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Bastian, Adolf: Der Völkergedanke im Aufbau einer Wissenschaft vom Menschen. Berlin, 1881.

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Vorwort.

Es ist Nichts Neues unter der Sonne! Diesem Spruche
der Volksweisheit steht das Wort des Dichterfürsten gegen-
über: "Gar manche Dinge giebt es zwischen Himmel und
Erde, von denen sich die Philosophen nichts träumen lassen".
Noch nichts, müsste es heissen. Denn eines schönen Tages
oder in einer stillen, ruhigen Nacht kommt es über sie im
Traum, -- in keimschwangerer Mutternacht vielleicht (jener
modranecht, die dem Morgen vorhergeht), -- und was sich
dann in dunkler Nacht traumhaft vor dem Geist erhoben,
das, unter den Arbeiten im Tageslicht, beginnt sodann Ge-
stalt zu gewinnen, dem Verständniss sich zu nahen in klareren
Anschauungen.

Sie sind ein Neues zwar; neu aber nur in dem Grade
der Entfaltung, denn jedem Traume schon liegt ein Wirk-
liches voran, das dorthin seine Schatten geworfen, und dem
Keime nach war das Neue also bereits vorhanden gewesen,
mithin nichts neues an sich, neu nur im zeugenden Gang
der Entwicklung. Und so bliebe es wahr, "nichts Neues
unter der Sonne", weil nichts Neues sein kann, innerhalb
eines fest geregelten Abschlusses, wo Alles nach nothwendiger
Gesetzlichkeit zusammenwirkt. Wie tief das menschliche
Auge dort hineinblickt, bleibt von seiner Geübtheit und
Ausbildung abhängig, und ihm mag dennoch manch Neues
auftauchen, neu nicht deshalb, weil vorher nicht vorhanden,
sondern neu insofern, als bis dahin nicht gesehen.

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Vorwort.

Es ist Nichts Neues unter der Sonne! Diesem Spruche
der Volksweisheit steht das Wort des Dichterfürsten gegen-
über: „Gar manche Dinge giebt es zwischen Himmel und
Erde, von denen sich die Philosophen nichts träumen lassen“.
Noch nichts, müsste es heissen. Denn eines schönen Tages
oder in einer stillen, ruhigen Nacht kommt es über sie im
Traum, — in keimschwangerer Mutternacht vielleicht (jener
modranecht, die dem Morgen vorhergeht), — und was sich
dann in dunkler Nacht traumhaft vor dem Geist erhoben,
das, unter den Arbeiten im Tageslicht, beginnt sodann Ge-
stalt zu gewinnen, dem Verständniss sich zu nahen in klareren
Anschauungen.

Sie sind ein Neues zwar; neu aber nur in dem Grade
der Entfaltung, denn jedem Traume schon liegt ein Wirk-
liches voran, das dorthin seine Schatten geworfen, und dem
Keime nach war das Neue also bereits vorhanden gewesen,
mithin nichts neues an sich, neu nur im zeugenden Gang
der Entwicklung. Und so bliebe es wahr, „nichts Neues
unter der Sonne“, weil nichts Neues sein kann, innerhalb
eines fest geregelten Abschlusses, wo Alles nach nothwendiger
Gesetzlichkeit zusammenwirkt. Wie tief das menschliche
Auge dort hineinblickt, bleibt von seiner Geübtheit und
Ausbildung abhängig, und ihm mag dennoch manch Neues
auftauchen, neu nicht deshalb, weil vorher nicht vorhanden,
sondern neu insofern, als bis dahin nicht gesehen.

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Zitationshilfe: Bastian, Adolf: Der Völkergedanke im Aufbau einer Wissenschaft vom Menschen. Berlin, 1881, S. [III]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bastian_voelkergedanke_1881/9>, abgerufen am 29.03.2024.