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Boltzmann, Ludwig: Vorlesungen über Gastheorie. Bd. 2. Leipzig, 1898.

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IV. Abschnitt. [Gleich. 135]
Die mittlere lebendige Kraft der Schwerpunktsbewegung eines
Moleküles ist daher ebenfalls für beliebige unter einander im
Wärmegleichgewichte stehende Gase dieselbe. Hieraus folgt,
wie wir in § 7 des I. Theiles sahen, das Boyle-Charles-Avo-
gadro
'sche Gesetz, welches hiermit also auch für Gase mit
zusammengesetzten Molekülen kinetisch begründet erscheint.1)

1) Wir wollen uns einen bestimmt gegebenen festen oder tropf-
bar flüssigen Körper unter dem Bilde eines Aggregates von n
materiellen Punkten denken, welches also 3 n Freiheitsgrade hat,
etwa die 3 n rechtwinkeligen Coordinaten. Wenn es von einer weit
grösseren Gasmasse umgeben ist, so kann es gewissermassen als ein
einzelnes Gasmolekül betrachtet und es können die im Texte gefundenen
Gesetze darauf angewendet werden. Die gesammte lebendige Kraft ist
also [Formel 1] . Erfährt die Temperatur einen Zuwachs, wobei [Formel 2] um [Formel 3]
wächst, so ist die gesammte in Arbeitsmaass gemessene Wärme, die
behufs Erhöhung der mittleren lebendigen Kraft zugeführt werden muss,
[Formel 4] . Diese Wärme pro Einheit der Masse und Tempera-
turerhöhung ist das, was Clausius die wahre specifische Wärme nennt.
Sie ist in allen Zuständen und Aggregatformen unveränderlich. Sie wäre
die gesammte specifische Wärme, wenn der Körper den Zustand eines
in seine Atome dissociirten Gases hätte. Sie ist für alle Körper pro-
portional der Anzahl der Atome, woraus sie bestehen. Dieser Anzahl
ist auch die gesammte specifische Wärme proportional (Dulong-
Petit
'sches Gesetz für chemische Elemente, Neumann'sches für che-
mische Verbindungen), wenn die auf innere Arbeitsleistung verwendete
Wärmezufuhr d Qi in einem constanten Verhältnisse zu der auf Erhöhung
der lebendigen Kraft verwendeten d Ql steht. Dies ist immer der Fall,
wenn die auf jedes Atom wirkenden inneren Kräfte der Entfernung des-
selben aus seiner Ruhelage proportional oder noch allgemeiner lineare
Functionen seiner Coordinatenänderungen sind. Dann ist die Kraft-
function V eine homogene quadratische Function der Coordinaten genau
so, wie die lebendige Kraft L eine solche der Momente ist. Die In-
tegrationen in der Formel für V lassen sich dann genau so durchführen,
wie die, durch welche Formel 134) erhalten wurde, und man findet
d Qi = d Ql. (Vergl. Formel 111 a und Schluss des § 45). Die gesammte
Wärmecapacität ist dann das Doppelte der wahren oder der im ein-
atomigen Gaszustande. Das angenommene Wirkungsgesetz der inneren
Molekularkräfte gilt wohl angenähert für die meisten festen Körper.
Bei solchen, deren Wärmecapacität kleiner als die halbe aus dem
Dulong-Petit'schen Gesetze folgende ist (Diamant), muss man an-
nehmen, dass sich die durch gewisse Parameter bedingten Bewegungen
so langsam mit den anderen ins Gleichgewicht setzen, dass sie bei
den Experimenten über specifische Wärme nicht in Betracht kommen.

IV. Abschnitt. [Gleich. 135]
Die mittlere lebendige Kraft der Schwerpunktsbewegung eines
Moleküles ist daher ebenfalls für beliebige unter einander im
Wärmegleichgewichte stehende Gase dieselbe. Hieraus folgt,
wie wir in § 7 des I. Theiles sahen, das Boyle-Charles-Avo-
gadro
’sche Gesetz, welches hiermit also auch für Gase mit
zusammengesetzten Molekülen kinetisch begründet erscheint.1)

1) Wir wollen uns einen bestimmt gegebenen festen oder tropf-
bar flüssigen Körper unter dem Bilde eines Aggregates von n
materiellen Punkten denken, welches also 3 n Freiheitsgrade hat,
etwa die 3 n rechtwinkeligen Coordinaten. Wenn es von einer weit
grösseren Gasmasse umgeben ist, so kann es gewissermassen als ein
einzelnes Gasmolekül betrachtet und es können die im Texte gefundenen
Gesetze darauf angewendet werden. Die gesammte lebendige Kraft ist
also [Formel 1] . Erfährt die Temperatur einen Zuwachs, wobei [Formel 2] um [Formel 3]
wächst, so ist die gesammte in Arbeitsmaass gemessene Wärme, die
behufs Erhöhung der mittleren lebendigen Kraft zugeführt werden muss,
[Formel 4] . Diese Wärme pro Einheit der Masse und Tempera-
turerhöhung ist das, was Clausius die wahre specifische Wärme nennt.
Sie ist in allen Zuständen und Aggregatformen unveränderlich. Sie wäre
die gesammte specifische Wärme, wenn der Körper den Zustand eines
in seine Atome dissociirten Gases hätte. Sie ist für alle Körper pro-
portional der Anzahl der Atome, woraus sie bestehen. Dieser Anzahl
ist auch die gesammte specifische Wärme proportional (Dulong-
Petit
’sches Gesetz für chemische Elemente, Neumann’sches für che-
mische Verbindungen), wenn die auf innere Arbeitsleistung verwendete
Wärmezufuhr d Qi in einem constanten Verhältnisse zu der auf Erhöhung
der lebendigen Kraft verwendeten d Ql steht. Dies ist immer der Fall,
wenn die auf jedes Atom wirkenden inneren Kräfte der Entfernung des-
selben aus seiner Ruhelage proportional oder noch allgemeiner lineare
Functionen seiner Coordinatenänderungen sind. Dann ist die Kraft-
function V eine homogene quadratische Function der Coordinaten genau
so, wie die lebendige Kraft L eine solche der Momente ist. Die In-
tegrationen in der Formel für V̅ lassen sich dann genau so durchführen,
wie die, durch welche Formel 134) erhalten wurde, und man findet
d Qi = d Ql. (Vergl. Formel 111 a und Schluss des § 45). Die gesammte
Wärmecapacität ist dann das Doppelte der wahren oder der im ein-
atomigen Gaszustande. Das angenommene Wirkungsgesetz der inneren
Molekularkräfte gilt wohl angenähert für die meisten festen Körper.
Bei solchen, deren Wärmecapacität kleiner als die halbe aus dem
Dulong-Petit’schen Gesetze folgende ist (Diamant), muss man an-
nehmen, dass sich die durch gewisse Parameter bedingten Bewegungen
so langsam mit den anderen ins Gleichgewicht setzen, dass sie bei
den Experimenten über specifische Wärme nicht in Betracht kommen.
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[126/0144] IV. Abschnitt. [Gleich. 135] Die mittlere lebendige Kraft der Schwerpunktsbewegung eines Moleküles ist daher ebenfalls für beliebige unter einander im Wärmegleichgewichte stehende Gase dieselbe. Hieraus folgt, wie wir in § 7 des I. Theiles sahen, das Boyle-Charles-Avo- gadro’sche Gesetz, welches hiermit also auch für Gase mit zusammengesetzten Molekülen kinetisch begründet erscheint. 1) 1) Wir wollen uns einen bestimmt gegebenen festen oder tropf- bar flüssigen Körper unter dem Bilde eines Aggregates von n materiellen Punkten denken, welches also 3 n Freiheitsgrade hat, etwa die 3 n rechtwinkeligen Coordinaten. Wenn es von einer weit grösseren Gasmasse umgeben ist, so kann es gewissermassen als ein einzelnes Gasmolekül betrachtet und es können die im Texte gefundenen Gesetze darauf angewendet werden. Die gesammte lebendige Kraft ist also [FORMEL]. Erfährt die Temperatur einen Zuwachs, wobei [FORMEL] um [FORMEL] wächst, so ist die gesammte in Arbeitsmaass gemessene Wärme, die behufs Erhöhung der mittleren lebendigen Kraft zugeführt werden muss, [FORMEL]. Diese Wärme pro Einheit der Masse und Tempera- turerhöhung ist das, was Clausius die wahre specifische Wärme nennt. Sie ist in allen Zuständen und Aggregatformen unveränderlich. Sie wäre die gesammte specifische Wärme, wenn der Körper den Zustand eines in seine Atome dissociirten Gases hätte. Sie ist für alle Körper pro- portional der Anzahl der Atome, woraus sie bestehen. Dieser Anzahl ist auch die gesammte specifische Wärme proportional (Dulong- Petit’sches Gesetz für chemische Elemente, Neumann’sches für che- mische Verbindungen), wenn die auf innere Arbeitsleistung verwendete Wärmezufuhr d Qi in einem constanten Verhältnisse zu der auf Erhöhung der lebendigen Kraft verwendeten d Ql steht. Dies ist immer der Fall, wenn die auf jedes Atom wirkenden inneren Kräfte der Entfernung des- selben aus seiner Ruhelage proportional oder noch allgemeiner lineare Functionen seiner Coordinatenänderungen sind. Dann ist die Kraft- function V eine homogene quadratische Function der Coordinaten genau so, wie die lebendige Kraft L eine solche der Momente ist. Die In- tegrationen in der Formel für V̅ lassen sich dann genau so durchführen, wie die, durch welche Formel 134) erhalten wurde, und man findet d Qi = d Ql. (Vergl. Formel 111 a und Schluss des § 45). Die gesammte Wärmecapacität ist dann das Doppelte der wahren oder der im ein- atomigen Gaszustande. Das angenommene Wirkungsgesetz der inneren Molekularkräfte gilt wohl angenähert für die meisten festen Körper. Bei solchen, deren Wärmecapacität kleiner als die halbe aus dem Dulong-Petit’schen Gesetze folgende ist (Diamant), muss man an- nehmen, dass sich die durch gewisse Parameter bedingten Bewegungen so langsam mit den anderen ins Gleichgewicht setzen, dass sie bei den Experimenten über specifische Wärme nicht in Betracht kommen.

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Zitationshilfe: Boltzmann, Ludwig: Vorlesungen über Gastheorie. Bd. 2. Leipzig, 1898, S. 126. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boltzmann_gastheorie02_1898/144>, abgerufen am 19.04.2024.