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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900.

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Es hat lange genug gedauert, bis er zu seinem Rechte
als Lehrer kam. Wie hat die Menschheit in ihrem Denken sich
herumgeplagt, sich möglichst weit von ihm abzukehren! Ver¬
borgen wurde er wie ein Greuel. Fleisch und Satan sind
lange geradezu gleichbedeutende Begriffe gewesen. Der Anachoret
hüllte sich bis unters Kinn in Kameelshaare und starrte in die
Sterne. Als ob er da oben in etwas anderes gestarrt hätte
als doch nur wieder in einen Leib, in den Zellenbau eines
Leibes von Fixsternen und Milchstraßen, der seine Weisheit
hat wie seiner, der Sonnen aus sich gebiert wie er Samen¬
zellen ...

So lange der arme Leib so schlecht behandelt wurde, hat
er trotzig geschwiegen. Soll er uns Antwort stehen, so ist
eine gewisse Reinheit in uns, den Fragenden, selber dazu nötig.
Wir müssen, was heute allerdings noch keineswegs leicht fällt,
uns gewöhnen, den nackten Menschenleib so friedlich und un¬
befangen anzusehen wie wir etwa eine schöne Blume anschauen.
Im Sinne des Arztes bringen wir das ja schon am ehesten
heute fertig. Mit dem Mitleid wird uns alles keusch. Aber
gerade das langt noch nicht. Wir sehen doch auch eine Blume
nicht mit Mitleid an, sondern wir freuen uns ihrer, wenn sie
erst recht in Vollkraft der Gesundheit steht.

Und doch ist -- grade so ein Fingerzeig der Natur --
eine solche Blume im strengsten Sinne nicht bloß ein nackter
Leib, sondern sie ist die gefährlichste Partie dieses Leibes,
nämlich ausgesucht der Geschlechtsteil.

Ja, dagegen hilft gar nichts. Die glutrote Rose und das
silberne Maiglöckchen, die keusche Lilie und der brennende Mohn:
sie alle sind große, aufdringliche Geschlechtsteile. Der Griffel
ist der weibliche Schoß, der der Befruchtung harrt, -- der
Staubfaden das Mannesglied, von dem der Samen fällt. Alle
die bunten Farben, der Duft, der Honig sind Lockmittel für
die Fliegen, Bienen und Schmetterlinge, die ab und zu fliegend
die Begattung vermitteln.

Es hat lange genug gedauert, bis er zu ſeinem Rechte
als Lehrer kam. Wie hat die Menſchheit in ihrem Denken ſich
herumgeplagt, ſich möglichſt weit von ihm abzukehren! Ver¬
borgen wurde er wie ein Greuel. Fleiſch und Satan ſind
lange geradezu gleichbedeutende Begriffe geweſen. Der Anachoret
hüllte ſich bis unters Kinn in Kameelshaare und ſtarrte in die
Sterne. Als ob er da oben in etwas anderes geſtarrt hätte
als doch nur wieder in einen Leib, in den Zellenbau eines
Leibes von Fixſternen und Milchſtraßen, der ſeine Weisheit
hat wie ſeiner, der Sonnen aus ſich gebiert wie er Samen¬
zellen ...

So lange der arme Leib ſo ſchlecht behandelt wurde, hat
er trotzig geſchwiegen. Soll er uns Antwort ſtehen, ſo iſt
eine gewiſſe Reinheit in uns, den Fragenden, ſelber dazu nötig.
Wir müſſen, was heute allerdings noch keineswegs leicht fällt,
uns gewöhnen, den nackten Menſchenleib ſo friedlich und un¬
befangen anzuſehen wie wir etwa eine ſchöne Blume anſchauen.
Im Sinne des Arztes bringen wir das ja ſchon am eheſten
heute fertig. Mit dem Mitleid wird uns alles keuſch. Aber
gerade das langt noch nicht. Wir ſehen doch auch eine Blume
nicht mit Mitleid an, ſondern wir freuen uns ihrer, wenn ſie
erſt recht in Vollkraft der Geſundheit ſteht.

Und doch iſt — grade ſo ein Fingerzeig der Natur —
eine ſolche Blume im ſtrengſten Sinne nicht bloß ein nackter
Leib, ſondern ſie iſt die gefährlichſte Partie dieſes Leibes,
nämlich ausgeſucht der Geſchlechtsteil.

Ja, dagegen hilft gar nichts. Die glutrote Roſe und das
ſilberne Maiglöckchen, die keuſche Lilie und der brennende Mohn:
ſie alle ſind große, aufdringliche Geſchlechtsteile. Der Griffel
iſt der weibliche Schoß, der der Befruchtung harrt, — der
Staubfaden das Mannesglied, von dem der Samen fällt. Alle
die bunten Farben, der Duft, der Honig ſind Lockmittel für
die Fliegen, Bienen und Schmetterlinge, die ab und zu fliegend
die Begattung vermitteln.

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[56/0072] Es hat lange genug gedauert, bis er zu ſeinem Rechte als Lehrer kam. Wie hat die Menſchheit in ihrem Denken ſich herumgeplagt, ſich möglichſt weit von ihm abzukehren! Ver¬ borgen wurde er wie ein Greuel. Fleiſch und Satan ſind lange geradezu gleichbedeutende Begriffe geweſen. Der Anachoret hüllte ſich bis unters Kinn in Kameelshaare und ſtarrte in die Sterne. Als ob er da oben in etwas anderes geſtarrt hätte als doch nur wieder in einen Leib, in den Zellenbau eines Leibes von Fixſternen und Milchſtraßen, der ſeine Weisheit hat wie ſeiner, der Sonnen aus ſich gebiert wie er Samen¬ zellen ... So lange der arme Leib ſo ſchlecht behandelt wurde, hat er trotzig geſchwiegen. Soll er uns Antwort ſtehen, ſo iſt eine gewiſſe Reinheit in uns, den Fragenden, ſelber dazu nötig. Wir müſſen, was heute allerdings noch keineswegs leicht fällt, uns gewöhnen, den nackten Menſchenleib ſo friedlich und un¬ befangen anzuſehen wie wir etwa eine ſchöne Blume anſchauen. Im Sinne des Arztes bringen wir das ja ſchon am eheſten heute fertig. Mit dem Mitleid wird uns alles keuſch. Aber gerade das langt noch nicht. Wir ſehen doch auch eine Blume nicht mit Mitleid an, ſondern wir freuen uns ihrer, wenn ſie erſt recht in Vollkraft der Geſundheit ſteht. Und doch iſt — grade ſo ein Fingerzeig der Natur — eine ſolche Blume im ſtrengſten Sinne nicht bloß ein nackter Leib, ſondern ſie iſt die gefährlichſte Partie dieſes Leibes, nämlich ausgeſucht der Geſchlechtsteil. Ja, dagegen hilft gar nichts. Die glutrote Roſe und das ſilberne Maiglöckchen, die keuſche Lilie und der brennende Mohn: ſie alle ſind große, aufdringliche Geſchlechtsteile. Der Griffel iſt der weibliche Schoß, der der Befruchtung harrt, — der Staubfaden das Mannesglied, von dem der Samen fällt. Alle die bunten Farben, der Duft, der Honig ſind Lockmittel für die Fliegen, Bienen und Schmetterlinge, die ab und zu fliegend die Begattung vermitteln.

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900, S. 56. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben02_1900/72>, abgerufen am 19.04.2024.