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Allgemeine Zeitung. Nr. 123. Augsburg, 2. Mai 1840.

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einnehmen würden. Hr. v. Nimbtsch, oder, wenn man lieber will, Lenau, den die deutschen Journalisten so sehr gepriesen haben, wäre in Frankreich gewiß nur ein Dichter dritten Ranges, denn ich nehme zwischen ihm und Heine noch eine gewisse Distanz an, und bin litterarisch und poetisch fest überzeugt, daß die anmuthigste Ode oder ergreifendste Elegie von Heine nicht einmal einem der einfachsten Blätter von Lamartine oder Victor Hugo gleichkommt u. s. w." In diesem Tone fährt er noch weiter fort, und hält sich namentlich über die Lobpreisungen auf, welche der Herausgeber dem Dichter Julius Mosen spende, von welchem er ein kleines Lied: Frühlingsnacht, in zwar ganz wortgetreuer, aber prosaischer Uebersetzung gibt, "damit die Deutschen, so eifersüchtig auf den Ausdruck ihrer Zeitwörter, die Schönheit ihrer Adjective und das Umfassende ihrer Phrasen (l'ampleur de leurs phrases) selbst ein wenig den Effect beurtheilen können, welchen eines ihrer Gedichte, wörtlich in unsere Sprache übertragen, macht." Für unsern Zweck genügt das Ausgehobene.

Die Weltlitteratur, von welcher seit Goethe vielfach gesprochen worden, scheint in einem vernünftigen und gemäßigten Sinn sich allerdings mehr und mehr realisiren zu wollen; die Empfänglichkeit, der Verkehr, das Verständniß, die anerkennende Gerechtigkeit, die Ideenmittheilung nehmen bei den gebildeten Nationen Europa's in Beziehung auf Litteratur immer mehr zu, und die temporären Verirrungen und Extravaganzen, welche dabei mit unterlaufen, werden doch immer durch bleibenden Gewinn überwogen. Selbst die Franzosen, welche von früherer Zeit her eine litterarische Suprematie in Anspruch zu nehmen gewohnt gewesen, lassen sich allmählich herbei, die litterarische und poetische Ebenbürtigkeit anderer Nationen, wenn auch mit Widerstreben und manchen Rückfällen in das alte, schmeichelnde Vorurtheil ihres Vorzugs, anzuerkennen. So sagte Edgar Quinet in seiner einleitenden Vorlesung über ausländische Litteratur in Lyon: "Der Streit um den absoluten Vorzug einer Nation vor den andern wird uns nicht viel beschäftigen. Diese Frage, so gestellt, ist völlig unlösbar. Wer ist der Sieger: der deutsche, der englische, der italienische, der spanische Genius? Eine declamatorische Frage, die keine Antwort zuläßt." Auch Marmier selbst, der, wie Quinet in Lyon, so in Rennes als Lehrer der ausländischen Litteratur bei der faculte de lettres vor kurzem angestellt worden, der sich mit Eifer auf fremde Litteraturen, auf die deutsche namentlich und die skandinavische geworfen, und eine größere Schrift über Goethe geschrieben hat, auch Marmier sprach sich in der Rede, womit er seinen Cursus über ausländische Litteratur eröffnete, und die wir mit Interesse und Vergnügen lasen, in einem Sinn aus, welcher gerechte Anerkennung des Fremden erwarten ließ, obgleich sich darin auch Stellen finden, die ein starkes französisches Selbstgefühl verrathen, und die er vielleicht seinem Publicum schuldig zu seyn glaubte. Nur ein paar Stellen sey uns gestattet auszuheben: "Von jener ersten Epoche der (modernen) Poesie an steht der Einfluß Frankreichs entschieden begründet fest, und wenn dann und wann ein anderer Einfluß dem seinigen das Gleichgewicht hält oder ihn aufwiegt, so erhebt es sich plötzlich wieder mit neuer Kraft und mit einer Autorität, die man nicht mehr anficht. Im zwölften und dreizehnten Jahrhundert breitete sich die französische Poesie an allen (?) Höfen aus, erschütterte alle Geister (?); im siebenzehnten und achtzehnten herrschte sie über ganz Europa." Dann führt er einen Satz von Michelet an: "Was Frankreich vor allen Völkern voraushat, das ist das sociale Genie mit seinen drei, dem Anschein nach widersprechenden Charakteren: der leichten Aneignung fremder Ideen; dem glühenden Eifer, Proselyten zu machen, vermöge dessen es seine Ideen auswärts verbreitet; der Organisationskraft, welche die einen wie die andern zusammenfaßt und zu einem Ganzen verarbeitet; daher muß jede Idee hier ihren Durchgang machen, um zur Befestigung und Popularität zu gelangen; hier ist das Capitolium, wo jeder Genius seine Weihe, jeder Ruhm seine Krone zu empfangen hat. In der Geschichte der modernen Litteratur nimmt Frankreich eine hohe Stelle ein. Durch seine Poesie, seine gelehrten Arbeiten, seine Kunsttheorien, seine kritischen Systeme wirkt es auf die umgebenden Nationen, regt sie auf, verführt, beherrscht und zwingt sie, ihm auf der neuen glorreich eröffneten Bahn zu folgen. Keine Litteratur hat so wie die unsrige an den beiden äußersten Punkten Europa's geherrscht; keine Sprache ist wie die unsrige die unentbehrliche Sprache aller ausländischen Höfe und Salons geworden. Und dieß, weil diese Sprache einen solchen Charakter der Schärfe, Bestimmtheit und Klarheit hat, daß sie alle Ideen, deren sie sich bemächtigt, sofort durchsichtiger, dem Verständniß zugänglicher macht." Doch, meine Herren, fährt Marmier fort, es wäre eine große Ungerechtigkeit, wenn wir uns nun in unsern Königspurpur hüllen und unser Auge gegen Alles, was sonst geleistet worden, verschließen wollten. Jede Nation hat, der Reihe nach, ihr großes Jahrhundert gehabt, dessen rasche Lichter von da und dort ausgingen, wie die Strahlen des Nordlichts. Ja, wir werden immer die Männer lieben, die durch ihre Werke unser Land verherrlicht haben; aber der Cultus, den wir ihnen schuldig sind, wäre nur ein falscher Götzendienst, wenn er uns abhielte anzuerkennen, was wir Andern schuldig sind. Spanien, Italien, England und selbst Holland haben zu verschiedenen Zeiten einen bedeutenden Einfluß auf uns geübt. Deutschland, das lange mit Nachahmungen im Hintergrund gestanden, ist plötzlich aus seiner Schlaftrunkenheit erwacht, wie die Jungfrau im Feenmährchen, die ein Jahrhundert lang im Walde geschlafen. Jetzt steht es da und spricht zu uns durch den Mund seiner Männer von Genie, und verlangt von uns, daß wir es studiren, wie es sonst uns studirt hat." Ferner sagt er: "Das vergleichende Studium der Litteraturen ist sehr neu bei uns. Wir in Frankreich haben lange nicht gewußt, oder haben verkannt, was um uns her vorging. Diese Art von hochmüthiger Verachtung, oder, wenn man will, von Gleichgültigkeit, rührte von zwei Ursachen her u. s. w." "Deutschland, das uns unter verschiedenen Gesichtspunkten durch das treffliche Buch der Frau v. Stael aufgeschlossen wurde, ist in neuern Zeiten von Männern, die es begriffen haben, studirt und beschrieben worden. Indeß ist diese fruchtbare Mine noch lange nicht erschöpft; man hat ihre zahlreichen Adern kaum erst gemessen."

Den hier durchscheinenden richtigen Ansichten und Gesinnungen scheint nun aber Marmier nicht überall treu zu bleiben, sey es, daß die nationale Eigenliebe ihn doch hin und wieder verblendet, oder daß es seinen absprechenden und allgemeinen Urtheilen häufig an der gehörigen Unterlage einer umfassenden und detaillirten Kenntniß der deutschen Litteratur fehlt. Zu den unbegründeten und vorlauten Urtheilen zählen wir auch das Obige über den dermaligen "Verfall der deutschen Poesie," sammt dessen Motivirung.

Zwar könnten wir Marmier einfach entgegenhalten, daß er sich den Beweis seiner Behauptung gar zu leicht gemacht habe, daß er von unbegründeten Voraussetzungen ausgegangen sey, wenn er annahm, durch die Sammlung von Stolle sey die deutsche (lyrische) Poesie der Gegenwart repräsentirt. Erstens bietet der Name des Herausgebers, der sich unsers Wissens noch nicht als Dichter oder Aesthetiker bekannt gemacht hat, keine Gewähr dafür, daß er überall die beste Auswahl getroffen;

einnehmen würden. Hr. v. Nimbtsch, oder, wenn man lieber will, Lenau, den die deutschen Journalisten so sehr gepriesen haben, wäre in Frankreich gewiß nur ein Dichter dritten Ranges, denn ich nehme zwischen ihm und Heine noch eine gewisse Distanz an, und bin litterarisch und poetisch fest überzeugt, daß die anmuthigste Ode oder ergreifendste Elegie von Heine nicht einmal einem der einfachsten Blätter von Lamartine oder Victor Hugo gleichkommt u. s. w.“ In diesem Tone fährt er noch weiter fort, und hält sich namentlich über die Lobpreisungen auf, welche der Herausgeber dem Dichter Julius Mosen spende, von welchem er ein kleines Lied: Frühlingsnacht, in zwar ganz wortgetreuer, aber prosaischer Uebersetzung gibt, „damit die Deutschen, so eifersüchtig auf den Ausdruck ihrer Zeitwörter, die Schönheit ihrer Adjective und das Umfassende ihrer Phrasen (l'ampleur de leurs phrases) selbst ein wenig den Effect beurtheilen können, welchen eines ihrer Gedichte, wörtlich in unsere Sprache übertragen, macht.“ Für unsern Zweck genügt das Ausgehobene.

Die Weltlitteratur, von welcher seit Goethe vielfach gesprochen worden, scheint in einem vernünftigen und gemäßigten Sinn sich allerdings mehr und mehr realisiren zu wollen; die Empfänglichkeit, der Verkehr, das Verständniß, die anerkennende Gerechtigkeit, die Ideenmittheilung nehmen bei den gebildeten Nationen Europa's in Beziehung auf Litteratur immer mehr zu, und die temporären Verirrungen und Extravaganzen, welche dabei mit unterlaufen, werden doch immer durch bleibenden Gewinn überwogen. Selbst die Franzosen, welche von früherer Zeit her eine litterarische Suprematie in Anspruch zu nehmen gewohnt gewesen, lassen sich allmählich herbei, die litterarische und poetische Ebenbürtigkeit anderer Nationen, wenn auch mit Widerstreben und manchen Rückfällen in das alte, schmeichelnde Vorurtheil ihres Vorzugs, anzuerkennen. So sagte Edgar Quinet in seiner einleitenden Vorlesung über ausländische Litteratur in Lyon: „Der Streit um den absoluten Vorzug einer Nation vor den andern wird uns nicht viel beschäftigen. Diese Frage, so gestellt, ist völlig unlösbar. Wer ist der Sieger: der deutsche, der englische, der italienische, der spanische Genius? Eine declamatorische Frage, die keine Antwort zuläßt.“ Auch Marmier selbst, der, wie Quinet in Lyon, so in Rennes als Lehrer der ausländischen Litteratur bei der faculté de lettres vor kurzem angestellt worden, der sich mit Eifer auf fremde Litteraturen, auf die deutsche namentlich und die skandinavische geworfen, und eine größere Schrift über Goethe geschrieben hat, auch Marmier sprach sich in der Rede, womit er seinen Cursus über ausländische Litteratur eröffnete, und die wir mit Interesse und Vergnügen lasen, in einem Sinn aus, welcher gerechte Anerkennung des Fremden erwarten ließ, obgleich sich darin auch Stellen finden, die ein starkes französisches Selbstgefühl verrathen, und die er vielleicht seinem Publicum schuldig zu seyn glaubte. Nur ein paar Stellen sey uns gestattet auszuheben: „Von jener ersten Epoche der (modernen) Poesie an steht der Einfluß Frankreichs entschieden begründet fest, und wenn dann und wann ein anderer Einfluß dem seinigen das Gleichgewicht hält oder ihn aufwiegt, so erhebt es sich plötzlich wieder mit neuer Kraft und mit einer Autorität, die man nicht mehr anficht. Im zwölften und dreizehnten Jahrhundert breitete sich die französische Poesie an allen (?) Höfen aus, erschütterte alle Geister (?); im siebenzehnten und achtzehnten herrschte sie über ganz Europa.“ Dann führt er einen Satz von Michelet an: „Was Frankreich vor allen Völkern voraushat, das ist das sociale Genie mit seinen drei, dem Anschein nach widersprechenden Charakteren: der leichten Aneignung fremder Ideen; dem glühenden Eifer, Proselyten zu machen, vermöge dessen es seine Ideen auswärts verbreitet; der Organisationskraft, welche die einen wie die andern zusammenfaßt und zu einem Ganzen verarbeitet; daher muß jede Idee hier ihren Durchgang machen, um zur Befestigung und Popularität zu gelangen; hier ist das Capitolium, wo jeder Genius seine Weihe, jeder Ruhm seine Krone zu empfangen hat. In der Geschichte der modernen Litteratur nimmt Frankreich eine hohe Stelle ein. Durch seine Poesie, seine gelehrten Arbeiten, seine Kunsttheorien, seine kritischen Systeme wirkt es auf die umgebenden Nationen, regt sie auf, verführt, beherrscht und zwingt sie, ihm auf der neuen glorreich eröffneten Bahn zu folgen. Keine Litteratur hat so wie die unsrige an den beiden äußersten Punkten Europa's geherrscht; keine Sprache ist wie die unsrige die unentbehrliche Sprache aller ausländischen Höfe und Salons geworden. Und dieß, weil diese Sprache einen solchen Charakter der Schärfe, Bestimmtheit und Klarheit hat, daß sie alle Ideen, deren sie sich bemächtigt, sofort durchsichtiger, dem Verständniß zugänglicher macht.“ Doch, meine Herren, fährt Marmier fort, es wäre eine große Ungerechtigkeit, wenn wir uns nun in unsern Königspurpur hüllen und unser Auge gegen Alles, was sonst geleistet worden, verschließen wollten. Jede Nation hat, der Reihe nach, ihr großes Jahrhundert gehabt, dessen rasche Lichter von da und dort ausgingen, wie die Strahlen des Nordlichts. Ja, wir werden immer die Männer lieben, die durch ihre Werke unser Land verherrlicht haben; aber der Cultus, den wir ihnen schuldig sind, wäre nur ein falscher Götzendienst, wenn er uns abhielte anzuerkennen, was wir Andern schuldig sind. Spanien, Italien, England und selbst Holland haben zu verschiedenen Zeiten einen bedeutenden Einfluß auf uns geübt. Deutschland, das lange mit Nachahmungen im Hintergrund gestanden, ist plötzlich aus seiner Schlaftrunkenheit erwacht, wie die Jungfrau im Feenmährchen, die ein Jahrhundert lang im Walde geschlafen. Jetzt steht es da und spricht zu uns durch den Mund seiner Männer von Genie, und verlangt von uns, daß wir es studiren, wie es sonst uns studirt hat.“ Ferner sagt er: „Das vergleichende Studium der Litteraturen ist sehr neu bei uns. Wir in Frankreich haben lange nicht gewußt, oder haben verkannt, was um uns her vorging. Diese Art von hochmüthiger Verachtung, oder, wenn man will, von Gleichgültigkeit, rührte von zwei Ursachen her u. s. w.“ „Deutschland, das uns unter verschiedenen Gesichtspunkten durch das treffliche Buch der Frau v. Staël aufgeschlossen wurde, ist in neuern Zeiten von Männern, die es begriffen haben, studirt und beschrieben worden. Indeß ist diese fruchtbare Mine noch lange nicht erschöpft; man hat ihre zahlreichen Adern kaum erst gemessen.“

Den hier durchscheinenden richtigen Ansichten und Gesinnungen scheint nun aber Marmier nicht überall treu zu bleiben, sey es, daß die nationale Eigenliebe ihn doch hin und wieder verblendet, oder daß es seinen absprechenden und allgemeinen Urtheilen häufig an der gehörigen Unterlage einer umfassenden und detaillirten Kenntniß der deutschen Litteratur fehlt. Zu den unbegründeten und vorlauten Urtheilen zählen wir auch das Obige über den dermaligen „Verfall der deutschen Poesie,“ sammt dessen Motivirung.

Zwar könnten wir Marmier einfach entgegenhalten, daß er sich den Beweis seiner Behauptung gar zu leicht gemacht habe, daß er von unbegründeten Voraussetzungen ausgegangen sey, wenn er annahm, durch die Sammlung von Stolle sey die deutsche (lyrische) Poesie der Gegenwart repräsentirt. Erstens bietet der Name des Herausgebers, der sich unsers Wissens noch nicht als Dichter oder Aesthetiker bekannt gemacht hat, keine Gewähr dafür, daß er überall die beste Auswahl getroffen;

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So sagte Edgar Quinet in seiner einleitenden Vorlesung über ausländische Litteratur in Lyon: &#x201E;Der Streit um den absoluten Vorzug einer Nation vor den andern wird uns nicht viel beschäftigen. Diese Frage, so gestellt, ist völlig unlösbar. Wer ist der Sieger: der deutsche, der englische, der italienische, der spanische Genius? Eine declamatorische Frage, die keine Antwort zuläßt.&#x201C; Auch Marmier selbst, der, wie Quinet in Lyon, so in Rennes als Lehrer der ausländischen Litteratur bei der faculté de lettres vor kurzem angestellt worden, der sich mit Eifer auf fremde Litteraturen, auf die deutsche namentlich und die skandinavische geworfen, und eine größere Schrift über Goethe geschrieben hat, auch Marmier sprach sich in der Rede, womit er seinen Cursus über ausländische Litteratur eröffnete, und die wir mit Interesse und Vergnügen lasen, in einem Sinn aus, welcher gerechte Anerkennung des Fremden erwarten ließ, obgleich sich darin auch Stellen finden, die ein starkes französisches Selbstgefühl verrathen, und die er vielleicht seinem Publicum schuldig zu seyn glaubte. Nur ein paar Stellen sey uns gestattet auszuheben: &#x201E;Von jener ersten Epoche der (modernen) Poesie an steht der Einfluß Frankreichs entschieden begründet fest, und wenn dann und wann ein anderer Einfluß dem seinigen das Gleichgewicht hält oder ihn aufwiegt, so erhebt es sich plötzlich wieder mit neuer Kraft und mit einer Autorität, die man nicht mehr anficht. Im zwölften und dreizehnten Jahrhundert breitete sich die französische Poesie an allen (?) Höfen aus, erschütterte alle Geister (?); im siebenzehnten und achtzehnten herrschte sie über ganz Europa.&#x201C; Dann führt er einen Satz von Michelet an: &#x201E;Was Frankreich vor allen Völkern voraushat, das ist das sociale Genie mit seinen drei, dem Anschein nach widersprechenden Charakteren: der leichten Aneignung fremder Ideen; dem glühenden Eifer, Proselyten zu machen, vermöge dessen es seine Ideen auswärts verbreitet; der Organisationskraft, welche die einen wie die andern zusammenfaßt und zu einem Ganzen verarbeitet; daher muß jede Idee hier ihren Durchgang machen, um zur Befestigung und Popularität zu gelangen; hier ist das Capitolium, wo jeder Genius seine Weihe, jeder Ruhm seine Krone zu empfangen hat. In der Geschichte der modernen Litteratur nimmt Frankreich eine hohe Stelle ein. Durch seine Poesie, seine gelehrten Arbeiten, seine Kunsttheorien, seine kritischen Systeme wirkt es auf die umgebenden Nationen, regt sie auf, verführt, beherrscht und zwingt sie, ihm auf der neuen glorreich eröffneten Bahn zu folgen. Keine Litteratur hat so wie die unsrige an den beiden äußersten Punkten Europa's geherrscht; keine Sprache ist wie die unsrige die unentbehrliche Sprache aller ausländischen Höfe und Salons geworden. Und dieß, weil diese Sprache einen solchen Charakter der Schärfe, Bestimmtheit und Klarheit hat, daß sie alle Ideen, deren sie sich bemächtigt, sofort durchsichtiger, dem Verständniß zugänglicher macht.&#x201C; Doch, meine Herren, fährt Marmier fort, es wäre eine große Ungerechtigkeit, wenn wir uns nun in unsern Königspurpur hüllen und unser Auge gegen Alles, was sonst geleistet worden, verschließen wollten. Jede Nation hat, der Reihe nach, ihr großes Jahrhundert gehabt, dessen rasche Lichter von da und dort ausgingen, wie die Strahlen des Nordlichts. Ja, wir werden immer die Männer lieben, die durch ihre Werke unser Land verherrlicht haben; aber der Cultus, den wir ihnen schuldig sind, wäre nur ein falscher Götzendienst, wenn er uns abhielte anzuerkennen, was wir Andern schuldig sind. Spanien, Italien, England und selbst Holland haben zu verschiedenen Zeiten einen bedeutenden Einfluß auf uns geübt. Deutschland, das lange mit Nachahmungen im Hintergrund gestanden, ist plötzlich aus seiner Schlaftrunkenheit erwacht, wie die Jungfrau im Feenmährchen, die ein Jahrhundert lang im Walde geschlafen. Jetzt steht es da und spricht zu uns durch den Mund seiner Männer von Genie, und verlangt von uns, daß wir es studiren, wie es sonst uns studirt hat.&#x201C; Ferner sagt er: &#x201E;Das vergleichende Studium der Litteraturen ist sehr neu bei uns. Wir in Frankreich haben lange nicht gewußt, oder haben verkannt, was um uns her vorging. Diese Art von hochmüthiger Verachtung, oder, wenn man will, von Gleichgültigkeit, rührte von zwei Ursachen her u. s. w.&#x201C; &#x201E;Deutschland, das uns unter verschiedenen Gesichtspunkten durch das treffliche Buch der Frau v. Staël aufgeschlossen wurde, ist in neuern Zeiten von Männern, die es begriffen haben, studirt und beschrieben worden. Indeß ist diese fruchtbare Mine noch lange nicht erschöpft; man hat ihre zahlreichen Adern kaum erst gemessen.&#x201C;</p><lb/>
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[0981/0013] einnehmen würden. Hr. v. Nimbtsch, oder, wenn man lieber will, Lenau, den die deutschen Journalisten so sehr gepriesen haben, wäre in Frankreich gewiß nur ein Dichter dritten Ranges, denn ich nehme zwischen ihm und Heine noch eine gewisse Distanz an, und bin litterarisch und poetisch fest überzeugt, daß die anmuthigste Ode oder ergreifendste Elegie von Heine nicht einmal einem der einfachsten Blätter von Lamartine oder Victor Hugo gleichkommt u. s. w.“ In diesem Tone fährt er noch weiter fort, und hält sich namentlich über die Lobpreisungen auf, welche der Herausgeber dem Dichter Julius Mosen spende, von welchem er ein kleines Lied: Frühlingsnacht, in zwar ganz wortgetreuer, aber prosaischer Uebersetzung gibt, „damit die Deutschen, so eifersüchtig auf den Ausdruck ihrer Zeitwörter, die Schönheit ihrer Adjective und das Umfassende ihrer Phrasen (l'ampleur de leurs phrases) selbst ein wenig den Effect beurtheilen können, welchen eines ihrer Gedichte, wörtlich in unsere Sprache übertragen, macht.“ Für unsern Zweck genügt das Ausgehobene. Die Weltlitteratur, von welcher seit Goethe vielfach gesprochen worden, scheint in einem vernünftigen und gemäßigten Sinn sich allerdings mehr und mehr realisiren zu wollen; die Empfänglichkeit, der Verkehr, das Verständniß, die anerkennende Gerechtigkeit, die Ideenmittheilung nehmen bei den gebildeten Nationen Europa's in Beziehung auf Litteratur immer mehr zu, und die temporären Verirrungen und Extravaganzen, welche dabei mit unterlaufen, werden doch immer durch bleibenden Gewinn überwogen. Selbst die Franzosen, welche von früherer Zeit her eine litterarische Suprematie in Anspruch zu nehmen gewohnt gewesen, lassen sich allmählich herbei, die litterarische und poetische Ebenbürtigkeit anderer Nationen, wenn auch mit Widerstreben und manchen Rückfällen in das alte, schmeichelnde Vorurtheil ihres Vorzugs, anzuerkennen. So sagte Edgar Quinet in seiner einleitenden Vorlesung über ausländische Litteratur in Lyon: „Der Streit um den absoluten Vorzug einer Nation vor den andern wird uns nicht viel beschäftigen. Diese Frage, so gestellt, ist völlig unlösbar. Wer ist der Sieger: der deutsche, der englische, der italienische, der spanische Genius? Eine declamatorische Frage, die keine Antwort zuläßt.“ Auch Marmier selbst, der, wie Quinet in Lyon, so in Rennes als Lehrer der ausländischen Litteratur bei der faculté de lettres vor kurzem angestellt worden, der sich mit Eifer auf fremde Litteraturen, auf die deutsche namentlich und die skandinavische geworfen, und eine größere Schrift über Goethe geschrieben hat, auch Marmier sprach sich in der Rede, womit er seinen Cursus über ausländische Litteratur eröffnete, und die wir mit Interesse und Vergnügen lasen, in einem Sinn aus, welcher gerechte Anerkennung des Fremden erwarten ließ, obgleich sich darin auch Stellen finden, die ein starkes französisches Selbstgefühl verrathen, und die er vielleicht seinem Publicum schuldig zu seyn glaubte. Nur ein paar Stellen sey uns gestattet auszuheben: „Von jener ersten Epoche der (modernen) Poesie an steht der Einfluß Frankreichs entschieden begründet fest, und wenn dann und wann ein anderer Einfluß dem seinigen das Gleichgewicht hält oder ihn aufwiegt, so erhebt es sich plötzlich wieder mit neuer Kraft und mit einer Autorität, die man nicht mehr anficht. Im zwölften und dreizehnten Jahrhundert breitete sich die französische Poesie an allen (?) Höfen aus, erschütterte alle Geister (?); im siebenzehnten und achtzehnten herrschte sie über ganz Europa.“ Dann führt er einen Satz von Michelet an: „Was Frankreich vor allen Völkern voraushat, das ist das sociale Genie mit seinen drei, dem Anschein nach widersprechenden Charakteren: der leichten Aneignung fremder Ideen; dem glühenden Eifer, Proselyten zu machen, vermöge dessen es seine Ideen auswärts verbreitet; der Organisationskraft, welche die einen wie die andern zusammenfaßt und zu einem Ganzen verarbeitet; daher muß jede Idee hier ihren Durchgang machen, um zur Befestigung und Popularität zu gelangen; hier ist das Capitolium, wo jeder Genius seine Weihe, jeder Ruhm seine Krone zu empfangen hat. In der Geschichte der modernen Litteratur nimmt Frankreich eine hohe Stelle ein. Durch seine Poesie, seine gelehrten Arbeiten, seine Kunsttheorien, seine kritischen Systeme wirkt es auf die umgebenden Nationen, regt sie auf, verführt, beherrscht und zwingt sie, ihm auf der neuen glorreich eröffneten Bahn zu folgen. Keine Litteratur hat so wie die unsrige an den beiden äußersten Punkten Europa's geherrscht; keine Sprache ist wie die unsrige die unentbehrliche Sprache aller ausländischen Höfe und Salons geworden. Und dieß, weil diese Sprache einen solchen Charakter der Schärfe, Bestimmtheit und Klarheit hat, daß sie alle Ideen, deren sie sich bemächtigt, sofort durchsichtiger, dem Verständniß zugänglicher macht.“ Doch, meine Herren, fährt Marmier fort, es wäre eine große Ungerechtigkeit, wenn wir uns nun in unsern Königspurpur hüllen und unser Auge gegen Alles, was sonst geleistet worden, verschließen wollten. Jede Nation hat, der Reihe nach, ihr großes Jahrhundert gehabt, dessen rasche Lichter von da und dort ausgingen, wie die Strahlen des Nordlichts. Ja, wir werden immer die Männer lieben, die durch ihre Werke unser Land verherrlicht haben; aber der Cultus, den wir ihnen schuldig sind, wäre nur ein falscher Götzendienst, wenn er uns abhielte anzuerkennen, was wir Andern schuldig sind. Spanien, Italien, England und selbst Holland haben zu verschiedenen Zeiten einen bedeutenden Einfluß auf uns geübt. Deutschland, das lange mit Nachahmungen im Hintergrund gestanden, ist plötzlich aus seiner Schlaftrunkenheit erwacht, wie die Jungfrau im Feenmährchen, die ein Jahrhundert lang im Walde geschlafen. Jetzt steht es da und spricht zu uns durch den Mund seiner Männer von Genie, und verlangt von uns, daß wir es studiren, wie es sonst uns studirt hat.“ Ferner sagt er: „Das vergleichende Studium der Litteraturen ist sehr neu bei uns. Wir in Frankreich haben lange nicht gewußt, oder haben verkannt, was um uns her vorging. Diese Art von hochmüthiger Verachtung, oder, wenn man will, von Gleichgültigkeit, rührte von zwei Ursachen her u. s. w.“ „Deutschland, das uns unter verschiedenen Gesichtspunkten durch das treffliche Buch der Frau v. Staël aufgeschlossen wurde, ist in neuern Zeiten von Männern, die es begriffen haben, studirt und beschrieben worden. Indeß ist diese fruchtbare Mine noch lange nicht erschöpft; man hat ihre zahlreichen Adern kaum erst gemessen.“ Den hier durchscheinenden richtigen Ansichten und Gesinnungen scheint nun aber Marmier nicht überall treu zu bleiben, sey es, daß die nationale Eigenliebe ihn doch hin und wieder verblendet, oder daß es seinen absprechenden und allgemeinen Urtheilen häufig an der gehörigen Unterlage einer umfassenden und detaillirten Kenntniß der deutschen Litteratur fehlt. Zu den unbegründeten und vorlauten Urtheilen zählen wir auch das Obige über den dermaligen „Verfall der deutschen Poesie,“ sammt dessen Motivirung. Zwar könnten wir Marmier einfach entgegenhalten, daß er sich den Beweis seiner Behauptung gar zu leicht gemacht habe, daß er von unbegründeten Voraussetzungen ausgegangen sey, wenn er annahm, durch die Sammlung von Stolle sey die deutsche (lyrische) Poesie der Gegenwart repräsentirt. Erstens bietet der Name des Herausgebers, der sich unsers Wissens noch nicht als Dichter oder Aesthetiker bekannt gemacht hat, keine Gewähr dafür, daß er überall die beste Auswahl getroffen;

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung. Nr. 123. Augsburg, 2. Mai 1840, S. 0981. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/augsburgerallgemeine_123_18400502/13>, abgerufen am 28.03.2024.