Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Allgemeine Zeitung. Nr. 153. Augsburg, 1. Juni 1840.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Ostseeprovinzen.

Der deutsche Völker- und Staatenbund unserer Tage reicht kaum bis an die Weichsel. Alle die nördlichen und östlichen Provinzen, Sameland, Preußen, Kurland, Livland, Esthland, in denen ehemals auch der Majestät des heiligen deutschen Reichs gehuldigt wurde, sind bereits seit 300 Jahren in politischer Hinsicht dem deutschen Stammlande entfallen. Allerdings sind zwei von ihnen, West- und Ostpreußen, nach der Abwerfung der polnischen Herrschaft wieder dem Mutterlande dadurch genähert, daß sie, wenn auch nicht deutsche Bundesherrlichkeit, doch die Herrschaft eines deutschen Fürsten anerkennen. Dagegen sind die drei andern nach Vernichtung der germanisch-schwedischen Herrschaft in Liv- und Esthland und nach Aufhebung der Herrschaft eines deutschen Herzogs in Kurland mehr als je unserm Vaterlande fern gestellt.

Wie im Westen Elsaß und Lothringen von den Galliern, so wurden hier im Osten die Herzogthümer Kur-, Liv- und Esthland von den Slaven dem deutschen Bruderbunde entrissen. Und wie der deutsche Patriot im Westen über die abgefallenen Freunde trauert, so fleht er im Osten vergebens um einige Wärme der Theilnahme. Fast vergessen haben wir die Zeiten, wo Straßburg eine Hauptzierde in dem Kranze der rheinischen deutschen Städte war, und nur unsere Chroniken und Bücher erzählen noch davon, daß Riga einst seine Gesetze aus Deutschland holte, und daß Dorpat, Riga, Rewal, Narwa und andere jetzt russische Städte zu den freien, deutschen Hansestädten gerechnet wurden. Beide Länder, das westlich abgefallene Stück, Elsaß und Lothringen, und die den Russen anheimgefallenen deutschen Gebiete im Osten, fordern zu mancherlei Betrachtungen und Vergleichungen auf. Sie sind in Situationen zu ihrem fremdartigen Oberherrn gekommen, die viel Aehnlichkeit mit einander haben und doch wieder sehr verschieden sind.

Im Westen die deutsche Sprache der französischen, im Osten der russischen gegenüber - dort das deutsche Lutherthum geduldet von dem französischen Katholicismus - hier angefochten von dem russischen Gräcismus - dort alte deutsche Reichsstadtprivilegien und Standesvorrechte im Kampfe mit französischer Gleichmacherei - hier die Stadt-, Land- und Ritterschaftsrechte im Ringen mit russischer Bureaukratie - dort endlich eine fein gebildete geachtete Nation als Herrscherin einer minder feinen - hier eine für barbarisch ausgeschriene Nation als Gebieterin einer entschieden humaneren.

Im Elsaß ist mit der Revolutionirung und Constituirung des ganzen Frankreichs der Kampf so ziemlich beendigt, und das deutsche Land ist politisch völlig in das Fremde hinübergeschmolzen. Die gebildeten Stände haben sich mehr oder weniger dem Uebergewicht der französischen Sitten, Sprache und Litteratur hingegeben, und die ungebildeten nur sind bei ihrer Väter Sitten geblieben und werden sie auch wohl bewahren, bis in spätern Jahren sie andere glückliche Umstände einmal wieder dem alten Stammlande zurückführen. In den Ostseeprovinzen ist der Streit noch nicht ausgeglichen. Rußland kann nicht wie Frankreich seinen Deutschen für den Verlust ihrer alten Provincialrechte neue Staatsbürgerrechte zur Entschädigung gewähren. Verzicht auf die Stadt-, Land- und Provinzprivilegien heißt hier Unterwerfung unter die völlige Willkür eines Eroberers. Auch kann Rußland nicht wie Frankreich den Gebildeten seiner deutschen Unterthanen eine reiche und hochstehende Sprache und Litteratur zum Austausch bieten. Endlich steht die griechische Religion dem deutschen Lutherthum trostloser, hohler und ärmer gegenüber, als der französische Katholicismus. Eine nähere Erwägung der Verhältnisse und Beziehungen des baltischen Deutschthums zu dem russischen Slaventhum wird dieß Alles noch in helleres Licht stellen. Wir können diese Verhältnisse unter dem politischen - dem religiösen - und dem geschichtlichen oder litterarischen Gesichtspunkte betrachtend zusammenfassen.

Die Eroberung Ingermannlands und Kareliens betrachtete Peter der Große als eine Rückeroberung, und er übte daher hier die strenge Macht eines Ueberwinders und Grundeigenthümers aus, der jeden mit Schweiß und Blut im Lande acquirirten Acker als wohlerworben ansah. Er erklärte daher das ganze Land für Kaduck, nahm es für seine Krone und verfuhr damit wie mit seinem Privateigenthum. Er baute, wo es ihm gefiel, verschenkte so viel er wollte, ließ den alten Besitzern oder behielt für sich selbst was ihm gutdünkte. So gingen eine Menge schwedischer und deutscher Familien, die in diesen Provinzen ansässig waren, ihrer Besitzlichkeiten verlustig. Den Bauern - finnischen Ingren und Karelen - wurden drückende und hohe Abgaben aufgelegt und viele in andere Provinzen versetzt, indem dann Russen an ihre Stelle rückten. Russischen Großen und Herren wurden eine Menge Güter geschenkt, bei deren Ausweisung keine Rücksicht auf die bestehenden Gebiete und Güter genommen wurde, so daß dadurch alle Herrschaften ihre vormaligen alten Abtheilungen und Gränzen, so wie ihre alten Namen verloren. Auf diese Weise wurden nun die ganzen schwedisch-deutschen Provinzen, Ingermannland und Karelien in hohem Grade russificirt und mit allen übrigen Gouvernements des Landes völlig gleichgestellt, obgleich nichtsdestoweniger in ihren Städten Narwa, Wiborg, Willmanstrand, Kerholm u. s. w. sich bis auf den heutigen Tag die Hauptkerne völlig deutsch conservirt haben, und selbst auf dem Lande noch deutsche Adelsfamilien - Vitunghöfe, Etzen, Korff, Wrangel, Seidlitz - in vielen Gegenden gewöhnlich sind.

Das Beispiel von Ingermannland und Karelien zeigt, was Liv- und Esthland hätten werden können, wenn nicht die Riga'sche Capitulation (im Jahr 1710) und die Bedingungen des Friedens von Nystadt (im Jahr 1721), durch welche Verträge Rußland den rechtlichen Besitz dieser Provinzen erlangte, so günstig für die baltischen Deutschen ausgefallen wären, daß die Privilegien ihrer Stadtverfassungen und die Vorrechte ihrer Adelscorporationen darin bestätigt wurden. Diese Bestätigung war theils eine Folge des tapfern Widerstandes, den die Deutschen geleistet, theils der Großmuth Peters des Großen, so wie seiner Vorliebe für diese deutschen Länder.

Jene Capitulation von Riga und jener Friede von Nystadt, von denen noch in diesem Augenblick mehr oder weniger der ganze politische Zustand der Provinzen basirt erscheint, gehen nun im Wesentlichen dahin, daß die Provinzen nicht nur bei ihrer lutherischen Religion und deutschen Sprache verbleiben, daß jedem sein Eigenthum gesichert und der alte Besitzstand aufrecht erhalten wird, sondern daß auch die Städte ihre alte freie Verfassung, ihre Rathsherren und Aeltermannscollegien, ihre Gilden und Zunfteinrichtungen beibehalten, und daß dem Adel seine ständische Constitution belassen wird, seine Ritterschaftscorporation,

Die Ostseeprovinzen.

Der deutsche Völker- und Staatenbund unserer Tage reicht kaum bis an die Weichsel. Alle die nördlichen und östlichen Provinzen, Sameland, Preußen, Kurland, Livland, Esthland, in denen ehemals auch der Majestät des heiligen deutschen Reichs gehuldigt wurde, sind bereits seit 300 Jahren in politischer Hinsicht dem deutschen Stammlande entfallen. Allerdings sind zwei von ihnen, West- und Ostpreußen, nach der Abwerfung der polnischen Herrschaft wieder dem Mutterlande dadurch genähert, daß sie, wenn auch nicht deutsche Bundesherrlichkeit, doch die Herrschaft eines deutschen Fürsten anerkennen. Dagegen sind die drei andern nach Vernichtung der germanisch-schwedischen Herrschaft in Liv- und Esthland und nach Aufhebung der Herrschaft eines deutschen Herzogs in Kurland mehr als je unserm Vaterlande fern gestellt.

Wie im Westen Elsaß und Lothringen von den Galliern, so wurden hier im Osten die Herzogthümer Kur-, Liv- und Esthland von den Slaven dem deutschen Bruderbunde entrissen. Und wie der deutsche Patriot im Westen über die abgefallenen Freunde trauert, so fleht er im Osten vergebens um einige Wärme der Theilnahme. Fast vergessen haben wir die Zeiten, wo Straßburg eine Hauptzierde in dem Kranze der rheinischen deutschen Städte war, und nur unsere Chroniken und Bücher erzählen noch davon, daß Riga einst seine Gesetze aus Deutschland holte, und daß Dorpat, Riga, Rewal, Narwa und andere jetzt russische Städte zu den freien, deutschen Hansestädten gerechnet wurden. Beide Länder, das westlich abgefallene Stück, Elsaß und Lothringen, und die den Russen anheimgefallenen deutschen Gebiete im Osten, fordern zu mancherlei Betrachtungen und Vergleichungen auf. Sie sind in Situationen zu ihrem fremdartigen Oberherrn gekommen, die viel Aehnlichkeit mit einander haben und doch wieder sehr verschieden sind.

Im Westen die deutsche Sprache der französischen, im Osten der russischen gegenüber – dort das deutsche Lutherthum geduldet von dem französischen Katholicismus – hier angefochten von dem russischen Gräcismus – dort alte deutsche Reichsstadtprivilegien und Standesvorrechte im Kampfe mit französischer Gleichmacherei – hier die Stadt-, Land- und Ritterschaftsrechte im Ringen mit russischer Bureaukratie – dort endlich eine fein gebildete geachtete Nation als Herrscherin einer minder feinen – hier eine für barbarisch ausgeschriene Nation als Gebieterin einer entschieden humaneren.

Im Elsaß ist mit der Revolutionirung und Constituirung des ganzen Frankreichs der Kampf so ziemlich beendigt, und das deutsche Land ist politisch völlig in das Fremde hinübergeschmolzen. Die gebildeten Stände haben sich mehr oder weniger dem Uebergewicht der französischen Sitten, Sprache und Litteratur hingegeben, und die ungebildeten nur sind bei ihrer Väter Sitten geblieben und werden sie auch wohl bewahren, bis in spätern Jahren sie andere glückliche Umstände einmal wieder dem alten Stammlande zurückführen. In den Ostseeprovinzen ist der Streit noch nicht ausgeglichen. Rußland kann nicht wie Frankreich seinen Deutschen für den Verlust ihrer alten Provincialrechte neue Staatsbürgerrechte zur Entschädigung gewähren. Verzicht auf die Stadt-, Land- und Provinzprivilegien heißt hier Unterwerfung unter die völlige Willkür eines Eroberers. Auch kann Rußland nicht wie Frankreich den Gebildeten seiner deutschen Unterthanen eine reiche und hochstehende Sprache und Litteratur zum Austausch bieten. Endlich steht die griechische Religion dem deutschen Lutherthum trostloser, hohler und ärmer gegenüber, als der französische Katholicismus. Eine nähere Erwägung der Verhältnisse und Beziehungen des baltischen Deutschthums zu dem russischen Slaventhum wird dieß Alles noch in helleres Licht stellen. Wir können diese Verhältnisse unter dem politischen – dem religiösen – und dem geschichtlichen oder litterarischen Gesichtspunkte betrachtend zusammenfassen.

Die Eroberung Ingermannlands und Kareliens betrachtete Peter der Große als eine Rückeroberung, und er übte daher hier die strenge Macht eines Ueberwinders und Grundeigenthümers aus, der jeden mit Schweiß und Blut im Lande acquirirten Acker als wohlerworben ansah. Er erklärte daher das ganze Land für Kaduck, nahm es für seine Krone und verfuhr damit wie mit seinem Privateigenthum. Er baute, wo es ihm gefiel, verschenkte so viel er wollte, ließ den alten Besitzern oder behielt für sich selbst was ihm gutdünkte. So gingen eine Menge schwedischer und deutscher Familien, die in diesen Provinzen ansässig waren, ihrer Besitzlichkeiten verlustig. Den Bauern – finnischen Ingren und Karelen – wurden drückende und hohe Abgaben aufgelegt und viele in andere Provinzen versetzt, indem dann Russen an ihre Stelle rückten. Russischen Großen und Herren wurden eine Menge Güter geschenkt, bei deren Ausweisung keine Rücksicht auf die bestehenden Gebiete und Güter genommen wurde, so daß dadurch alle Herrschaften ihre vormaligen alten Abtheilungen und Gränzen, so wie ihre alten Namen verloren. Auf diese Weise wurden nun die ganzen schwedisch-deutschen Provinzen, Ingermannland und Karelien in hohem Grade russificirt und mit allen übrigen Gouvernements des Landes völlig gleichgestellt, obgleich nichtsdestoweniger in ihren Städten Narwa, Wiborg, Willmanstrand, Kerholm u. s. w. sich bis auf den heutigen Tag die Hauptkerne völlig deutsch conservirt haben, und selbst auf dem Lande noch deutsche Adelsfamilien – Vitunghöfe, Etzen, Korff, Wrangel, Seidlitz – in vielen Gegenden gewöhnlich sind.

Das Beispiel von Ingermannland und Karelien zeigt, was Liv- und Esthland hätten werden können, wenn nicht die Riga'sche Capitulation (im Jahr 1710) und die Bedingungen des Friedens von Nystadt (im Jahr 1721), durch welche Verträge Rußland den rechtlichen Besitz dieser Provinzen erlangte, so günstig für die baltischen Deutschen ausgefallen wären, daß die Privilegien ihrer Stadtverfassungen und die Vorrechte ihrer Adelscorporationen darin bestätigt wurden. Diese Bestätigung war theils eine Folge des tapfern Widerstandes, den die Deutschen geleistet, theils der Großmuth Peters des Großen, so wie seiner Vorliebe für diese deutschen Länder.

Jene Capitulation von Riga und jener Friede von Nystadt, von denen noch in diesem Augenblick mehr oder weniger der ganze politische Zustand der Provinzen basirt erscheint, gehen nun im Wesentlichen dahin, daß die Provinzen nicht nur bei ihrer lutherischen Religion und deutschen Sprache verbleiben, daß jedem sein Eigenthum gesichert und der alte Besitzstand aufrecht erhalten wird, sondern daß auch die Städte ihre alte freie Verfassung, ihre Rathsherren und Aeltermannscollegien, ihre Gilden und Zunfteinrichtungen beibehalten, und daß dem Adel seine ständische Constitution belassen wird, seine Ritterschaftscorporation,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div type="jArticle" n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0009" n="1217"/>
        </div>
      </div>
      <div type="jArticle" n="1">
        <head> <hi rendition="#b"><hi rendition="#g">Die Ostseeprovinzen</hi>.</hi> </head><lb/>
        <div n="2">
          <byline>
            <docAuthor>
              <gap reason="insignificant"/>
            </docAuthor>
          </byline>
          <dateline> <hi rendition="#b">I. <hi rendition="#g">Die deutschen und die russischen Institutionen</hi>.</hi> </dateline>
          <p/><lb/>
          <p>Der deutsche Völker- und Staatenbund unserer Tage reicht kaum bis an die Weichsel. Alle die nördlichen und östlichen Provinzen, Sameland, Preußen, Kurland, Livland, Esthland, in denen ehemals auch der Majestät des heiligen deutschen Reichs gehuldigt wurde, sind bereits seit 300 Jahren in politischer Hinsicht dem deutschen Stammlande entfallen. Allerdings sind zwei von ihnen, West- und Ostpreußen, nach der Abwerfung der polnischen Herrschaft wieder dem Mutterlande dadurch genähert, daß sie, wenn auch nicht deutsche Bundesherrlichkeit, doch die Herrschaft eines deutschen Fürsten anerkennen. Dagegen sind die drei andern nach Vernichtung der germanisch-schwedischen Herrschaft in Liv- und Esthland und nach Aufhebung der Herrschaft eines deutschen Herzogs in Kurland mehr als je unserm Vaterlande fern gestellt.</p><lb/>
          <p>Wie im Westen Elsaß und Lothringen von den Galliern, so wurden hier im Osten die Herzogthümer Kur-, Liv- und Esthland von den Slaven dem deutschen Bruderbunde entrissen. Und wie der deutsche Patriot im Westen über die abgefallenen Freunde trauert, so fleht er im Osten vergebens um einige Wärme der Theilnahme. Fast vergessen haben wir die Zeiten, wo Straßburg eine Hauptzierde in dem Kranze der rheinischen deutschen Städte war, und nur unsere Chroniken und Bücher erzählen noch davon, daß Riga einst seine Gesetze aus Deutschland holte, und daß Dorpat, Riga, Rewal, Narwa und andere jetzt russische Städte zu den freien, deutschen Hansestädten gerechnet wurden. Beide Länder, das westlich abgefallene Stück, Elsaß und Lothringen, und die den Russen anheimgefallenen deutschen Gebiete im Osten, fordern zu mancherlei Betrachtungen und Vergleichungen auf. Sie sind in Situationen zu ihrem fremdartigen Oberherrn gekommen, die viel Aehnlichkeit mit einander haben und doch wieder sehr verschieden sind.</p><lb/>
          <p>Im Westen die deutsche Sprache der französischen, im Osten der russischen gegenüber &#x2013; dort das deutsche Lutherthum geduldet von dem französischen Katholicismus &#x2013; hier angefochten von dem russischen Gräcismus &#x2013; dort alte deutsche Reichsstadtprivilegien und Standesvorrechte im Kampfe mit französischer Gleichmacherei &#x2013; hier die Stadt-, Land- und Ritterschaftsrechte im Ringen mit russischer Bureaukratie &#x2013; dort endlich eine fein gebildete geachtete Nation als Herrscherin einer minder feinen &#x2013; hier eine für barbarisch ausgeschriene Nation als Gebieterin einer entschieden humaneren.</p><lb/>
          <p>Im Elsaß ist mit der Revolutionirung und Constituirung des ganzen Frankreichs der Kampf so ziemlich beendigt, und das deutsche Land ist politisch völlig in das Fremde hinübergeschmolzen. Die gebildeten Stände haben sich mehr oder weniger dem Uebergewicht der französischen Sitten, Sprache und Litteratur hingegeben, und die ungebildeten nur sind bei ihrer Väter Sitten geblieben und werden sie auch wohl bewahren, bis in spätern Jahren sie andere glückliche Umstände einmal wieder dem alten Stammlande zurückführen. In den Ostseeprovinzen ist der Streit noch nicht ausgeglichen. Rußland kann nicht wie Frankreich seinen Deutschen für den Verlust ihrer alten Provincialrechte neue Staatsbürgerrechte zur Entschädigung gewähren. Verzicht auf die Stadt-, Land- und Provinzprivilegien heißt hier Unterwerfung unter die völlige Willkür eines Eroberers. Auch kann Rußland nicht wie Frankreich den Gebildeten seiner deutschen Unterthanen eine reiche und hochstehende Sprache und Litteratur zum Austausch bieten. Endlich steht die griechische Religion dem deutschen Lutherthum trostloser, hohler und ärmer gegenüber, als der französische Katholicismus. Eine nähere Erwägung der Verhältnisse und Beziehungen des baltischen Deutschthums zu dem russischen Slaventhum wird dieß Alles noch in helleres Licht stellen. Wir können diese Verhältnisse unter dem politischen &#x2013; dem religiösen &#x2013; und dem geschichtlichen oder litterarischen Gesichtspunkte betrachtend zusammenfassen.</p><lb/>
          <p>Die Eroberung Ingermannlands und Kareliens betrachtete Peter der Große als eine Rückeroberung, und er übte daher hier die strenge Macht eines Ueberwinders und Grundeigenthümers aus, der jeden mit Schweiß und Blut im Lande acquirirten Acker als wohlerworben ansah. Er erklärte daher das ganze Land für Kaduck, nahm es für seine Krone und verfuhr damit wie mit seinem Privateigenthum. Er baute, wo es ihm gefiel, verschenkte so viel er wollte, ließ den alten Besitzern oder behielt für sich selbst was ihm gutdünkte. So gingen eine Menge schwedischer und deutscher Familien, die in diesen Provinzen ansässig waren, ihrer Besitzlichkeiten verlustig. Den Bauern &#x2013; finnischen Ingren und Karelen &#x2013; wurden drückende und hohe Abgaben aufgelegt und viele in andere Provinzen versetzt, indem dann Russen an ihre Stelle rückten. Russischen Großen und Herren wurden eine Menge Güter geschenkt, bei deren Ausweisung keine Rücksicht auf die bestehenden Gebiete und Güter genommen wurde, so daß dadurch alle Herrschaften ihre vormaligen alten Abtheilungen und Gränzen, so wie ihre alten Namen verloren. Auf diese Weise wurden nun die ganzen schwedisch-deutschen Provinzen, Ingermannland und Karelien in hohem Grade russificirt und mit allen übrigen Gouvernements des Landes völlig gleichgestellt, obgleich nichtsdestoweniger in ihren Städten Narwa, Wiborg, Willmanstrand, Kerholm u. s. w. sich bis auf den heutigen Tag die Hauptkerne völlig deutsch conservirt haben, und selbst auf dem Lande noch deutsche Adelsfamilien &#x2013; Vitunghöfe, Etzen, Korff, Wrangel, Seidlitz &#x2013; in vielen Gegenden gewöhnlich sind.</p><lb/>
          <p>Das Beispiel von Ingermannland und Karelien zeigt, was Liv- und Esthland hätten werden können, wenn nicht die Riga'sche Capitulation (im Jahr 1710) und die Bedingungen des Friedens von Nystadt (im Jahr 1721), durch welche Verträge Rußland den rechtlichen Besitz dieser Provinzen erlangte, so günstig für die baltischen Deutschen ausgefallen wären, daß die Privilegien ihrer Stadtverfassungen und die Vorrechte ihrer Adelscorporationen darin bestätigt wurden. Diese Bestätigung war theils eine Folge des tapfern Widerstandes, den die Deutschen geleistet, theils der Großmuth Peters des Großen, so wie seiner Vorliebe für diese deutschen Länder.</p><lb/>
          <p>Jene Capitulation von Riga und jener Friede von Nystadt, von denen noch in diesem Augenblick mehr oder weniger der ganze politische Zustand der Provinzen basirt erscheint, gehen nun im Wesentlichen dahin, daß die Provinzen nicht nur bei ihrer lutherischen Religion und deutschen Sprache verbleiben, daß jedem sein Eigenthum gesichert und der alte Besitzstand aufrecht erhalten wird, sondern daß auch die Städte ihre alte freie Verfassung, ihre Rathsherren und Aeltermannscollegien, ihre Gilden und Zunfteinrichtungen beibehalten, und daß dem Adel seine ständische Constitution belassen wird, seine Ritterschaftscorporation,<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[1217/0009] Die Ostseeprovinzen. _ I. Die deutschen und die russischen Institutionen. Der deutsche Völker- und Staatenbund unserer Tage reicht kaum bis an die Weichsel. Alle die nördlichen und östlichen Provinzen, Sameland, Preußen, Kurland, Livland, Esthland, in denen ehemals auch der Majestät des heiligen deutschen Reichs gehuldigt wurde, sind bereits seit 300 Jahren in politischer Hinsicht dem deutschen Stammlande entfallen. Allerdings sind zwei von ihnen, West- und Ostpreußen, nach der Abwerfung der polnischen Herrschaft wieder dem Mutterlande dadurch genähert, daß sie, wenn auch nicht deutsche Bundesherrlichkeit, doch die Herrschaft eines deutschen Fürsten anerkennen. Dagegen sind die drei andern nach Vernichtung der germanisch-schwedischen Herrschaft in Liv- und Esthland und nach Aufhebung der Herrschaft eines deutschen Herzogs in Kurland mehr als je unserm Vaterlande fern gestellt. Wie im Westen Elsaß und Lothringen von den Galliern, so wurden hier im Osten die Herzogthümer Kur-, Liv- und Esthland von den Slaven dem deutschen Bruderbunde entrissen. Und wie der deutsche Patriot im Westen über die abgefallenen Freunde trauert, so fleht er im Osten vergebens um einige Wärme der Theilnahme. Fast vergessen haben wir die Zeiten, wo Straßburg eine Hauptzierde in dem Kranze der rheinischen deutschen Städte war, und nur unsere Chroniken und Bücher erzählen noch davon, daß Riga einst seine Gesetze aus Deutschland holte, und daß Dorpat, Riga, Rewal, Narwa und andere jetzt russische Städte zu den freien, deutschen Hansestädten gerechnet wurden. Beide Länder, das westlich abgefallene Stück, Elsaß und Lothringen, und die den Russen anheimgefallenen deutschen Gebiete im Osten, fordern zu mancherlei Betrachtungen und Vergleichungen auf. Sie sind in Situationen zu ihrem fremdartigen Oberherrn gekommen, die viel Aehnlichkeit mit einander haben und doch wieder sehr verschieden sind. Im Westen die deutsche Sprache der französischen, im Osten der russischen gegenüber – dort das deutsche Lutherthum geduldet von dem französischen Katholicismus – hier angefochten von dem russischen Gräcismus – dort alte deutsche Reichsstadtprivilegien und Standesvorrechte im Kampfe mit französischer Gleichmacherei – hier die Stadt-, Land- und Ritterschaftsrechte im Ringen mit russischer Bureaukratie – dort endlich eine fein gebildete geachtete Nation als Herrscherin einer minder feinen – hier eine für barbarisch ausgeschriene Nation als Gebieterin einer entschieden humaneren. Im Elsaß ist mit der Revolutionirung und Constituirung des ganzen Frankreichs der Kampf so ziemlich beendigt, und das deutsche Land ist politisch völlig in das Fremde hinübergeschmolzen. Die gebildeten Stände haben sich mehr oder weniger dem Uebergewicht der französischen Sitten, Sprache und Litteratur hingegeben, und die ungebildeten nur sind bei ihrer Väter Sitten geblieben und werden sie auch wohl bewahren, bis in spätern Jahren sie andere glückliche Umstände einmal wieder dem alten Stammlande zurückführen. In den Ostseeprovinzen ist der Streit noch nicht ausgeglichen. Rußland kann nicht wie Frankreich seinen Deutschen für den Verlust ihrer alten Provincialrechte neue Staatsbürgerrechte zur Entschädigung gewähren. Verzicht auf die Stadt-, Land- und Provinzprivilegien heißt hier Unterwerfung unter die völlige Willkür eines Eroberers. Auch kann Rußland nicht wie Frankreich den Gebildeten seiner deutschen Unterthanen eine reiche und hochstehende Sprache und Litteratur zum Austausch bieten. Endlich steht die griechische Religion dem deutschen Lutherthum trostloser, hohler und ärmer gegenüber, als der französische Katholicismus. Eine nähere Erwägung der Verhältnisse und Beziehungen des baltischen Deutschthums zu dem russischen Slaventhum wird dieß Alles noch in helleres Licht stellen. Wir können diese Verhältnisse unter dem politischen – dem religiösen – und dem geschichtlichen oder litterarischen Gesichtspunkte betrachtend zusammenfassen. Die Eroberung Ingermannlands und Kareliens betrachtete Peter der Große als eine Rückeroberung, und er übte daher hier die strenge Macht eines Ueberwinders und Grundeigenthümers aus, der jeden mit Schweiß und Blut im Lande acquirirten Acker als wohlerworben ansah. Er erklärte daher das ganze Land für Kaduck, nahm es für seine Krone und verfuhr damit wie mit seinem Privateigenthum. Er baute, wo es ihm gefiel, verschenkte so viel er wollte, ließ den alten Besitzern oder behielt für sich selbst was ihm gutdünkte. So gingen eine Menge schwedischer und deutscher Familien, die in diesen Provinzen ansässig waren, ihrer Besitzlichkeiten verlustig. Den Bauern – finnischen Ingren und Karelen – wurden drückende und hohe Abgaben aufgelegt und viele in andere Provinzen versetzt, indem dann Russen an ihre Stelle rückten. Russischen Großen und Herren wurden eine Menge Güter geschenkt, bei deren Ausweisung keine Rücksicht auf die bestehenden Gebiete und Güter genommen wurde, so daß dadurch alle Herrschaften ihre vormaligen alten Abtheilungen und Gränzen, so wie ihre alten Namen verloren. Auf diese Weise wurden nun die ganzen schwedisch-deutschen Provinzen, Ingermannland und Karelien in hohem Grade russificirt und mit allen übrigen Gouvernements des Landes völlig gleichgestellt, obgleich nichtsdestoweniger in ihren Städten Narwa, Wiborg, Willmanstrand, Kerholm u. s. w. sich bis auf den heutigen Tag die Hauptkerne völlig deutsch conservirt haben, und selbst auf dem Lande noch deutsche Adelsfamilien – Vitunghöfe, Etzen, Korff, Wrangel, Seidlitz – in vielen Gegenden gewöhnlich sind. Das Beispiel von Ingermannland und Karelien zeigt, was Liv- und Esthland hätten werden können, wenn nicht die Riga'sche Capitulation (im Jahr 1710) und die Bedingungen des Friedens von Nystadt (im Jahr 1721), durch welche Verträge Rußland den rechtlichen Besitz dieser Provinzen erlangte, so günstig für die baltischen Deutschen ausgefallen wären, daß die Privilegien ihrer Stadtverfassungen und die Vorrechte ihrer Adelscorporationen darin bestätigt wurden. Diese Bestätigung war theils eine Folge des tapfern Widerstandes, den die Deutschen geleistet, theils der Großmuth Peters des Großen, so wie seiner Vorliebe für diese deutschen Länder. Jene Capitulation von Riga und jener Friede von Nystadt, von denen noch in diesem Augenblick mehr oder weniger der ganze politische Zustand der Provinzen basirt erscheint, gehen nun im Wesentlichen dahin, daß die Provinzen nicht nur bei ihrer lutherischen Religion und deutschen Sprache verbleiben, daß jedem sein Eigenthum gesichert und der alte Besitzstand aufrecht erhalten wird, sondern daß auch die Städte ihre alte freie Verfassung, ihre Rathsherren und Aeltermannscollegien, ihre Gilden und Zunfteinrichtungen beibehalten, und daß dem Adel seine ständische Constitution belassen wird, seine Ritterschaftscorporation,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Deutsches Textarchiv: Bereitstellung der Texttranskription. (2016-06-28T11:37:15Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition. (2016-06-28T11:37:15Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: gekennzeichnet; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: Lautwert transkribiert; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: gekennzeichnet; Kustoden: gekennzeichnet; langes s (?): als s transkribiert; Normalisierungen: keine Angabe; rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: Lautwert transkribiert; Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert; Vollständigkeit: teilweise erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/augsburgerallgemeine_153_18400601
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/augsburgerallgemeine_153_18400601/9
Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung. Nr. 153. Augsburg, 1. Juni 1840, S. 1217. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/augsburgerallgemeine_153_18400601/9>, abgerufen am 16.04.2024.