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Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 2. Dresden, 1764.

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II Theil. Von der Griechischen Kunst

Es ist kein Wunder, daß die Kunst anfieng, sich merklich gegen ih-
ren Fall zu neigen, wenn man bedenket, daß auch die Schulen der Sophi-
sten in Griechenland mit dem Commodus aufhöreten 1) Ja den Grie-
chen wurde sogar ihre eigene Sprache unbekannt: denn es waren wenige
unter ihnen, die ihre besten Schriften mit dem wahren Verständnisse der-
selben lesen konnten, und wir wissen, daß Oppianus in seinen Gedichten
durch die Nachahmung des Homerus, und durch dessen Ausdrücke und
Worte, deren er sich bedienet, so wie Homerus selbst, den Griechen dun-
kel war 2). Daher hatten die Griechen Wörterbücher in ihrer eigenen
Sprache nöthig, und Phynichus suchte die Athenienser zu lehren, wie
ihre Vorältern geredet hatten: aber von vielen Worten war keine bestimm-
te Bedeutung mehr zu geben, und ihre Herleitung wurde durch verlohrne
Stammwörter auf Muthmaßungen gegründet.

V.
Fall der Kunst
unter dem Se-
ptimius Seve-
rus.
A.
Von Werken
unter diesem
Kaiser.

Wie sehr die Kunst nach dem Commodus gefallen, beweisen die öf-
fentlichen Werke, welche Septimius Severus einige Zeit nachher auffüh-
ren ließ. Er folgete dem Commodus ein Jahr nachher in der Regierung,
nachdem Pertinax, Didius Julianus, Clodius Albinus und Pescennius
Niger in kurzer Zeit regieret hatten, und ermordet worden. Die Athe-
nienser ließ Severus sogleich seinen Zorn empfinden, wegen einer Beleidi-
gung, welche ihm auf einer Reise nach Syrien zu Athen in voriger Zeit
widerfahren war: er nahm der Stadt alle ihre Vorrechte und Freyhei-
ten, die ihr von den vorigen Kaisern ertheilet waren 3). Die erhobenen
Arbeiten an seinem Bogen, und an einem andern Bogen, welchen die
Silberschmiede ihm zu Ehren aufführen lassen, sind so schlecht, daß es er-
staunend scheint, wie die Kunst in zwölf Jahren, seit dem Tode des

Marcus
1) Cresol. Theatr. Rhet. L. 1. c. 4. p. 32.
2) conf. Bentley's Diss. upon Phalar. p. 406.
3) Spartian. Sever. p. 594. ed. Lugd. 1591.
II Theil. Von der Griechiſchen Kunſt

Es iſt kein Wunder, daß die Kunſt anfieng, ſich merklich gegen ih-
ren Fall zu neigen, wenn man bedenket, daß auch die Schulen der Sophi-
ſten in Griechenland mit dem Commodus aufhoͤreten 1) Ja den Grie-
chen wurde ſogar ihre eigene Sprache unbekannt: denn es waren wenige
unter ihnen, die ihre beſten Schriften mit dem wahren Verſtaͤndniſſe der-
ſelben leſen konnten, und wir wiſſen, daß Oppianus in ſeinen Gedichten
durch die Nachahmung des Homerus, und durch deſſen Ausdruͤcke und
Worte, deren er ſich bedienet, ſo wie Homerus ſelbſt, den Griechen dun-
kel war 2). Daher hatten die Griechen Woͤrterbuͤcher in ihrer eigenen
Sprache noͤthig, und Phynichus ſuchte die Athenienſer zu lehren, wie
ihre Voraͤltern geredet hatten: aber von vielen Worten war keine beſtimm-
te Bedeutung mehr zu geben, und ihre Herleitung wurde durch verlohrne
Stammwoͤrter auf Muthmaßungen gegruͤndet.

V.
Fall der Kunſt
unter dem Se-
ptimius Seve-
rus.
A.
Von Werken
unter dieſem
Kaiſer.

Wie ſehr die Kunſt nach dem Commodus gefallen, beweiſen die oͤf-
fentlichen Werke, welche Septimius Severus einige Zeit nachher auffuͤh-
ren ließ. Er folgete dem Commodus ein Jahr nachher in der Regierung,
nachdem Pertinax, Didius Julianus, Clodius Albinus und Peſcennius
Niger in kurzer Zeit regieret hatten, und ermordet worden. Die Athe-
nienſer ließ Severus ſogleich ſeinen Zorn empfinden, wegen einer Beleidi-
gung, welche ihm auf einer Reiſe nach Syrien zu Athen in voriger Zeit
widerfahren war: er nahm der Stadt alle ihre Vorrechte und Freyhei-
ten, die ihr von den vorigen Kaiſern ertheilet waren 3). Die erhobenen
Arbeiten an ſeinem Bogen, und an einem andern Bogen, welchen die
Silberſchmiede ihm zu Ehren auffuͤhren laſſen, ſind ſo ſchlecht, daß es er-
ſtaunend ſcheint, wie die Kunſt in zwoͤlf Jahren, ſeit dem Tode des

Marcus
1) Creſol. Theatr. Rhet. L. 1. c. 4. p. 32.
2) conf. Bentley’s Diſſ. upon Phalar. p. 406.
3) Spartian. Sever. p. 594. ed. Lugd. 1591.
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[418/0106] II Theil. Von der Griechiſchen Kunſt Es iſt kein Wunder, daß die Kunſt anfieng, ſich merklich gegen ih- ren Fall zu neigen, wenn man bedenket, daß auch die Schulen der Sophi- ſten in Griechenland mit dem Commodus aufhoͤreten 1) Ja den Grie- chen wurde ſogar ihre eigene Sprache unbekannt: denn es waren wenige unter ihnen, die ihre beſten Schriften mit dem wahren Verſtaͤndniſſe der- ſelben leſen konnten, und wir wiſſen, daß Oppianus in ſeinen Gedichten durch die Nachahmung des Homerus, und durch deſſen Ausdruͤcke und Worte, deren er ſich bedienet, ſo wie Homerus ſelbſt, den Griechen dun- kel war 2). Daher hatten die Griechen Woͤrterbuͤcher in ihrer eigenen Sprache noͤthig, und Phynichus ſuchte die Athenienſer zu lehren, wie ihre Voraͤltern geredet hatten: aber von vielen Worten war keine beſtimm- te Bedeutung mehr zu geben, und ihre Herleitung wurde durch verlohrne Stammwoͤrter auf Muthmaßungen gegruͤndet. Wie ſehr die Kunſt nach dem Commodus gefallen, beweiſen die oͤf- fentlichen Werke, welche Septimius Severus einige Zeit nachher auffuͤh- ren ließ. Er folgete dem Commodus ein Jahr nachher in der Regierung, nachdem Pertinax, Didius Julianus, Clodius Albinus und Peſcennius Niger in kurzer Zeit regieret hatten, und ermordet worden. Die Athe- nienſer ließ Severus ſogleich ſeinen Zorn empfinden, wegen einer Beleidi- gung, welche ihm auf einer Reiſe nach Syrien zu Athen in voriger Zeit widerfahren war: er nahm der Stadt alle ihre Vorrechte und Freyhei- ten, die ihr von den vorigen Kaiſern ertheilet waren 3). Die erhobenen Arbeiten an ſeinem Bogen, und an einem andern Bogen, welchen die Silberſchmiede ihm zu Ehren auffuͤhren laſſen, ſind ſo ſchlecht, daß es er- ſtaunend ſcheint, wie die Kunſt in zwoͤlf Jahren, ſeit dem Tode des Marcus 1) Creſol. Theatr. Rhet. L. 1. c. 4. p. 32. 2) conf. Bentley’s Diſſ. upon Phalar. p. 406. 3) Spartian. Sever. p. 594. ed. Lugd. 1591.

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Zitationshilfe: Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 2. Dresden, 1764, S. 418. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/winckelmann_kunstgeschichte02_1764/106>, abgerufen am 28.03.2024.