ihnen an einem der vornehmsten Stücke der Kunst, nehmlich an Kenntniß
in der Anatomie, gefehlet haben; einer Wissenschaft, welche in Aegypten,
so wie in China, gar nicht geübet wurde, auch nicht bekannt war: denn die
Ehrfurcht gegen die Verstorbenen würde auf keine Weise erlaubet haben,
eine Zergliederung todter Körper anzustellen; ja es wurde, wie Diodorus
berichtet, als ein Mord angesehen, nur einen Schnitt in dieselbe zu thun.
Daher auch der Paraschistes, wie ihn die Griechen nennen, oder derjenige,
welcher die Körper zum Balsamiren durch einige Schnitte öffnete, unmit-

telbar
1) Diod. Sic. L. 1. p. 44. l. 24.
E 3

Von der Kunſt unter den Aegyptern ꝛc.
Stande gerechnet. Es waͤhlete ſich niemand die Kunſt aus eingepflanzter
Neigung, und aus beſonderm Antriebe, ſondern der Sohn folgete, wie in
allen ihren Gewerken und Staͤnden, der Lebensart ſeines Vaters, und
einer ſetzte den Fuß in die Spur des andern, ſo daß niemand ſcheinet einen
Fußſtapfen gelaſſen zu haben, welcher deſſen eigener heißen konnte. Folg-
lich kann es keine verſchiedene Schulen der Kunſt in Aegypten, wie unter
den Griechen, gegeben haben. In ſolcher Verfaſſung konnten die Kuͤnſtler
weder Erziehung, noch Umſtaͤnde haben, die faͤhig waren, ihren Geiſt zu
erheben, ſich in das Hohe der Kunſt zu wagen; es waren auch weder Vor-
zuͤge, noch Ehre fuͤr dieſelben zu hoffen, wenn ſie etwas außerordentliches
hervorgebracht hatten. Den Meiſtern der Aegyptiſchen Statuen kommt
daher das Wort Bildhauer in ſeiner eigentlichen erſten Bedeutung zu:
ſie meißelten ihre Figuren nach einer feſtgeſetzten Maaß und Form aus,
und das Geſetz, nicht davon abzugehen, wird ihnen alſo nicht hart geweſen
ſeyn. Der Name eines einzigen Aegyptiſchen Bildhauers hat ſich nach
Griechiſcher Ausſprache erhalten; er hieß Memnon 1), und hatte drey
Statuen am Eingange eines Tempels zu Theben gemachet, von welchen
die eine die groͤßte in ganz Aegypten war.

Was die Wiſſenſchaft der Aegyptiſcheu Kuͤnſtler betrifft, ſo muß esD.
In der Wiſ-
ſenſchaft der
Kuͤnſtler.

ihnen an einem der vornehmſten Stuͤcke der Kunſt, nehmlich an Kenntniß
in der Anatomie, gefehlet haben; einer Wiſſenſchaft, welche in Aegypten,
ſo wie in China, gar nicht geuͤbet wurde, auch nicht bekannt war: denn die
Ehrfurcht gegen die Verſtorbenen wuͤrde auf keine Weiſe erlaubet haben,
eine Zergliederung todter Koͤrper anzuſtellen; ja es wurde, wie Diodorus
berichtet, als ein Mord angeſehen, nur einen Schnitt in dieſelbe zu thun.
Daher auch der Paraſchiſtes, wie ihn die Griechen nennen, oder derjenige,
welcher die Koͤrper zum Balſamiren durch einige Schnitte oͤffnete, unmit-

telbar
1) Diod. Sic. L. 1. p. 44. l. 24.
E 3
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[37/0087] Von der Kunſt unter den Aegyptern ꝛc. Stande gerechnet. Es waͤhlete ſich niemand die Kunſt aus eingepflanzter Neigung, und aus beſonderm Antriebe, ſondern der Sohn folgete, wie in allen ihren Gewerken und Staͤnden, der Lebensart ſeines Vaters, und einer ſetzte den Fuß in die Spur des andern, ſo daß niemand ſcheinet einen Fußſtapfen gelaſſen zu haben, welcher deſſen eigener heißen konnte. Folg- lich kann es keine verſchiedene Schulen der Kunſt in Aegypten, wie unter den Griechen, gegeben haben. In ſolcher Verfaſſung konnten die Kuͤnſtler weder Erziehung, noch Umſtaͤnde haben, die faͤhig waren, ihren Geiſt zu erheben, ſich in das Hohe der Kunſt zu wagen; es waren auch weder Vor- zuͤge, noch Ehre fuͤr dieſelben zu hoffen, wenn ſie etwas außerordentliches hervorgebracht hatten. Den Meiſtern der Aegyptiſchen Statuen kommt daher das Wort Bildhauer in ſeiner eigentlichen erſten Bedeutung zu: ſie meißelten ihre Figuren nach einer feſtgeſetzten Maaß und Form aus, und das Geſetz, nicht davon abzugehen, wird ihnen alſo nicht hart geweſen ſeyn. Der Name eines einzigen Aegyptiſchen Bildhauers hat ſich nach Griechiſcher Ausſprache erhalten; er hieß Memnon 1), und hatte drey Statuen am Eingange eines Tempels zu Theben gemachet, von welchen die eine die groͤßte in ganz Aegypten war. Was die Wiſſenſchaft der Aegyptiſcheu Kuͤnſtler betrifft, ſo muß es ihnen an einem der vornehmſten Stuͤcke der Kunſt, nehmlich an Kenntniß in der Anatomie, gefehlet haben; einer Wiſſenſchaft, welche in Aegypten, ſo wie in China, gar nicht geuͤbet wurde, auch nicht bekannt war: denn die Ehrfurcht gegen die Verſtorbenen wuͤrde auf keine Weiſe erlaubet haben, eine Zergliederung todter Koͤrper anzuſtellen; ja es wurde, wie Diodorus berichtet, als ein Mord angeſehen, nur einen Schnitt in dieſelbe zu thun. Daher auch der Paraſchiſtes, wie ihn die Griechen nennen, oder derjenige, welcher die Koͤrper zum Balſamiren durch einige Schnitte oͤffnete, unmit- telbar D. In der Wiſ- ſenſchaft der Kuͤnſtler. 1) Diod. Sic. L. 1. p. 44. l. 24. E 3

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Zitationshilfe: Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764, S. 37. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/winckelmann_kunstgeschichte01_1764/87>, abgerufen am 16.04.2024.