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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Zwanzigstes Capitel. Verhältnisz des States zur Familie. 2. Die Frauen.
(Stimmrecht und Wählbarkeit) verliehen werden. Obwohl der
Philosoph Condorcet die Petition empfahl, wurde sie doch
von der Nationalversammlung mit Spott und Hohn zurück
gewiesen. In unsern Tagen findet dasselbe Begehren unter
verschiedenen Nationen eifrige Fürsprecher. Vor allen hat
Stuart Mill 1 dasselbe in seinen Werken und im englischen
Parlament vertheidigt, freilich ohne Erfolg. In Frankreich
hat sich Edouard Laboulaye 2 dafür ausgesprochen. In
einzelnen Länderstaten Amerikas ist man sogar zu Versuchen
vorgeschritten, die Frauen zu den politischen Rechten und
Pflichten herbeizuziehen.

Die hauptsächlich von Stuart Mill angeführten Gründe
für die unmittelbare Betheiligung der Frauen am Stat sind:

a) Die Frauen haben dasselbe Recht wie die Männer,
gut regiert zu werden; und eben dafür zu sorgen sei die
Volksvertretung eingerichtet. Aber auch die Kinder haben
ein natürliches Recht, dasz sie von dem State geschützt und
dasz für ihre gemeinsamen Interessen gut gesorgt, d. h. dasz
sie gut regiert werden, und dennoch leitet Niemand daraus
ein Stimmrecht der Kinder im State ab. Aus dem Rechte,
gut regiert zu werden, folgt keineswegs das Recht, sei es an
der Regierung Theil zu nehmen, sei es die Regierung zu
controliren; denn das letztere Recht setzt die persönliche
Fähigkeit
zur Ausübung derselben voraus; das erste Recht
dagegen verlangt keine besondere Fähigkeit, sondern hat
nur einen passiven Charakter.

b) Zwischen der Entwicklung des Privatrechts und des
öffentlichen Rechts bestehe ein offenbarer Widerspruch, der
beseitigt werden müsse. Auch im Privatrecht seien anfäng-
lich die Weiber in ihrer Handlungsfähigkeit beschränkt ge-
wesen und überall unter einer Geschlechtsvormundschaft der
Männer gestanden. Später aber habe man erkannt, dasz die

1 In der Schrift: Die Repräsentativregierung.
2 Histoire de l'Amerique. Bd. III.

Zwanzigstes Capitel. Verhältnisz des States zur Familie. 2. Die Frauen.
(Stimmrecht und Wählbarkeit) verliehen werden. Obwohl der
Philosoph Condorcet die Petition empfahl, wurde sie doch
von der Nationalversammlung mit Spott und Hohn zurück
gewiesen. In unsern Tagen findet dasselbe Begehren unter
verschiedenen Nationen eifrige Fürsprecher. Vor allen hat
Stuart Mill 1 dasselbe in seinen Werken und im englischen
Parlament vertheidigt, freilich ohne Erfolg. In Frankreich
hat sich Edouard Laboulaye 2 dafür ausgesprochen. In
einzelnen Länderstaten Amerikas ist man sogar zu Versuchen
vorgeschritten, die Frauen zu den politischen Rechten und
Pflichten herbeizuziehen.

Die hauptsächlich von Stuart Mill angeführten Gründe
für die unmittelbare Betheiligung der Frauen am Stat sind:

a) Die Frauen haben dasselbe Recht wie die Männer,
gut regiert zu werden; und eben dafür zu sorgen sei die
Volksvertretung eingerichtet. Aber auch die Kinder haben
ein natürliches Recht, dasz sie von dem State geschützt und
dasz für ihre gemeinsamen Interessen gut gesorgt, d. h. dasz
sie gut regiert werden, und dennoch leitet Niemand daraus
ein Stimmrecht der Kinder im State ab. Aus dem Rechte,
gut regiert zu werden, folgt keineswegs das Recht, sei es an
der Regierung Theil zu nehmen, sei es die Regierung zu
controliren; denn das letztere Recht setzt die persönliche
Fähigkeit
zur Ausübung derselben voraus; das erste Recht
dagegen verlangt keine besondere Fähigkeit, sondern hat
nur einen passiven Charakter.

b) Zwischen der Entwicklung des Privatrechts und des
öffentlichen Rechts bestehe ein offenbarer Widerspruch, der
beseitigt werden müsse. Auch im Privatrecht seien anfäng-
lich die Weiber in ihrer Handlungsfähigkeit beschränkt ge-
wesen und überall unter einer Geschlechtsvormundschaft der
Männer gestanden. Später aber habe man erkannt, dasz die

1 In der Schrift: Die Repräsentativregierung.
2 Histoire de l'Amérique. Bd. III.
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[229/0247] Zwanzigstes Capitel. Verhältnisz des States zur Familie. 2. Die Frauen. (Stimmrecht und Wählbarkeit) verliehen werden. Obwohl der Philosoph Condorcet die Petition empfahl, wurde sie doch von der Nationalversammlung mit Spott und Hohn zurück gewiesen. In unsern Tagen findet dasselbe Begehren unter verschiedenen Nationen eifrige Fürsprecher. Vor allen hat Stuart Mill 1 dasselbe in seinen Werken und im englischen Parlament vertheidigt, freilich ohne Erfolg. In Frankreich hat sich Edouard Laboulaye 2 dafür ausgesprochen. In einzelnen Länderstaten Amerikas ist man sogar zu Versuchen vorgeschritten, die Frauen zu den politischen Rechten und Pflichten herbeizuziehen. Die hauptsächlich von Stuart Mill angeführten Gründe für die unmittelbare Betheiligung der Frauen am Stat sind: a) Die Frauen haben dasselbe Recht wie die Männer, gut regiert zu werden; und eben dafür zu sorgen sei die Volksvertretung eingerichtet. Aber auch die Kinder haben ein natürliches Recht, dasz sie von dem State geschützt und dasz für ihre gemeinsamen Interessen gut gesorgt, d. h. dasz sie gut regiert werden, und dennoch leitet Niemand daraus ein Stimmrecht der Kinder im State ab. Aus dem Rechte, gut regiert zu werden, folgt keineswegs das Recht, sei es an der Regierung Theil zu nehmen, sei es die Regierung zu controliren; denn das letztere Recht setzt die persönliche Fähigkeit zur Ausübung derselben voraus; das erste Recht dagegen verlangt keine besondere Fähigkeit, sondern hat nur einen passiven Charakter. b) Zwischen der Entwicklung des Privatrechts und des öffentlichen Rechts bestehe ein offenbarer Widerspruch, der beseitigt werden müsse. Auch im Privatrecht seien anfäng- lich die Weiber in ihrer Handlungsfähigkeit beschränkt ge- wesen und überall unter einer Geschlechtsvormundschaft der Männer gestanden. Später aber habe man erkannt, dasz die 1 In der Schrift: Die Repräsentativregierung. 2 Histoire de l'Amérique. Bd. III.

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 229. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/247>, abgerufen am 28.03.2024.