Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wundt, Wilhelm: Handbuch der medicinischen Physik. Erlangen, 1867.

Bild:
<< vorherige Seite

Einleitung.
auch ein Naturgesetz, und wir reden so vom Gesetz des Falls,
vom Gesetz des Pendels, vom Gesetz der Planetenbewegungen u. s. w.
Jedes Gesetz, und so auch das Naturgesetz, schliesst aber ein
Verhältniss der Abhängigkeit in sich. Eine Naturerscheinung wie-
derholt sich nur dann in gleichförmiger Weise, wenn einige der Um-
stände, unter denen sie früher eintrat, wiederkehren. Streng genom-
men begreifen die Umstände, unter denen ein Ereigniss eintritt, den
ganzen im Augenblick dieses Eintritts vorhandenen und demselben
vorangegangenen Zustand der Welt in sich. Denn die Summe von
Umständen, unter denen jetzt etwas geschieht, wird offenbar nur er-
schöpft durch die Summe aller andern Ereignisse, aus denen bis jetzt
der Welt Lauf bestanden hat. Die Erfahrung zeigt jedoch, dass es
unter dieser Unzahl von Umständen, von welchen ein Ereigniss mög-
licher Weise abhängig sein könnte, immer nur eine kleine Zahl giebt,
die es wirklich beeinflusst. Diejenigen vorangegangenen oder beglei-
tenden Umstände, von welchen die Erscheinung sich abhängig zeigt,
nennen wir nun die Bedingungen derselben. In den meisten Fällen
sind sowohl die Erscheinungen wie ihre Bedingungen zusammengesetzte
Ereignisse. Wenn z. B. eine Kugel auf einer schiefen Ebene herab-
rollt, so wird ihre Bewegung bestimmt theils durch die Schweranzie-
hung der Erde, theils durch den Widerstand der Ebene, theils durch
die Reibung, theils endlich durch den Widerstand der Luft. Das Gesetz
der Bewegung ist von allen diesen Bedingungen gleichzeitig abhängig.
Wollen wir also entscheiden, wie die eine oder die andere Bedingung
wirkt, so müssen wir die Erscheinung vereinfachen, indem wir ihre
Bedingungen von einander trennen. Diese Vereinfachung der Erschei-
nungen durch Isolirung ihrer Bedingungen ist der wichtigste Schritt
zur Naturerklärung, der in den meisten Fällen, weil sich selten die
Bedingungen von selbst schon getrennt darbieten, nur durch das Ex-
periment
, d. h. durch die absichtliche Isolirung der einzelnen Be-
dingungen von Seiten des Naturforschers, möglich ist. Haben wir nun
eine nicht weiter zu zergliedernde Bedingung und demgemäss eine
nicht weiter zu vereinfachende Erscheinung aufgefunden, so nennen wir
jene Bedingung die Ursache dieser Erscheinung. Die Art von Ab-
hängigkeit aber, in der die Wirkung von ihrer isolirten Ursache steht,
ist ein einfaches Naturgesetz, ein Gesetz, das nicht mehr in ver-
schiedene zusammenwirkende Gesetze aufgelöst werden kann. Lassen
wir also in dem oben gewählten Beispiel alle andern Bedingungen mit
Ausnahme der Schweranziehung der Erde hinweg, stellen wir mit
der Kugel Fallversuche im luftleeren Raume an, so kommt uns unmit-
telbar ein einfaches Naturgesetz, das Gesetz des Falls, zur Beobach-
tung, während uns die auf der schiefen Ebene hinabrollende Kugel
ein complicirtes Naturgesetz vor Augen führte, das durch die Beobach-
tung des Einflusses der Reibung, des Luftwiderstandes, des Neigungs-

Einleitung.
auch ein Naturgesetz, und wir reden so vom Gesetz des Falls,
vom Gesetz des Pendels, vom Gesetz der Planetenbewegungen u. s. w.
Jedes Gesetz, und so auch das Naturgesetz, schliesst aber ein
Verhältniss der Abhängigkeit in sich. Eine Naturerscheinung wie-
derholt sich nur dann in gleichförmiger Weise, wenn einige der Um-
stände, unter denen sie früher eintrat, wiederkehren. Streng genom-
men begreifen die Umstände, unter denen ein Ereigniss eintritt, den
ganzen im Augenblick dieses Eintritts vorhandenen und demselben
vorangegangenen Zustand der Welt in sich. Denn die Summe von
Umständen, unter denen jetzt etwas geschieht, wird offenbar nur er-
schöpft durch die Summe aller andern Ereignisse, aus denen bis jetzt
der Welt Lauf bestanden hat. Die Erfahrung zeigt jedoch, dass es
unter dieser Unzahl von Umständen, von welchen ein Ereigniss mög-
licher Weise abhängig sein könnte, immer nur eine kleine Zahl giebt,
die es wirklich beeinflusst. Diejenigen vorangegangenen oder beglei-
tenden Umstände, von welchen die Erscheinung sich abhängig zeigt,
nennen wir nun die Bedingungen derselben. In den meisten Fällen
sind sowohl die Erscheinungen wie ihre Bedingungen zusammengesetzte
Ereignisse. Wenn z. B. eine Kugel auf einer schiefen Ebene herab-
rollt, so wird ihre Bewegung bestimmt theils durch die Schweranzie-
hung der Erde, theils durch den Widerstand der Ebene, theils durch
die Reibung, theils endlich durch den Widerstand der Luft. Das Gesetz
der Bewegung ist von allen diesen Bedingungen gleichzeitig abhängig.
Wollen wir also entscheiden, wie die eine oder die andere Bedingung
wirkt, so müssen wir die Erscheinung vereinfachen, indem wir ihre
Bedingungen von einander trennen. Diese Vereinfachung der Erschei-
nungen durch Isolirung ihrer Bedingungen ist der wichtigste Schritt
zur Naturerklärung, der in den meisten Fällen, weil sich selten die
Bedingungen von selbst schon getrennt darbieten, nur durch das Ex-
periment
, d. h. durch die absichtliche Isolirung der einzelnen Be-
dingungen von Seiten des Naturforschers, möglich ist. Haben wir nun
eine nicht weiter zu zergliedernde Bedingung und demgemäss eine
nicht weiter zu vereinfachende Erscheinung aufgefunden, so nennen wir
jene Bedingung die Ursache dieser Erscheinung. Die Art von Ab-
hängigkeit aber, in der die Wirkung von ihrer isolirten Ursache steht,
ist ein einfaches Naturgesetz, ein Gesetz, das nicht mehr in ver-
schiedene zusammenwirkende Gesetze aufgelöst werden kann. Lassen
wir also in dem oben gewählten Beispiel alle andern Bedingungen mit
Ausnahme der Schweranziehung der Erde hinweg, stellen wir mit
der Kugel Fallversuche im luftleeren Raume an, so kommt uns unmit-
telbar ein einfaches Naturgesetz, das Gesetz des Falls, zur Beobach-
tung, während uns die auf der schiefen Ebene hinabrollende Kugel
ein complicirtes Naturgesetz vor Augen führte, das durch die Beobach-
tung des Einflusses der Reibung, des Luftwiderstandes, des Neigungs-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0024" n="2"/><fw place="top" type="header">Einleitung.</fw><lb/>
auch ein <hi rendition="#g">Naturgesetz</hi>, und wir reden so vom Gesetz des Falls,<lb/>
vom Gesetz des Pendels, vom Gesetz der Planetenbewegungen u. s. w.<lb/>
Jedes Gesetz, und so auch das Naturgesetz, schliesst aber ein<lb/>
Verhältniss der <hi rendition="#g">Abhängigkeit</hi> in sich. Eine Naturerscheinung wie-<lb/>
derholt sich nur dann in gleichförmiger Weise, wenn <hi rendition="#g">einige</hi> der Um-<lb/>
stände, unter denen sie früher eintrat, wiederkehren. Streng genom-<lb/>
men begreifen die Umstände, unter denen ein Ereigniss eintritt, den<lb/>
ganzen im Augenblick dieses Eintritts vorhandenen und demselben<lb/>
vorangegangenen Zustand der Welt in sich. Denn die Summe von<lb/>
Umständen, unter denen jetzt etwas geschieht, wird offenbar nur er-<lb/>
schöpft durch die Summe aller andern Ereignisse, aus denen bis jetzt<lb/>
der Welt Lauf bestanden hat. Die Erfahrung zeigt jedoch, dass es<lb/>
unter dieser Unzahl von Umständen, von welchen ein Ereigniss mög-<lb/>
licher Weise abhängig sein könnte, immer nur eine kleine Zahl giebt,<lb/>
die es wirklich beeinflusst. Diejenigen vorangegangenen oder beglei-<lb/>
tenden Umstände, von welchen die Erscheinung sich abhängig zeigt,<lb/>
nennen wir nun die <hi rendition="#g">Bedingungen</hi> derselben. In den meisten Fällen<lb/>
sind sowohl die Erscheinungen wie ihre Bedingungen zusammengesetzte<lb/>
Ereignisse. Wenn z. B. eine Kugel auf einer schiefen Ebene herab-<lb/>
rollt, so wird ihre Bewegung bestimmt theils durch die Schweranzie-<lb/>
hung der Erde, theils durch den Widerstand der Ebene, theils durch<lb/>
die Reibung, theils endlich durch den Widerstand der Luft. Das Gesetz<lb/>
der Bewegung ist von allen diesen Bedingungen gleichzeitig abhängig.<lb/>
Wollen wir also entscheiden, wie die eine oder die andere Bedingung<lb/>
wirkt, so müssen wir die Erscheinung vereinfachen, indem wir ihre<lb/>
Bedingungen von einander trennen. Diese Vereinfachung der Erschei-<lb/>
nungen durch Isolirung ihrer Bedingungen ist der wichtigste Schritt<lb/>
zur Naturerklärung, der in den meisten Fällen, weil sich selten die<lb/>
Bedingungen von selbst schon getrennt darbieten, nur durch das <hi rendition="#g">Ex-<lb/>
periment</hi>, d. h. durch die absichtliche Isolirung der einzelnen Be-<lb/>
dingungen von Seiten des Naturforschers, möglich ist. Haben wir nun<lb/>
eine nicht weiter zu zergliedernde Bedingung und demgemäss eine<lb/>
nicht weiter zu vereinfachende Erscheinung aufgefunden, so nennen wir<lb/>
jene Bedingung die <hi rendition="#g">Ursache</hi> dieser Erscheinung. Die Art von Ab-<lb/>
hängigkeit aber, in der die Wirkung von ihrer isolirten Ursache steht,<lb/>
ist ein <hi rendition="#g">einfaches Naturgesetz</hi>, ein Gesetz, das nicht mehr in ver-<lb/>
schiedene zusammenwirkende Gesetze aufgelöst werden kann. Lassen<lb/>
wir also in dem oben gewählten Beispiel alle andern Bedingungen mit<lb/>
Ausnahme der Schweranziehung der Erde hinweg, stellen wir mit<lb/>
der Kugel Fallversuche im luftleeren Raume an, so kommt uns unmit-<lb/>
telbar ein einfaches Naturgesetz, das Gesetz des Falls, zur Beobach-<lb/>
tung, während uns die auf der schiefen Ebene hinabrollende Kugel<lb/>
ein complicirtes Naturgesetz vor Augen führte, das durch die Beobach-<lb/>
tung des Einflusses der Reibung, des Luftwiderstandes, des Neigungs-<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[2/0024] Einleitung. auch ein Naturgesetz, und wir reden so vom Gesetz des Falls, vom Gesetz des Pendels, vom Gesetz der Planetenbewegungen u. s. w. Jedes Gesetz, und so auch das Naturgesetz, schliesst aber ein Verhältniss der Abhängigkeit in sich. Eine Naturerscheinung wie- derholt sich nur dann in gleichförmiger Weise, wenn einige der Um- stände, unter denen sie früher eintrat, wiederkehren. Streng genom- men begreifen die Umstände, unter denen ein Ereigniss eintritt, den ganzen im Augenblick dieses Eintritts vorhandenen und demselben vorangegangenen Zustand der Welt in sich. Denn die Summe von Umständen, unter denen jetzt etwas geschieht, wird offenbar nur er- schöpft durch die Summe aller andern Ereignisse, aus denen bis jetzt der Welt Lauf bestanden hat. Die Erfahrung zeigt jedoch, dass es unter dieser Unzahl von Umständen, von welchen ein Ereigniss mög- licher Weise abhängig sein könnte, immer nur eine kleine Zahl giebt, die es wirklich beeinflusst. Diejenigen vorangegangenen oder beglei- tenden Umstände, von welchen die Erscheinung sich abhängig zeigt, nennen wir nun die Bedingungen derselben. In den meisten Fällen sind sowohl die Erscheinungen wie ihre Bedingungen zusammengesetzte Ereignisse. Wenn z. B. eine Kugel auf einer schiefen Ebene herab- rollt, so wird ihre Bewegung bestimmt theils durch die Schweranzie- hung der Erde, theils durch den Widerstand der Ebene, theils durch die Reibung, theils endlich durch den Widerstand der Luft. Das Gesetz der Bewegung ist von allen diesen Bedingungen gleichzeitig abhängig. Wollen wir also entscheiden, wie die eine oder die andere Bedingung wirkt, so müssen wir die Erscheinung vereinfachen, indem wir ihre Bedingungen von einander trennen. Diese Vereinfachung der Erschei- nungen durch Isolirung ihrer Bedingungen ist der wichtigste Schritt zur Naturerklärung, der in den meisten Fällen, weil sich selten die Bedingungen von selbst schon getrennt darbieten, nur durch das Ex- periment, d. h. durch die absichtliche Isolirung der einzelnen Be- dingungen von Seiten des Naturforschers, möglich ist. Haben wir nun eine nicht weiter zu zergliedernde Bedingung und demgemäss eine nicht weiter zu vereinfachende Erscheinung aufgefunden, so nennen wir jene Bedingung die Ursache dieser Erscheinung. Die Art von Ab- hängigkeit aber, in der die Wirkung von ihrer isolirten Ursache steht, ist ein einfaches Naturgesetz, ein Gesetz, das nicht mehr in ver- schiedene zusammenwirkende Gesetze aufgelöst werden kann. Lassen wir also in dem oben gewählten Beispiel alle andern Bedingungen mit Ausnahme der Schweranziehung der Erde hinweg, stellen wir mit der Kugel Fallversuche im luftleeren Raume an, so kommt uns unmit- telbar ein einfaches Naturgesetz, das Gesetz des Falls, zur Beobach- tung, während uns die auf der schiefen Ebene hinabrollende Kugel ein complicirtes Naturgesetz vor Augen führte, das durch die Beobach- tung des Einflusses der Reibung, des Luftwiderstandes, des Neigungs-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_medizinische_1867
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_medizinische_1867/24
Zitationshilfe: Wundt, Wilhelm: Handbuch der medicinischen Physik. Erlangen, 1867, S. 2. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_medizinische_1867/24>, abgerufen am 29.03.2024.