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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Viertes Buch. Von der Entstehung und dem Untergang des States.
sein anknüpfen, welches den Stat menschlich begreifen will.
Zwar wird es sich weigern, jeden Sieg für eine Bewährung
des Rechts und jede Niederlage als ein Zeichen des Unrechts
anzuerkennen; es wird die Ueberlegenheit der Kriegswaffen
nicht mehr als einen Rechtsgrund betrachten. Aber es wird
das Resultat der groszen geschichtlichen Entwick-
lung
, die von Zeit zu Zeit wieder die streitenden Kräfte der
Nationen zur Ruhe bringt, als eine natur- und zeitgemäsze
Erledigung des Volks- und Statsprocesses betrachten und ihr,
da auch die sittlichen und rechtbildenden Momente darin wir-
ken, die Bedeutung eines weltgeschichtlichen Urtheils
zuschreiben: "Die Weltgeschichte ist das Weltgericht." Die
nachfolgende Anerkennung des neuen Rechtszustandes, 7 sei
es durch den Friedensvertrag oder durch freiwillige Unter-
werfung der Bewohner, als eines nothwendigen durch die Be-
völkerung heilt die rechtlichen Mängel der anfänglichen Be-
sitznahme.

Eine andere friedlichere Form solcher Landnahme ist die
Ansiedlung von politischen Genossenschaften in einem un-
bewohnten Land oder in einem wenig cultivirten Lande in
der Absicht, da einen neuen Stat zu gründen. Manche Colo-
nien der Europäer in fremden Welttheilen haben diesen Cha-
rakter. Nur wenn die Colonisation von dem Mutterstate ge-
leitet wird, gehört sie zu den abgeleiteten Entstehungsformen
(Cap. IV. 1.); wenn die bereits als Körperschaft geordneten
Colonisten, wie jene Pilger nach Neu-England, aus eigener
Kraft und mit eigener Gefahr neue Gemeinwesen auf Boden
begründen, der bisher noch keinem State angehört, so ist
das wesentlich ursprüngliche Statenbildung. Bleiben die bar-
barischen Urbewohner auf dem Gebiete des neuen Coloni-
stenstats
zurück, so ist die Schwierigkeit, das Verhältnisz

7 Bluntschli Mod. Völkerr. §. 701: "Die Eroberung begründet
erst in Folge der Ergebung oder des Friedensvertrages einen neuen fried-
lichen Rechtszustand."

Viertes Buch. Von der Entstehung und dem Untergang des States.
sein anknüpfen, welches den Stat menschlich begreifen will.
Zwar wird es sich weigern, jeden Sieg für eine Bewährung
des Rechts und jede Niederlage als ein Zeichen des Unrechts
anzuerkennen; es wird die Ueberlegenheit der Kriegswaffen
nicht mehr als einen Rechtsgrund betrachten. Aber es wird
das Resultat der groszen geschichtlichen Entwick-
lung
, die von Zeit zu Zeit wieder die streitenden Kräfte der
Nationen zur Ruhe bringt, als eine natur- und zeitgemäsze
Erledigung des Volks- und Statsprocesses betrachten und ihr,
da auch die sittlichen und rechtbildenden Momente darin wir-
ken, die Bedeutung eines weltgeschichtlichen Urtheils
zuschreiben: „Die Weltgeschichte ist das Weltgericht.“ Die
nachfolgende Anerkennung des neuen Rechtszustandes, 7 sei
es durch den Friedensvertrag oder durch freiwillige Unter-
werfung der Bewohner, als eines nothwendigen durch die Be-
völkerung heilt die rechtlichen Mängel der anfänglichen Be-
sitznahme.

Eine andere friedlichere Form solcher Landnahme ist die
Ansiedlung von politischen Genossenschaften in einem un-
bewohnten Land oder in einem wenig cultivirten Lande in
der Absicht, da einen neuen Stat zu gründen. Manche Colo-
nien der Europäer in fremden Welttheilen haben diesen Cha-
rakter. Nur wenn die Colonisation von dem Mutterstate ge-
leitet wird, gehört sie zu den abgeleiteten Entstehungsformen
(Cap. IV. 1.); wenn die bereits als Körperschaft geordneten
Colonisten, wie jene Pilger nach Neu-England, aus eigener
Kraft und mit eigener Gefahr neue Gemeinwesen auf Boden
begründen, der bisher noch keinem State angehört, so ist
das wesentlich ursprüngliche Statenbildung. Bleiben die bar-
barischen Urbewohner auf dem Gebiete des neuen Coloni-
stenstats
zurück, so ist die Schwierigkeit, das Verhältnisz

7 Bluntschli Mod. Völkerr. §. 701: „Die Eroberung begründet
erst in Folge der Ergebung oder des Friedensvertrages einen neuen fried-
lichen Rechtszustand.“
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[306/0324] Viertes Buch. Von der Entstehung und dem Untergang des States. sein anknüpfen, welches den Stat menschlich begreifen will. Zwar wird es sich weigern, jeden Sieg für eine Bewährung des Rechts und jede Niederlage als ein Zeichen des Unrechts anzuerkennen; es wird die Ueberlegenheit der Kriegswaffen nicht mehr als einen Rechtsgrund betrachten. Aber es wird das Resultat der groszen geschichtlichen Entwick- lung, die von Zeit zu Zeit wieder die streitenden Kräfte der Nationen zur Ruhe bringt, als eine natur- und zeitgemäsze Erledigung des Volks- und Statsprocesses betrachten und ihr, da auch die sittlichen und rechtbildenden Momente darin wir- ken, die Bedeutung eines weltgeschichtlichen Urtheils zuschreiben: „Die Weltgeschichte ist das Weltgericht.“ Die nachfolgende Anerkennung des neuen Rechtszustandes, 7 sei es durch den Friedensvertrag oder durch freiwillige Unter- werfung der Bewohner, als eines nothwendigen durch die Be- völkerung heilt die rechtlichen Mängel der anfänglichen Be- sitznahme. Eine andere friedlichere Form solcher Landnahme ist die Ansiedlung von politischen Genossenschaften in einem un- bewohnten Land oder in einem wenig cultivirten Lande in der Absicht, da einen neuen Stat zu gründen. Manche Colo- nien der Europäer in fremden Welttheilen haben diesen Cha- rakter. Nur wenn die Colonisation von dem Mutterstate ge- leitet wird, gehört sie zu den abgeleiteten Entstehungsformen (Cap. IV. 1.); wenn die bereits als Körperschaft geordneten Colonisten, wie jene Pilger nach Neu-England, aus eigener Kraft und mit eigener Gefahr neue Gemeinwesen auf Boden begründen, der bisher noch keinem State angehört, so ist das wesentlich ursprüngliche Statenbildung. Bleiben die bar- barischen Urbewohner auf dem Gebiete des neuen Coloni- stenstats zurück, so ist die Schwierigkeit, das Verhältnisz 7 Bluntschli Mod. Völkerr. §. 701: „Die Eroberung begründet erst in Folge der Ergebung oder des Friedensvertrages einen neuen fried- lichen Rechtszustand.“

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 306. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/324>, abgerufen am 29.03.2024.