Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Allgemeine Zeitung. Nr. 135. Augsburg, 14. Mai 1840.

Bild:
<< vorherige Seite

durch Gunst und Gnade zu gewinnen, um so eine ministerielle oder richtiger königliche Mehrheit zu vermitteln; im andern Fall aber sey die Souveränetät wirklich und wesentlich zwischen Kammer und Krone getheilt, so daß das Königthum das immanente und dauernde, die Kammer das flüssige und mobile Moment der Souveränetät bedeute. Die letztere Auffassung ist in England seit Jahrhunderten Praxis; für Frankreich aber hat man ihre rechtliche Zulässigkeit, wie ihre thatsächliche Angemessenheit auch in deutschen Blättern die letzten Jahre her vielfach bestritten.

Gestatten Sie mir die Frage einen Augenblick von einem andern Standpunkt aus zu beleuchten. Wenn das Axiom der Volkssouveränetät, das die Juliusrevolution an die Spitze des politischen Codex schrieb, nicht etwa ein bloßer Redactionsirrthum, sondern wirklich der leitende Grundsatz alles öffentlichen Lebens in Frankreich ist, so kann es vernünftigerweise keinem Bedenken unterliegen, daß der bestimmende Wille der Gesetzgebung bei dem Wahlkörper als der eigentlichen Landsgemeinde (populus, nicht plebs), und folgeweise bei dem Parlament beruhen. Insofern aber der Staat die Formen seines Daseyns aus der Gliederung der Gesellschaft entnimmt, ja eben nichts ist, als die objective Vernunft und der sittliche Geist der Gesellschaft, so ist es klar, daß diese Form auch genau denjenigen Verhältnissen des französischen Lebens, in denen eine wirkliche und wahrhaftige Macht ist, entspreche. Man wirft uns ein, daß Frankreich auf diesem Wege zur Demokratie gelange, und gerade das ist die Täuschung. Frankreich braucht eine Demokratie nicht erst zu werden, es ist schon eine durch und durch, weit mehr als England oder irgend ein anderes constitutionelles Land Europa's, das einzige Norwegen ausgenommen. In keinem Lande ist das Mittelalter so vollständig erloschen, wie in Frankreich; in keinem andern Lande haben sich die Factoren, die das Leben der alteuropäischen Gesellschaft gestalteten, so von Grund aus zu Tode gelebt. Diese Nation kennt ein Königthum, aber keine Monarchie in der ursprünglichen Bedeutung des Worts, einen Adel (auch diesen gesetzlich nicht einmal mehr), aber keine Aristokratie, einen Clerus, aber keine Hierarchie mit politischem Einfluß im alten Sinne. Hier ist classischer Boden moderner Gesellschaft; die Gliederung dieser Gesellschaft aber spricht sich in andern Momenten aus: Geist, Bildung, Reichthum, Industrie. Geist, Bildung, Reichthum, Industrie - alle diese Momente sind nicht ständisch oder dinglich, sondern individuell und persönlich, und eben deßhalb demokratisch. Einer Gesetzgebung gegenüber, welche die Rechte des Einzelnen in der Familie und unter gewissen objectiven Voraussetzungen auch im Staate gleichstellt, die den Güterverkehr, durch ihr Erbrecht und ihr System von der Freiheit und Veräußerlichkeit des Grundeigenthums, im weitesten Umfange flüssig zu machen gewußt hat, die keine Privilegien, keine Ausnahmen kennt, und alle ständischen Uns chiede aufgehen läßt in dem einen Begriff staatsbürgerlicher Isopolitie, einem Volke gegenüber, das durch die Schule der Revolution gegangen keinen Glauben an die Personen mehr hat, aber einen desto entschiedenern in die Wahrheit und Allmacht der öffentlichen Meinung - sagen Sie selbst, welche Wahrscheinlichkeiten des Erfolgs hätte hier das Königthum für sein Bestreben, absolut zu seyn in constitutionellen Formen? Welche moralische Macht könnte es für seine Zwecke in den Gemüthern aufbieten, welche organische in den Gesetzen? Die Demokratie der Mittelclassen hat sich zu läutern und zu geistigen, zu binden und zu organisiren; sie zu zerstören ist unmöglich. An diesem Grundirrthum ist die Restauration zu Grabe gegangen. Man kann den modernfranzösischen Staat nicht mit den neuen Formen im alten Sinne regieren, man kann den Geist nicht durch den Buchstaben escamotiren. Betrachten Sie die Dinge von diesem Standpunkt aus, so kann man der Krone, obgleich das Ministerium Thiers ohne Zweifel ein Sieg des Parlaments über dieselbe ist, zu dieser Niederlage nur Glück wünschen. Wie die Sachen jenseits des Rheins stehen, hat das Königthum keine andere Gewähr seiner Zukunft, als sich rein auf den Kreis seiner verfassungsmäßigen Befugnisse zurückzuziehen, um eben hiedurch in der flüssigen Bewegung der Parteien und Interessen als ein Stätiges und Unverletzbares zu erscheinen. Der großen Persönlichkeit ist auch von diesem Standpunkt aus eine große Wirkung in die Geschichte hinein nicht benommen, allerdings aber jene Machtvollkommenheit, in deren Besitz Ludwig der Vierzehnte sagen konnte: der Staat und ich, wir sind Eins! Sie erinnern sich wohl des Worts, das der Constitutionnel eines Morgens, nach der Erhebung des Ministeriums Thiers, sagte: dieses Ministerium sey das Ministerium Martignac des Julius - ein ominöses Wort, es erschöpft die Lage.

Schweiz.

Die Landsgemeinden in den demokratischen Kantonen sind nun alle abgehalten und durchgehends ruhig vorüber gegangen. Die wichtigste war wohl dießmal die von Appenzell Außer-Rhoden, welche alle Anträge zu Gesetzes- und Verfassungsänderungen, die von ihren Behörden ausgearbeitet waren, meistens mit großem Mehr verworfen hat. Der Vorschlag, die Trennung der Gewalten durchzuführen und insbesondere ein eigenes Obergericht zu bestellen, der schon wiederholt und dießmal sorgfältiger als früher gemacht worden war, blieb in der Minderheit. Ebenso der Entwurf eines Schulgesetzes und der Entwurf eines Assecuranzgesetzes. "Nichts Neues" war die Tendenz der Volksmehrheit, die gegen alle Veränderung mißtrauisch geworden ist. Die Trennung der Gewalten erscheint ihr zu kostlich und umständlich für den kleinen Staatshaushalt, das Schulgesetz genirt sie in der individuellen Freiheit, das Assecuranzgesetz erschreckt durch die Gefahr großer Ausgaben. Und doch ist dieses Völklein das rührigste und beweglichste in den Demokratien der deutschen Schweiz. In Unterwalden nid dem Wald zeigte das souveräne Volk auch seinen eigenen Willen ganz gegen sonstige Gewohnheit im Gegensatz gegen die Rathschläge seiner Vorgesetzten, indem es mehrere Wahlen zu höhern Staatsämtern an Männer verlieh, die nicht von den Herren, sondern von einem Bauer aus dem Ring empfohlen worden waren. - In Schwyz ruht der Hörner- und Klauenstreit, und Landammann Abyberg wurde dießmal wieder als Gesandter auf die Tagsatzung bezeichnet. Er wird da wunderliche Betrachtungen anstellen können über das gleiche Recht der Eidgenossenschaft, wenn er erwägt, wie er zur Strafe dafür, daß er aus Auftrag seiner Regierung mit Gewalt die Gemeinde Küßnacht besetzt hatte, aus der Liste der eidgenössischen Obern gestrichen und sammt dem innern Lande Schwyz tüchtig gebrandschatzt wurde, während der eidgenössische Oberst Luvini seine eigene Regierung ebenfalls mit Gewalt und mit geworbenen Schaaren verjagte und vermuthlich in seiner Obersten-Ehre unangetastet ebenfalls auf der Tagsatzung als Gesandter sitzen und der gewaltsame Landfriedensbruch im Wallis wahrscheinlich als fait accompli verehrt wird.

Die brasilische Werbung scheint keinen Anklang zu finden, nicht weil nicht mehr vielleicht als vor wenig Jahren noch Auswanderungs- und Kriegslust sich in hinreichendem Maaße in der Schweiz beisammen findet, sondern weil die Vortheile viel zu klein und die Gewähr für treue Erfüllung viel zu gering

durch Gunst und Gnade zu gewinnen, um so eine ministerielle oder richtiger königliche Mehrheit zu vermitteln; im andern Fall aber sey die Souveränetät wirklich und wesentlich zwischen Kammer und Krone getheilt, so daß das Königthum das immanente und dauernde, die Kammer das flüssige und mobile Moment der Souveränetät bedeute. Die letztere Auffassung ist in England seit Jahrhunderten Praxis; für Frankreich aber hat man ihre rechtliche Zulässigkeit, wie ihre thatsächliche Angemessenheit auch in deutschen Blättern die letzten Jahre her vielfach bestritten.

Gestatten Sie mir die Frage einen Augenblick von einem andern Standpunkt aus zu beleuchten. Wenn das Axiom der Volkssouveränetät, das die Juliusrevolution an die Spitze des politischen Codex schrieb, nicht etwa ein bloßer Redactionsirrthum, sondern wirklich der leitende Grundsatz alles öffentlichen Lebens in Frankreich ist, so kann es vernünftigerweise keinem Bedenken unterliegen, daß der bestimmende Wille der Gesetzgebung bei dem Wahlkörper als der eigentlichen Landsgemeinde (populus, nicht plebs), und folgeweise bei dem Parlament beruhen. Insofern aber der Staat die Formen seines Daseyns aus der Gliederung der Gesellschaft entnimmt, ja eben nichts ist, als die objective Vernunft und der sittliche Geist der Gesellschaft, so ist es klar, daß diese Form auch genau denjenigen Verhältnissen des französischen Lebens, in denen eine wirkliche und wahrhaftige Macht ist, entspreche. Man wirft uns ein, daß Frankreich auf diesem Wege zur Demokratie gelange, und gerade das ist die Täuschung. Frankreich braucht eine Demokratie nicht erst zu werden, es ist schon eine durch und durch, weit mehr als England oder irgend ein anderes constitutionelles Land Europa's, das einzige Norwegen ausgenommen. In keinem Lande ist das Mittelalter so vollständig erloschen, wie in Frankreich; in keinem andern Lande haben sich die Factoren, die das Leben der alteuropäischen Gesellschaft gestalteten, so von Grund aus zu Tode gelebt. Diese Nation kennt ein Königthum, aber keine Monarchie in der ursprünglichen Bedeutung des Worts, einen Adel (auch diesen gesetzlich nicht einmal mehr), aber keine Aristokratie, einen Clerus, aber keine Hierarchie mit politischem Einfluß im alten Sinne. Hier ist classischer Boden moderner Gesellschaft; die Gliederung dieser Gesellschaft aber spricht sich in andern Momenten aus: Geist, Bildung, Reichthum, Industrie. Geist, Bildung, Reichthum, Industrie – alle diese Momente sind nicht ständisch oder dinglich, sondern individuell und persönlich, und eben deßhalb demokratisch. Einer Gesetzgebung gegenüber, welche die Rechte des Einzelnen in der Familie und unter gewissen objectiven Voraussetzungen auch im Staate gleichstellt, die den Güterverkehr, durch ihr Erbrecht und ihr System von der Freiheit und Veräußerlichkeit des Grundeigenthums, im weitesten Umfange flüssig zu machen gewußt hat, die keine Privilegien, keine Ausnahmen kennt, und alle ständischen Uns chiede aufgehen läßt in dem einen Begriff staatsbürgerlicher Isopolitie, einem Volke gegenüber, das durch die Schule der Revolution gegangen keinen Glauben an die Personen mehr hat, aber einen desto entschiedenern in die Wahrheit und Allmacht der öffentlichen Meinung – sagen Sie selbst, welche Wahrscheinlichkeiten des Erfolgs hätte hier das Königthum für sein Bestreben, absolut zu seyn in constitutionellen Formen? Welche moralische Macht könnte es für seine Zwecke in den Gemüthern aufbieten, welche organische in den Gesetzen? Die Demokratie der Mittelclassen hat sich zu läutern und zu geistigen, zu binden und zu organisiren; sie zu zerstören ist unmöglich. An diesem Grundirrthum ist die Restauration zu Grabe gegangen. Man kann den modernfranzösischen Staat nicht mit den neuen Formen im alten Sinne regieren, man kann den Geist nicht durch den Buchstaben escamotiren. Betrachten Sie die Dinge von diesem Standpunkt aus, so kann man der Krone, obgleich das Ministerium Thiers ohne Zweifel ein Sieg des Parlaments über dieselbe ist, zu dieser Niederlage nur Glück wünschen. Wie die Sachen jenseits des Rheins stehen, hat das Königthum keine andere Gewähr seiner Zukunft, als sich rein auf den Kreis seiner verfassungsmäßigen Befugnisse zurückzuziehen, um eben hiedurch in der flüssigen Bewegung der Parteien und Interessen als ein Stätiges und Unverletzbares zu erscheinen. Der großen Persönlichkeit ist auch von diesem Standpunkt aus eine große Wirkung in die Geschichte hinein nicht benommen, allerdings aber jene Machtvollkommenheit, in deren Besitz Ludwig der Vierzehnte sagen konnte: der Staat und ich, wir sind Eins! Sie erinnern sich wohl des Worts, das der Constitutionnel eines Morgens, nach der Erhebung des Ministeriums Thiers, sagte: dieses Ministerium sey das Ministerium Martignac des Julius – ein ominöses Wort, es erschöpft die Lage.

Schweiz.

Die Landsgemeinden in den demokratischen Kantonen sind nun alle abgehalten und durchgehends ruhig vorüber gegangen. Die wichtigste war wohl dießmal die von Appenzell Außer-Rhoden, welche alle Anträge zu Gesetzes- und Verfassungsänderungen, die von ihren Behörden ausgearbeitet waren, meistens mit großem Mehr verworfen hat. Der Vorschlag, die Trennung der Gewalten durchzuführen und insbesondere ein eigenes Obergericht zu bestellen, der schon wiederholt und dießmal sorgfältiger als früher gemacht worden war, blieb in der Minderheit. Ebenso der Entwurf eines Schulgesetzes und der Entwurf eines Assecuranzgesetzes. „Nichts Neues“ war die Tendenz der Volksmehrheit, die gegen alle Veränderung mißtrauisch geworden ist. Die Trennung der Gewalten erscheint ihr zu kostlich und umständlich für den kleinen Staatshaushalt, das Schulgesetz genirt sie in der individuellen Freiheit, das Assecuranzgesetz erschreckt durch die Gefahr großer Ausgaben. Und doch ist dieses Völklein das rührigste und beweglichste in den Demokratien der deutschen Schweiz. In Unterwalden nid dem Wald zeigte das souveräne Volk auch seinen eigenen Willen ganz gegen sonstige Gewohnheit im Gegensatz gegen die Rathschläge seiner Vorgesetzten, indem es mehrere Wahlen zu höhern Staatsämtern an Männer verlieh, die nicht von den Herren, sondern von einem Bauer aus dem Ring empfohlen worden waren. – In Schwyz ruht der Hörner- und Klauenstreit, und Landammann Abyberg wurde dießmal wieder als Gesandter auf die Tagsatzung bezeichnet. Er wird da wunderliche Betrachtungen anstellen können über das gleiche Recht der Eidgenossenschaft, wenn er erwägt, wie er zur Strafe dafür, daß er aus Auftrag seiner Regierung mit Gewalt die Gemeinde Küßnacht besetzt hatte, aus der Liste der eidgenössischen Obern gestrichen und sammt dem innern Lande Schwyz tüchtig gebrandschatzt wurde, während der eidgenössische Oberst Luvini seine eigene Regierung ebenfalls mit Gewalt und mit geworbenen Schaaren verjagte und vermuthlich in seiner Obersten-Ehre unangetastet ebenfalls auf der Tagsatzung als Gesandter sitzen und der gewaltsame Landfriedensbruch im Wallis wahrscheinlich als fait accompli verehrt wird.

Die brasilische Werbung scheint keinen Anklang zu finden, nicht weil nicht mehr vielleicht als vor wenig Jahren noch Auswanderungs- und Kriegslust sich in hinreichendem Maaße in der Schweiz beisammen findet, sondern weil die Vortheile viel zu klein und die Gewähr für treue Erfüllung viel zu gering

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div type="jArticle" n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0011" n="1075"/>
durch Gunst und Gnade zu gewinnen, um so eine ministerielle oder richtiger königliche Mehrheit zu vermitteln; im andern Fall aber sey die Souveränetät wirklich und wesentlich zwischen Kammer und Krone getheilt, so daß das Königthum das immanente und dauernde, die Kammer das flüssige und mobile Moment der Souveränetät bedeute. Die letztere Auffassung ist in England seit Jahrhunderten Praxis; für Frankreich aber hat man ihre rechtliche Zulässigkeit, wie ihre thatsächliche Angemessenheit auch in deutschen Blättern die letzten Jahre her vielfach bestritten.</p><lb/>
          <p>Gestatten Sie mir die Frage einen Augenblick von einem andern Standpunkt aus zu beleuchten. Wenn das Axiom der Volkssouveränetät, das die Juliusrevolution an die Spitze des politischen Codex schrieb, nicht etwa ein bloßer Redactionsirrthum, sondern wirklich der leitende Grundsatz alles öffentlichen Lebens in Frankreich ist, so kann es vernünftigerweise keinem Bedenken unterliegen, daß der bestimmende Wille der Gesetzgebung bei dem Wahlkörper als der eigentlichen Landsgemeinde (populus, nicht plebs), und folgeweise bei dem Parlament beruhen. Insofern aber der Staat die Formen seines Daseyns aus der Gliederung der Gesellschaft entnimmt, ja eben nichts ist, als die objective Vernunft und der sittliche Geist der Gesellschaft, so ist es klar, daß diese Form auch genau denjenigen Verhältnissen des französischen Lebens, in denen eine wirkliche und wahrhaftige Macht ist, entspreche. Man wirft uns ein, daß Frankreich auf diesem Wege zur Demokratie gelange, und gerade das ist die Täuschung. Frankreich braucht eine Demokratie nicht erst zu werden, es ist schon eine durch und durch, weit mehr als England oder irgend ein anderes constitutionelles Land Europa's, das einzige Norwegen ausgenommen. In keinem Lande ist das Mittelalter so vollständig erloschen, wie in Frankreich; in keinem andern Lande haben sich die Factoren, die das Leben der alteuropäischen Gesellschaft gestalteten, so von Grund aus zu Tode gelebt. Diese Nation kennt ein Königthum, aber keine Monarchie in der ursprünglichen Bedeutung des Worts, einen Adel (auch diesen <hi rendition="#g">gesetzlich</hi> nicht einmal mehr), aber keine Aristokratie, einen Clerus, aber keine Hierarchie mit politischem Einfluß im alten Sinne. Hier ist classischer Boden moderner Gesellschaft; die Gliederung dieser Gesellschaft aber spricht sich in andern Momenten aus: Geist, Bildung, Reichthum, Industrie. Geist, Bildung, Reichthum, Industrie &#x2013; alle diese Momente sind nicht ständisch oder dinglich, sondern individuell und persönlich, und eben deßhalb demokratisch. Einer Gesetzgebung gegenüber, welche die Rechte des Einzelnen in der Familie und unter gewissen objectiven Voraussetzungen auch im Staate gleichstellt, die den Güterverkehr, durch ihr Erbrecht und ihr System von der Freiheit und Veräußerlichkeit des Grundeigenthums, im weitesten Umfange flüssig zu machen gewußt hat, die keine Privilegien, keine Ausnahmen kennt, und alle ständischen Uns chiede aufgehen läßt in dem einen Begriff staatsbürgerlicher Isopolitie, einem Volke gegenüber, das durch die Schule der Revolution gegangen keinen Glauben an die Personen mehr hat, aber einen desto entschiedenern in die Wahrheit und Allmacht der öffentlichen Meinung &#x2013; sagen Sie selbst, welche Wahrscheinlichkeiten des Erfolgs hätte hier das Königthum für sein Bestreben, absolut zu seyn in constitutionellen Formen? Welche moralische Macht könnte es für seine Zwecke in den Gemüthern aufbieten, welche organische in den Gesetzen? Die Demokratie der Mittelclassen hat sich zu läutern und zu geistigen, zu binden und zu organisiren; sie zu zerstören ist unmöglich. An diesem Grundirrthum ist die Restauration zu Grabe gegangen. Man kann den modernfranzösischen Staat nicht mit den neuen Formen im alten Sinne regieren, man kann den Geist nicht durch den Buchstaben escamotiren. Betrachten Sie die Dinge von diesem Standpunkt aus, so kann man der Krone, obgleich das Ministerium Thiers ohne Zweifel ein Sieg des Parlaments über dieselbe ist, zu dieser Niederlage nur Glück wünschen. Wie die Sachen jenseits des Rheins stehen, hat das Königthum keine andere Gewähr seiner Zukunft, als sich rein auf den Kreis seiner verfassungsmäßigen Befugnisse zurückzuziehen, um eben hiedurch in der flüssigen Bewegung der Parteien und Interessen als ein Stätiges und Unverletzbares zu erscheinen. Der großen Persönlichkeit ist auch von diesem Standpunkt aus eine große Wirkung in die Geschichte hinein nicht benommen, allerdings aber jene Machtvollkommenheit, in deren Besitz Ludwig der Vierzehnte sagen konnte: der Staat und ich, wir sind Eins! Sie erinnern sich wohl des Worts, das der Constitutionnel eines Morgens, nach der Erhebung des Ministeriums Thiers, sagte: dieses Ministerium sey das Ministerium Martignac des Julius &#x2013; ein ominöses Wort, es erschöpft die Lage.</p><lb/>
        </div>
      </div>
      <div type="jArticle" n="1">
        <head> <hi rendition="#b">Schweiz.</hi> </head><lb/>
        <div n="2">
          <byline>
            <docAuthor>
              <gap reason="insignificant"/>
            </docAuthor>
          </byline>
          <dateline><hi rendition="#b">Zürich,</hi> 8 Mai.</dateline>
          <p> Die Landsgemeinden in den demokratischen Kantonen sind nun alle abgehalten und durchgehends ruhig vorüber gegangen. Die wichtigste war wohl dießmal die von Appenzell Außer-Rhoden, welche alle Anträge zu Gesetzes- und Verfassungsänderungen, die von ihren Behörden ausgearbeitet waren, meistens mit großem Mehr verworfen hat. Der Vorschlag, die Trennung der Gewalten durchzuführen und insbesondere ein eigenes Obergericht zu bestellen, der schon wiederholt und dießmal sorgfältiger als früher gemacht worden war, blieb in der Minderheit. Ebenso der Entwurf eines Schulgesetzes und der Entwurf eines Assecuranzgesetzes. &#x201E;Nichts Neues&#x201C; war die Tendenz der Volksmehrheit, die gegen alle Veränderung mißtrauisch geworden ist. Die Trennung der Gewalten erscheint ihr zu kostlich und umständlich für den kleinen Staatshaushalt, das Schulgesetz genirt sie in der individuellen Freiheit, das Assecuranzgesetz erschreckt durch die Gefahr großer Ausgaben. Und doch ist dieses Völklein das rührigste und beweglichste in den Demokratien der deutschen Schweiz. In Unterwalden nid dem Wald zeigte das souveräne Volk auch seinen eigenen Willen ganz gegen sonstige Gewohnheit im Gegensatz gegen die Rathschläge seiner Vorgesetzten, indem es mehrere Wahlen zu höhern Staatsämtern an Männer verlieh, die nicht von den Herren, sondern von einem Bauer aus dem Ring empfohlen worden waren. &#x2013; In Schwyz ruht der Hörner- und Klauenstreit, und Landammann Abyberg wurde dießmal wieder als Gesandter auf die Tagsatzung bezeichnet. Er wird da wunderliche Betrachtungen anstellen können über das gleiche Recht der Eidgenossenschaft, wenn er erwägt, wie er zur Strafe dafür, daß er aus Auftrag seiner Regierung mit Gewalt die Gemeinde Küßnacht besetzt hatte, aus der Liste der eidgenössischen Obern gestrichen und sammt dem innern Lande Schwyz tüchtig gebrandschatzt wurde, während der eidgenössische Oberst Luvini seine eigene Regierung ebenfalls mit Gewalt und mit geworbenen Schaaren verjagte und vermuthlich in seiner Obersten-Ehre unangetastet ebenfalls auf der Tagsatzung als Gesandter sitzen und der gewaltsame Landfriedensbruch im Wallis wahrscheinlich als fait accompli verehrt wird.</p><lb/>
          <p>Die brasilische Werbung scheint keinen Anklang zu finden, nicht weil nicht mehr vielleicht als vor wenig Jahren noch Auswanderungs- und Kriegslust sich in hinreichendem Maaße in der Schweiz beisammen findet, sondern weil die Vortheile viel zu klein und die Gewähr für treue Erfüllung viel zu gering<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[1075/0011] durch Gunst und Gnade zu gewinnen, um so eine ministerielle oder richtiger königliche Mehrheit zu vermitteln; im andern Fall aber sey die Souveränetät wirklich und wesentlich zwischen Kammer und Krone getheilt, so daß das Königthum das immanente und dauernde, die Kammer das flüssige und mobile Moment der Souveränetät bedeute. Die letztere Auffassung ist in England seit Jahrhunderten Praxis; für Frankreich aber hat man ihre rechtliche Zulässigkeit, wie ihre thatsächliche Angemessenheit auch in deutschen Blättern die letzten Jahre her vielfach bestritten. Gestatten Sie mir die Frage einen Augenblick von einem andern Standpunkt aus zu beleuchten. Wenn das Axiom der Volkssouveränetät, das die Juliusrevolution an die Spitze des politischen Codex schrieb, nicht etwa ein bloßer Redactionsirrthum, sondern wirklich der leitende Grundsatz alles öffentlichen Lebens in Frankreich ist, so kann es vernünftigerweise keinem Bedenken unterliegen, daß der bestimmende Wille der Gesetzgebung bei dem Wahlkörper als der eigentlichen Landsgemeinde (populus, nicht plebs), und folgeweise bei dem Parlament beruhen. Insofern aber der Staat die Formen seines Daseyns aus der Gliederung der Gesellschaft entnimmt, ja eben nichts ist, als die objective Vernunft und der sittliche Geist der Gesellschaft, so ist es klar, daß diese Form auch genau denjenigen Verhältnissen des französischen Lebens, in denen eine wirkliche und wahrhaftige Macht ist, entspreche. Man wirft uns ein, daß Frankreich auf diesem Wege zur Demokratie gelange, und gerade das ist die Täuschung. Frankreich braucht eine Demokratie nicht erst zu werden, es ist schon eine durch und durch, weit mehr als England oder irgend ein anderes constitutionelles Land Europa's, das einzige Norwegen ausgenommen. In keinem Lande ist das Mittelalter so vollständig erloschen, wie in Frankreich; in keinem andern Lande haben sich die Factoren, die das Leben der alteuropäischen Gesellschaft gestalteten, so von Grund aus zu Tode gelebt. Diese Nation kennt ein Königthum, aber keine Monarchie in der ursprünglichen Bedeutung des Worts, einen Adel (auch diesen gesetzlich nicht einmal mehr), aber keine Aristokratie, einen Clerus, aber keine Hierarchie mit politischem Einfluß im alten Sinne. Hier ist classischer Boden moderner Gesellschaft; die Gliederung dieser Gesellschaft aber spricht sich in andern Momenten aus: Geist, Bildung, Reichthum, Industrie. Geist, Bildung, Reichthum, Industrie – alle diese Momente sind nicht ständisch oder dinglich, sondern individuell und persönlich, und eben deßhalb demokratisch. Einer Gesetzgebung gegenüber, welche die Rechte des Einzelnen in der Familie und unter gewissen objectiven Voraussetzungen auch im Staate gleichstellt, die den Güterverkehr, durch ihr Erbrecht und ihr System von der Freiheit und Veräußerlichkeit des Grundeigenthums, im weitesten Umfange flüssig zu machen gewußt hat, die keine Privilegien, keine Ausnahmen kennt, und alle ständischen Uns chiede aufgehen läßt in dem einen Begriff staatsbürgerlicher Isopolitie, einem Volke gegenüber, das durch die Schule der Revolution gegangen keinen Glauben an die Personen mehr hat, aber einen desto entschiedenern in die Wahrheit und Allmacht der öffentlichen Meinung – sagen Sie selbst, welche Wahrscheinlichkeiten des Erfolgs hätte hier das Königthum für sein Bestreben, absolut zu seyn in constitutionellen Formen? Welche moralische Macht könnte es für seine Zwecke in den Gemüthern aufbieten, welche organische in den Gesetzen? Die Demokratie der Mittelclassen hat sich zu läutern und zu geistigen, zu binden und zu organisiren; sie zu zerstören ist unmöglich. An diesem Grundirrthum ist die Restauration zu Grabe gegangen. Man kann den modernfranzösischen Staat nicht mit den neuen Formen im alten Sinne regieren, man kann den Geist nicht durch den Buchstaben escamotiren. Betrachten Sie die Dinge von diesem Standpunkt aus, so kann man der Krone, obgleich das Ministerium Thiers ohne Zweifel ein Sieg des Parlaments über dieselbe ist, zu dieser Niederlage nur Glück wünschen. Wie die Sachen jenseits des Rheins stehen, hat das Königthum keine andere Gewähr seiner Zukunft, als sich rein auf den Kreis seiner verfassungsmäßigen Befugnisse zurückzuziehen, um eben hiedurch in der flüssigen Bewegung der Parteien und Interessen als ein Stätiges und Unverletzbares zu erscheinen. Der großen Persönlichkeit ist auch von diesem Standpunkt aus eine große Wirkung in die Geschichte hinein nicht benommen, allerdings aber jene Machtvollkommenheit, in deren Besitz Ludwig der Vierzehnte sagen konnte: der Staat und ich, wir sind Eins! Sie erinnern sich wohl des Worts, das der Constitutionnel eines Morgens, nach der Erhebung des Ministeriums Thiers, sagte: dieses Ministerium sey das Ministerium Martignac des Julius – ein ominöses Wort, es erschöpft die Lage. Schweiz. _ Zürich, 8 Mai. Die Landsgemeinden in den demokratischen Kantonen sind nun alle abgehalten und durchgehends ruhig vorüber gegangen. Die wichtigste war wohl dießmal die von Appenzell Außer-Rhoden, welche alle Anträge zu Gesetzes- und Verfassungsänderungen, die von ihren Behörden ausgearbeitet waren, meistens mit großem Mehr verworfen hat. Der Vorschlag, die Trennung der Gewalten durchzuführen und insbesondere ein eigenes Obergericht zu bestellen, der schon wiederholt und dießmal sorgfältiger als früher gemacht worden war, blieb in der Minderheit. Ebenso der Entwurf eines Schulgesetzes und der Entwurf eines Assecuranzgesetzes. „Nichts Neues“ war die Tendenz der Volksmehrheit, die gegen alle Veränderung mißtrauisch geworden ist. Die Trennung der Gewalten erscheint ihr zu kostlich und umständlich für den kleinen Staatshaushalt, das Schulgesetz genirt sie in der individuellen Freiheit, das Assecuranzgesetz erschreckt durch die Gefahr großer Ausgaben. Und doch ist dieses Völklein das rührigste und beweglichste in den Demokratien der deutschen Schweiz. In Unterwalden nid dem Wald zeigte das souveräne Volk auch seinen eigenen Willen ganz gegen sonstige Gewohnheit im Gegensatz gegen die Rathschläge seiner Vorgesetzten, indem es mehrere Wahlen zu höhern Staatsämtern an Männer verlieh, die nicht von den Herren, sondern von einem Bauer aus dem Ring empfohlen worden waren. – In Schwyz ruht der Hörner- und Klauenstreit, und Landammann Abyberg wurde dießmal wieder als Gesandter auf die Tagsatzung bezeichnet. Er wird da wunderliche Betrachtungen anstellen können über das gleiche Recht der Eidgenossenschaft, wenn er erwägt, wie er zur Strafe dafür, daß er aus Auftrag seiner Regierung mit Gewalt die Gemeinde Küßnacht besetzt hatte, aus der Liste der eidgenössischen Obern gestrichen und sammt dem innern Lande Schwyz tüchtig gebrandschatzt wurde, während der eidgenössische Oberst Luvini seine eigene Regierung ebenfalls mit Gewalt und mit geworbenen Schaaren verjagte und vermuthlich in seiner Obersten-Ehre unangetastet ebenfalls auf der Tagsatzung als Gesandter sitzen und der gewaltsame Landfriedensbruch im Wallis wahrscheinlich als fait accompli verehrt wird. Die brasilische Werbung scheint keinen Anklang zu finden, nicht weil nicht mehr vielleicht als vor wenig Jahren noch Auswanderungs- und Kriegslust sich in hinreichendem Maaße in der Schweiz beisammen findet, sondern weil die Vortheile viel zu klein und die Gewähr für treue Erfüllung viel zu gering

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Deutsches Textarchiv: Bereitstellung der Texttranskription. (2016-06-28T11:37:15Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition. (2016-06-28T11:37:15Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: gekennzeichnet; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: Lautwert transkribiert; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: gekennzeichnet; Kustoden: gekennzeichnet; langes s (?): als s transkribiert; Normalisierungen: keine Angabe; rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: Lautwert transkribiert; Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert; Vollständigkeit: teilweise erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/augsburgerallgemeine_135_18400514
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/augsburgerallgemeine_135_18400514/11
Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung. Nr. 135. Augsburg, 14. Mai 1840, S. 1075. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/augsburgerallgemeine_135_18400514/11>, abgerufen am 25.04.2024.