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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Vierzehntes Capitel. 3. Der Bürgerstand.

4. Die charakteristischen Merkmale des mittelalterlichen
Bürgerstandes sind:

a) Er bildet im Gegensatz zu dem Klerus und dem Adel
nicht einen privilegirten Stand, sondern einen ordentlichen
Regel- und Volksstand
.

Er unterscheidet sich von den Bauern durch die Be-
ziehung zur Stadt, durch die städtische Cultur, städtische
Freiheit und städtisches Recht.

b) Die Bürgerschaft fühlt sich trotz der geschichtlichen
Gegensätze der Familien und der alten Geblütsstände und
ungeachtet der verschiedenen Berufsarten als Einen zu-
sammengehörigen
Stand, welcher die bürgerliche
Freiheit
wahrt und die Gleichheit Aller vor dem Ge-
setze achtet, und als eine städtische Rechtsgenossen-
schaft
nach demselben Stadtrecht lebt und die Stadtver-
fassung
selbständig ordnet. Die Bürger sind Söhne der
Stadt und Theilhaber an dem städtischen Gemeinwesen. Bür-
gerliche Ehre und städtische Cultur sind mit einander eng
verflochten.

c) Der Bürgerstand erlangte aber im Mittelalter auch
eine statliche Stellung und Bedeutung, welche über das
Weichbildrecht der einzelnen Stadt hinaus wirkte und die
Bürger der vielen Städte des Landes und des Reiches zu
einem gemeinsamen ständischen Körper zusammenfaszte.

Diese neue Entwicklung fand ihren Ausdruck in der Or-
ganisation der mittelalterlichen Reichs- und Landstände. Seit
der Mitte des XIII. Jahrhunderts erlangten in England die
Bürgerschaften der Städte eine ursprünglich von der Ritter-
schaft getrennte, dann mit dieser verbundene Vertretung im
Nationalparlament. Aus den Repräsentanten der Bürgerschaft
bestand in Frankreich der früher schon von Zeit zu Zeit
einzeln, seit dem Anfang des XIV. Jahrhunderts zu den all-
gemeinen Ständeversammlungen (etats generaux) berufene
dritte Stand (tiers etat) des Reiches. Auch die Bänke

Vierzehntes Capitel. 3. Der Bürgerstand.

4. Die charakteristischen Merkmale des mittelalterlichen
Bürgerstandes sind:

a) Er bildet im Gegensatz zu dem Klerus und dem Adel
nicht einen privilegirten Stand, sondern einen ordentlichen
Regel- und Volksstand
.

Er unterscheidet sich von den Bauern durch die Be-
ziehung zur Stadt, durch die städtische Cultur, städtische
Freiheit und städtisches Recht.

b) Die Bürgerschaft fühlt sich trotz der geschichtlichen
Gegensätze der Familien und der alten Geblütsstände und
ungeachtet der verschiedenen Berufsarten als Einen zu-
sammengehörigen
Stand, welcher die bürgerliche
Freiheit
wahrt und die Gleichheit Aller vor dem Ge-
setze achtet, und als eine städtische Rechtsgenossen-
schaft
nach demselben Stadtrecht lebt und die Stadtver-
fassung
selbständig ordnet. Die Bürger sind Söhne der
Stadt und Theilhaber an dem städtischen Gemeinwesen. Bür-
gerliche Ehre und städtische Cultur sind mit einander eng
verflochten.

c) Der Bürgerstand erlangte aber im Mittelalter auch
eine statliche Stellung und Bedeutung, welche über das
Weichbildrecht der einzelnen Stadt hinaus wirkte und die
Bürger der vielen Städte des Landes und des Reiches zu
einem gemeinsamen ständischen Körper zusammenfaszte.

Diese neue Entwicklung fand ihren Ausdruck in der Or-
ganisation der mittelalterlichen Reichs- und Landstände. Seit
der Mitte des XIII. Jahrhunderts erlangten in England die
Bürgerschaften der Städte eine ursprünglich von der Ritter-
schaft getrennte, dann mit dieser verbundene Vertretung im
Nationalparlament. Aus den Repräsentanten der Bürgerschaft
bestand in Frankreich der früher schon von Zeit zu Zeit
einzeln, seit dem Anfang des XIV. Jahrhunderts zu den all-
gemeinen Ständeversammlungen (états généraux) berufene
dritte Stand (tiers état) des Reiches. Auch die Bänke

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[185/0203] Vierzehntes Capitel. 3. Der Bürgerstand. 4. Die charakteristischen Merkmale des mittelalterlichen Bürgerstandes sind: a) Er bildet im Gegensatz zu dem Klerus und dem Adel nicht einen privilegirten Stand, sondern einen ordentlichen Regel- und Volksstand. Er unterscheidet sich von den Bauern durch die Be- ziehung zur Stadt, durch die städtische Cultur, städtische Freiheit und städtisches Recht. b) Die Bürgerschaft fühlt sich trotz der geschichtlichen Gegensätze der Familien und der alten Geblütsstände und ungeachtet der verschiedenen Berufsarten als Einen zu- sammengehörigen Stand, welcher die bürgerliche Freiheit wahrt und die Gleichheit Aller vor dem Ge- setze achtet, und als eine städtische Rechtsgenossen- schaft nach demselben Stadtrecht lebt und die Stadtver- fassung selbständig ordnet. Die Bürger sind Söhne der Stadt und Theilhaber an dem städtischen Gemeinwesen. Bür- gerliche Ehre und städtische Cultur sind mit einander eng verflochten. c) Der Bürgerstand erlangte aber im Mittelalter auch eine statliche Stellung und Bedeutung, welche über das Weichbildrecht der einzelnen Stadt hinaus wirkte und die Bürger der vielen Städte des Landes und des Reiches zu einem gemeinsamen ständischen Körper zusammenfaszte. Diese neue Entwicklung fand ihren Ausdruck in der Or- ganisation der mittelalterlichen Reichs- und Landstände. Seit der Mitte des XIII. Jahrhunderts erlangten in England die Bürgerschaften der Städte eine ursprünglich von der Ritter- schaft getrennte, dann mit dieser verbundene Vertretung im Nationalparlament. Aus den Repräsentanten der Bürgerschaft bestand in Frankreich der früher schon von Zeit zu Zeit einzeln, seit dem Anfang des XIV. Jahrhunderts zu den all- gemeinen Ständeversammlungen (états généraux) berufene dritte Stand (tiers état) des Reiches. Auch die Bänke

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 185. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/203>, abgerufen am 29.03.2024.