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Beseler, Georg: Volksrecht und Juristenrecht. Leipzig, 1843.

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Drittes Kapitel.
Das gemeine Recht und seine Gegensätze.

Was man gewöhnlich als gemeines Recht bezeichnet, ist
kein bestimmter, abgeschlossener Begriff, sondern hat zwei we-
sentlich verschiedene Seiten an sich, welche namentlich dann,
wenn man es mit seinen Gegensätzen zusammen hält, deutlich
hervortreten. Einmal verbindet man nämlich damit die Be-
deutung, daß es in einer gewissen Allgemeinheit zur Anwen-
dung kommt, und zwar in Beziehung auf einen bestimmten
Staat oder ein bestimmtes Volk, daß es seine Geltung über
das Ganze ausdehnt, und nicht bloß in einzelnen, geographisch
abgeschlossenen Theilen herrscht. In dieser Auffassung pflegt
man das gemeine Recht wohl jus generale zu nennen, und
ihm das jus speciale als Particularrecht, Statut u. s. w.
gegenüber zu stellen. Davon ist nun die andere Bedeutung
des gemeinen Rechts verschieden, welche zunächst auf die Be-
schaffenheit der darin enthaltenen Rechtsregeln bezogen wird,
indem von diesen nur solche dahin gerechnet werden, welche
mit dem Geiste des gesammten positiven Rechts übereinstim-
men, der ratio juris entsprechen. In diesem Sinne heißt das
gemeine Recht ein jus commune, und den Gegensatz davon
bildet das jus singulare, das besondere oder anomalische
Recht, welches nicht auf dem reinen Rechtsgebiet entsprungen
ist, sondern den Grund seiner Geltung in der Berücksichti-
gung eigenthümlicher Verhältnisse hat, so daß darin eine Ab-
weichung von den allgemeinen Rechtsregeln liegt. -- Auf diese

Drittes Kapitel.
Das gemeine Recht und ſeine Gegenſaͤtze.

Was man gewoͤhnlich als gemeines Recht bezeichnet, iſt
kein beſtimmter, abgeſchloſſener Begriff, ſondern hat zwei we-
ſentlich verſchiedene Seiten an ſich, welche namentlich dann,
wenn man es mit ſeinen Gegenſaͤtzen zuſammen haͤlt, deutlich
hervortreten. Einmal verbindet man naͤmlich damit die Be-
deutung, daß es in einer gewiſſen Allgemeinheit zur Anwen-
dung kommt, und zwar in Beziehung auf einen beſtimmten
Staat oder ein beſtimmtes Volk, daß es ſeine Geltung uͤber
das Ganze ausdehnt, und nicht bloß in einzelnen, geographiſch
abgeſchloſſenen Theilen herrſcht. In dieſer Auffaſſung pflegt
man das gemeine Recht wohl jus generale zu nennen, und
ihm das jus speciale als Particularrecht, Statut u. ſ. w.
gegenuͤber zu ſtellen. Davon iſt nun die andere Bedeutung
des gemeinen Rechts verſchieden, welche zunaͤchſt auf die Be-
ſchaffenheit der darin enthaltenen Rechtsregeln bezogen wird,
indem von dieſen nur ſolche dahin gerechnet werden, welche
mit dem Geiſte des geſammten poſitiven Rechts uͤbereinſtim-
men, der ratio juris entſprechen. In dieſem Sinne heißt das
gemeine Recht ein jus commune, und den Gegenſatz davon
bildet das jus singulare, das beſondere oder anomaliſche
Recht, welches nicht auf dem reinen Rechtsgebiet entſprungen
iſt, ſondern den Grund ſeiner Geltung in der Beruͤckſichti-
gung eigenthuͤmlicher Verhaͤltniſſe hat, ſo daß darin eine Ab-
weichung von den allgemeinen Rechtsregeln liegt. — Auf dieſe

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[[91]/0103] Drittes Kapitel. Das gemeine Recht und ſeine Gegenſaͤtze. Was man gewoͤhnlich als gemeines Recht bezeichnet, iſt kein beſtimmter, abgeſchloſſener Begriff, ſondern hat zwei we- ſentlich verſchiedene Seiten an ſich, welche namentlich dann, wenn man es mit ſeinen Gegenſaͤtzen zuſammen haͤlt, deutlich hervortreten. Einmal verbindet man naͤmlich damit die Be- deutung, daß es in einer gewiſſen Allgemeinheit zur Anwen- dung kommt, und zwar in Beziehung auf einen beſtimmten Staat oder ein beſtimmtes Volk, daß es ſeine Geltung uͤber das Ganze ausdehnt, und nicht bloß in einzelnen, geographiſch abgeſchloſſenen Theilen herrſcht. In dieſer Auffaſſung pflegt man das gemeine Recht wohl jus generale zu nennen, und ihm das jus speciale als Particularrecht, Statut u. ſ. w. gegenuͤber zu ſtellen. Davon iſt nun die andere Bedeutung des gemeinen Rechts verſchieden, welche zunaͤchſt auf die Be- ſchaffenheit der darin enthaltenen Rechtsregeln bezogen wird, indem von dieſen nur ſolche dahin gerechnet werden, welche mit dem Geiſte des geſammten poſitiven Rechts uͤbereinſtim- men, der ratio juris entſprechen. In dieſem Sinne heißt das gemeine Recht ein jus commune, und den Gegenſatz davon bildet das jus singulare, das beſondere oder anomaliſche Recht, welches nicht auf dem reinen Rechtsgebiet entſprungen iſt, ſondern den Grund ſeiner Geltung in der Beruͤckſichti- gung eigenthuͤmlicher Verhaͤltniſſe hat, ſo daß darin eine Ab- weichung von den allgemeinen Rechtsregeln liegt. — Auf dieſe

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Zitationshilfe: Beseler, Georg: Volksrecht und Juristenrecht. Leipzig, 1843, S. [91]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beseler_volksrecht_1843/103>, abgerufen am 20.04.2024.