I n altem Kloſterraum eine ſtille Bücherei . Vor der
tiefen ſchweren Wölbung ſchwebt das Licht der roten Ampel
wie in einer Wolke . Hinten windet ſich die krumme Wendel¬
treppe empor und die Stufenbäuche , vom Halbglanz eben ge¬
weckt , gleichen den Schuppenringeln eines dicken Lindwurms ,
der ſeinen Kopf ſchon in die Decke geſtoßen hat . Durch die
Zickzackſcheiben des hohen Fenſters ein Fleck Schnee und ein
Blitz Sterne .
Ein bischen riecht es noch nach Geſpenſtern hier , — ge¬
ſtorbenen , ausgeräucherten Geſpenſtern . Aber die Goldtitel der
Bücher auf den Regalen dort haben ſchon zu helle Augen .
Bücher haben Augen . Manchmal in ſolcher einſamen
Stunde iſt mir , als ſei ſo ein Buch ſchon ein höherer Orga¬
nismus als wir . Eine Entwickelungsſtufe der Natur , die vom
Menſchen ſich ſchon nach oben losgerungen , ihn überboten hat .
Nimm dieſe Bücher fort , — was iſt der Menſch ? Ein Haufen
kleiner Kinder , die wieder zu Wilden werden . Ein Idiot ohne
Gedächtnis . Alles , was er iſt , iſt hier aufgeſaugt , und was
er neu ſchafft , ſchafft er , damit es in dieſer höheren Ordnung
lebe , über ſeine Vergänglichkeit hinaus lebe .
Und wie ſtark uns das heute oft wieder packt : die Sehn¬
ſucht nach ſolcher ſtillen Kloſterzelle . Eine rote Ampel und
ein goldener Wein und dieſe weiſen Bücheraugen der Jahr¬
— 1 —
tauſende . Da liegt die Menſchheit , ſelbſt ſo reinlich abgezogen
wie auf kühle Jahrgänge eines Kellers . Du biſt mit ihr
allein . Stille rings , als ruhe alles Gären und Begehren
für eine Geiſterſtunde . Nur der ausgeklärte Trank des Ver¬
gangenen ſtößt , wenn du daran hinſchreiteſt , bisweilen mit
einem leiſen , tiefen Laut ans Faß , Draußen der Schnee , in
dem jeder rohe Ton ſtirbt . Und die Sterne , die auch nur
reden , wenn alles ganz ſtill iſt . Und eine gute altmodiſche
Treppe zum Schafgemach Schlafgemach hinauf , — wenn du müde wirſt , —
wenn es ſpät wird , — wenn es Zeit wird ....
Weißt du , was im Begriff des Kloſters immer wieder an
hohem Sinn geſteckt hat ? Die Idee einer großen Verdauungs¬
anſtalt . Wir hören ſo viel heute von der Brotfrage . Aber
es liegt eine unheimlich tiefe Bedeutung auch in der Ver¬
dauungsfrage . Denk dir die Menſchheit , über die eine ganze
Kulturepoche mit ihrem raſenden Tempo hingeſtampft war .
Etwa die alte babyloniſch-ägyptiſche . Oder die griechiſche .
Oder Rom und Chriſtus und die Völkerwanderung . Oder gar
das alles hintereinander . Was hatte das Gehirn eſſen müſſen .
Es brauchte notwendig eine Anzahl Jahrhunderte Verdauungs¬
pauſe . Unſere letzte war die , an die wir den geläufigen Be¬
griff des Kloſters knüpfen . Der Menſch in der Zelle , unter
der Ampel , der nicht handelt , ſondern verdaut . Geiſtig ver¬
daut er . Gerade darum mag er ſich körperlich pflegen .
Darum geht vom Kloſter ein Atem aus von Forellen und
altem Rheinwein . Man ahnt , daß die Menſchen ein Jahr¬
tauſend lang nervös gegeſſen hatten , wie einer , der auch bei
der Mahlzeit im Trubel ſteht . Jetzt eſſen ſie auch phyſiſch
wieder mit Ruhe , weil der Geiſt ausruht . Und eines Tages ,
wenn der Magen oben und unten endlich völlig in Ordnung
iſt , erwacht das Handeln wie ein urgeſunder Appetit von
ſelbſt wieder . Eines Tages ſetzt ſo ein Mönch ſich hin und
malt über ſeine Zellenthür einen Heilandskopf , wie er der
höchſten Kunſtblüte der Antike nicht gelungen wäre . Ein Dom¬
herr zu Frauenburg klappt das letzte Blatt ſeines Ptolemäus
um , nachdem er ihn endlich ganz ausverdaut hat , und zeichnet
auf die freie Schlußſeite einen Punkt : die Sonne , und einen
Kreis darum : die Erdbahn . Aus dieſem Punkt und Kreis
bricht eine neue Weltanſchauung .
Seitdem iſt die Zeit wieder ſo wirbelnd ſchnell gelaufen .
Unſere geiſtige Rieſenfütterung ſteht uns aus dem Munde wie
den Knaben Max und Moritz ihr letztes geſtohlenes Hühner¬
bein vom Topf der Witwe Bolte . Wo wird ſich unſer Kloſter
bauen ?
Laß uns im Geiſte wenigſtens ſchon in ſolcher Zelle
ſein bei unſerem letzten Geſpräch von der Liebe .
Noch liegt uns ob , eine Reihe Jahrgänge Menſchheitsliebe
zu proben . Hinter jedem Faß ſteht ſein Jahr . Dieſes Jahr
iſt Frühling mit wilden Knoſpen , iſt ſinnberauſchender Reben¬
duft . Aber es iſt auch Hagelſchlag und blaue Blitze . Doch
in der Kloſterzelle iſt's Ruhe , klarer Trank . Hebe den alten
Römer gegen das Licht .... das ſchäumt nicht mehr , —
ausgeklärtes Menſchengold . Es liegen Geſpenſterfäſſer dabei ,
unheimliche , ſchwarze , die Fäſſer aus den Kometenjahren , da
ſchreckhafte Geſtirne ihre ungeheuren Schwänze über den
Himmel der Menſchheitsſeele ſchleppten . Iſt aber auch alles
hin , und der Wein iſt rein . Es ſind der Fäſſer ſo viele .
Wir können nicht alle öffnen . Nur die ſeltſamſten noch , die
mit den ganz großen Nummern und Schnörkeln , — auf
Stichproben .
Menſchheit , — Wundertier ! Was ſind gegen dich alle
Sterne , Ichthyoſaurier , Spinnen und Bandwürmer . Du biſt
in allem die Krone . Im Licht und in der Rappeligkeit . An
deiner ungeheuerlichen Phantaſie hat es nicht gelegen , daß
der Liebeskahn nicht zum Schluß auf dieſem blauen Welten¬
meer noch zum regelrechten Narrenſchiff geworden iſt . Aber
auf dieſem Narrenſchiff ſaß in all deinen Jahrtauſenden ein
ſtiller , vermummter Steuermann : das größte , tiefſte Zauber¬
1*
kind deiner Phantaſie ſelbſt : — deine Sehnſucht . Und mit ihr
biſt du tauſend und tauſendmal immer doch wieder im Para¬
dieſe gelandet .
Menſchheit , du goldener Trank , du Sternenextrakt , Sternen¬
blume , — Nachtwandlerin du auf den grauen Fäden der ur¬
alten unſichtbaren Schickſalsſpinne , — laß mich aus dieſer
deiner eigenen Paradieſesſchau mein letztes Kapitel von dir
erzählen ... .
W ie der rote Ampelſchein über die alte Decke da oben
glüht , erſcheint ſie ſchwer wie eine ſteinerne Hand , die deine
Welt im Engen hält . Und doch iſt das gerade das rechte Bild .
Eine enge Höhle iſt dieſe Zelle hier , das Fenſter der
Höhlenausgang , in dem genau noch ein Stern blinkt . Immer ,
wenn du ein menſchliches Haus heute noch anſchauſt als reines
Naturprodukt , ſo , wie man einen Korallenbau oder eine
Muſchelſchale beſieht , hat es dieſen Höhlencharakter . Uraltes
Erbe ſteckt darin . Als wirkliches Höhlentier hat der Menſch
begonnen . Typiſche Höhlentiere leben heute noch als berufene
und unberufene tieriſche Gäſte bei ihm : die Eule und die
Taube und die Fledermaus . Als er ſich zum erſtenmal ein
Haus aufzimmerte , war es nur das Modell der alten Höhle ,
das er hinwarf , er hatte nichts beſſeres .
In ungemeſſenen Zeiträumen bilden ſich in der Meeres¬
tiefe Lager von Kalk . Korallentiere bauen ihre Kalkburgen
als Riff empor . Muſcheltiere häufen ihre kalkigen Schalen .
Als beſtändiger feiner Kalkregen rieſeln aus der ganzen
Waſſerſäule des Ozeans unabläſſig die mikroſkopiſch kleinen
Gehäuſe einzelliger Urtiere nieder zum Grund und legen ſich
zu kalkigem Schlamm übereinander . Nun bewegt ſich die
Feſte unter der Flut . Die alte Erde verdichtet ſich , ihre
Rinde ſinkt nach , Waſſer ſtrömt ab in neue Tiefen und hier
und dort erſcheint der ehemalige Seeboden als freies Hügel¬
land . Seine Kalklager ſind jetzt feſtes Kalkgeſtein , um das
der Wind rauſcht und die Himmelstropfen ſprühen . Das
Regenwaſſer ſammelt ſich auf der freien Fläche . Bei den Be¬
wegungen der Erdrinde iſt ein Spalt eingeriſſen in dem ur¬
alten Korallengrund . Da ſchießen jetzt die Tröpfchen des
Himmelsquells nach . Und mit den Waſſerperlchen kommt
Kohlenſäure . Sie löſt den Kalk der Spaltenwand chemiſch auf ,
erweitert ſo die Öffnung , ſchafft dem Waſſer freiere Bahn .
Die Jahrhunderte ziehen und aus dem Spalt wird eine Höhle .
Der Quell , der ſie gefreſſen , durchrauſcht ſie , nachdem er ſich
tief am Kalkhang des Hügels eine Pforte gebrochen , die ihn
wieder ans Sonnenlicht , in den grünen Wald entläßt . Myſtiſches
Dunkel herrſcht da drinnen . Nur die Tropfen fallen von der
Wölbung , und indem jeder etwas gelöſten Kalk mitführt und
fallend abſetzt , wachſen von der Decke dem Boden und vom
Boden der Decke zu geſpenſtiſche Zacken , die ſich zu ſuchen
ſcheinen , Stalagmiten und Stalaktiten , ein phantaſtiſcher Kalk¬
wald in der Finſternis . Der Bär und die Hyäne entdecken
eines Tages den Eingang und machen es ſich gemütlich im
Höhlenbauch . In ungezählten ſchwärzlichen Ballen hängen ſich
dunkelliebende Fledermäuſe wie Früchte an die Stalaktiten-
Vegetation .
Aber die Stunde iſt erfüllt — und es kommt das Weſen
der Erfüllung : der Menſch . Roter Herdſchein erhellt den
Schacht , daß die Fledermäuſe entſetzt herabtaumeln , und vor
dem brennenden Aſt flüchtet quäkend die Hyäne . Ein Stein¬
pfeil durchs Auge hat den Bären erlegt , ſein Pelz liegt auf
der Kalkſohle als erſte Divandecke . Auf die Wand ſind mit
kindlicher Kunſt groteske Tierbilder gekratzt : Mammute mit
krummen Stoßzähnen , Steinbock und Wildpferd . Und um das
ſchwehlende Feuer bewegen ſich nackte Geſtalten , — Geſtalten
eines Weſens vom Säugetiertypus , mit den Händen des Affen ,
aber zugleich mit Gehfüßen , aufrecht ſchreitend , ohne daß die
Arme den Körper in der verrenkten Stellung des Gibbon
balancieren müſſen , der Schädel prachtvoll gewölbt , — wie
beim Gibbon und Orang hinten kein ſichtbarer Schwanz , —
aber das Fell nahezu ganz nackt . Mann und Weib ſtreng
geſchieden nach dem Geſetz aller höheren Tierentwickelung , mit
dem Geſchlechtsapparat der oberſten Säugetierſtufe . Aber
nackt ſie beide . Schemenhaft fällt ihr Umriß als Schatten
auf die Kalkwand : ſcharf ſtellt ſich die rein herausgearbeitete
Körperſilhouette vom Halſe an abwärts dar ohne die ſchwankende
Umrißlinie des deckenden Pelzes oder Federkleides wie bei dem
Bär oder der Höhlentaube . Wenn er ſich an der Taube
mißt , dieſer Menſch , ſo ſteht er wie gerupft da .
Der nackte Menſch .
Ein Zauberſeſam des Märchens iſt dieſes Wörtchen „ nackt “ .
Je nach dem Geiſtesklang , den ich ihm gebe , reißt es
verſchiedene Thore auf . Ich ſpreche es aus : und die Aſſociation
der Ideen ſtellt ſich ein : kalt . Unbekleidet , ausgezogen im
nordiſchen Klima , — frierend . Ich gebe ihm einen anderen
Sinn — und es heißt Kunſt . Der nackte David des Michel¬
angelo , der nackte Hermes des Praxiteles ſteigen auf . Aber
eine dritte Bedeutung will alle anderen verſchlingen . Ein
heißer Atem haucht von dem Worte her . Für unſere Kultur¬
welt iſt es ein erotiſches Wort , in ſeiner Allgemeinheit und
doch plaſtiſchen Sinnfälligkeit das ſtärkſte von allen .
In weit getrennte Linien ſcheint das auseinander zu
laufen . Und doch iſt der ſchlichte Aſſociationsapparat unſeres
Gehirns dabei eine wunderbar zuverläſſige Maſchine .
Einſt , in ſeltſamen Tagen des Menſchheitsdenkens , als
die mittelalterliche Scholaſtik im Anſchluß an Ariſtoteles alle
Welträtſel löſen zu können glaubte in ein kleines Rechen¬
exempel hinein , hat der Spanier Raimundus Lullus eine
philoſophiſche „ Gedankenmaſchine “ als äußerlichen Apparat
konſtruiert . Die Idee war eigentlich köſtlich . Man ſetzte eine
Frage ein und ließ die Räder ſchnurren . Wie im Kaleidoſkop
ordneten ſich auf ein beſtimmtes Wort hin die Begriffsworte
der Maſchine untereinander und die Löſung erſchien ſchwarz auf
weiß gleich der Ziffer in den allbekannten Zahlapparaten
unſerer Warenhäuſer . Das Lachbare dabei war nur die
Winzigkeit dieſer paar ſcholaſtiſchen Begriffsſchachteln , in die
jedes Welträtſel ſich ſofort einſpannen ſollte . Wäre die Maſchine
des braven Lullus groß und reich geweſen wie die Welt , ſo
hätte ſie in Wahrheit auch alle Fragen dieſer Welt beant¬
wortet . Denn in ihrem Weſen iſt die wahre Welt , iſt der
Kosmos eine ſolche Maſchine , wo alles klappt . Aber noch
etwas engeres hat des Lullus genialbrutaler Verſuch wirklich
ahnend berührt : nämlich den Aſſociationsapparat unſeres eigenen
Gehirns . Auch da fällt kein kleinſtes Wörtchen hinein , ohne
daß automatiſch allſogleich die Radſtreifen ſich zu drehen be¬
ginnen und ganz nach des Lullus Methode eine Reihe anderer
Worte darunter bringen . Und wer etwas in den Tiefen der
Dinge zu leſen verſteht , der merkt oft genug , daß es ſich auch
hier um ein geheimes Frage- und Antwortſpiel handelt . Ich
werfe das Wort „ nackt “ hinein und alsbald erſcheinen die
drei ausgeſpielten Merkworte : kalt , ſchön , Liebe . Ohne mein
Zuthun hat mein Gehirn hinter das Einſatzwörtchen ein Frage¬
zeichen geſchmuggelt . Und nun wirft es mir drei Antworten
hin . Weiß ich ſie zu verknüpfen , ſo habe ich den großen
Weg zur Löſung , zum tiefen Sinn meines Wortes ſelbſt .
Noch einmal laß den Menſchen vor dir auftauchen auf
der Höhe ſeiner tieriſchen , ſeiner kosmiſchen Entwickelung .
Wie wir ihn , einem voraufeilenden Schatten erſt nur ſeiner
Menſchenexiſtenz gleich , haben heraufkommen ſehen durch die
ganzen Zeitäonen von jenem kambriſchen Urſtrande unſerer
Erkenntnis an . Bis endlich der Gibbonaffe vom Baum ſpringt ,
die Erde wieder berührt ; und die erſten Werkzeuge ſchafft .
Noch einmal ſieh ihn da oben ſtehen , den Menſchen der
Menſchheitswende , genau auf dem Grenzkamm , hinter ihm im
Blau verſinkend unendliche Tierheit bis in Sternennebel — —
und vor ihm plötzlich , durch den zollbreiten Schritt über die
Waſſerſcheide gegeben , das morgenſtille , taufriſche Neuland
der Kultur .
In dieſer Morgenſtunde ohne gleichen , an dieſem Welt¬
entdeckungstag , gegen den der Guanahanimorgen des Kolumbus
zu einem winzigen Idyll zuſammenſchmilzt , — da hat der
Menſch körperlich noch ein letztes erlebt , in dem ſymboliſch
zugleich die Tierverkleidung noch einmal von ihm abfiel wie
ein wirklicher Rock und zu dieſem Abfallen ſchon Geiſtes¬
leiſtungen höherer , kulturhafter Art mitwirkten , — mitwirkten
in eine letzte organiſche Umbildung noch gerade hinein .
Wenn in der Dichtung Homers ſich die Dinge nach un¬
endlichem Aufbau endlich zur höchſten dramatiſchen Spannung
zuſpitzen , dann verklärt die hilfreiche Hand ſeiner Schutzgöttin
auch perſönlich den Körper des Helden , das rauhe Bettlergewand
ſchmilzt wie ein Nebelrauch und über die Glieder fließt wie
Salböl ſtrahlende Heldenſchönheit . Im Epos der wahren
Weltgeſchichte ſtecken die hilfreichen Göttinnen in Alraunengeſtalt ,
ſie erſcheinen als Erdachſen , Vulkane , Eisgletſcher , Bazillen¬
wolken und verwandte hübſche Sachen . Aber ſie heißen auch
Gehirn und Sehnſucht , Kunſt und Kulturkraft — und Liebe .
Und auch ſie haben zu gewiſſer Stunde , ohne Theaterpomp ,
aber unvergänglich ſichtbar in alle Folge hinein , ihren Helden
verklärt , haben von ihrem Meiſterwerk die Arbeitshülle
gezogen .
Ein Liebesproblem allererſten Ranges , ſtellt ſich uns die
Nacktheit des Menſchen dar , — das erſte Problem zugleich ,
mit dem ſeine Liebeswallfahrt im engeren einſetzt .
Auf den ſchwarzen Kloſtertiſch hier lege ich dir zunächſt
ein einzelnes modernes Kunſtblatt und einen alten ſchweins¬
ledernen Folianten .
Das Kunſtblatt iſt von Fidus . Da ſiehſt du im grünen
Raume ſchwebend das Weltenei . Sinnig hat des großen
Künſtlers Hand es geöffnet und im Hohlraum der geteilten
Schale aus der alten Waſſerwiege die heilige Lotosblume des
Lebens ſprießen laſſen . Schützend wie eine Mauer vor profanem
Blick ſpannt ſich hinter der Blüte ein großes Pflanzenblatt
empor . Denn es ſchützt ein liebliches Geheimnis . In den
Staubfäden der entfalteten Seeroſenkrone ſitzt ein zierliches
junges Menſchenweib . Ein Kindlein liegt in ſeinem Schoße , —
das uralte , ewig junge Myſterium : Menſchenmutter und
Menſchenkind . Ihre Augen ſind bei dem Kinde , die Hände
zuſammengedrückt nicht wie im Gebet der Sehnſucht , ſondern
in der überwältigenden Wonne erfüllten Weltenglücks . Es iſt
da ! jauchzt der ganze junge Leib , — das unfaßbare Geſchenk
aus dem ewig Verborgenen heraus iſt da ! Woher ? Über
ihrem Haupte glüht es wie eine ſegnende Sonne : die ewige
Schaffenskraft der Natur , — wie eine große wunderbare
Zeugung umſtrömt , durchfließt ſie das leiſe abwärts rinnende Licht .
Dieſe Menſchenmutter iſt nackt . Nur vom Scheitel rollt
ihr das weiche Gelock bis auf die Schultern herab . Das liebe
Köpfchen des Kindes hüllt den geweihten Heimatboden , dem
es entblüht iſt , mit dem dunklen Fleck ſeines eigenen Haars .
Wunderbar iſt in dieſem Bilde der Ausdruck des Natür¬
lichen , fruchtbar Schaffenden gepaart mit dem höchſten Zauber
menſchlicher Reine und Unſchuld . Nur für einen Moment des
Lichtes hat ſich dieſe Gruppe ſehen laſſen . Der leiſeſte Schatten
eines unreinen Gedankens heranſtreifend — und die Lotos¬
blätter werden ſich trotzig ſchnell über ihr zuſammenfalten wie
die grünen Fiederzeilen am Mimoſenzweig . Und durch die
verſchloſſene Blüte nur wird es nachflammen wie ein tiefes ,
immer tieferes Purpurrot , — die Röte der Scham . Und
ganz in die Waſſertiefe wird die Knoſpe zuletzt hinabtauchen ,
den Schauer der unedeln Berührung in der heiligen Kryſtall¬
flut wieder von ſich abzuwaſchen .
Wie der Schatz im Märchen liegt die menſchliche Nackt¬
heit in ſolchem Bilde , aufgeſchloſſen für einen Göttermoment
und jäh verſinkend vor dem geringſten profanen Wort . Für
das rinnende Licht , für den heiligen Segen der Zeugung taucht
ſie auf einen Augenblick auf . Auf taucht ſie , damit die Kinder¬
knoſpe ſich von ihr ringe . Dem Munde des Kindes , dem
reinen , erſchließt ſie ihre unverhüllte Bruſt . Und dem Jubel¬
gebet der Hingabe an die ewige , ſternenweite , dauernde Welt
gibt ſie ſich nackt , — den reinen Sternen , von denen die
Billionenmeilenfernen des Raumes jede Trübe , jede Schlacke
gelöſt ....
Der alte Foliant , den ich hierneben gelegt , ſtammt vom
Jahre 1606 .
Es iſt in Wahrheit ein altes Kloſterexemplar .
Nachdem die Tierkunde wie alle Naturforſchung lange im
Verdauungsſchlaf gelegen , wachte ſie im ſechzehnten Jahrhundert
mit Nachdruck auf . Der Doktor Konrad Gesner zu Zürich
ſchrieb um des Säkulums Mitte ein Rieſenwerk in gewichtigen
Folianten über Tierkunde , mit dem Fleiß des Polyhiſtors , aber
auch ſelbſt umſchauert vom Geiſte ſchon einer neuen , gekräftigten
Zeit . Von dieſem Monumentalwerke erſchien wenig ſpäter ein
deutſcher Auszug , der mit ſeiner derb volkstümlichen Sprache
heute als echter „ Gesner “ zitiert zu werden pflegt , obwohl
verſchiedene deutſche Bearbeiter ſich erſt zwiſchen den und ſeinen
vornehmen Lateintext geſchoben haben . Unſer Band iſt das
„ Tierbuch “ , alſo die Säugetiere , verdeutſcht von einem zweiten
Schweizer Doktor der Zeit , dem „ Herrn Konrad Forer “ .
Köſtlich die Holzſchnitte , köſtlich der Text . Es war in vielem
noch eine arge Fratzenwelt , was die Leute damals als „ Tiere “
ſchauten . Gottes humoriſtiſches Kabinet oder auch ſeine
Schreckenskammer , je nachdem . Wie eine geſpenſtiſche Prozeſſion
aus der Arche kommt das Tiervolk daher . Mit den Gerüchten
vom Orang-Utan miſchen ſich noch die antiken Sagen von den
Satyrn — Geyßmännlein hier genannt — und die deutſchen
Waldſchratte und Geiſter des „ Hirſelberges bei Iſenach “ .
Neben den Urochſen , die heute ſchon ausgeſtorben ſind , trabt
vergnüglich das Einhorn , das nie gelebt . Albrecht Dürer
zeichnet nach fremder Überlieferung das Rinozeros hinein , zu
Ornamentlinien ſtiliſiert . Inmitten dieſes luſtigen Spuks aber
nun auf Blatt 158 ein ganz abſonderlicher Gaſt .
Als „ Affenwolff oder Berwolff “ wird er vorgeſtellt . Und
dann heißt es von ihm : „ Dieſes Thier iſt mit großem Wunder
gen Augſpurg gebracht und gezeigt worden deß 1551 jahrs .
Wirt gefunden in den groſſen einödinen deß Indianiſchen
landß , gar ſelten . An ſeinen füſſen hat es finger als der
menſch , und ſo man jm deutet ſo keert er den arß dar ...
Iſt von natur freudig , vorauß gegen den Weiberen , gegen
welchen es ſein freudigkeit viel erzeigt . “
Ein Blick auf das Bild und der eigentümliche Herr iſt
trotz der dreihundert Jahre Abſtand legitimiert . Es iſt der
große Affe des Kongogebiets , den wir Mandrill nennen .
Wo der große Äquatorſtrom , der für unſere Tage den
alten Sagennil in der Romantik abgelöſt hat , den dunklen
Kontinent in kühnem Bogen durchquert , da hat im Urwald
die Natur ihr Meiſterſtück geſchaffen an grotesker Scheuſäligkeit
des Affentypus . Dem ſchutzloſen Menſchenmädchen auf ein¬
ſamem Pfad ſtürzt ſich ein meterlanger , ſtiernackiger , kurzbeiniger
Gnom entgegen , der Kopf ungeheuerlich groß , das Gebiß
fletſchend , in den Armen eine herkuliſche Kraft , die es mit dem
Panther aufnähme . Am Leibe dieſes Waldſchratts wechſeln
Behaarung und Nacktheit in einer Weiſe ab , daß der Eindruck
des koboldhaft Scheußlichen erſt auf den Gipfel gebracht wird .
Den größten Teil des Körpers deckt ein echtes affenhaftes
Haarfell , meiſt ſchwarzgrün , bloß am Bauche heller und am
ſpitzen Kinnbart , der fratzenhaft mit dem ſteil ſich ſträubenden
Schopf kontraſtiert , zitronengelb . Aber entblößt , offene Nackt¬
haut ſind das Geſicht und ſein Gegenpol , die rückwärtige und
Geſchlechtsgegend . Und gerade auf dieſe Nacktteile jetzt ſcheint
ein toller Pinſel die grellſten impreſſioniſtiſchen Farbeneffekte in
dickſten Klatſchen aufgemalt zu haben . Die Naſe iſt ſchreiend
blutrot wie eine aufgenagelte Stange Siegellack . Rechts und
links wie zwei Flügel die Backenwülſte vorgepuſtet und auf
jedem ein Farbklatſch Kobaltblau , fettig dick , daß man ordentlich
die Ölfarbe abkratzen möchte . Die gleiche Palette aber iſt
etwas verſchwommener von hinten gegen den Leib des Schratts
gehauen : Geſchlecht und After in die pure Siegellackröte hinein ,
die dicken Schwielen des Geſäßes in ein Gemiſch aus Rot
und Himmelblau .
Es iſt keine künſtliche Malerei in Wahrheit , — die Farben
ſind „ angewachſen “ an die nackte Haut . Aber das Gehirn
des Kobolds hinter dieſen ſchiefen , verſteckt glühenden Satans¬
augen weiß wenigſtens ganz genau darum . Um beide weiß
er , — die hinten und die vorn . Und die da hinten wertet
er in ganz beſtimmtem Gedankengange offenbar höher als die
da vorn . Ganz richtig hat der alte Tierfreund des Kloſter¬
folianten beobachtet : wenn er einem Weibe gefallen will , ſo
kommt er rückwärts daher und entfaltet die Farbenſkala dieſer
Körperwende als das Beſtimmende . Dabei iſt er , wohl be¬
merkt , ein uralter Darwinianer in der Praxis : ihm ver¬
ſchwimmt der Unterſchied zwiſchen Affenmaid und Menſchenmaid .
Sitzt er , vom Menſchentier zur Schauſtellung gefangen , im
Käfig und es naht ſich eine Menſchin , ſo verfährt er nach
ſeinem Brauch . Ein junger Mandrill , der ſich im Spiegel
ſah , ſpintiſierte eine Weile , was das ſei . Dann ſchien ihm
ein Licht aufzugehen , ob 's nicht ein zweiter Affe und am Ende
ein weiblicher ſei , — und urplötzlich ſah ihn der Beobachter
ſich wenden und dem Spiegelbilde ſein unheimliches Rückſpektrum
zukehren .
Was wir Scham nennen , kennt er dabei nicht . Seine
Liebesgedanken gehen ſogleich aufs Ganze . Du erinnerſt dich
unſerer alten Unterſcheidungen der Diſtanceliebe und Miſchliebe .
Sobald das erſte raumüberwindende Organ ſeiner Diſtance¬
liebe , das Auge , das verwandte Weſen anderen Geſchlechtes , die
ihm fehlende zweite Hälfte des Liebesindividuums , erfaßt hat ,
drängt ihn alles im geraden Wege der Naturſehnſucht zur
Miſchliebe , die den Trennungsraum auf das Minimum herab¬
ſetzt . Ebenſowenig erzeugt ihm aber das Nackte ſeines Leibes
Scham . Im Gegenteil : eine unmittelbare Beziehung ſcheint
zu beſtehen zwiſchen dieſer raſchen Linie ſeiner ſexuellen Wünſche
und den Nacktheiten ſeines Leibes . In Urtagen ſchon ſind bei
der Geſtaltung des höheren Tieres die Organe der Diſtance-
und Miſchliebe weſentlich an die entgegengeſetzten Pole des
Leibes geraten , — an die beiden Enden des urſprünglichen
Wurmſchlauches . Auge , Ohr , Naſe , die großen Sinnesſtationen ,
vorne hin , an die Kopfſeite , — die Mündungen des Geſchlechts¬
apparates umgekehrt möglichſt nach hinten . Gerade an dieſen
beiden Stellen iſt nun unſer Waldkobold enthaart , entblößt ,
nackt . An beiden Stellen aber iſt auch dieſe Nacktheit grell
betüncht mit ſchreienden Farben , — hier Naſe und Backen ,
dort die Umgrenzung des Reichs der Miſchliebe . Mit beiden
Geſichtern , vornehmlich aber dem rückwärtigen ſeiner Liebe
grinſt der Affe ſeine weibliche Liebeshälfte an , der Nacktheit
und ihrer Farben ausdrücklich froh . Es iſt ein offenes Ge¬
ſtändnis , eine Liebesſprache zunächſt für das Auge des Weib¬
chens in dieſem Gebahren . Für gewöhnlich laufen und klettern
beide Geſchlechter mit dem Sinnesapparat , den Augen vor
allem , voran . Nun ſehen ſie ſich ſo . Von der ſiegellackroten
Naſe , den kobaltblauen Grinſebacken fliegt der erſte Liebesbrief
hinüber : das allgemeine „ Liebe mich ! “ Nun die Wendung ,
und es kommt der zweite Brief auf ebenſo buntem Briefbogen
mit der abſolut nicht mißverſtändlichen Steigerung .
Welcher unendliche Abſtand zwiſchen dieſen beiden Bildern :
dem Menſchenweibe in der Lotosblume zarter Kultur — und
dem bunten Waldſchratt auf ſeinen Kongobäumen .
Solange Gedanken über Menſchenabſtammung , die an
Darwin anklingen , in der Welt ſind , iſt der Anblick eines
Affenkäfigs gerade bei dem äſthetiſch und erotiſch verfeinerten
Menſchen ihr ſtärkſter Widerſacher geweſen . Dieſe offene Liebes¬
ſprache nackter , unförmlich angeſchwollener , mit ſchreienden Farben
einer Narrenkappe herausfordernder Rückſeiten macht den Naiven
blöde lachen , — dem Denkenden aber hat ſie zunächſt etwas
Grauſiges . In dieſe Welt hinab ſoll der Menſch ! In ſolchem
Augenblick pflegt vergeſſen zu werden , bis zu welchen grotesken
Ungeheuerlichkeiten auch die Liebe des Erdentieres Menſch ſich
in Völkern , Zeiten und Individuen verſtiegen hat . Unwill¬
kürlich wird doch immer nur gemeſſen an einem idealen Bilde ,
wie es jene liebliche Lotosnixe ſymboliſch trifft . Das — und
das . Das — daher ?
Doch die Schickſalsſpinne webt . Und die Gedankenſpinne
webt ihr nach . Gegen Gott hilft niemand als Gott . Gedanken
werden nur überwunden durch noch tiefere Gedanken . Gerade
an dieſer Stelle ſpinnt ſich der geheimnisvollſte Faden an .
Warum iſt der Menſch nackt ? Nicht als Paradieſier ,
ſondern als Säugetier . Das Säugetier beſtreiteſt du ja in
ſeiner heiligen Verklärung mütterlicher Reine auch dem Lotos¬
nixlein nicht .
Aber gerade das Säugetier war in der Stunde ſeiner
Entſtehung ſozuſagen verbrieft und eingeſchworen auf das dicke ,
wärmende Hauthaar , auf den Pelz .
In uralten Tagen , in jener Triaszeit der Schachtelhalme
und der Meerdrachen , taucht das Säugetier auf als ein Triumph
der Entwickelungsſteigerung über das Kriechtier hinaus : dauernd
warmblütig , nicht mehr abhängig in ewigem Wechſel von der
äußeren Lufttemperatur . Um dieſe Warmblütigkeit zu ſchützen ,
trägt es den neuen Rock : das Haar , den Pelz . Vielleicht hat
die Erde ſich in ihrer ganzen Perſon höchſtſelber regen müſſen ,
damit das wurde , — vielleicht iſt eine Eiszeit auf der Wende
zur Triasperiode über weite Teile der Erde hingeſtürmt . Und
dieſer urweltliche Eisrieſe , ein unſagbar viel älterer Bruder
des ſpäteren , den die Mammute ſahen , ließ dort nur leben ,
was ſich von innen heizen konnte und was um dieſe Heizung
dann noch einen wollenen Kaffeewärmer ſtülpte .
Ja vielleicht . Dieſe Urtagsbilder wehen hin und her .
Aber der Stamm bleibt feſt . Haartier von Beginn an iſt
das Säugetier . Blicke über die Arche hin , wie ſie heute als
Erde durch den Äther jagt . Der Moſchusochſe in ſeinen
Polaröden , wo unſere Menſchentechnik erfriert und das letzte
Birkengeſtrüpp unter Schneeſtürmen begraben wird , wie der
Löwe im äquatorialen Sonnenbrand , — die Fledermaus in
der blauen Luft und der ſammetſchwarze Maulwurf im dunklen
Erdreich , das rote Eichhorn , das im grünen Baume klettert ,
und das Wildroß , das durch die Blumenſteppe trabt , die
Springmaus im gelben Wüſtenſand und das Murmeltier im
weißen Alpenſchnee und der Biber im Sumpf , — bepelzt ſind
ſie alle . Und nur ganz feſt umſchrieben ſind die Ausnahmen .
Ein paar altertümliche Gruppen kleiner Säugetiere tragen
eine Art Urkleid noch von reptilienhafter Verſteinerung auf
Koſten von Pelzteilen : das Landſchnabeltier , der Igel und
das Stachelſchwein Stacheln , übrigens mit Haaren vermiſcht ;
das Schuppentier Schuppen wie ein Tannenzapfen , das Gürtel¬
tier einen aſſelartigen Ringpanzer zum Einrollen . Bei dem
Rieſenfaultier Mylodon , deſſen unverſehrtes Fell kürzlich in
einer Höhle Patagoniens aufgefunden worden iſt , hatte ſich
ſelbſt dieſer feſte Panzer tief in die Haut unter den roten
Wollpelz zurückgezogen .
Nackt ſind ferner ein paar ausgeſuchte Waſſerplanſcher :
die dicke violettrote Pflaume Nilpferd , die alte Faltentante
Rhinozeros und der weiſe Brahmine , der Elefant . Hier hat
zweifellos die Gewohnheit des Badens und vielleicht noch mehr
des Schlammbuddelns die Haare verſcheucht . Daß es nicht
notwendig zum Bilde dieſer Rieſen gehört , beweiſen die rot¬
wolligen und braun-weiß geſcheckten Mammute und Nashörner
der Diluvialzeit , deren Kadaver heute noch im ſibiriſchen Eis liegen .
Daß aber das Waſſer die Haare thatſächlich in Bann
thut , lehrt vollends eindringlich die letzte der Säugetier-Aus¬
nahmen : das ſplitterfaſernackte Seeſäugetier Delphin und Wal¬
fiſch . Die Anpaſſung liegt hier auf der Hand , wie denn ge¬
rade ſo ein Walfiſch ein wahres Meiſterwerk folgerichtiger
Anpaſſung in jeglichem Betracht iſt .
Auch bei dieſen Nacktheiten ſieht man deutlich das Äqui¬
valent für den wärmeſchützenden Pelz in gewiſſen Beſonder¬
heiten der Haut : bei jenen Sumpfrieſen des Feſtlandes iſt die
Haut wenigſtens panzerhaft dick geworden , und der Walfiſch
gar hat noch eine ſolche Fettſchicht darin , daß er im Polar¬
waſſer ſeine Innenheizung retten kann gleich einem in Eider¬
daunen gewickelten Vogel . Gewiſſe Anzeichen deuten ſogar
darauf hin , daß die Herren Vorväter dieſer Wale kompakte
Gürteltierpanzer getragen haben , eine Sachlage , die mir auch
bei dem Rhinozeros gar nicht ſo unwahrſcheinlich iſt .
Für das rätſelvolle Erdenungetüm Menſch paſſen aber
alle dieſe Präzedenzfälle ſäugerlicher Nacktheit abſolut nicht .
Er ſteckt in keinem Igel- oder Gürteltierpanzer . Es giebt
zwar bei ihm eine ſeltſame Krankheit , die bisweilen ſogar
erblich in Familien auftritt und die man geradezu Fiſchſchuppen-
oder Stachelſchweinkrankheit genannt hat . Bei ihr verhornt
die Oberhaut zu ſchuppenartigen Gebilden , und das ſteigert
ſich im extremen Fall bis zum Hervorſprießen dicker Zapfen
am ganzen Leibe , die für den oberflächlichen Blick den lebendigen
Menſchen in „ Hans mein Igel “ aus dem Grimmſchen Märchen
verwandeln . Das iſt ja wie ein Fingerzeig , was auch aus
braver Menſchenhaut alles werden könnte . Aber der Igel
im Menſchen , wenn er , wie früher erzählt , unſerer Ahnenkette
wirklich nahe geſtanden hat , liegt Jahrmillionen zurück , und
2
ganz gewiß liegen zwiſchen unſerem Mandrill und Lotosweiblein
nicht noch einmal Gürtler und Igler . Aus dem Waſſer auf¬
getaucht ſind wir als Säugetier noch weniger .
Mit Händen iſt dagegen zu greifen , daß wir in gar nicht
allzu entlegener Tierheit einmal haarig über den ganzen Leib
waren .
Wenn du in deiner natürlichen Lotoshülle , im Mutter¬
leibe , echt nach Säugerart aufknoſpeſt , ſo iſt es ums Ende
des vierten Monats herum , als fange dein Leib da unten im
Purpurſchoße an , ſich auch in dieſem Punkte an etwas zu
erinnern . Er treibt plötzlich auf ſeiner Haut wie ein ſchießendes
Spargelbeet Haare . Ganz feines , wenig gefärbtes Daunenhaar
iſt es zunächſt . Es ſprießt zuerſt als Wimper , Augenbraue
und Kopfhaar ganz normal , als wolle es das bleibende Lebens¬
haar werden , wie es trotz unſerer Nacktheit am Kopfe ja be¬
ſteht . Aber bald iſt's , als ſei mit dem Sprießen an der einen
Ecke erſt recht das Signal gegeben . Unaufhaltſam wächſt es
als kleines Ährenfeld auch über Geſicht , Bruſt , Bauch , Rücken
und Gliedmaßen fort . Gerade im Geſicht wird es ganz be¬
ſonders üppig und dann auch noch an einer zweiten , vom
menſchlichen Nacktheitsſtandpunkt eigentlich unwahrſcheinlichſten
Stelle : nämlich in dem Dreieck über dem Kreuzbein , oberhalb
des Kerbſchnittes am Rückenende , dort , wo bei der Mehrzahl
der Säugetiere der behaarte Schwanz zeitlebens abſteht . Ein
regelrechtes Haarſchwänzlein hebt ſich auch bei dir als werdendem
Menſchenkind da hinten aus dem Pelz hervor , mit einer eigen¬
tümlich ſpiraligen Anordnung der Haare , ganz accurat ſo , wie
ſie bei den Haarquaſten der Tierſchwänze allgemein bekannt iſt .
Es iſt auch ſonſt ein regelrechter „ Pelz “ , nicht wirr ſprießendes
Haar , ſondern mit hübſch regelmäßiger Anordnung zu Haar¬
wirbeln und Haarfluren , wie bei jeder Katze und jedem Kaninchen ,
den Oberarm herunter , den Unterarm herauf , am Rücken zwei¬
zeilig gegen die Mittellinie , am Bauch gegen den Nabel und
ſo fort .
Aber dieſe Erinnerungsſaat beginnt auch ebenſo geheimnis¬
voll von ſelbſt wieder zu verkümmern , noch ehe der erſte offene
Lichtſtrahl ſie getroffen . Je reifer , lebensfähiger du bei der
Geburt biſt , deſto weniger von dieſem härenen Urkleide deiner
Lebenspilgerſchaft bringſt du dabei mit zu Tage . Gegen den
ſiebenten Monat war dein Pelzlein auf der Höhe . Dann fiel
es zunehmend wieder ab . Am ſpäteſten vielfach noch hält ſich
das lange Schulterhaar . Dann biſt du „ da “ , und nun hebt
eine erſt recht geheimnisvolle Haarerneuerung an .
Auf den Stoppeln des eingegangenen Dunkelfeldes ſcheint
der erſte Schuß noch einmal in der gleichen Reihenfolge zu
beginnen . Wieder ſchießen als erſte Spargelzucht die Brauen ,
Wimpern und Kopfhaare lang ein . Aber ſeltſame Neuerung
plötzlich : der Reſt kommt diesmal nicht mit , der geſamte übrige
Leib bleibt jetzt im Freilicht des großen Erdentages ohne
langen , grob ſichtbaren Pelz , — er ſticht fortan gegen dieſe
Wimpern , Augenbrauen und vor allem die derben Kopfhaare
als „ nackt “ ab .
Fortan , — das heißt für eine gewiſſe Reihe von Jahren .
Denn zu Ende iſt die Kette dieſer haarigen Geheimniſſe noch
immer nicht . Jahre rinnen . Da wirſt du — ob Mann , ob
Weib — liebesreif . Und nun auf einmal iſt es , als komme
in das große Beet deiner nackten Körperteile doch nachträglich
noch ein Zug , als wollten ſie ſich aufrappeln und den ur¬
ſprünglichen Pelz im Ganzen wiederherſtellen . Hier , dort be¬
ginnt es zu ſprießen . Bei Jungfrau wie Jüngling unter den
Achſeln und über den Geſchlechtsteilen . Wer erinnert ſich nicht
kindlicher Nöte , kindlicher Beſorgniſſe beim Auftreten dieſes
ſpäten , unerwarteten Phänomens . Wie manche arme Menſchen¬
ſeele , der es — wie ſo oft — an freundlich lächelnder Be¬
lehrung fehlte , hat den Schreck auskoſten müſſen , es erobere
ſie von dieſen verborgenſten Stellen aus eine unheimliche Tier¬
heit , die ſie am Ende ganz zur Mißgeſtalt erniedrigen und
aus der menſchlichen Gemeinſchaft ausſchließen werde . Trat
2*
dann beim jungen Manne auch der Bart hinzu , ſo erſchien
das bei unſeren Bräuchen allerdings ſchon nicht mehr bedenk¬
lich , wurde im Gegenteil mit dem Gefühl einer endlich er¬
reichten Mannesergänzung begrüßt . Aber auch der andere
Schrecken verlor ſich , denn die Flut ſtieg nach kurzem Schwellen
thatſächlich doch nicht höher . Es blieb bei den paar eroberten
Flecken : Achſel , Scham und beim Manne dem unteren Teile
des Geſichts . Der Reſt blieb nach wie vor nackt . Und bloß
beim Manne zeigte ſich auch an Bruſt , Bauch und Gliedmaßen
je nachdem und individuell äußerſt verſchieden eine immerhin
etwas ſtärkere Fellneigung .
Einen weiteren einheitlichen Vorſtoß giebt 's dann für den
ganzen Reſt des Lebens nicht mehr . Wie nahe immerhin die
Grenze von Pelzmenſch und Nacktmenſch ſelbſt beim Geborenen
und Erwachſenen noch ſchwankt , das illuſtriert ſehr hübſch das
Auftreten gelegentlicher wirklicher Abnormitäten . Da zeigt ſich
unter Hunderttauſenden plötzlich einmal ein Mann , der trägt
über dem Kerbſchnitt des Geſäßes eine große Roſette dichten
Haars , als ſeien die Körperſeiten von der Natur vertauſcht .
Und vertauſcht iſt wirklich etwas , doch bloß zeitlich , nicht räum¬
lich , — es iſt etwas ins offene Leben dauernd mit hinaus¬
geraten , was eigentlich bloß dem Lotosſtadium in der Mutter¬
blüte angehörte : jenes Haarſchwänzlein des Embryo . Ein
andermal tauchen als Sehenswürdigkeiten eines Panoptikums
„ Pudelmenſchen “ auf , bei denen das Kopfhaar abſteigend die
ganze Stirn und das Wangenhaar übergreifend den ganzen
Reſt des Geſichts erobert hat , — von der Menge beſtaunt
wie ein ſcheuſäliges Wunder . Auch hier iſt nichts geſchehen ,
als daß die Embryokraft , die dort bei uns allen das Geſicht
ſchon einmal ins allgemeine Pelzkornfeld hineingeriſſen hatte ,
permanent geblieben iſt für ein ganzes Menſchenleben . Anſätze
dazu haben wir oft genug unter uns . Wenn dir die Augen¬
brauen zuſammengewachſen ſind , ſo hat dich mit leichteſter Hand
ſchon etwas von dieſer Überkraft berührt , — ein Anhauch zu¬
gleich aus Äonen der Weltmenſchheitsgeſchichte , die vom be¬
haarten Säugetier zum nackten Menſchen ging .
Denn alle dieſe Zeichen und Wunder , die jetzt erzählt
ſind , können nur einen vernünftigen Sinn haben , den im
Kern der Satz faßt : wir waren einmal behaart , wie jedes
andere bepelzte Säugetier auch . Ganz deutlich verſtehen wir ,
wie der Formgeiſt unſeres Körpers im Mutterleibe noch ſpielt
mit dem alten Gedanken , genau ſo , wie er etwas früher noch
mit Fiſchkiemen , Floſſenfüßen und einem Eidechſenſchwanz bei
unſerem Embryo ſpielt . Aber er kriegt die Sache nicht mehr
heraus . Eine zweite , ſpätere , ungeheuere Generationenfolge
muß er plötzlich träumen , die ablenkte von dem alten Pelz¬
prinzip , — hartnäckig , dauernd , endgültig ablenkte . Ihr Ziel
war der nackte Menſch . Und ſie drückt ihn durch , — heute
noch in jedem von uns , der normal iſt . Wie aber hat das
werden können ? Was hat den Menſchen geſchichtlich „ nackt
gemacht “ , nachträglich und nachdem er bereits den echten körper¬
hüllenden Pelz des Säugetiers beſaß ?
E s war im achtzehnten Jahrhundert . Da ſank der Menſch¬
heit ein Urbild ihrer ſelbſt , das anderthalb Jahrtauſende lang
ſie angehaucht wie der liebe Atem ihrer ſchwarzen Heimat¬
ſcholle . Es iſt ſeitdem immer mehr geſunken . Das alte , über¬
natürliche Paradieſesbild . Aber gerade jene Zeit erhielt die
Morgengabe , ſchien es , eines neuen , ſchöneren Bildes , über
dem zugleich der Duft neuer Wahrheit lag .
Weißt du die Stunde , da Kolumbus vor Guanahani lag ?
„ Land ! “ riefen die Leute . Ich meine immer , in einem höheren
Stockwerk der Dinge , wo unſere Worte nur Stichworte einer
oberen Sprache ſind , hat in dem Ruf noch eine ganze Skala
anderer guter Sachen gelegen . Neuland der Geiſteswelt . Land
einer neuen Zeit . Vielleicht auch einfach : Wahrheit . Neue
Wahrheiten . Eine neue Erde . Neue Menſchen . Auf Kolumbus
folgte Magalhaens . Und auf Magalhaens Cook und Forſter .
Vor dem Auge der Kultur ſtiegen Koralleneilande aus dem
blauen Meer . Das ewige Grünen und Blühen tropiſcher
Vegetation lag darüber . Und in dieſen wahren Paradieſes¬
gärten der greifbaren Wirklichkeit hauſten ſchöne nackte Menſchen .
Zum erſtenmale blaute über dieſem Meer und dieſen Inſeln
auch der Traum , daß der Urmenſch kein gefallener Engel ge¬
weſen ſei , ſondern ein glückverwöhntes Sonnenkind , dem die
Brotfrucht in den Mund hing und das keine Kleider und
kein Fell brauchte , weil die Zenitſonne des Äquators es ewig
mit ſeinem Strahlenſchleier umgoß .
Seit den erſten Honigwochen dieſes Traumes iſt wenigſtens
ein Gedanke zäh geblieben bis in nüchternſte Tage hinein : die
Idee , daß der Menſch in den Tropen entſtanden ſei .
Aus dem idealen Naturmenſchen Rouſſeaus erwuchs zur
rechten Fortſchrittsſtunde der Affenabſtammungsmenſch Darwins .
Seine nächſten lebenden Verwandten waren Orang , Gibbon ,
Gorilla und Schimpanſe . Die Fügung der Dinge wollte , daß
alle vier menſchenähnlichſten Affen unſerer Erdepoche Tropen¬
bewohner ſind . Das Affenvolk überhaupt braucht , durchweg
wenigſtens , warme Sonne . So lag nichts näher , als ſich den
Menſchen auch aus der heißen Zone zu holen , etwa aus
Innerafrika oder von den Sundainſeln . Und wenn der
Reiſende dort die Neger oder Dajaks heute noch ſo hübſch
ſplitternackt herumlaufen ſah , ſcheinbar ohne Sorge um jeden
Schutzpelz , ſo ſchien die Behauptung nur plauſibel , es ſei der
nackte Menſch eine rechte echte urſprüngliche Tropenanpaſſung .
Er hätte die Tierhaare abgeſchafft , weil er ſie in der ewigen
Sonne nicht brauchte . Nachher freilich , als er auch in kältere
Zonen völkerwandernd vordrang , taugte das ſchlecht , aber da
half eben die findige Technik ſchon : er hüllte ſich in ein künſt¬
liches Fell , — in Kleider .
Aber das zuerſt Plauſible und um ſeiner Schlichtheit
willen Zähe iſt noch nicht immer das Wahre . Der Orang
Utan , der in ſeinen brandroten Haaren verpackt liegt wie eine
ſtruppige Kokosnuß , iſt doch eben auch ein Tropentier und
hat trotzdem ſeinen Pelz . Und der Löwe hat ihn , und die
Giraffe hat ihn . Und wenn das Nilpferd ihn nicht hat , ſo hat
es ihn nicht etwa , weil es ihn vor Äquatorhitze nicht braucht ,
ſondern weil es im Waſſer ſchwimmt . Man muß ſich im
Zoologiſchen Garten den Ameiſenbär oder das Faultier be¬
ſehen , wie ſie förmlich untergehen in ihrem dicken Haarwald ,
— und ſich dann ſagen , daß der Bakairi-Indianer dieſes
gleichen braſilianiſchen Tropenwaldes der nackteſte Menſch der
ganzen Erde iſt . Hat die Sonnenhitze dort keine Zofendienſte
zum Auskleiden geleiſtet , warum hier ?
Wer die Tropen wirklich kennt , weiß auch , daß ein Haar¬
fell thatſächlich mancherlei Vorteile bietet auch im Sonnenlande .
Es mildert den Kontraſt des brennend heißen Tages und jäh
einfallender Nachtkühle , bei dem den nackten Neger Heulen und
Zähneklappern packen kann . Es ſchützt gegen den furchtbaren
Brand ſelber . Es panzert gegen die Mückenplage . In Gegenden ,
wo dieſe Angriffe tieriſcher Blutſauger am heftigſten ſind , dringt
nicht ohne Grund auch bei den Nackten mit dem Europäer heute
die „ Mode “ des Kleidertragens ein ; die Spekulation findiger
Hoſenfabrikanten macht es nicht allein und die vom Miſſionär
empfohlene Verſchämtheit auch nicht : das künſtliche Fell kommt
wirklich einem Bedürfnis ſelbſt dort entgegen . Man muß ſich
ja die Erwärmung durch das bißchen längere Leibeshaare nur
nicht zu groß vorſtellen . Ein Affe in unſerem deutſchen Klima
friert trotz ſeines Pelzes und iſt ſehr froh , wenn er noch eine
Jacke darüber ziehen kann . Ein Tier wie der Mammutelefant ,
das von vorne herein ſchon die enorm dicke Haut hatte , mochte
im Norden gut und gern ſeinen Wollpelz auf dieſer Haut als
ſolche übergeſtülpte Schutzjacke noch mit benutzen . Aber auf
dünnerer Unterlage wäre ihm mit dem Pelz allein auch nicht
ſo gedient geweſen .
Als ſich dem trefflichen Naturbeobachter Wallace vor Jahren
dieſe Argumente während eines eigenen Tropenaufenthaltes ſo
recht ins Herz einpaukten , fand er keinen anderen Ausweg als
den : es habe eben eine leitende Weltintelligenz den Menſchen
an einer gewiſſen Wende ſeines Affenpelzes entledigt , damit er
„ Menſch “ werde . Das genügt mir aber ſo wenig , wie wenn
mir ein Arzt ſagt , ſein Patient ſei am Tod geſtorben . Auch
ich glaube , daß es das Weltſchickſal des Menſchen wollte , daß
er nackt wurde . Aber ich will den Weg dieſes Schickſals in
der Logik ſehen . Erſt mit dieſer Logik , wo Glied ſich reſtlos
an Glied in der Kette fügt , gerate ich ja auf ein wirklich ein¬
heitliches Weltſchickſal . Wie der alte Fechner ſo gut geſagt hat :
das einzige Argument für „ Gott “ iſt die allenthalben geltende
Logik des Geſchehens , und das einzige ſchlagende Argument
gegen ihn wäre die Exiſtenz eines übernatürlichen „ Wunders “ .
Und in dieſem richtigen Sinne faßte dann Darwin die
Sache , als er an Stelle des zunächſt vagen Allgemeinbegriffs
einer Intelligenz etwas viel konkreteres einzuführen verſuchte :
nämlich ſozuſagen die Intelligenz des Urmenſchen ſelbſt . Hat
der Menſch ſich nicht am Ende ſelber nackt gemacht auf Grund
ganz beſtimmter Regungen ſeines Geiſteslebens ?
Wir haben uns von den netten Paradiesvögeln unter¬
halten . In ihrem Liebesroman tauchte ein neues Motiv auf .
Die andere Hälfte des Liebesindividuums wurde ſyſtematiſch
ausgewählt auf Grund beſtimmter Geſchmacksveranlagungen .
In dieſen Geſchmack miſchte ſich „ oberes Stockwerk “ der Natur :
nämlich Gehirnfreude am „ Schönen “ .
Du erinnerſt dich , wie ich das deutete . Durch die ganze
Naturentwickelung kommt ein Zug herauf zum Harmoniſchen ,
zum Rhythmiſchen . Im letzten Grunde iſt es ein Urgeſetz
alles Weltenwerdens , daß das Harmoniſche eine Chance mehr
hat als das Disharmoniſche . Es iſt erhaltungsfähiger . Im
zielloſen , chaotiſchen Werden prägt es die erſte „ Dauer “ , das
erſte über längere Zeitſpannen verharrende echte Sein . Dieſes
Sein aber ſteigert es unabläſſig wieder ins noch Harmoniſchere ,
ins „ Höhere “ hinein . So iſt dieſes ſchlichte Geſetzchen der
wahre Demiurgos geweſen , der aus einem Chaos einen Kos¬
mos gemacht hat — oder ſagen wir noch etwas genauer :
deſſen einfache Exiſtenz in den Urbeſtimmungen der Welt das
ſcheinbare Chaos von Anfang an einen Keim , ein Ei , eine
Urzelle eines ſchließlichen harmoniſchen Kosmos ſein ließ .
Nun denn : dieſes immer wieder durchgepaukte Weltprinzip
ſehen wir im Organiſchen erhöhte ſchaffende Kraft gewinnen .
Es waltet dort in einer beſtimmten Form , indem es rhythmiſche
Gebilde nach Art der Organbildung hervorbringt , die durch
Vererbung bewahrt und fort und fort neu produziert werden .
Bis endlich im Gehirngeiſt des höheren Tieres die gleiche
Sache ausbricht auch als unmittelbare Geiſtesregung des „ Äſthe¬
tiſchen “ : — als Sinn für Schönes und Wahl des Schönen ,
ſobald Schönes und Unſchönes , Harmoniſches und Disharmoniſches
durcheinander zur Wahl geſtellt ſind .
Wie man bei der wachſenden lebendigen Pflanze eine
dunkle Fähigkeit beobachtet , die ſie ihre Teile genau auf die
Schwerkraft einſtellen , z. B. die Wurzel ſenkrecht zur Erdſchwere
hinabbohren läßt ( der moderne Forſcher nennt das „ Geo¬
tropismus “ ) , — ſo möchte ich in dieſem triebhaft zwangsweiſen
Reagieren des höheren Tiergehirns auf rhythmiſche Schönheit
auch eine Art ſolchen feſten „ Tropismus “ , eine Art Rhythmo¬
tropismus , wenn das Wort einmal durchgehen ſoll , erblicken .
Seine höchſte Blüte iſt unſere Kunſt .
Sieh dir die alte geſchnitzte Kloſterthür dort an . Daß
ſie ein Loch in die Mauer ſchlägt , durch das dieſes Stück
menſchlicher Höhle , das Zimmer hier , überhaupt bewohnbar ,
betretbar wird , gehört in ein praktiſches Gebiet , das mit dieſem
Rhythmustrieb zunächſt gar nichts zu thun hat . Desgleichen ,
daß ſie eine verſchließbare Schutzwand gegen Zugluft und un¬
berufene Gäſte bildet . Aber daß ſie dieſe Geſamtform da hat ,
— nicht genau quadratiſch , ſondern die Geſtalt eines Rechtecks ,
das , mathematiſch geſprochen , dem ſogenannten Harmoniever¬
hältnis vom „ goldenen Schnitt “ entſpricht — : das beruht
allerdings auf deinem menſchlichen Rhythmotropismus , dem
gerade dieſes Linienverhältnis am harmoniſch wohlgefälligſten
erſcheint . Und an der gleichen Urſache liegt , daß das alte
Holz dieſer Thür in ſchöne Ornamente verarbeitet iſt , — eine
Sache , die für den reinen Öffnungs- oder Verſchlußzweck wahr¬
lich ganz gleichgültig wäre . Einzig und allein dieſe Urſache
macht 's auch , daß an dem ehrbaren Kloſterfenſter dort ein
paar bunte Scheiben ſind , ſtatt daß der reinen Beleuchtung
wegen alles ſo durchſichtig weiß ſein ſollte , wie nur möglich .
Ja bunt ! Da wären wir wieder beim Paradiesvogel .
Mit ſolcher Freude am Bunten , an der knallroten Beere
und blauen Blüte zuerſt und den rhythmiſch bunt geordneten
Federn des Liebſten zuletzt , ſetzt dort der äſthetiſche Naturtrieb
ein , um ſich alsbald gerade mit dem energiſchſt Schaffenden
des Lebens zu verbünden : mit der Liebe . Die kleine Paradie¬
ſierin wählt ſich immer das bunteſte , farbenſchönſte Männlein
zum zeugenden Gatten aus und züchtet ſo allmählich immer
mehr dauernde Farbenſchönheit in ihr Vogelvolk hinein .
Wo freilich dieſe einſeitige Rhythmik ſoweit geht , daß ſie
andere praktiſche Lebensdinge direkt bedroht , alſo allgemeinere
lebensgefährliche Diſſonanzen heraufbeſchwören würde , — da
muß ſie zurücktreten , wird von einem noch höheren Harmonie¬
geſetz ſelber wieder ausgemerzt . Wenn ich die Ornamente jener
Holzthür ſo übertreiben wollte , daß ſchließlich der kalte Wind
hindurchpfiffe oder der ganze Verſchlußzweck illuſoriſch würde ,
oder wenn ich die Fenſter dort alle miteinander ſo bunt machte ,
daß kein Menſch hier drinnen vor lauter Dämmerlicht mehr
ſein Buch leſen könnte , — ſo geriete ich eben auch in Kon¬
flikte mit weiteren Harmonien meines Daſeins und müßte den
rein äſthetiſchen Trieb beſchneiden um derentwillen . Genau ſo
hat die Paradieſierin ſelber unſcheinbare Schutzfarben , die ſie
in ihrer Neſtzeit ſchirmten , ſich bewahren müſſen , und auch bei
den Männchen iſt dieſer tolle äſthetiſche Arabeskenapparat nur
ausnahmsweiſe einmal gerade in dieſen wirklich relativ para¬
dieſiſch glücklichen Urwäldern Neu-Guineas möglich geworden .
Immerhin iſt er ſo , wie er iſt , ein treffliches Exempel . Und
ich wiederhole dabei dir noch einmal den wichtigen Satz : wo
der grobe Daſeinskampf nachläßt , da bricht bei den Lebeweſen
dieſer Rhythmotropismus , das äſthetiſche Element , ſofort hoch
wie die entlaſtete Kohlenſäure einer Champagnerflaſche , und
überſchäumt alles ; je höher aber in der Kette des Lebendigen
hinauf , deſto mehr werden dabei geiſtige Bahnen benutzt . Das
ſcheint mir ein wahrer Leitſatz , der für die Erklärung der vor¬
handenen Lebensformen nicht vernachläſſigt werden darf .
Und von hier nun ein kurzer Sprung , ſo ſind wir mitten
in unſerem menſchlichen Nacktheitsproblem .
Zunächſt , ich will es nicht leugnen , mußt du dich in etwas
einigermaßen Dreckiges wieder einmal reſolut hineindenken .
Unſer Waldſchratt da , der Mandrill , hat auch etwas unverkenn¬
bar paradiesvogelhaft „ Buntes “ an ſich . Wangen nämlich und
Gegenwangen . Hand aufs Herz : es iſt zwiſchen dieſem omi¬
nöſen Feuerwerk des Vaters Mandrill und den herrlichen Feder¬
raketen des männlichen Paradiesvogels , die unſere Menſchen¬
weiblein in kongenialem Rhythmotropismus ſo maſſenhaft auf
ihre Pariſer Modehüte pflanzen , prinzipiell gar kein Unter¬
ſchied . Auch bei dem Vogel konzentriert ſich ein Hauptteil
der Farbenpracht konſequent hinterwärts . Denke bloß an den
Pfauenſchweif . Der Pfau ſchlägt , von uns männiglich bewundert ,
mit dem Schwanz ſein Rad und bannt damit in der unzwei¬
deutigſten Weiſe die Betrachtung auf den nämlichen Gegenpol ,
über dem das rote Nordlicht des Affen leuchtet , — nämlich
in die Nähe der Vorbedingungen zur Miſchliebe .
In Hinſicht ſeines Gehirns ſteht dieſer Affe aber turm¬
hoch ſchon wieder über dem Vogel , und es iſt ſchlechterdings
kein Grund einzuſehen , warum er ſein hinterwärtiges Spektrum
nicht genau nach derſelben Methode erworben haben ſollte wie
der Vogel . Charakteriſtiſch genug fehlt 's auch , hier beim
Mandrill wenigſtens , der Äffin , es fehlt auch dem jungen
Tier und platzt nur ausgeſucht heraus beim Manne in der
Liebeszeit . Die Liebe allein iſt das Prisma , das dieſen
Regenbogen bricht .
Auch hier , wie bei den Paradiesvögeln , iſt über die
Schönheit der Farben ſelbſt auch für unſer Menſchenauge kein
Zweifel . Magſt du dich noch ſo ſehr entſetzen über dieſen
Farbenrauſch genau des Südpols und über die unheimliche
Manier des Mandrills , gerade mit dieſer Südſeite zu re¬
nommieren : das Rot und Blau bleiben als ſolche auf jeden
Fall „ ſchön “ . Es iſt bezeichnend , wie ein ſo farbenfrohes
Volk wie die Japaner das intenſive Rot eines ſolchen Affen¬
geſichtes gleichſam als Ornament in ihre Kunſt aufgenommen
haben . Sie beſitzen im Lande einen Makakaffen , der ein blut¬
rotes Antlitz hat wie ein alter Stammtiſchler , — es iſt
übrigens gleichzeitig faſt der einzige Affe , der Schneewinter
im Gebirge mühelos überſteht . Eben mit dieſer Roſe iſt er
aber der Lieblingsaffe ungezählter ihrer Bilder geworden von
alters her .
Das Intereſſanteſte nun iſt dabei , daß dieſe opulente
Farbenentfaltung bei ſolchem Waldſchratt aus dem Vierhänder¬
gebiet ſich nur erzielen ließ auf nacktem , auf haarloſem Boden .
Das Säugerhaar und die Vogelfeder haben da eine tief¬
greifende Verſchiedenheit . Die Feder , aus der Eidechſenſchuppe
unmittelbar herausentwickelt , hat auch die ganze Kraft dieſer
Schuppe im Erzeugen von Prachtfarben ſich gewahrt . Der
bunteſte Eidechs kommt kaum gegen den Papagei auf . Das
Haar aber bedeutete in der reinen Farbwirkung zunächſt einen
Rückſchritt , eine Art Trübung . Gewiß : Farben hat der Pelz
ja auch entwickelt und auch Gegenſätze , Muſter , Rhythmik .
Sieh dir die Giraffe an oder den Tiger . Bei den Affen
giebt 's eine ganze Skala : vom Olivengrün des Meerkatzen¬
rückens bis zu dem leuchtenden Schwarzweiß des prachtvollen
Guereza , der auf ſeinen tannenhohen abeſſiniſchen Wachholdern
turnt und ſein Haar in wahren Roßſchweifen von ſich abwehen
läßt wie ein lebendiger Schellenbaum . Aber es hilft nichts :
in allem Pelz iſt doch auch etwas wie eine Abdämpfung , es
iſt etwas Schmutziges , Dickliches , Abtönendes wie mit hinein¬
verwebt . Halte ein rotes Pelztier , wie unſer Eichkätzchen , neben
die Naſe des Mandrill , und du haſt den ganzen Gegenſatz .
Das rechte reptilhafte , vogelhafte Herausknallen reiner Spektral-
farben ermöglicht doch nur die vom Pelz wieder entblößte alte
Unterlage : die nackte Haut .
So bedeutete und mußte bedeuten hier das Herausleſen ,
Herauslieben ſolcher ganz impertinenten Prachtfarben ein Heran-
züchten zugleich möglichſter Nacktheiten . Die Sachlage brachte
dabei ſchon mit ſich , daß gerade die beiden für die Liebes-
erregung wichtigſten Ecken des Affenkörpers ſich am leichteſten
entblößen ließen . Wenn ich den kleinen weißen Terrier meines
Freundes mir beſchaue , der mich ſo oft durch meinen märkiſchen
Kiefernwald begleitet , ſo ſind es allemal zwei Punkte , die ſich
als haarfrei auszeichnen : die ewig feuchte ſchwarze Brombeer-
naſe — und das kleine roſige Rund unter dem geſtutzten
Schwänzlein . Von dieſen ſchon naturentblößten Stellen iſt
denn auch die Nacktheit des Mandrill ringförmig ausgeſtrahlt
vom Punkt an , da ſolche Nacktheit erotiſch erwünſcht ſchien als
die nötige Leinewand eines aufreglichen Farbenſpiels .
Könnte aber nun nicht , fragte ſich Darwin , dieſe Ent¬
blößung gerade bei dem affenähnlichen Weſen , das „ Menſch "
wurde , ſich ſo ausgedehnt haben , daß durch fortgeſetzte in¬
dividuelle Liebesausleſe ſchließlich die ſich erweiternden Nackt¬
heitsringe von den beiden Körperpolen aus zuſammenſchlugen ?
Und daß alſo eines Tages der ganze Leib mit geringen Aus¬
nahmen nackt daſtand , ſozuſagen als Ergebnis einer über den
halben Körper hinweggerutſchten Naſe und einer über die
andere Hälfte dito gerutſchten Hinterblöße ?
Die Geſchichte müßte ſich dabei im Schlußreſultat noch
um ein unbedeutendes anders gewendet haben als beim Paradies¬
vogel . Nackt ſind ja heute beim Menſchen Mann wie Weib ,
ja das Weib , ſtreng genommen , ſogar noch etwas mehr als
der Mann . Es lag alſo in dieſem Falle offenbar kein Schutz¬
anpaſſungshindernis vor , das die Vererbung der Nacktheit auf
die Weibchen hinderte . Und ebenſo liegt auch kein ſtrenger
Grund vor , anzunehmen , daß ſtets nach Paradiesvogelweiſe
bloß die Weibchen die bunteſten , alſo nackteſten Männchen be¬
günſtigt haben , — es kann ſehr wohl auch eine gegenſeitige
Ausleſe und Anzüchtung ſtattgefunden haben , — wie du denn
eine ſehr auffällige Affenart , den Rheſusmakaken , in unſeren
Zoologiſchen Gärten mit einigem Schauder beſehen magſt , bei
dem gerade das Weibelein zur Geſchlechtszeit eine wahrhaft un¬
geheuerliche blutrote Nordlichtkrone über ſeinem Antipodenpol
ſehen läßt . Einſeitiger Frauenausleſe dürfte bloß die Rettung
des Barthaares beim Mann zuzuſchreiben ſein : auch da iſt
bei Affen wie Ziegenböcken ſchon unverkennbar vorgearbeitet ,
indem die Herrn entweder bloß den Bart beſitzen ( alſo wie
bei uns ) oder ihn doch weit entwickelter zeigen als das Weib .
Der männliche Satansaffe in Amerika hat einen Vollbart
mindeſtens ſo groß wie der alte Darwin ſelbſt .
Doch das letzte iſt alles minder wichtig . Weſentlich da¬
gegen iſt folgende Frage , die Darwin ſchon für ſich geſtellt
hat . Wenn der Menſch ausgepelzt wurde durch die Launen
ſeiner Verliebten , denen der Pelz nicht bunt genug war und
die lieber Knallfarben wollten um den Preis ſelbſt völliger
Vernacktung : warum iſt die Haut des Menſchen nicht heute
noch rot-blau-bunt wie ein Baſilisk ?
Die Naſen alter Weinfreunde lehren klärlich , daß etwas
Feuerwerk ganz gut möglich wäre . Beim Neger haben wir
faſt ſchwarze , beim Indianer braunrötliche Geſamthaut . Aber
der Mandrill müßte trotz alledem ſo gut wie ganz wieder nach¬
träglich aus uns herausgeſchwitzt ſein . Die Palette wäre uns
geblieben , — das Gemälde wäre fort . Nehmen wir ſelbſt
auf einen Moment an , der Urmenſch wäre noch bunt abgetönt
geweſen , wie etwa der lebende Kleideraffe im Pelz iſt , — aus
Schwarz , Braunrot , Gelb und Weiß . Und erſt nachher hätte
der Geſchmack ſich für eine Einheitsfarbe entſchieden , wobei die
eine Gruppe ſich als konſtante Liebesfarbe Schwarz wählte ,
die andere Weiß und ſo weiter bis zur heutigen Farbzerſplitterung
der großen Raſſen . Dann wäre doch auch dieſer Urmenſch ſchon
ein gar blaſſer , verwäſſerter „ Farbenmenſch " vom Mandrill-
ſtandpunkt aus geweſen , — denn was ſind das für ſtumpfe
Farben , — Pelzfarben , aber keine Naſen- oder Gegenpols¬
farben in Kobalt und Siegellackrot . Und wie eine zu Weiß
verblichene , urſprünglich bemalte Griechenſtatue ſtände gar der
heutige Europäer da .
Du magſt einwenden , gerade das ſei nachher vielleicht
der verfeinerte Geſchmack des Menſchen geweſen . Nachdem er
den Affengeſchmack erſt auf den Gipfel getrieben , bis ſein
ganzer Körper nackt war und in Farben gleißte wie eine
Mandrill- und Rheſuskehrſeite , habe er dann vor dieſer eigenen
Truthahnshaut einen Ekel bekommen und die Liebenden hätten
ſo lange bei ihrer Wahl mattere Schätze bevorzugt , bis der
ganze Farbenkoller auf ein blaſſes Reſtbild herabgeſtimmt war ,
das geblieben iſt .
Aber auch dieſer Ausweg iſt ganz und gar unmöglich .
Denn wo ſoll denn dieſer angeblich feinere Farbengeſchmack
nachmals noch wieder hingekommen ſein ? Der Menſch hat
von einer beſtimmten Ecke ab einen großen Fortſchritt gemacht :
nämlich von der reinen äſthetiſchen Empfindung zur ausübenden ,
aktiven Kunſt . Von hier aus hat er — und zwar war das
wahrſcheinlich ſeine allererſte und älteſte Leiſtung der Art —
ſeinen eigenen Körper durch künſtliche Zuthaten zu verſchönern
verſucht : durch Bemalen der nackten Haut , durch Behängen
mit Schmuck , durch Anziehen bunter Stoffe da , wo Kleider
in Betracht kamen . Aber wie offenbart ſich hierbei ſein Ge¬
ſchmack ? Je mehr intenſive Kunſt nach dieſer Seite , deſto
mehr Liebe gerade erſt recht für leuchtende , allerleuchtendſte
Farben und Farbkontraſte ! Nach der blauen Perlenkette greift
noch heute der Wilde , nicht nach der weißen . Mit flammendem
Rot bepinſelt er ſich . Farben über Farben tättowiert er ſich
in die Haut ein . Durch den Purpurrock zeichnet ſich bei den
Bekleideten der König vor der Menge aus . Mit dem vollen
Siegellackrot der Mandrillnaſe rinnt der Saum um die Toga
des römiſchen Senators . Aus Rot und Blau in ſtrengſtem
Gegenſatz baut ſich die Kleiderfarbe der ſixtiniſchen Madonna
auf . Rot iſt der Kardinalshut und der Streifen der Generals¬
hoſe . Wenn in unſeren Kulturländern heute vor allem die
Männerkleidung wirklich faſt dem Abtönungsprinzip ins Schmutzig¬
graue , Braune , Schwarze verfallen iſt , wie es jene Theorie
brauchte , ſo läßt ſich mit Sicherheit nachweiſen , daß hier das
Ergebnis einer ausgeſucht unkünſtleriſchen , dem natürlichen
äſthetiſchen Prinzip entfremdeten Zwiſchenepoche vorliegt . Alle
Künſtler ſchreien gen Himmel davor , und über kurz oder lang
wird dieſe puritaniſch-bourgeoiſe Dreckfarbentracht wieder von
uns gehen wie ein böſer Spuk , beſiegt vom farbenfrohen Auge
des geſunden Menſchen , das heute noch in dieſem Punkte ge¬
nau ſo empfindet , wie der Paradiesvogel . Wann ſoll das je
dauernd in Affenmenſchentagen unterdrückt geweſen ſein ? In
der zweitälteſten Fundſtätte menſchlicher Urkultur , die wir heute
kennen , an der Schuſſenquelle in Oberſchwaben , neben Renn¬
tierknochen und den grönländiſchen Mooſen eines Gletſcherſees
zwiſchen Moränenſchutt der Eiszeit , hat ſich roter Farbſtoff in
Maſſe gefunden : mit Renntierfett eingefettete Farbpaſten aus
Eiſenrot , wie es der geſchlämmte Thoneiſenſtein der benachbarten
Alb lieferte . Kein Zweifel beſteht , daß hier ſchon prähiſtoriſche
Menſchen , Mammut- und Renntierjäger , ihre Nacktheit mit
einem grellroten Anſtrich nachträglich mandrillhaft illuſtriert
haben , ſintemalen ihnen die natürliche Grundfarbe nicht ge¬
nügte . Und da ſollen die Ahnen aus äſthetiſchem Trieb ab¬
geſchafft haben , was die nahen Enkel ſchon wieder ſo lebhaft
erſtrebten , daß ſie es künſtlich aufpinſelten ?
Darwin meinte , der Knoten laſſe ſich denn auch mit einer
viel einfacheren Methode zerhauen . Die Haut ſei eben nicht
3
entblößt worden um der Farben willen , ſondern weil die Nackt¬
heit ſelber den Liebenden Freude gemacht habe . Das Weib
ſei es geweſen , das zunächſt vom Manne gleichſam mit den
Augen ausgezogen wurde . Nicht ein buntes , ſondern einfach
ein möglichſt haarloſes Weib wurde im Geſchmack der Männer
Trumpf . Wenn der Urmenſchenmann auf die Brautſchau zog ,
ſo gefiel ihm allemal am beſten die am ſchwächſten behaarte
Jungfrau . Noch heute iſt darum das ſchwächere Geſchlecht
auch das ſchwächer behaarte . Im übrigen vererbte ſich Evas
Nacktheit , einmal errungen , auf beide Linien ihrer Kinder , —
auch die Knaben wurden nackt . Man wird ſich denken müſſen ,
daß auch die Urjungfrauen ſchließlich den Geſchmack geteilt und
mehr oder minder enthaarte männliche Weſen ebenfalls bevorzugt
haben . Noch heute hat der Neu-Seeländer ein Sprichwort :
„ Für den haarigen Mann giebt 's keine Frau . “ Jedenfalls
hat ein Anpaſſungshemmnis wie bei den Paradiesvögeln nicht
mitgeſprochen , und ſo iſt endlich der nackte Menſch in beiderlei
Geſchlecht übrig geblieben , — ein Geſchenk der eigenſinnig
wählenden Liebe .
Für uns hat dieſe Vorſtellung ja etwas ſo ungemein
Verführeriſches . Rein vom Liebesboden aus iſt uns bekleideten
Kulturmenſchen das nackte Weib auf alle Fälle das erotiſch
aufregendere . Es iſt an ſich das zur Liebe entkleidete Weib .
Ein Tierpelz iſt aber nichts anderes , als ein auf dem Körper
feſtgewachſenes Kleid . Enthaaren hieß dieſes Kleid bannen ,
hieß das erotiſche Weib überhaupt zum erſten Mal befreien .
Was aber das rein Äſthetiſche dabei betrifft , ſo ſcheint
uns die Sache noch ſelbſtverſtändlicher . Denke dir doch die
kapitoliniſche Venus oder die mediceiſche oder das ſchöne Frag¬
ment von Syrakus in ganzer Länge in krauſe Zottelwolle ver¬
packt . Die Linie ſtirbt dabei , die herrliche Kunſtlinie dieſer
Schultern , Brüſte , Schenkel , gerade das , was der Marmor ſo
wunderbar herausbringt . Vergeſſen wir nicht , daß vor allem
die Rückſeite des Weibes zu den entzückendſten Kunſtgebilden
des geſamten Kosmos gehört . Es will mehr als plauſibel
erſcheinen , daß es keiner beſonderen rotblauen Mandrillfarben
bedurft hätte , dieſe edel-ſchönen Linien vor dem Rhythmo¬
tropismus liebender Augen dem deckenden Haarwulſt zu ent¬
reißen und in ihrer plaſtiſchen Hauturſprünglichkeit zu ent¬
ſchleiern .
Und doch , daß ich dir 's ſage : mir will auch ſo die Sache
noch nicht einleuchten .
Ich kann mir den erſten Anfang dieſer Freude am Nackten
ſo ohne weiteres nicht vorſtellen für Urzeiten , die von je her
bloß an dick pelzverpackte Genoſſen und Genoſſinnen gewöhnt
waren . Noch ſo viel alt eingepaukten Sinn für Linienführung
zugeſtanden : ich weiß nicht , was etwa ein etwas ſchwächer ,
bloß noch ſtoppelweiſe behaarter Bauch der Affenmenſchin zu¬
nächſt als ſolcher für einen Reiz ausgeübt haben ſoll . Mit
ſolchen Vorpoſten müßte aber doch die Geſchichte einmal ein¬
geſetzt haben . Ich fürchte , daß die erſten Anfänge ſolcher Nackt¬
heiten ohne gleichzeitiges Farbenfeuerwerk dem pelzgewohnten
Geſchmack nur zu ſehr den Eindruck gemacht hätten , dem ich
ſelbſt vorhin ſchon einmal Wort gegeben habe beim nackten
Höhlenmenſchen an ſeinem roten Feuer : — den Eindruck des
gerupften Huhnes . Die geſamte ornamentale Linienführung
des Frauenleibes ließ ſich ja gar nicht überſchauen , ehe das
Werk nicht vollendet war . Nur von da hätte ſich aber der
Grund ergeben . Wir kämen auf des braven Wallace grobe
teleologiſche Intelligenz , wenn wir an ſo etwas glauben ſollten .
Wir wollten aber ja gerade von der ſchlichten Intelligenz der
Urmännlein und Urweiblein ſelber ausgehen . Wenn die aber
ewig nur Pelz gewöhnt war , woher ſollte ihr plötzlich ein erſt
zu erreichendes Nacktideal , fertig wie Pallas Athene , aus dem
3*
Kopf ſpringen ? Das gleiche trifft auf das rein erotiſch Auf¬
regliche zu . Die brennend heißen Mandrillfarben konnten
wohl zu der althergebrachten Liebe im Pelz etwas hinzuthun
nach da hinüber . Von der einfachen Nacktheit , zumal in ihren
erſten Stadien , ſehe ich aber keinen einleuchtenden Zweck .
Dazu kommt aber nun noch etwas anderes . Vom rein
Nützlichen einer Anpaſſung an allgemeine Lebensbedingungen
hatte , wie geſagt , die Enthaarung bei Tropentieren gar nichts
an ſich , — im Gegenteil . Die äſthetiſch-erotiſche Neuerung
hätte hier einen harten Kampf durchkämpfen müſſen . Wer
immer Kleider getragen hat und auch nur in der heißen Sonne
des Mittelmeeres zum erſtenmal Verſuche mit nackten Sonnen¬
bädern macht , der weiß , wie empfindlich die jäh entblößte Haut
„ anbrennt “ . Das Pelztier iſt auch in dieſem Sinne genau
daran wie der Kulturmenſch : entpelzt hätte es dieſe Mißlich¬
keiten ſowohl wie ihre Kehrſeite , die Erkältungsgefahr in der
Nachtkühle , bitter durchzukoſten gehabt . Ob das nicht der Liebe ,
ſelbſt ihr neues Ideal zugeſtanden , doch den Eigenſinn der
Nacktmode ſchließlich ausgetrieben hätte ? Vergiß nicht : dieſe
Schutzanpaſſungen ſind immer das erſte , ſind der ſolide Propfen
der Sektflaſche : erſt wenn der nachgeben darf , ſchäumt das
andere hoch wie eine Art Luxus der Entwickelung . Gerade
in dieſem Falle möchte ich aber ein Plus ſehen von ſolcher
Nützlichkeitsecke her anſtatt eines Minus . Ich möchte hören ,
daß Nacktheit rein praktiſch unter beſtimmten Umſtänden nütz¬
licher war als Bepelzung . Dann könnte ich glauben , daß bei
einer gewiſſen Stufe dieſer Nützlichkeitsenthaarung das erotiſch–
äſthetiſche Fach endlich auch eingeſetzt und nachgeholfen habe .
Aber wie ſoll das bei der Tropenſituation gehen , wo der
Orang heute noch Haare hat , dick wie angewachſene Reiſig¬
bündel , und der Löwe ſeine ſprichwörtlich koloſſale Mähne wie
einen Superlativ aller Haarigkeit mit ſich ſchleppt ?
.... U nſer Spinnenfaden zerflattert in der Leere . Es
iſt , als ſumme eine dunkle Melodie mit allerhand Tönen aus
dem bisher Geſagten . Doch ſie wollen ſich noch nicht ordnen ,
die Töne , — es iſt noch ein Widerſtand darin , ein Wider¬
ſpruch . Wie aber die wandernde Spinne ein neues Fädlein
von der unerſchöpflichen Spule ihrer Spinndrüſe ſchießt , um
ſich darauf weiter tragen zu laſſen , ſo auch wir aus dem
Gehirn , dieſer alten Rieſenſpinndrüſe wandernder Gedanken .
Die Tropeninſel mit ihrer Sonne und ihren Blüten ſinkt .
Siehſt du da oben den Stern ?
Über dem Schnee hängt im nächtlichen Blau mit ſeinen
magiſchen ſieben Augen der Wagen und hoch über ihm der
Polarſtern . Ein ſolcher Spinnfaden des Gedankens fliegt auf
zu ihm , immerfort , wenn dein Auge ihn ſchaut . Vom Nordpol
dieſer alten Erdenkugel geht eine ideale Linie dorthin : die
Richtung der Erdachſe . Ein Spinnfaden durch den eiſigen
Raum , Billionen von Meilen weit . Aber an dieſem Spinn¬
faden klettert unendliche Liebe . Schief ſteht dieſe Erdenachſe
auf der Sonnenbahn des ſauſenden Erdenungetüms . Und an
dieſer Schiefe der Achſenſtellung hängt ein ungeheurer Zauber ,
der über viele tauſende von Quadratmeilen dieſer Erde ein
unwandelbares Schickſal verhängt : das Glück und Verhängnis
der Jahreszeit . Winterſchnee und Veilchenlenz , — und ſtarr
ſengender Sommerglaſt und ein Kranz brennend roter Herbſt¬
blätter .
Mit dieſen Gegenſätzen taucht die tiefſinnigſte „ Aſtronomie
der Liebe “ auf . Ohne Achſenſchiefe kein Frühling . Alle Tage
wären überall gleich lang . Jene Linie dort zum Polarſtern :
ſie ragt dir in Wahrheit durch jeden Lenzeswald , hinein in
die violetten Birkenknoſpen und die ſtäubenden Kiefernzapfen ,
hinein auch in die Luftwellen , auf denen das Liebeslied der
Nachtigall leiſe verſchwebt . Sonne und Liebe ſtehen in ur¬
älteſtem Zuſammenhang . Die Sonne iſt die Kraftquelle der
Erde . Liebe iſt die konzentrierteſte Kraft des Erdenlebens .
Aber das Licht dieſer Sonne rollt vermöge jener Achſenſchiefe
in periodiſch ungleichen Strömen , flutend bald und wieder
ebbend , über weite Gebiete dieſer Erde hin und vor allem
gerade über die lebensbunten Landſtrecken unſerer Nord¬
halbkugel . So kam ſeit alters eine geheimnisvolle kosmiſche
Periode auch in das Liebesleben mit hinein .
Es giebt ja eine noch einfachere darin , die auch aſtro¬
nomiſch iſt : Tag und Nacht . Durch die Nacht tönt am zauber¬
hafteſten das Lied der Nachtigall . Und durch die Menſchenliebe
trällert das ſchalkhafte Verslein Philinens von dem langen
Tage , der ſeine Plage hat , und der Nacht und ihrer Luſt , —
Liebesluſt . Eine feſte Schutzanpaſſung des bedrängten Menſchen
liegt gewiß in dem Begriffe „ Liebesnacht “ . Der helle Tag
hatte wirklich ſeine Plage , das Individuum kämpfte eng um
ſeine Perſon , ſeine Nahrung , ſein Leben . In der ſtillen Nacht
beſann die Kraft der Gattung ſich auf ſich , das weitere Leben
blühte auf , das zeugend über die Jahrtauſende reicht . Immerhin
ſpielt dieſer Wechſel von Tag und Nacht keine entſcheidende
Rolle in der Liebe , keine ganz ſcharf einſchneidende . Die
Nachtigall ſingt auch bei Tage , wenn ihre höchſte Kraftflut
ſchwillt , und wie mancher von uns iſt ein Sonnenkind . Unend¬
lich wichtiger war jene große Jahreszeiten-Periode .
Hier iſt die Anpaſſung umgekehrt , und zugleich iſt ſie
von herrſchender Macht . Der Winter iſt die kraftarme Zeit ,
da es gilt , mit einem Minimum zu wirtſchaften . Das Indi¬
viduum weiß kaum für ſich ſelber Rat . In unermeßlichen
Schwärmen ergießen ſich Vögelſcharen über viele Breitegrade
weg jetzt von Nord nach Süd , bloß um ſich ihre nackte indi¬
viduelle Lebensenergie zu retten . Tief in der Erde liegen
Säuger , Reptile , Lurche und durchſchlafen reglos , mit kaum
noch tickender Herzuhr , die böſe Zeit . Für ganze Geſchlechter
raſch alternder niederer Tiere iſt jetzt gradezu Sterbensſtunde .
Erſt mit dem Lenz dann ſetzt wieder der große goldene Kraft-
Regen von der Sonne her ein . Wie in Danaes Schoß
rinnen die Sonnenſtrahlen auf die unfruchtbare Erde herab . Und
all die konzentrierte , verhaltene , zurückgedrängte Regenerations¬
liebe , die Gattungsliebe , die Liebe der Samenzellen und der
Eizellen , die ſich in einem höheren Hunger ſättigen wollen ,
ſchäumt auf . So bedeutet Winter und Sommer auch eine
erotiſche Ebbe und Flut , mit der alljährlich die Sonnen¬
bahn der Erde in das irdiſche Liebesleben greift , greift an der
idealen Handhabe der ſchiefen Achſenſtellung unſeres Planeten
auf ſeiner Bahn .
Dahinein aber nun ein Bild mit der ſtarren Rieſigkeit ,
die alle Erdenbilder bekommen , wenn zuſammenfaſſende Jahr¬
tauſendſchau darüber iſt .
Rouſſeau und Forſter wußten noch nichts davon , als
ihnen der Paradieſesmenſch ſich erdwärts ſenkte in den Ur¬
menſchen auf einer ewig blühenden Tropeninſel .
Dein Stern dort ſchwebt nicht ewig über dem Pol.
Rolle eine Kette von Jahrtauſenden zurück uud und der Spinn¬
faden deines mathematiſchen Gedankens , der die Erdachſe bis
in die Sternenräume hinein verlängerte , trifft ihn nicht mehr ,
ſondern einen anderen . Die Richtung der Achſe hat ſich ver¬
ſchoben . Noch wieder eine höhere aſtronomiſche Periode rollt
ſich hier ab . Alltäglich ſchwingt ſich die Erde einmal um ſich
ſelbſt . Alljährlich ſchwingt ſie ſich einmal um die Sonne .
Allſechsundzwanzigtauſendjährig aber ſchwingt ſich einmal auch
ihre Achſe kreiſelnd ſo herum , daß ſie abwechſelnd nach einer
ganzen Reihe verſchiedener Sterne des Firmaments hindeutet ,
um endlich den erſten , von dem ſie ausging , wieder zu treffen .
Den einförmigen Wechſel von Sommer und Winter be¬
rührt das ſelber nicht . Denn ob ſie auch wie ein tanzender
Brummkreiſel umticke , ſo bleibt die Achſe doch unverändert ſchief
dabei . Aber nimm geſchichtlich dieſe Periode jetzt als deinen
Spinnfaden auf . Nimm ſie mindeſtens einmal , oder nimm
ſie gar mehrfach . Da oben wechſelt der Polarſtern vor deinem
Blick , — nicht mehr das Schwanzſternchen des kleinen Bären
ſchimmert als ſolcher , ſondern der , dort , jener Stern , — die
herrliche Wega in der Leyer , der Deneb im Schwan , — bis
endlich doch der Bärenſtern wieder da iſt , denn die Sechs¬
undzwanzigtauſendjahr-Periode iſt gerade wieder um auf dem
himmliſchen Zifferblatt : der Zeiger ſteht ſozuſagen auf wieder
zwölf , — aber da rutſcht er auch ſchon wieder weiter und das
Wechſelſpiel hebt von neuem an .
Nun aber bedenke : du drehſt im Geiſte wirklich an der
Erdenuhr . Indem du auch nur einmal vom kleinen Bär wieder
auf den kleinen Bär als Polarſtern drehſt , haſt du mehr als
zweimal zehntauſend Jahre Erdgeſchichte rückgedreht . Dein Auge
hing an dem einſamen Achſenſtern da oben , und du haſt achtlos
gedreht und gedreht . Aber laß ab — und ſchau dich um .
Durch ein Kloſterfenſter menſchlicher Kultur , aufgerichtet auf
der Nordhalbkugel der Erde in der gemäßigten Zone in Nord¬
deutſchland , haſt du deine Studien begonnen . Nun umſchauert
dich auf einmal Eiſeskälte . Dein gotiſches Fenſter iſt ein
Höhlenſpalt — und zwar in einer Eishöhle . Turmhoch ragen
die Wände zu beiden Seiten des Spalts : Gletſchereis . Das
Licht des Sternes dämmert geiſterhaft am Grünblau dahin .
Waſſer tropft , eiskaltes Gletſcherwaſſer . Eine dumpfe Müdig¬
keit will dich umfangen : Müdigkeit des Tieres , über deſſen
Verſteck der Winter hereingebrochen iſt und das ſich anſchickt ,
ihn zu überſchlafen . Aber du haſt dich durch dein Drehen an
der Himmelsuhr in einen Winter noch ganz anderer Art
hineingedreht . Über Nordeuropa laſten in kompakter Schicht
viele Millionen von Kubikkilometern Eis. Sommer und Winter
laſten ſie . Du biſt in die große Eiszeit am Anfang aller
Menſchenüberlieferung geraten .
Ich gebe dir keine Zahl . Ich habe abſichtlich nicht genau
hingeſchaut , wie oft du die ganze Achſenuhr wirklich rund
umgedreht haſt . Ob einmal , ob eine Reihe von Malen . Ich
ſage auch nicht , daß dein Drehen etwa ſelber ohne weiteres
die Eiszeit noch einmal hervorgezaubert habe in einem noch
mehr urſächlichen Sinne als bloß in dem der Zeit . Es giebt
ja Leute , die in dieſem Wechſel der Achſenrichtung geradezu
einen Grund dafür ſuchen , daß vor ſo und ſo viel Jahr¬
tauſenden die Erde eine koloſſale Eiszeit wie einen plane¬
tariſchen Schüttelfroſt durchmachen mußte . Dieſe Eiszeit war
ja — abwechſelnd wahrſcheinlich für die Nord- und Süd¬
halbkugel — im großen thatſächlich nur ein ins Gigantiſche
verſtärkter , zeitweiſe ins Permanente übertriebener Winter .
Nun giebt zwar jene Achſenperiode an und für ſich noch
keinen Grund für ſolche Winter-Übertreibung . Aber ſie ließe
ſich möglicherweiſe kombinieren mit einer vermuteten noch
größeren Periode in den Dehnungsverhältniſſen der Erdbahn ,
die bekanntlich kein echter Kreis , ſondern eine mehr oder minder
geſtreckte Ellipſe iſt . Schon jetzt ſteht die Erde der Sonne
bald näher , bald ferner . Wie heute unſere Achſe ſich ein¬
zuſtellen beliebte , mit dem Viſierblick nördlich auf unſeren
Polarſtern im kleinen Bären , haben wir Nordhälftler Winter ,
wenn unſere Erde der Sonne zunächſt ſteht und Sommer in
der Sonnenferne . Mit deinem Zurückdrehen kommſt du aber
immer einmal wieder nach einer Kette von Jahrtauſenden in
eine Periode , wo das umgekehrt iſt eben wegen jenes Wechſels
der Achſe . Jetzt ſcheint ſich aber in ganz dicken Zeiträumen
auch die Ellipſe der Erdbahn ſelbſt zu ſtrecken , — bis auf
Gipfel , da die Erde in Sonnenferne ſehr viel weiter vom
warmen Sonnenherde fortſchwänzt als gegenwärtig . Soll
nun gerade auf einem ſolchen Pik die Nordhalbkugel der Erde
in dieſer Sonnenferne ( alſo umgekehrt wie heute ) Winter gehabt
haben , ſo möchten das allen Ernſtes fatale Winter , ſozuſagen
Winter im Quadrat oder Über-Winter geworden ſein , — in
Summa eine nordhälftliche Eiszeit . Das ſollſt du aber halten
wie du willſt , denn dieſe aſtronomiſche Eiszeit-Erklärung iſt
heute nur erſt eine von vielen und die Gedankenſpinne könnte
über kurz oder lang leicht noch eine weit beſſere weben .
Bleiben wir alſo hübſch vorſichtig bloß bei der allgemeinen
Zeit . Du haſt die Himmelsuhr ein paar mal zehntauſend
Jahre rückgedreht — und du ſteckſt plötzlich im Eis . Die
Temperatur mindeſtens auf der Nordhalbkugel des alten Pla¬
neten iſt auf einmal um ungefähr fünf bis ſechs Grad im
Durchſchnitt herabgeſchraubt , — einerlei nun , ob dieſe
Thermometerſchraube mit deiner Achſenſchraube am Polarſtern
etwas zu thun hat oder nicht . Dieſe fünf oder ſechs Grad
( mehr braucht 's wirklich nicht ) haben aber genügt , aus dem
Chriſtkindchen im Schnee einen wahrhaft ſchauerlichen Eisrieſen
zu machen , der zunächſt mit den wuchtigſten Keulenſchlägen
alles abzuhacken beginnt , was der Fleiß der Liebesgötter in
Jahrmillionen auf dem Nordfelde der Erde gepflanzt hatte .
Man mag ſich wenden wie man will : man kommt nicht
um den Gedanken herum , daß dieſes Nordfeld die eigentliche
Stätte war , wo das heilige Erdenkind , das Leben , ſeit un¬
denklichen Zeiten mit Liebe gehegt und verhätſchelt worden war .
Ich weiß nicht , wie früh das angefangen hat . Laß die
großen Weltalter der Erdgeſchichte bis zu einer gewiſſen Höhe
vorbei ziehen ohne Frage danach . Das erſte , für uns älteſte ,
wo beim kambriſchen Strand das Leben für uns einſetzt und
um deſſen Ende der Wind durch die palmenhohen Schachtel¬
halme der Steinkohlenzeit klappert . Dann die wunderbare
Ichthyoſaurus-Zeit , wo die Archäopteryx fliegt und im
Eykadeen-Gehölz der haushohe Iguanodon auf den Hinterbeinen
hüpft . Aber nun geht der Vorhang zum dritten Male auf ,
und über die Erde ſpringen , klettern , traben die Säugetiere .
Es iſt die Tertiär-Zeit , in der großen Perſpektive ſchon eine
ſehr viel hellere Zeit . In dieſen Tertiär-Tagen aber wird
jetzt wirklich ganz unverkennbar deutlich die Vorherrſchaft der
Nordkugel des alten Rätſelballs . Um den Nordpol lagern
ſich , ob auch noch ſo oft auf- und abtauchend , zerreißend ,
wieder aneinanderſchmelzend , die großen Landmaſſen . Was
im Süden von früh an geblieben iſt , was dort eigene Linien
des Fortſchritts ſucht , das bleibt fortan auffällig iſoliert : ſo
Auſtralien mit ſeinen Schnabel- und Beuteltieren ; ſo Süd¬
amerika mit ſeinen Gürtel- und Faultieren . Auf dem Kontinent¬
ring der Nordkugel aber iſt es , als ſchreite der große Säe¬
mann Entwickelung raſtlos wie Ahasver immer in engeren
oder weiteren Kreiſen um den Pol , und unter ſeinem Tritt
bebt die Erde von zahllos wachſenden Garben des einen grund¬
legenden höheren Säugetiertypus , alſo der Krone des Lebens .
Das wächſt und wächſt und zieht und wandert von Aſien
nach Europa und über die Beringsſtraße von und nach Nord¬
amerika und von Amerika wieder nach Europa , immer neue
Tierfluten , Völkerwanderungen der irgendwo entſtandenen
Familien und Gattungen , ein ungeheuerliches Gedränge , von
dem die Katakomben in den Sivalikhügeln am Himalaya ,
auf dem klaſſiſchen Boden von Pikermi bei Marathon , im
Herzen von Nordamerika und ſo weiter mit ihren Maſſen¬
gräbern heute noch ein geſpenſtiſch großartiges Bild geben .
Und immer , ſo lange durch dieſe Tertiär-Zeit dieſe Säuger¬
ſchwärme ziehen , raſtlos ziehen , ſich ausdehnen , in langen
Ketten Erdteile durchſetzen wie die gelben Meduſenſchwärme
das blaue Meer : immer ſteht über dieſer ganzen Nordhalbkugel
bis hoch an den Pol , bis unter die Senkrechte unter dem
wechſelnden Polarſtern heran die Couliſſe eines grünen Wald-
und Wieſenlandes mit mäßigem Winter . Wie einſt Korallen¬
tiere bis hoch zum Smith-Sund im polaren Nordamerika ihre
Dome auftürmen , alſo Tiere , die wir heute nur aus den
warmen Tropenmeeren kennen , ſo geht jetzt mindeſtens noch
ein Hauch von lorbeergrünem Dauerwald bis in unwahrſchein¬
lich hohe Breiten hinauf . Die Fichte , die über verſchollenen
nordeuropäiſchen Strömen ihre goldenen Harzthränen weint ,
aus denen nachher Bernſtein geworden iſt , weiſt auf einen
Wald , in dem neben Araukarien und Sumpfcypreſſen noch die
Seychellen-Palme ihr ſchönes Blätterhaupt wiegte . Machtlos
war der Winter auch nur im heutigen Sinn . Im Rheinthal
lag der Alligator , das Nilpferd tauchte auf und ab , Papa¬
geien kreiſchten und Affen jagten ſich im Dickicht über der
ſonnigen Bucht . Aus der Grasebene , wo unendlich viel ſpäter
der Grieche den Kampf zwiſchen Europa und Aſien ausfocht ,
ſtieg der lange Hals der Giraffe und das Erdferkel wühlte im
Termitenbau .
Da aber , gegen Ende dieſer im Sinne des grünen Natur¬
bildes paradieſiſchen Zeit der Nordlande , vollzieht ſich das abſolut
Unerwartete , deſſen Akten vielleicht wirklich im kosmiſchen Fach
liegen . Die Durchſchnittstemperatur geht nicht nur auf das heutige
Maß , ſondern noch um eine kurze , aber entſetzlich folgenſchwere
Skala darüber hinab . Wer auf fernem Stern beobachten kann , der
ſieht , wie auf das Nordhaupt der Erde eine verdächtige weiße
Platte ſich legt . Und dieſe Platte wächſt und wächſt . Gegen
Europa , Sibirien , Nordamerika zu rückt es an gleich einer
wandelnden Glocke , die alles Leben vor ſich hertreibt wie ein
dämoniſch Unfaßbares von fremdem Planeten . Was unter ſie
fällt , erſtickt . Denn ſie iſt von Eis , kompakt von Eis . So
wälzt ſie ſich gegen Europa heran , als Eisgletſcher der Höhen
Skandinaviens und Finnlands . Nord- und Oſtſeegebiet begräbt
ſie unter ſich , ihr Sockel quetſcht tauſend Meter hoch auf die
norddeutſche Ebene . Jenſeits Irlands ragt ſie als dräuendes
ſchneeweißes Kap , von dem Eisberge kalben , in den atlantiſchen
Ozean hinaus . Vor dem deutſchen Mittelgebirge bäumt ſie
ſich knirſchend auf , der Eisrieſe , der widerwillig doch ſchlie߬
lich vor einem noch Gewappneteren , dem Granitrieſen , Halt
machen muß . Aber wo das Gebirge ſich irgendwo ſelber hoch
reckt , als Rieſengebirge , als Alpen gar : da recken ſich auch
aus ihm eigene Kryſtalltatzen , die mit Eiſeshauch vernichtend
zu Thal kriechen , Verderben tragend auch dorthin , wo der
eigentliche Nordrieſe nicht mehr hinlangt . So ſind damals
die Gletſcher bis nach München und nach Oberſchwaben ge¬
krochen . Ein Bild jagt da das andere . Und immer iſt etwas
darin von einem Weltuntergang . Die Sintflut , die in's
Paradies bricht , — eine Sintflut von elaſtiſchem , leiſe ſich
ſchiebendem , preſſenden Eis . Die immergrünen Wälder der
Tertiär-Zeit knacken dahin wie Streu . An ihre Stelle tritt
mit anrückendem Eis die Tundra , die Moosſteppe , tief ins
Herz von Deutſchland hinein . Dann ſchmelzen die Eismauern
wieder und vor ihrer Taufläche ergießen ſich ungeheure Ströme .
Damals ſind an der Kryſtallwand vorbei die Waſſer der
Weichſel und der Oder in die Elbe gefloſſen , verſtärkt durch
die Sintfluten der Eisſchmelze ſelbſt . Von dem Gletſcher iſt
Geſtein in unendlichen Maſſen zu Sand zermahlen worden , die
geſtauten Flüſſe häuften eigenen dazu . So iſt das norddeutſche
Hügelland berghoch mit einheitlichem Sand übergoſſen worden
bis eine platte Ebene da lag , in der faſt jede Ungleichheit aus¬
gefüllt war . Und als dieſe Sandflächen frei wurden , boten ſie
lange Zeit die Verhältniſſe der Steppe . Furchtbare Sandſtürme
jagten die Flußthäler hinauf , häuften vor dem Gebirge den gelben
Staub in Löß-Terraſſen an , das karge Leben immer neu erſtickend .
In dieſen Zeiten iſt es reißend bergab gegangen mit
der ſtolzen Säugetier-Welt der Tertiär-Periode . Auf ihrem
eigenſten Terrain faßte es ſie : in dem Landring der Nord¬
halbkugel . Das hat ſie nie mehr verwunden . Wohl finden
wir heute noch ihre echten Reſte im tropiſchen Afrika und
Aſien , ihre Elefanten , Nilpferde , Giraffen , Antilopen . Aber
ſelbſt das ſind nur Reſte . In Amerika iſt die Fauna damals
ganz verarmt . Selbſt wo die Kälte ſie nicht direkt gefaßt hat ,
glaubt man überall ein Abſinken der Kraft zu ſpüren , ein
Verſagen vor zu ſchweren neuen Anforderungen , in denen
irgend eine Welle des großen Orkans ſie doch auch berührt .
Und nur ein kleines Häufchen findet im Zwang gerade der
höchſten Bedrohung noch eine letzte Anpaſſungsenergie : es
trotzt dem Neuen faſt oder ganz am alten Fleck . Aus dieſem
Häuflein der Todesmutigſten entſtehen jetzt die erſten echten
Polartiere . Der Elefant , der in ſeinen Stoßzähnen noch das
alte Inſtrument des typiſchen Waldtieres zum Zweigknacken
mitbringt , gewöhnt ſich als Mammut an das kriechende
Pflanzengekrüppel der Tundra , wobei ſeine zwecklos gewordenen
Stoßzähne zu monſtröſen Krummſtäben entarten . Der Moſchus¬
ochſe wird zu dem Polartier , das heute in Grönland noch be¬
währt , was es damals im Rheinthal gelernt hat . Gegen die
Flucht , den erbarmungsloſen Zuſammenbruch dort , hier bei den
Wenigen um ſo zäheres Anſtemmen , Ausdauern .
Du ſtarrſt aus deiner Eisſpalte zum Himmelspol , in
dem vielleicht grade die weiße Wega ſtrahlenwerfend ſchwebt .
Tief unter dieſem Eis in Sand verſchüttet liegt der Paradies¬
wald des Tertiär . Oben an den Gletſcher heran traben Renn¬
tiere , äſen im kargen Sommer Moſchusochſen auf dem Flechten¬
boden . „ Verflucht ſei der Acker , — mit Kummer ſollſt du
dich darauf nähren dein Leben lang . Dornen und Diſteln
ſoll er dir tragen ... “
Das merkwürdigſte tertiäre Säugetier iſt der Menſch .
Jede Faſer an ihm deutet aufs ſtrengſte darauf hin , daß er
in die Reihe jener nordtertiären Tierwelt gehört . Er gehört aufs
engſte , untrennbar in die Welt der Elefanten , Nashörner , Nil¬
pferde , Sivatherien , Giraffen , Helladotherien und Machairoden .
Was dieſe von den Schnablern und Beutlern Auſtraliens , von den
Rieſenfaultieren und Glyptodonten Südamerikas trennt , trennt
auch ihn . Wenn die Wiege jener üppigſten Säugerſchöpfung auf
der Nordhalbkugel lag , ſo lag auch ſeine dort . In den ſommer¬
frohen immergrünen Wäldern dieſer Tertiärzeit erſcheint zum
erſtenmal das ſchöne Tropenland wirklich dem Orte und der
Zeit nach lokaliſiert , das von Forſter bis auf Darwin „ irgendwo “
als realer Urboden der Menſchwerdung geträumt wurde . Wenn
wir zugleich aber dieſe Tertiärwälder in tropenhafter Fülle ring¬
förmig gegen den nördlichen Polarkreis ſich gruppieren ſehen ,
ſo fällt jeder Zwang fort , dieſe Menſchenentſtehung zwiſchen
die wirklichen Wendekreiſe in die Linie der ſenkrechten Sonne
zu rücken . Heute leben die ſpärlichen Reſte menſchenähnlicher
Affen im zentralen Afrika und im Süden Afrikas . Aber das
ſind ja nur allgemein für unſere Tage die klimatiſchen
Strandungswinkel der vom Norden herabgeſchwemmten tertiären
Säugetier-Arche . In der Blüte des Tertiär ſelber hauſte der
Pliopithekus , der ein echter Gibbon war , in der Schweiz und
der Dryopithekus , der größer war als unſer Schimpanſe , in
Frankreich und in Schwaben . Nicht das geringſte ſteht im Wege ,
ſich hier oder in ähnlichen , noch nördlicheren Gegenden auch jenen
weltgeſchichtlichen Gibbon zu denken , der anfing , gewohnheits¬
mäßig aufrecht zu laufen , ſich mit ſeinen Genoſſen durch eine
verwickeltere Sprache , als die bisherige Affenſprache war , zu ver¬
ſtändigen und ſich durch ſelbſtgeſchaffene Werkzeuge zu ſchützen und
in ſeiner ganzen Lage zu verbeſſern . Hier bereits mußten alle jene
Dinge ſich vollziehen , die wir oben beſprochen haben : die Wirkung
der Wärme — und die Unmöglichkeit einer Entblößung der
Haut durch plötzliche erotiſch-äſthetiſche Liebhaberei für Nacktheit .
Allerdings iſt der einzige uns bisher greifbar zugängliche
Reſt , der uns jenen Übertritt vom Gibbon zum Urmenſchen
noch einigermaßen anſchaulich macht , in den wirklichen Tropen ,
auf Java , alſo faſt unter dem Äquator , gefunden worden , —
der Pithekanthropus , den Dubois zu Anfang der neunziger
Jahre uns aus einem alten Flußbett im Vulkantuff ge¬
graben hat .
Aber dieſer Affenmenſch ſtammt unzweideutig vom äußerſten
Ende ſchon der Tertiär-Zeit . Er liegt zuſammen mit den Reſten
von Elefanten und Nilpferden , die völlig den Eindruck machen , daß
ſie eben eingewandert waren als Vorpoſten der großen tertiären
Tier-Flucht , die vom erkaltenden Norden gegen die Tropen
drängte . Sie wanderten ein , um wenig ſpäter ſchon zu er¬
liegen wie ein verſprengter Auswandererpoſten ohne Glück und
Stern . Und mit ihnen mag das ebenſo verſprengte Häuflein
nordiſcher Affenmenſchen dahingekommen ſein , das offenbar
ebenſo unfähig war , den Wechſel zu überſtehen , denn es ſtarb
ja ebenfalls aus bis auf den letzten Kopf . Im höchſten Grade
unwahrſcheinlich aber ſcheint , daß dieſer Zwiſchentypus von
Gibbon und Menſch damals , ſo ſpät , erſt neu „ entſtanden “
ſein ſollte . Die Tierformen , mit denen er kam , gehen über
weite Zeiträume zurück , waren thatſächlich ſchon damals alt .
Und ihre Jugend lag höchſtwahrſcheinlich bei allen im Norden .
Warum ſoll er allein eine Ausnahme gebildet haben ?
War dieſer Pithekanthropus noch behaart , wie der Gibbon ,
der Orang es ſind ? Die paar Knochen ſagen darüber natür¬
lich nichts . Aber wenn unſer Gedankenfaden oben richtig bis
zur Bruchſtelle gelaufen iſt , ſo muß er es als Tier , das aus
millionenalter Haartradition kam und das ſtets in einem
warmen Klima gelebt hatte , geweſen ſein .
Nun aber . Der letzte Affenmenſch , den wir kennen , liegt ,
als ein verſprengter , totgeweihter Flüchtling wahrſcheinlich , und
ebenſo wahrſcheinlich affenhaft haarig , auf Java . Ungefähr
gleichzeitig bricht weiter nördlich die Eiszeit mit ihren vollen
Schrecken herein , nachdem ihre Vorwehen wohl ſchon längſt
Wandermotiv unzähliger Tierſcharen geweſen waren . Wie
lange die Zeiträume dieſer Eiszeit in ſich ſind , weiß ich nicht .
Kurz ſind ſie ſicher nicht geweſen . Die Eiszeit ſcheint mit
Intervallen gearbeitet zu haben , in Pauſen ſchmolzen die
Gletſcher teilweiſe zurück und kamen wieder . Das deutet auf
ſehr lange Dauer , beſonders wenn du bedenkſt , daß die ganze
Eisſummierung bis zu ſolchen Grönland-Eisfeldern bei dem
angeſetzten Temperaturſinken von nur ein paar Grad immer
erſt Werk einer gehörigen Winterfolge ſein konnte . Es
konnten ſich ja auch Tiere wie das Mammut anpaſſen , und das
ſpricht entſcheidend gegen jede Halsüberkopf-Kataſtrophe . An
eine Sintflut kann ſich nichts anpaſſen , denn alles erſäuft lange
vor dem erſten Anlauf dazu . Leckt aber das Waſſer in jedem
Jahrhundert nur einen Schritt höher , ſo mag am Ende mit
dem wirklichen letzten Brocken Halligland das Landtier fröhlich
als wohlangepaßter Seehund davon ſchwimmen .
Und da — — inmitten noch dieſer Eiszeit erſcheint auf
einmal , nicht der Affenmenſch , ſondern — der Menſch . Und
zwar erſcheint er im ſichtbarſten Felde dieſer Eiszeit : in Nord¬
europa . Er erſcheint ſo , wie ich ihn dir im Bilde der Kalk¬
ſteingrotte gemalt : auf ſeinem nackten Leibe rot angeſtrahlt
von der Herdfeuer-Glut .
4
V or Jahren war's , an einem unvergeßlichen Wandertag .
Wir waren von Zürich aus , immer zu Fuß , durch die Voralpen
gewandert , Julius Hart , ſeine liebe Frau und ich . Im Nebel
endlich herauf auf den Furka-Paß . Dann eine Abendſtunde
von unſagbarer Reine des Himmels — und gerade jetzt mit
dem vollen Blick auf die Eisſphinx der Hochgebirgswelt . Da
lag unter dem ſogenannten Känzli greifbar nahe der Rhone¬
gletſcher . Eine Eisſcholle , und von dieſer Scholle perlt ſachte
ein Tropfen und aus dieſem Tropfen wird ein Weltſtrom , der
unglaublich weit hinter der Erdkrümmung des Horizontes dort
in's himmelblaue Südmeer fällt . Dieſe Eisſcholle lag da in
ihrer ganzen heiligen Erhabenheit . Unter unſerm Fuß um
einen naſſen Schneefleck ein roter Kranz winziger kriechender
Rhododendron-Blüten . Dann ein kurzer Abſtieg zermürbten
Geſteins . Und nun groß , weiß , nackt , wie ein ungeheurer er¬
ſtarrter Leib die glatte Fläche des Gletſchers , ganz ohne dunkle
Schuttſtreifen . Hinten über dem Anfang nur ein paar kurze
Bergzacken , der Gletſcher ganz herrſchend , ohne beſonderen Berg ,
der ihn entließ . Nur drüben die Seitenwand , die er in alten ,
ſtolzeren Tagen noch faßte , von ihm blank poliert . Nach links
ging dann der Eisſtrom in königlicher Biegung abwärts , erſt
ganz rein in der Marmorlinie , bis er tiefer zerriß , ſich ſpaltete
wie zu einem grandioſen Trümmerfeld ſpitzer grüner Glas¬
ſcherben . Unter ihm der ſchwindelnde Abfall wie ein blauer
Trichter in's Rhonethal . Von dem hob ſich dann drüben
wieder in Zickzacklinien aufwärts die Grimſelſtraße und über
der ganz wolkenhoch , doppelt hoch durch den Abgrund darunter ,
wie das Stockwerk einer neuen Welt , die Eiskoloſſe des Berner
Oberlandes mit der dräuenden Pyramide des Finſteraarhorns
grade auf dem Rand . Wie auf einem Ballon ſchwebte der
Blick von dieſem Grund zur Höhe und wieder , ſchwerelos ſich
wiegend , von der Höhe zum Grund .
Da faßte er ganz , ganz tief unten ein liliputaniſches Da¬
ſein . Dort , wo die Rhone ſich als winziges Fädchen dem Eis¬
koloß entwand , blinkten ein paar Fenſterchen , Häuschen der
Menſchenkinder , die Hotelbauten in Gletſch . Es lag etwas
Niederſchmetterndes in dem Kontraſt . Und doch wieder auch
ſolche Kühnheit der Liliputarbeit in dieſen Maulwurfhäufchen
zu Füßen der über Berge hinweg gelagerten nackten Eisrieſin .
Unwillkürlich kam es auf die Lippe : So fing es an ! So ſaß
der erſte Menſch am Gletſcherrande der Eiszeit ! Der Gletſcher¬
leib lag auf einmal auf halb Europa und das da unten waren
erſte Hütten prähiſtoriſcher Menſchen , — Jagdhütten von
Mammut-Jägern . Nie vorher war der Gedanke daran mir ſo
als Bild aufgegangen . Das rieſige Eis und der winzige
Menſch . Was hatte dieſe Eisſphinx in ihrer Umklammerung
aus ihm gemacht ? Aus ihm , deſſen letzte Tierheit in den
immergrünen Wäldern der Tertiärzeit lag !
Sie hatte ihn nicht begraben und nicht verjagt . Dafür
haben wir die Beweiſe . Als Eiszeit-Anpaſſung taucht er auf ,
als vollkräftige , die das ungeheure Phänomen an Ort und
Stelle beſteht und den Ort dauernd behauptet , als es endlich
4*
wie ein böſes Tier zurückkriecht , die Ebene frei giebt und auf
die hohen Berge und die Polarlande zurückklettert .
Dieſer Eiszeit-Menſch taucht uns in wundervollen Fund¬
ſtätten auf , wo ſein Leben aufgeſchlagen noch vor uns liegt
wie ein Buch . Die eine iſt in Taubach bei Weimar , die
andere die ſchon erwähnte an der Schuſſenquelle in Ober¬
ſchwaben . Dort , auf der klaſſiſchen Erde , ſtand eine prä¬
hiſtoriſche Niederlaſſung an einem See , den die Ilm bildete ,
und die Abfälle fielen in den Grund , wo der Kalkſchlamm ſie
umſpann und erhielt . Hier hatten Renntierjäger ihr Sommer¬
quartier an einer Gletſchergrube im Moränenſchutt , und aller¬
hand Kulturmüll geriet unter die Grönlandmooſe dieſer Grube ,
die ihn tadellos bewahrten . In beiden Fällen ſiehſt du auf
erſte „ Kultur “ , alſo auf Werkzeuge . In Taubach haben ſie
den Alt-Elefanten und das Merckſche Rhinozeros , den Hirſch
und den Höhlenbär in Gruben gefangen und die Knochenteile
für ihre Zwecke verarbeitet . Für andere Werkzeuge und Waffen
lieferten harte Geſteine , Feuerſtein , Kieſel und Quarzporphyr ,
den Stoff . An der Schuſſenquelle iſt es beſonders das Renn¬
tiergeweih , das , mit dem Feuerſtein-Werkzeug geſchnitten , un¬
endliches Material zu weiterer Werkzeugſchaffung geliefert hat .
Von dieſem einfachen Gebrauch der Werkzeuge kannſt du
aber nun nicht ohne weiteres ſagen , daß die Eiszeit ihn erſt
dem Menſchen aufgenötigt hat . Was wiſſen wir , ob der Pithek¬
anthropus der Tertiär-Wälder nicht ſchon damit begann .
Greift doch der Affe heute noch zum Stein , zum Aſt als Ver¬
teidigungsmittel ; der Orang baut ſich ſein Schlaflager im Baum
kunſtvoll genug aus Zweigen . Der erſte regelrecht als Waffe
zurecht gehauene Feuerſteindolch würde allerdings wohl immer
die gute Grenze gezogen haben zwiſchen Affe und Menſch .
Aber jeder Anhalt fehlt uns , wie weit dieſe Menſchwerdung
als ſolche hinter die Eiszeit zurückgehen kann .
Doch es ſind da gewiſſe engere Kulturſpuren , die über
dieſes allgemeinſte Prinzip hinausführen , und die geben aller¬
dings ſofort zu denken . In Taubach wie am Schuſſen findeſt
du Spuren vom Herdfeuer . In Taubach liegen die Rhino¬
zeros- , die Elefanten- und Bärenknochen verkohlt neben ge¬
röteten und hitzegehärteten Muſchelkalkbrocken des Herdrandes
und Stückchen der Holzkohle ſelbſt . Es ſtrahlt einen ordentlich
noch an , was dieſe ſchlichte Thatſache des Feuer-Beſitzes in
einer Eiszeit bedeutet haben muß . An dem gleichen Schuſſen
liegen aber auch jene Farbpaſten herum , von denen ich dir
ſagte . Die Kerle bemalten ſich rot . Dann müſſen ſie doch
mindeſtens teilweiſe , wo nicht am wahrſcheinlichſten ganz nackt
geweſen ſein . Auf einem Stück Renntierknochen mit Kritzel¬
bildern aus einer franzöſiſchen Höhle iſt denn auch ein un¬
verkennbar nackter Menſch dargeſtellt . Man hat über die Echt¬
heit dieſer prähiſtoriſchen Bilder einen langen Streit geführt .
Weil hier und da nachweislich dabei gemogelt worden iſt ,
geht aber doch nicht an , die immer erneute Fülle der Funde
für Mogelei zu erklären . Grade auf dieſen Renntierknochen-
Kritzeleien der Dordogne-Höhle ſind auch ſo unverkennbare
Typen echter Wildpferde erhalten ( wie ſie ſicher damals im
Lande waren ) , daß die treffſichere Phantaſie des modernen
Fälſchers ein größeres Wunder wäre als die Realiſtik der
wirklichen Wildpferd-Jäger aus der Eiszeit .
Wie aber will dieſer Nackfroſch in die Eishölle Eishöhle taugen ?
Du wühlſt weiter in der prähiſtoriſchen Müllgrube und du
findeſt knöcherne und hölzerne Pfriemen und Nadeln , findeſt
unverkennbare Spuren , daß ſchon Fäden gedreht worden ſind ,
daß genäht , ja filetartiges Netzwerk gewebt worden iſt . Du
ſiehſt gleichzeitig auf Schlachtſtätten großer und kleiner Pelz¬
tiere . Alles war ja dick verpelzt , ſelbſt das Nashorn . Ab¬
gezogene Felle tauchen dir im Geiſte auf . Was ſollen die
Leute mit ihrem groben Handwerkszeug anders verwebt , ge¬
knüpft haben als Tierſehnen , was ſollen ſie genäht haben als
— Tierfelle ?
Und auf einmal leuchtet dir ein , was dem nackten Kerl
das Jagen in der Eiszeit-Kälte möglich machte : der Pelz , den
er dem Bären abgeſtreift und ſich als Rock um den Leib ge¬
wickelt , als rohe Hoſe um die Beine geſchnürt hatte . Der be¬
kleidete Menſch ſteht vor dir !
Nun mußt du dir ſagen , daß dieſe älteſten Kulturſtätten ,
die wir kennen , alle ſchon aus ſpäteren Perioden der Eiszeit
ſtammen . Die Taubacher macht den Eindruck , als liege ſie
etwa zwiſchen einer erſten und zweiten Haupt-Vereiſung . Die
Schuſſenrieder ſtammt beſtimmt aus der zweiten Vereiſung ,
möglich iſt ſogar , daß ſie an deren Schluß gehört . Und auf
dieſem Fleck laß das Spinnenfädlein des Gedankens nun aber¬
mals ſchießen .
In die Eiszeit ein tritt der noch affenhaft an ſich ſelbſt
bepelzte Menſch . Dieſer Menſch bringt ſchon mit oder erfindet
mindeſtens jetzt die erſte Werkzeug-Technik . Zu den Konſe¬
quenzen dieſer Technik gehört als Möglichkeit auch das Ab¬
ziehen und wenigſtens oberflächliche Bearbeiten von Tierfellen .
Dieſe Möglichkeit wird aber eine Exiſtenzfrage geradezu mit
dem immer grauſamer hereinſtürmenden Kälte-Geſpenſt . Denn
das überlieferte Affenhaar genügt da nur mehr ganz mangel¬
haft . Wie ( ich ſagte es ſchon ) der dick behaarte Orang unſerer
Zoologiſchen Gärten ſich beim geringſten Temperaturfall zähne¬
klappernd in die wollene Decke wickelt , die ihm der Wärter
— der Menſch ! — reicht , ſo greift der Eiszeit-Anfangs-Menſch
zum Bärenfell und wickelt es ſich noch über ſeinen angewachſenen
Affenpelz . Vergiß nicht : für dieſe Tertiär-Weſen war ſchon
ein Klima wie unſer heutiges in Nord-Europa ein ſtarker ,
ſcheußlich zähneklapperiger Abfall . Und das ſollte damals all¬
mählich noch im Mittel um etwa fünf bis ſechs Grad darüber
hinaus abwärts ſinken !
Hiermit war zunächſt etwas Wichtiges aber wieder als
folgenreiche Station erreicht . Das natürliche , organiſche Körper¬
haar war überboten durch das künſtliche , ſozuſagen das „ Werk¬
zeug-Haar “ . Du ſiehſt nun durchweg , wo in dieſer Weiſe
Organ und Werkzeug in gleicher Richtung ſich begegnen , das
Organ ſehr bald zurücktreten . Der Menſch , der eine Bären¬
kinnbacke mit dem großen Eckzahn als Schlagwaffe benutzte ,
brauchte ſelber keine großen Eckzähne mehr nach Gorilla-Art
im eigenen Munde : das Material konnte von der Natur an
ihm geſpart , und der Raum dem Gehirnteil des Schädels , alſo
dem Zentralbureau jener Werkzeugſchaffung , zugeteilt werden .
In das Innengewebe dieſer Wandlungen und Erſetzungen
ſehen wir ja noch nicht ſehr deutlich hinein . Aber ſo viel iſt
allgemein wahrſcheinlich , daß vom Augenblick der künſtlichen
Bekleidung an eine natürliche Linie gegeben war , die mindeſtens
zu einer Verkümmerung des echten Körperpelzes hinlenken
konnte .
Das Leibeshaar mußte zunächſt an den Schultern und am
Rücken durch den Druck der aufliegenden Überkleidung immer
und immer wieder bei jedem Individuum abgeſcheuert werden .
Nun iſt freilich in der heutigen Forſchung auch das noch ein un¬
geſchlichteter Streit , ob derartige mechaniſche Außenwirkungen ,
über viele Generationen fortgeſetzt , direkt und allein dazu führen
können , daß endlich bei den neugeborenen Kindern bereits ein Er¬
folg ſichtbar wird , — alſo in dieſem Falle ſo , daß endlich das
Rücken- und Schulterhaar ſchon von Geburt an immer ſchwächer
und „ abgeſchabter “ aufgetreten wäre . Auf alle Fälle aber
war dieſes Abſcheuern , auch wenn es lange Zeit hindurch nur
individuell immer wieder ſich nach längerem Kleidertragen ein¬
ſtellte , ein Vorteil für den Beſitzer aus einem ganz beſtimmten
Grunde , der wieder im Weſen des Begriffes Werkzeug ſteckt .
Wo immer Werkzeug und Organ in Vergleichung kommen ,
da hat das Werkzeug einen geradezu ungeheuren Vorteil . Das
Organ iſt unlösbar angewachſen . Das Werkzeug dagegen läßt
ſich nach Gebrauch ablegen . Die Kralle am Finger und den
Beißzahn im Maul muß ich ewig mit mir herumſchleppen , auch
wo nach Kratzen und Beißen nicht der geringſte Bedarf iſt .
Die Miſtgabel oder das Beil kann ich heute zu meiner Ver¬
teidigung in die Hand nehmen — und morgen , wenn alles
ruhig iſt , kann ich ſie in die Ecke ſtellen . Genau ſo ging der
Pelz am Leibe , der angewachſene , ewig mit : der übergeſtülpte
Bärenpelz dagegen konnte ebenſo bequem wieder abgeſtülpt und
an den Nagel gehängt werden , wo er nicht nötig war . Und
ſolchen Ort gab's .
Neben den Nähnadeln und Stricknadeln liegen im prä¬
hiſtoriſchen Müllhaufen die angebrannten Knochen und Kohlen .
Die Herdflamme war das zweite große Werkzeug , das neben
dem Bärenpelz die Eiszeit überſtehen ließ . Der Bärenpelz
diente im Freien als ſchlechter Wärmeleiter , der die Körper¬
wärme zuſammenhielt . Die Herdflamme aber war das „ erſte
Haustier “ , ſie wärmte in der Höhle . Wenn die Menſchen
in ihrer Höhle im Kalkſteinfels ſaßen , dann hatten ſie alle
miteinander , die ganze Familie , eine Sorte Kleid um ſich , die
war noch ganz anders warm als der Bärenpelz oder das an¬
gewachſene Hautfell des Einzelnen . Den ſchlechten Wärmeleiter ,
der die Körperwärme ſchützte , bildete hier gewiſſermaßen die
Wölbung der ganzen Höhle . Zwiſchen dieſer Wölbung und
den einzelnen Menſchenkörpern aber lag noch eine beſondere
poſitive Wärmequelle , die den Luftzwiſchenraum von ſich aus
heizte : eben die Herdflamme . Um die innere Leibeswärme
zu retten , war den Körpern hier in der Höhle alſo der Bären¬
pelz total überflüſſig , — im Moment , da ſie in die geheizte
Höhle krochen wie in einen höheren Sozial-Pelz , mußten ſie
den Bärenpelz abſtreifen und an den Nagel hängen . Will¬
kommen war das ohnehin genug ſchon aus Ausdünſtungsgründen
und vor allem auch aus Entlaſtungsgründen : es war ja , als
fiele den Kerlen ein Klotz von der Schulter , den ſie lange
genug mit ihren zwei Beinen ( ſie hatten nicht mehr vier zur
Entlaſtung wie der Meiſter Petz ſelber ! ) hatten zwangsweiſe
draußen ſchleppen müſſen .
Wenn heute der Eskimo , dieſer letzte „ Eiszeit-Menſch “
unſerer Tage , über ſeine Schneefelder zieht , ſo ſteckt er im
Pelz wie eine Schildkröte in ihrer Schale . Wenn er aber in
ſeine geheizte Hütte kriecht , ſo weiß er ſich nichts Eiligeres , als
all dieſen Ballaſt von ſich zu werfen . Mann wie Weib , Kind
und Jungfrau führt da drinnen das Leben von nackten Wilden .
Nun denke dich aber in die Anfänge jener wirklichen Eis¬
zeit . Da ſtürzen deine Ur-Eskimos etwa in ihr Verſteck im
Fels der ſchwäbiſchen Alb . Fortgeſchleudert ſind die Bären-
und Mammut-Pelze . Aber dabei kommt ja hier noch nicht der
heutige nackte Eskimo aus der Hülſe , ſondern zunächſt erſt der
Menſch mit dem alten angewachſenen Affenpelz . Der iſt denn
eine läſtige , überflüſſige Zuthat hier , die man lieber nicht hätte .
Schließlich wird das nicht einmal damit erkauft , daß er etwa
draußen als Unterflanell unter dem Jagdpelz unentbehrlich
wäre . Der Bärenpelz langt . Das Hautflanell macht nur
das Geſamtgewicht noch größer . Und es hindert zugleich die
Hautausdünſtung unter der Decke . Und gewiß noch eins : es
bildet einen wahrhaft hölliſchen Schutzboden für Ungeziefer , das
jetzt in dem Tunnel zwiſchen Haut und Bärenpelz hier in der
Leibeswolle ein nur zu ideales Aſyl findet .
Du weißt , wie die Floh- und Lausplage in der ganzen
behaarten Säugetierwelt zu einer wahren Lebensfrage gediehen
iſt . Vom Affen läßt ſich beinahe ſagen : ein Drittel aller ſeiner
Lebensenergie erſchöpft ſich in der Jagd auf dieſe kleinen Un¬
holde . Die geringen Haarreſte , die der Menſch ſich heute ge¬
rettet hat , geben doch noch immer einen ausreichendſten Be¬
griff davon , was das Läuſe-Problem bei ihm einmal für eine
Rolle geſpielt haben muß .
Ja es iſt ſogar hochintereſſant , daß wir inmitten unſerer
europäiſchen , ängſtlich bekleideten Kultur noch immer am
Menſchenleibe gelegentlich eine Laus beſitzen , die mit feſter
Sympathie und Antipathie das offene Kopfhaar verſchmäht
und ſich hartnäckig in den übrigen größeren Haarreſten des
Leibes heimiſch fühlt . Ich meine die vielgeſchmähte Filzlaus .
Wenn du das Achſelhaar und das Haar über den Organen
der Miſchliebe als die letzten , irgendwie erhaltenen Reſte ( wir
reden davon noch ) des alten Leibespelzes anſiehſt , wie er für
eine Übergangszeit auch noch unter der erſten Bekleidung fort¬
beſtand , — ſo würdeſt du in dieſer zähen Filzlaus , die gerade
da heute mit Vorliebe herbergt , einen letzten Mohikaner noch
haben des Spukgeſindels , das weiland den Menſchen zwang ,
aus ſeinem eignen Fell zu fahren , weil er 's nicht mehr aus¬
halten konnte . Wie die letzten Schnabeltiere , Kiwis , Brücken¬
eidechſen und Rieſenſchildkröten der Urzeit heute auf Inſeln im
Ozean ſich zurückgezogen haben , nachdem ihnen ſonſt überall
der Boden unter den Füßen weggeſunken iſt , ſo bewohnt dieſe
Laus in den Haarinſelchen der Achſeln und Geſchlechtsteile
heute ebenfalls nur mehr letzte Klippen gleichſam im übrigens
allenthalben offenen Meer deiner Nacktheit . Und es mag ſolche
hiſtoriſche Betrachtung ſogar einen gewiſſen Reiz einem Tier¬
lein verleihen , das ſonſt das eigentümliche , ja faſt einzigartige
Schickſal gehabt hat , in der menſchlichen Auffaſſung eine Moral-
Beleuchtung zu erfahren , die ihm die rote Marke des Unſitt¬
lichen aufprägte .
Unter dieſen Umſtänden mußte alſo jenes Abſcheuern , das
den eigenen Haarſtand zunächſt wenigſtens etwas einſchränkte ,
von Stund an bewußt als Gewinn begrüßt werden . Die Nackt¬
heit tauchte auf als erwünſchte Nützlichkeit , je mehr , je beſſer .
Mit dem ſchärfſten Wort : Nacktheit wurde Ideal .
Und da hätten wir alſo in erſter Andeutung jetzt wirklich ,
was wir oben im Gedankennetz ſo empfindlich vermißten : eine
praktiſche Nützlichkeit zunehmender Nacktheit zunächſt einmal als
ſolche unabhängig noch von allen äſthetiſchen und erotiſchen
Dingen . Eine Wunſch-Nacktheit aus reinem Lebenskampf-
Vorteil !
Freilich : der Menſch wünſchte ſie fortan , — geſagt iſt
aber damit noch nicht , daß er ſie ohne weiteres erlangen konnte .
Zu allererſt hat er jedenfalls ſich daran gemacht und „ werk¬
zeuglich “ nachgeholfen : er hat ſich künſtlich geſchoren . Aber da
ſehen wir heute noch bei wilden Völkern vielfältig im Brauch , ſich
die Augenwimpern , die Barthaare , die Schamhaare und Achſel¬
haare nicht bloß abzuraſieren , ſondern ſogar mit dem größten
Raffinement Stück für Stück immer wieder auszureißen . Bei
den nackten Bakairi-Indianern Zentral-Braſiliens werden ſchon
den ganz kleinen Kindern die Wimpern ſyſtematiſch ausgezupft ,
und das Schamhaar wird von Jüngling wie Jungfrau bis
aufs ſpärlichſte Würzelchen vertilgt , als ſei es die gott¬
loſeſte Unſittlichkeit . Aber trotz alledem — und wie uralt mögen
ſolche Bräuche ſein — kommen die Kinder dort immer wieder
mit Wimpern zur Welt , und gerade die Pflicht des Jätens in
der Reifezeit beweiſt die immer erneute Fruchtbarkeit des Korn¬
feldes . Und ſo geht's , ſcheint es , mit anderen ebenfalls . Die
Tonſur , auch bei jenen Indianern ein altbeliebter Brauch , den
nicht erſt der fromme Jeſuitenpater zu ihnen zu bringen braucht ,
muß immer in jeder Generation neu gemacht werden , — vererbt
wird ſie nicht . Endlich : ſeit grauen Tagen huldigen ( neben
ſo viel andern Völkern ) die Juden der Beſchneidung , noch
immer aber liegt keine einwandfreie Statiſtik darüber vor , daß
deshalb ein wachſender Prozentſatz von Judenkindern ohne Vor¬
haut geboren würde . Und ſo ließe ſich denken , daß jene prä¬
hiſtoriſchen Haarmenſchen in ihrer Höhle ſich jahrtauſende¬
lang das geſamte Körperhaar ( mit Ausnahme des Kopfhaares )
abraſiert und ausgezupft hätten und daß es doch nichts genützt
hätte , — als eine zu grobe Methode , die die Vererbung nicht
erreichte . Aber du kannſt auch dieſes künſtliche Abraſieren aus
menſchlichem Willensakt thatſächlich als direkte Urſache des
wirklichen Nacktwerdens noch ganz aus dem Spiel laſſen und
wirſt doch den Einſchlag gerade vor dieſer Stelle ſofort ſehen ,
der die Sache zum Klappen bringen mußte .
Schon durch das einfache Abſcheuern der Haare unter dem
Kleid , noch mehr aber durch ein künſtliches Kurzſchneiden und
gar Ausrupfen wurde bei den einzelnen Individuen mehr und
mehr das frei , das ſichtbar , was bis dahin für Menſchenaugen
ſo gut wie völlig verſchloſſen geweſen war : nämlich der wirk¬
liche plaſtiſche Umriß des menſchlichen Körpers .
Und zwar wurde er ſichtbar in einer Kontraſtwirkung .
Draußen der im Pelz eskimohaft vermummte Menſch ſo form¬
los wie möglich . Drinnen am Herdfeuer der Menſch ſo
plaſtiſch gegliedert wie möglich . Draußen Pelz Ideal , —
drinnen Pelzloſigkeit . Der erſte Kontraſt iſt zweifellos ſchon
empfunden worden , als das eigene Affenhaar ſogar noch heraus¬
kam nach Abſtreifen des Bärenpelzes : gegen einen über und
über in fremde Felle vermummten Eskimo iſt etwa ein behaarter
Schimpanſe immer noch ein gut teil plaſtiſcher , ausgeſtalteter ,
ſozuſagen umrißnackter . Nun tauchten aber bald auch zur
Blöße abgeſcheuerte Rücken , Schultern , Schenkel , Brüſte daheim
aus dem Pelz . Und dazwiſchen miſchten ſich ganz geſchorene ,
ja gerupfte Geſtalten . Bei den letzteren erſchien , wenn auch
zunächſt alſo immer nur bei Individuen als individuelles
Kunſtprodukt und nicht angeboren , der reine Hautboden in
größerer Ausdehnung , — zum erſten Mal .
Dieſe Hautflächen , einmal da , ließen aber mancherlei zu ,
abgeſehen vom leichteren Inſektenfang . Sie ließen ſich mit
Fett ſalben . Mehr aber : ſie ließen ſich hübſch rot anmalen .
Nun gieb acht , denn hier ſchlingt ſich der Knoten . Wo
wird unſer Eiszeit-Bruder geliebt haben ? Doch ganz un¬
zweideutig nicht , wenn er draußen im Bärenpelz auf die
Mammut-Jagd ging , — ſondern daheim bei der Herdflamme .
Daheim , wenn der Pelz am Nagel hing und die Nacktheit
Trumpf war .
Der plaſtiſch mehr und mehr heraustretende Körper war
der , den die Augen der Liebe allein anſchauten . Wenn der
fremde Pelz fiel und er ſich enthüllte , ſo war das nicht immer
bloß das Enthüllen zu Nützlichkeitszwecken , ſondern zu beſtimmten
erotiſchen Zeiten auch das Darbieten des Liebeskörpers . Wenn
aber nun aus Nützlichkeitsgründen dieſer enthüllte Leib zugleich
wirklich immer haarloſer ſich bot auch an ſich ſelbſt , immer
abgeſcheuerter , immer geſchorener , immer raſierter , immer ge¬
rupfter : ſo war es diesmal wirklich durchaus nahe liegend ,
daß dieſe Nacktheit jetzt endlich auch ins Geſichtsfeld des
Erotiſch-Äſthetiſchen geriet . Der rhythmiſche Sinn empfand dieſe
plaſtiſch nackte Menſchengeſtalt als hübſcher denn die haar¬
verhüllte . Der erotiſche Hang verquickte ſich damit : das Schönſte
war der wählenden Liebe das Begehrenswerteſte . Wenn die
künſtlich angelegte Hülle fiel und der Liebesmenſch überhaupt
ſichtbar wurde , ſo war dann bei dem nun auch der nackteſte
der liebſte . Zu der Umrißform trat mit der eigentlichen Haut¬
nacktheit ja jetzt auch die Möglichkeit des andern alten Tier¬
lockmittels : grellbunte Bemalung , die allerdings hier , beim
Werkzeug-Menſchen , ſofort ſchon künſtlich , als Gabe eben der
Werkzeugbeherrſchung , als abſichtliche „ Malerei “ kam .
Nun aber bedenke , was für eine radikale Macht jetzt doch
noch mit dieſer erotiſchen Einmiſchung poſitiv in die Sache
kommen mußte . Jetzt kam das ganze Paradiesvogelmotiv
ſchließlich doch mit und zwar ſtreng konzentriert auf die
Nacktheit .
Wie alle Merkmale dieſer Art , ſo variierte die Haardichte
zweifellos bei den einzelnen Individuen . Es kamen dichter
behaarte und ausnahmsweiſe ſchwächer behaarte vor . Denke
bloß daran , wie das ja ſelbſt heute noch bei den Haarrudimenten
des Mannes wechſelt : hier einer mit Schwarzwuchs am halben
Leibe und ewig nachſprießendem Blaubart , den kein Raſieren
dämmt , — dort der milchweiße Leib faſt haarfrei für den
Anblick und zeitlebens kaum ein Paar Bartſtoppeln . Wenn
du Luſt haſt , magſt du ja auf dieſes Auftreten ſchwachhaariger
Menſchenkinder damals ſchon verrechnen , was etwa die Ver¬
erbung des Abſcheuerns und Raſierens wirklich allmählich ſelber
hinzugethan hätte : in etwas anderem hätte ſie ſich jedenfalls
nicht geäußert als im Zunehmen dieſer Schwachhaar-Variante .
Doch einerlei , — wenn auch nur der gewöhnliche Prozentſatz
mitlief , — alſo immer ab und zu ein ſchwächer behaartes
Menſchenkind von Jugend an : dieſes Menſchenkind hatte jetzt ,
ſobald der Liebesblick auf „ nackt “ angelegt war , ein Prä
noch vor allen Geſchorenen und Gerupften . Es war „ ſchöner “
als ſeinesgleichen , — in der ganzen liebesroten Beleuchtung
dieſes Wörtchens , die wir vom Mandrill und Paradiesvogel
her kennen .
Denkbar iſt , daß die Mutter ſchon beim neugeborenen
Kinde die möglichſt ſchwache Behaarung begünſtigte . Man
ſieht ja in rohe Zeiten , da mißgeſtaltete Kinder ſicherlich viel¬
fach getötet wurden und die Ausleſe nach dem Elterngeſchmack
gleich hier eine Rolle ſpielen konnte . Erinnere dich an die
Geſchichte von Rebekka , die den Jakob mehr liebt , der „ glatt “
iſt , als den „ rauchen “ Eſau !
Wie es damit ſei : jedenfalls ſetzte jene Maſchine hier
unaufhaltſam ein , die , ob ſie nun Paradiesvogel-Schwänze
oder das abgekehrte Nordlicht eines Affen ſchaffe , allemal
„ ſchönere Raſſen “ vermittelſt der Liebe ſelber erzieht , ſobald
„ſchön “ einmal irgendwie klar gegeben iſt . Der von Natur
ſchon nacktere Jüngling fand mehr Gnade bei den Mädchen ,
das natur-nackteſte Mädchen fand am leichteſten einen Mann .
Und jetzt drückte die einfache Vererbung in einer gar nicht ſo
ſehr großen Kette von Zeugungen , Kindergebärungen , Wieder¬
wahlen der Enthaarteſten und ſo weiter die Sache ſicher durch :
eine immer haarloſere Raſſe entſtand bis zum Gipfel , daß
alles Geborene endlich ſo gut wie nackt war .
Klar ſiehſt du den Faden hier , der offenbar ſo unendlich
oft in der höheren Weltentwickelung ſich gleichartig abgerollt hat .
Ein Nützlichkeits -Ideal im Daſeinskampfe enthüllt , be¬
freit , ohne ſelbſt dabei intereſſiert zu ſein , als Nebenſache mit
ein hübſcheres rhythmiſches Verhältnis , ein äſthetiſches Ideal
— hier den nackten Körper . Der rhythmiſche Sinn wendet ſich
dem , ſobald es gegeben iſt , triebhaft ſicher als dem Wohl¬
gefälligeren zu . Da hinein miſcht ſich nun ein erotiſches
Ideal : das zum Liebeszweck wählende Auge , vom Daſeins¬
kampf entlaſtet und allen feineren Regungen erhöht zugänglich ,
wählt für ſeine höhere Praxis das Wohlgefälligſte zum Zweck
der Knüpfung des Liebesindividuums . Und auf dieſer Liebes¬
brücke wird das äſthetiſche Ideal jetzt immer verſtärkt zur
wahren Realität gemacht , es ſinkt ein in das tiefſte Myſterium
des Zeugungsprozeſſes und ſteigt an dieſer goldenen Leiter
dann unaufhaltſam in die Entwickelung ſelber hinauf , wo der
Wunſch endlich als Erfüllung , die Freude am Äſthetiſchen als
eine immer äſthetiſchere Welt erſcheint .
Notwendig iſt dabei bloß , daß du den rhythmiſchen Sinn
als ſolchen zugiebſt als eine ſeeliſche Grund-Eigenſchaft — und
außerdem gewiſſe körperliche rhythmiſche Grundveranlagungen in
der Natur . Alſo in dieſem Falle beim Menſchen einen Sinn für
die größere rhythmiſche Wohlgefälligkeit des nackten , bunt be¬
malten Körpers vom Moment an , da er als gegebener Kontraſt
neben dem um und um formlos bepelzten ſtand . Und bei dieſem
Körper ſelbſt eben gewiſſe rhythmiſch wirkende Verhältniſſe , die
gleichſam befreit , aktiv wurden im Moment , da der fremde und
eigene Pelz die Decke davon zog . Vor dem „ Bewußten “ des
Prozeſſes brauchſt du dabei nicht unnötig viel Angſt zu haben .
In einigem Sinne ſind wir ja gewiß jetzt in der Sphäre des
„ Bewußtſeins “ . Aber wenn dir graut vor dem urmenſchlich
viel zu hohen Gedankenprozeß : „ Ich finde das ſchön , folglich
wähle ich mir dieſes Schönſte für meine Liebe “ , — ſo merke
dir , daß du gerade den rhythmiſchen Sinn , alſo das „ Ich finde
das ſchön “ gar nicht triebhaft-intuitiv genug auffaſſen kannſt .
Du brauchſt dir auch nicht das kleinſte Titelchen einer Re¬
flexion hineinzudenken , — ſo wenig wie heute der Wilde
„ denkt “ , wenn er nach der blauen Perle greift ſtatt nach der
weißen , oder das Kind „ denkt “ , das ſtundenlang mit Andacht
in die wechſelnden rhythmiſchen Farbenplättchen ſeines Kaleidoſkops
ſtarrt . Gerade deshalb habe ich ja das Wort „ Rhythmotropis¬
mus “ dir gebildet , ſo ungelenk es iſt , — weil es nämlich
das geradezu Pflanzenhafte der rhythmiſchen Neigung ausdrücken
ſoll innerhalb des Seeliſchen . Wie die Wurzel ihrem Geo¬
tropismus folgt und ſenkrecht zur Schwere wächſt : ſo ſtellt
ſich dieſe Neigung genau ſo triebhaft-zwangsweiſe gegen das
Rhythmiſchere , äſthetiſch Wirkſamere ein .
Und eines Tages war es alſo die menſchliche Nacktheit ,
die ſo den Magnet im äſthetiſchen Kompaß bildete . Nicht
lange : und die Liebe hatte ſie fixiert . Nun war ſie dauernd
in der Welt auch über das Äſthetiſche hinaus , — eine That¬
ſache , die wieder für ſich Wellen warf .
Die nächſte Frage aber wäre wohl : warum hat denn
nun die Enthaarung doch nicht ganz geſiegt ?
Da ſitzen deine Kopfhaare . Und da ſproſſen dir juſt
gerade zur Zeit der Liebe , die alles fortgebracht haben ſoll , die
Achſelhaare und die Haare über dem Organ der Miſchliebe .
Was ſoll das ? Der Filzlaus und Kopflaus zu Liebe
kann ’s doch nicht geſchehen ſein . Hier gilt ’s auf alle Fälle ,
etwas in das Hauptbild noch hinein zu zeichnen . Beginnen
wir mit dem ſcheinbar ganz vertrakteſten : dem Achſel- und
Schamhaar .
Ganz gewiß : durch ſein nachträgliches Auftreten aus¬
geſpart bei Männlein ſo Weiblein heute noch bei der Ge¬
ſchlechtsreife , verrät dieſes Haar einen unzweideutigen Bezug
eben auf das Liebesleben , — alſo das , was uns nach obiger
Deduktion enthaart haben ſoll .
Schauſt du dir das heutige Verhalten dieſer Zuwider-
Haare an , ſo haſt du den Eindruck eines alten Kampfes mit
einer Art Not-Konzeſſion . Du haſt die Empfindung , als ſei
es einer beſtimmten Züchtung in der That zunächſt geglückt ,
das Affenhaar am ganzen Leibe fortzukriegen . Bis auf den
Embryo wurde es zurückgedrängt , der ja auch ſonſt noch mit
Schwänzen und Kiemen und anderem Urväter-Hausrate ſein
Spiel treibt . Und das Kind kam glücklich nackt zur Welt .
Dann aber habe ſich ein Manko doch noch herausgeſtellt . Grade
die Achſel- und Schamſtellen des alten Fells hätten in der
Liebeszeit aus irgend einem Grunde doch nicht entbehrt werden
können . Und hätten , wo denn ſonſt alles nackt blieb , doch
ſelber wenigſtens mit Anbruch des Liebesfrühlings raſch nach¬
träglich wiederhergeſtellt werden müſſen . Was dann Brauch
blieb bis heute und ſich in der Thatſache noch immer äußert , daß
um die Liebesknoſpenzeit dieſe Haare plötzlich lang nachwachſen .
Fragt ſich jetzt bloß , was das für ein ſeparater haar¬
befördernder Liebesgrund geweſen ſein ſoll .
Hier geſtatte einen kleinen Exkurs . Der Sinn ſoll dir
ſchon klar werden .
In den düſteren Gebirgswäldern Zentralaſiens , von der
Tibetſeite des Himalaya bis weit nach China und Sibirien
hinein , birgt ſich hinter flechtenbewachſenen Blöcken ein zierliches
Wild : das Moſchustier .
Nicht Hirſch , nicht Antilope , nicht Wildziege , gehört es
einem jener uralten Reſte vieldeutiger Miſchtiere an , in deren
Nähe wahrſcheinlich einſt bedeutſame Straßen der Entwickelung
ſich getrennt haben und die heute in unſere Zeit ragen wie ein
Mal am Kreuzweg . Dieſes Moſchustier hat nun durch ſeine
Liebe eigenartige Beziehungen zu uns . Die Chineſen haben
ſie zuerſt angebändelt , bis dann die ganze Kulturwelt allmählich
nachgekommen iſt . Das Wörtlein „ Moſchus “ umfaßt ſie . Wenn
der Jäger in ſeinem heimiſchen Tann auf das ſcheue Wild
pürſcht , ſo kennt er es nicht bloß an der höchſt charakteriſtiſchen
Spur , ſondern , falls es ein Bock in der Liebeszeit iſt , weit¬
hin — man ſagt , auf eine Viertelmeile — auch am Geruch .
5
Es iſt nämlich der gleiche penetrante Geruch , der dem
Beſucher in gewiſſen Nachtkaffees der Großſtadt entgegenſtrömt ,
wo die Proſtitution auf ihre eigentümliche Form der Liebesjagd
ausgeht . Der Stoff iſt hier wie dort ganz der gleiche : die
Grundlage unſeres Moſchus-Parfums wird , wenn ſie nicht ver¬
fälſcht iſt , unmittelbar vom männlichen Moſchustier entnommen .
Der Zweck aber iſt ebenfalls der gleiche . Das Straßen¬
mädchen unſerer Kultur wünſcht mit ſeinem knallend auf¬
getragenen Parfum eine gewiſſe ſinnlich aufreizende , geſchlechts¬
erregende Wirkung beim Manne hervorzubringen . Das männ¬
liche Moſchustier in ſeinen heiligen Bergforſten lockt und reizt
mit ihm als Naturparfum ſein Weibchen . Bloß daß der ſitt¬
liche Zweck beim Moſchustier dabei höher ſteht . Die Quelle
des Geruchs und Urquelle aller menſchlichen Moſchus-Induſtrie
aber iſt ein kleiner Beutel zwiſchen Nabel und Geſchlechtsteil
des Moſchusbocks , in den von einigen Drüſen aus zur Liebes¬
zeit die Moſchusſubſtanz wie eine natürliche feine Parfumſalbe
entleert wird . Die angewachſene Parfumbüchſe hat natürlich
ihre Ausgänge nach dem offenen Bauch , wo an Haarbüſcheln
der feine Duftſtoff frei abſtrömen und ſich bis zur Naſe des
Weibleins verbreiten kann . Tritt der Duft mehrerer Bewerber
in Konkurrenz , ſo muß allerdings noch ein gröberes Mittel
nachhelfen : aus dem Maul des Moſchusbocks ragen die Eck¬
zähne wie zwei abwärts gebogene kleine Schweinshauer vor
und damit muß nötigenfalls , durch blutige Schmiſſe und
Schrammen in des Gegners Rücken , das Monopol der Liebe
noch ritterlich erfochten werden .
Dieſer Duftzauber des verliebten Moſchustiers iſt nun
äußerſt lehrreich . Er zeigt ein ganzes Rieſengebiet von Wir¬
kungen der Diſtance-Liebe , die über charakteriſtiſche , ſinnlich
aufregende Gerüche laufen .
Der Duft iſt ganz allgemein eins der älteſten und immer
wieder wirkſamſten Mittel der Natur geweſen zu einer Ver¬
ſtändigung . Eine Art uralt-ehrwürdiger Sprache iſt er . Die
Mitteilung durch den Duft hat etwas voraus vor der durch
das Licht , durch das Auge , denn ſie kann auch im Stockfinſtern
erfolgen . Außerdem hat der Duft eine äußerſt intenſive
Phantaſiewirkung , deren pſychologiſche Gründe mir vorläufig
dunkel ſind , die du aber beſtändig an dir ſelber erleben kannſt .
Ein Geruch , den du da , dort einmal zu riechen pflegteſt —
und die Erinnerungen ſchießen ein mit unerhörter Plaſtik : ein
Zimmer , ein Haus , eine Familie , ein Weib , ſie ſtehen wie ver¬
zaubert leibhaft vor dir . Dabei iſt der Duft auch real einer
ſtarken räumlichen Ausdehnung fähig , unter Umſtänden viel
weiter , als das beſchränkte Geſicht tragen würde . Denke nur
an das Moſchustier ſelbſt in ſeinem Wald voll eng gedrängter
Bäume und Felsblöcke . Wenn das Schiff ſich der Inſel Corſika
nähert , ſo iſt es der Duft gewiſſer Strandkräuter , des ſoge¬
nannten „ Maquis “ ( Rosmarin und andere ) , der wie eine
greifbare Hand herüberlangt , wenn auch dem Anblick noch die
ganze Silhouette des Landes in blauen Wolken liegt .
Gleich bei dieſen betäubend duftenden Blüten haſt du
aber ſchon eine erſte Ausnutzung der Sache . Was läge an
Fäden und Netzen in der Natur und wäre nicht irgendwie
ausgenutzt ! Die köſtlichen , ſchweren , auch uns Menſchen wie
ein wollüſtiger Sinnentraum betäubenden Düfte eines blumen¬
reichen Gartens : Heliotrop und Gaisblatt , Nelken und Hya¬
zinthen und Veilchen , ſie dienen ſämtlich jenem großen Lockſpiel
der Pflanze gegenüber dem Inſekt , das ihre Befruchtung voll¬
ziehen ſoll . Sie ſind erotiſche Lockdüfte , wenn auch indirekter
Art , da ſie zugleich Weinblumen des gratis geöffneten Wirts¬
hauſes ſind . Eigentümlich iſt dabei die Thatſache , daß dieſe
Pflanzendüfte , ſelber ja ausgehaucht von den Blüten , alſo von
den Geſchlechtsteilen der Pflanze , vielfach Ähnlichkeit zeigen
mit einem ausgeſprochenen menſchlichen Geſchlechtsduft : nämlich
mit der Duftblume des männlichen Samens . Die Verwandt¬
ſchaft iſt ſchon beim Gaisblatt merkbar , ihren Gipfelpunkt
findet ſie aber bei der Blüte der zahmen Kaſtanie . Zur Zeit
5*
der zahmen Kaſtanienblüte iſt an Orten , wo dieſe in Menge
gedeiht , buchſtäblich die ganze Luft geſchwängert mit dem Parfüm
menſchlichen Samens .
Die Kehrſeite ſind freilich auch wieder Blütendüfte , die
unſerem Empfinden weder angenehm , noch ſinnlich erregend
vorkommen , ſondern die uns einfach abſcheulich riechen . Du
mußt eben bedenken , daß die Blume das Inſekt nicht bloß
äſthetiſch oder erotiſch ergötzen , ſondern ſtrenggenommen zur
Tafel einladen will . Erſt als Wirtshausbeſucher wird es ja
dann ihr unfreiwilliger Liebesbote . Da ſind denn für gewiſſe
etwas gröber veranlagte Wirtshäusler auch viel herzhaftere
Duftſachen probiert worden etwa im Sinne von Limburger
Käſe als Lockſchild . Der Geſchmack vieler Inſekten , beſonders
Fliegen , geht aber noch über echten Limburger . Ihnen muß
es ſchon faules Fleiſch ſein . Nach dem duften alſo eine ganze
Portion Blumen pflichtſchuldigſt . Die größte Blüte der Welt
gehört hierher : die ungeheure Raffleſia der Urwälder von
Sumatra , deren Blume ein Meter ſpannt und nicht nur wie
ein Lappen faulenden Elefantenfleiſchs riecht , ſondern auch ſo
ausſieht .
Von hier iſt nur ein kleiner Schritt zu Pflanzen und
Tieren , die umgekehrt beſtialiſch ſchaudervolle Gerüche entwickeln ,
um überhaupt nicht mehr anzulocken , ſondern um ſich zu ver¬
teidigen . Eine ſolche Waffe iſt der unerträgliche Knoblauchgeruch
gewiſſer Kröten : ich erinnere mich des wahren Höllenpfuhls ,
der mich aus einer Botaniſiertrommel anhauchte , in der ein
Dutzend kleiner , ſonſt ſo niedlicher Feuerunken ( Bombinator )
eine Stunde weit über Land getragen worden war . Und das
Stinktier , eine Art Marder , ſpritzt bekanntlich aus einer Drüſe
wie beim Moſchustier einen Saft , der buchſtäblich zum Himmel
ſtinkt , den Menſchen zu nackter Inſolierhaft nötigt und ſeine
Kleidungsſtücke für immer unbrauchbar macht .
Doch bleiben wir bloß in der Linie der Liebesdüfte . Da
ſiehſt du denn im Tierreich den angenehmen Duft alsbald im
vollen Dienſt der Diſtance-Liebe , noch unendlich viel direkter
als es bei der Pflanze war . Hier ſuchen und erregen ſich die Ge¬
ſchlechter unmittelbar am ausſtrömenden Geruch . Insbeſondere
ſind es gewiſſe Inſekten , auf die auch bei der Blütenſuche von
dieſen Blüten mit feinem Aroma und nicht mit Limburger
ſpekuliert wurde , deren Geruchsäſthetik alſo offenbar eine edle ,
der unſeren verwandte ſein mußte .
Es ſind die Schmetterlinge .
Bald iſt es hier das Weibchen , das über weite Strecken
hinweg ſeinen Duft ergießt , bis die liebestollen Männchen
von allen Seiten heranſchwärmen . Bald wieder iſt es um¬
gekehrt der Mann , von dem ein intenſiver Liebeshauch aus¬
geht , ſo ſtark , daß ihn ſelbſt die ſehr viel gröbere Naſe des
Menſchen empfindet .
Längſt iſt es den Sammlern bekannt , daß ein einziges
gefangenes , aber zu freier Duftergießung offen produziertes
Schmetterlingsweibchen genügt , ganze Haufen weit zerſtreuter
Männchen der gleichen Art förmlich aus dem Umkreis zu¬
ſammen zu ſieben wie ein Grundnetz die Fiſche aus einem
Teich ſiebt . Auguſt Weismann exponierte ſo in einem Gaze¬
käſtchen , durch das die Luft frei ausſtrich , neun Nächte lang
am offenen Fenſter ein Weibchen des ſchönen , ſeidig bunten
Abendpfauenauges . In dieſen neun Nächten fanden ſich nicht
weniger als 42 Männchen dieſer Pfauenaugenart ein , — eine
ſchier unglaubliche Maſſe in Anbetracht , daß der Schmetter¬
ling keineswegs etwa zu den gewöhnlichen , maſſenhaft auf¬
tretenden Sorten gehört . Die empfindenden Geruchsorgane ,
die „ Naſen “ dieſer Nachtfalter ſitzen in den Fühlern und zwar
ſind in dieſem Falle die Fühler gerade der offenbar ſo fein
riechenden Männchen durchweg weit größer und verwickelter
gebaut als die der Weibchen . Wo Frau Pfauenauge ihren
Parfumapparat trägt , iſt allerdings bis jetzt nicht bekannt ;
doch iſt wahrſcheinlich , daß er aus ſämtlichen feinen Schuppen
der Flügel und des Leibes zugleich ausſtrömt . Weismann
hat nachgewieſen , daß alle dieſe Schüppchen noch mit den
lebenden Zellen der Haut in Verbindung ſtehen . Jedenfalls
iſt aber gerade dieſer Duftzauber ſo fein , daß unſere menſch¬
liche Naſe ihn trotz aller Verſuche am weiblichen Nacht¬
ſchmetterling ſelber noch nie hat riechen können . Und dabei
doch ſolche unglaubliche Fernwirkung auf die Fühlernaſen der
verliebten Nachtſchmetterlings-Männer ! Jener Verſuch Weis¬
manns fand in der Stadt ſtatt . Wie viel Gerüche ſchweben
durcheinander in der Atmoſphäre einer Menſchenſtadt ! Und
doch reagiert die Chemie dieſer Liebesnaſe des Nachtfalters in
all dieſem unendlichen Gebräu auf eine einzige Stoffwelle :
den zarten Duftäther , der von dem brünſtigen Weibchen am
einſamen Naturforſcherfenſter aus ſeine Wellenkreiſe in die
Weite , über Gärten und Häuſermeer wirft .
Weſentlich gröber iſt umgekehrt der Mannesduft bei Nacht-
und Tagſchmetterlingen . Er iſt offenbar weniger auf das
ſehnſüchtige Werben über große Fernen fort berechnet , ſondern
mehr für die unmittelbare Sinnlichkeitserregung in der Liebes¬
ſchlacht , alſo dicht vor dem Weibe .
In dieſem Falle iſt es unſerer Menſchennaſe denn auch
möglich , den grellen Brunſtduft ganz ordentlich ſelber mit¬
zuriechen . Es war zuerſt der rieſige Windenſchwärmer unſerer
ſchwülen Sommerabende , der den Sammlern durch ſeinen wahr¬
haft wilden Moſchusgeruch auffiel , — ſeltſam genug alſo gerade
wieder dieſe beſtimmte Duftblume , die auch beim Krokodil , beim
Moſchustier , beim menſchlichen Kunſtparfum und wo ſonſt
überall noch als „ Wolluſtblume “ wiederkehrt !
Einmal auf der Spur der Sache , hat man denn auch in
dieſem Mannesfalle glücklich die eigentlichen „ Duft-Organe “
als ſolche greifbar ausfindig gemacht . Die wirkliche Grund¬
lage des Duftes bilden auch hier flüchtige ätheriſche Öle , die
direkt von den Zellen der Haut produziert werden . Zu ihrem
richtigen und wirkſamen Abſtrömen — Abduften — aber
dienen gewiſſe eigens darauf eingerichtete Schuppen der Flügel
oder des Hinterleibes . Du weißt , wie die prachtvollen Farb¬
muſter eines Schmetterlingsflügels zu ſtande kommen . Wie
ein feiner aufgelagerter Staub hüllt bei all dieſen farbigen
Arten den Flügel eine dichte Schicht dachziegelartig gelagerter
winziger Schuppen . Streifſt du ſie gewaltſam herunter , ſo
erſcheint der eigentliche Flügelboden darunter nackt und glas¬
hell wie der Flügel der Libelle oder Fliege . Jedes dieſer
Schüppchen iſt gewiſſermaßen ein kleines Hautfederchen . Ver¬
ſchieden gefärbt , ergeben ſie als geordnetes Ganzes das herr¬
liche Bild des bunten Schmetterlingsflügels . Nun denn : ſolche
Schuppen arbeiten , an gewiſſen Stellen beſonders darauf ein¬
geſtellt , nicht bloß als Maler , ſondern auch als Parfumeure
des Herrn Schmetterlings . „ Duftſchuppen “ hat man ſie geradezu
getauft . Vielfältig iſt ihre Geſtalt , wenn man ſie unters Ver¬
größerungsglas bringt . Bald ſchauen ſie aus wie ein kleiner
rundlicher Palmfächer , bald ſind ſie dünn wie ein wirkliches
Haar . Stets jedoch ſtrömt die flüchtige aromatiſche Eſſenz von
der eigentlichen lebendigen Haut her in dieſen Fächer oder
dieſes Haar ein , um dann aus kleinſten Poren der Schuppen¬
fläche oder aus geſpreizten Pinſelfranzen des Spitzenrandes
abzudunſten .
Fritz Müller in Braſilien war der erſte , der ſolche Duft¬
ſchuppen und Dufthaare entdeckte . Nun er es entdeckt , kann 's
ihm jeder in der Probe leicht nachmachen .
„ Man kann ſich “ , erzählt der treffliche Auguſt Weis¬
mann , der dieſe Dinge aufs genaueſte weiter durchforſcht hat ,
„ auch an einzelnen unſerer Schmetterlinge von der Richtigkeit
ſeiner Beobachtungen überzeugen , wenn man mit dem Finger
über den Flügel eines friſch gefangenen männlichen Weißlings
( Pieris Napi ) hinwiſcht . Der Finger iſt dann von feinem ,
weißem Staub bedeckt , den abgeſtreiften Flügelſchuppen , und
riecht ſehr fein nach Zitronen- oder Meliſſenäther , ein Beweis
zugleich , daß der Riechſtoff an den Schuppen haftet . “ Dieſer
Weißling hat nämlich , ebenſo wie unſere niedlichen allbekannten
Bläulinge , ſeine kleinen Duftſchüppchen über die ganze Ober¬
fläche des Flügels zwiſchen die großen weißen oder blauen
Farbſchuppen eingeordnet . „ Bei vielen anderen Tagfaltern
und ebenſo auch bei Nachtfaltern ſind ( ſagt Weismann ) die
duftenden Schuppen zu Büſcheln vereinigt und auf beſtimmte
Stellen lokaliſiert . Sie bilden dann oft ſchon mit bloßem
Auge leicht ſichtbare größere Flecken , Streifen oder Pinſel .
So haben die Männchen unſerer verſchiedenen Arten von Gras¬
faltern ( Satyriden ) ſamtartige ſchwarze Flecke auf den Vorder¬
flügeln , während der Kaiſermantel ( Argynnis paphia ) kohl¬
ſchwarze breite Striche auf vier Längsrippen des Vorderflügels
zeigt , die dem Weibchen fehlen und die aus Hunderten von
Duftſchuppen zuſammengeſetzt ſind ; gewiſſe große , unſeren Schiller¬
faltern ähnliche Waldſchmetterlinge Südamerikas tragen mitten
auf dem prachtvoll grün ſchillernden Hinterflügel einen dicken
gelben ſpreizbaren Pinſel ſtark gelber langer Duftſchuppen ,
und ganz ähnlich verhält es ſich bei dem ſchönen violetten
Falter der malayiſchen Inſeln , der Zeuxidia Wallacei . Bei
vielen Danaiden hat ſich der Duftapparat noch mehr ver¬
vollkommnet , indem er ſich in eine ziemlich tiefe Taſche auf
den Hinterflügeln eingeſenkt hat , in welcher die dufterzeugenden
haarförmigen Schuppen ſo lange verborgen liegen , bis der
Falter den Duft ausſtrömen laſſen will . Bei vielen ſüd¬
amerikaniſchen und indiſchen Papilio-Arten ſitzen die zu einer
Art von Mähne geordneten Dufthaare in einem Umſchlag des
Hinterflügelrandes u. ſ. w. Die Mannigfaltigkeit dieſer Ein¬
richtungen iſt überaus groß und ſie finden ſich in weiter Ver¬
breitung ſowohl bei Tag- wie Nachtfaltern , bei letzteren zu¬
weilen in Geſtalt eines dicken , glänzend weißen Filzes , der
einen Umſchlag des Hinterflügelrandes erfüllt . In vielen
Fällen kann ſo der Duft aufgeſpart und dann durch plötzliches
Umſchlagen der Flügelfalte zum Ausſtrömen gebracht werden . “
Hier will mir nun die Vermutung nicht aus dem Sinn ,
es möchte in unſeren menſchlichen Achſel- und Schamhaaren
eine verwandte uralte Beziehung ſtecken zu erotiſch wirkſamen
Düften . Wenn dieſe Haare nun erhalten geblieben oder gar
nachträglich wiederhergeſtellt worden wären , weil ſie ganz ähn¬
lich wie die Duftzäpfchen der Schmetterlinge lange Zeit hindurch
noch als Zerſtreuer und Zerſtäuber gewiſſer Lockgerüche der
Liebeszeit dienen mußten ?
Mindeſtens vom Geruch der Achſelgegend iſt noch heute
kein Zweifel , daß er eine gewiſſe erotiſche Wirkung ausübt . Vor
allem der des Mannes auf das Weib . Im Übrigen iſt aber hier
überall ſchlecht nach heute zu ſchließen , da wohl auch darüber
keinerlei Zweifel beſteht , daß der Geruchsſinn im Ganzen bei
uns Menſchen und vollends dem Kulturmenſchen ſtark degene¬
riert , herabgekommen , ſtumpf geworden iſt . Grade die erotiſchen
Geruchsempfindungen ſind überdies durch Jahrtauſende des Ge¬
brauchs barbariſch ſtarker , alles Individuelle übertäubender
künſtlicher Parfums noch beſonders abgetötet worden . Keinerlei
Grund liegt aber vor , ähnliche Schwäche für jene Urmenſchen-
Tage vorauszuſetzen .
Der Menſch kam herauf vom Säugetier , wo erotiſche
Duftwirkungen allenthalben auf der Höhe ſind . Beim Hunde
iſt der Geruch geradezu als eine Sprache entwickelt . Er ent¬
ſcheidet bei der Begegnung über Sympathie und Antipathie .
An ihm trennen ſich die alten Wege , ob freſſen , ob Liebe .
Zwei Hunde beriechen ſich — und alsbald fällt die Entſcheidung :
wütendes Beißen oder wedelnde Annäherung der Freund¬
ſchaft , der Liebe . Liebesſprache iſt auch hier dieſe Duftſprache
ganz beſonders . An der hohen Ausbildung des Geruchsver¬
mögens hat ja jedenfalls urſprünglich der reine Daſeinskampf ,
die einfache Nützlichkeit , mitgearbeitet . Dem jagenden Tier
bot ſie die Möglichkeit , die Fährte oder das gefallene Wild
weithin zu wittern , und dem verfolgten Tier umgekehrt wies
ſie auf weite Entfernung ſchon die Nähe des Räubers . Aber
das griff dann die Liebe auf , auch wohl erſt zum Finden ,
dann aber zum unmittelbaren Geſchlechtserregen , zur indivi¬
duellen Marke ganz im Sinne der andern Reize der Liebenden .
Es müßte faſt mit ſeltſamen Dingen zugegangen ſein , ſollte
etwas Moſchustier-Veranlagung dieſer Art nicht dem Urmenſchen
auch überkommen ſein .
Nun mußt du dich in jene Zeit verſetzen , da der ent¬
kleidete , ſtark ausdünſtende Menſch in der Höhle daheim
anfing , ausgeſprochen der erotiſche Menſch zu werden . Es
wäre ſehr gut möglich , daß ganz beſtimmte erotiſche Ausdünſtungen
der Achſel- und Schamgegend , in der Zeit der Liebesreife zu¬
erſt auftretend , lange Zeit eine ſehr ſtarke Rolle geſpielt hätten .
Gerade dieſe Duftwirkungen könnten aber zur Erhaltung der
Haare an den betreffenden Stellen geführt haben , — die Haare
im Sinne von Duftzerſtreuern , Duftpinſeln ſozuſagen gefaßt .
Auch für dieſen Urmenſchen hätte in dieſer Duftſprache be¬
ſtimmter Körperſtellen wirklich noch eine Art Sprache gelegen .
An ihr hätte er den Knaben vom liebesreifen Mann und wieder
den Mann vom Greis , auch den erotiſch ſtarken Mann individuell
vom ſchwachen unterſchieden , und entſprechend die gleichen
Phaſen beim Weibe . Liebeswunſch und Liebesindifferenz hätte
ſich ihm wortlos und doch völlig deutlich darin angeſagt . Kurz ,
denken kann man ſich den Hergang ſo ſehr gut , wenn er auch
in etwas hineinführt , das nachmals ſeeliſch wieder ganz rudimen¬
tär geworden wäre , während die Haare , die einſt dazu gehörten ,
als verlorene Poſten heute noch da ſtehen wie die Augenſtiele
gewiſſer blinder Krebſe der Tiefſee , die das Sehen ſelber ab¬
geſchafft haben .
Daß ein kleiner Reſt auch des Empfindens noch da iſt , beweiſt
dir ja jene Thatſache , daß unter groben Verhältniſſen Kultur¬
weiber von heute ſich in eine Kunſtatmoſphäre von Moſchus
ſetzen , alſo das erotiſche Zugmittel eines niedrigeren Säuge¬
tiers äußerlich ihrem menſchlichen Leibe wieder vorheften . Aber
gerade das Greifen nach einem ſo aufdringlichen Liebesduft¬
mittel verrät gleichzeitig auch die ſtarke Verrohung des menſch¬
lichen Sinns für dieſe Dinge . Mag ſein , der Menſch brauchte
mit wachſender Kultur dieſen Weg nicht mehr . Die Wort¬
ſprache , verfeinertes Mienenſpiel und Verwandtes boten höheren
Erſatz . Vielerlei mag noch hinein geſpielt haben , was mit
Kleidertragen auch daheim , Wieder-Nacktgehen draußen in
wärmeren Zeiten und Ländern , Verhüllen der Geſchlechtsteile
aus Schamgründen und ſo weiter zuſammenhing . Auch der
allgemeine Verfall der Naſen-Feinheit überhaupt hat zweifellos
ſein Teil hinzu gethan , vielleicht den Hauptteil . Der lag für
Jägervölker ſelber wieder viel an einem ganz zufälligen Um¬
ſtand : der Menſch gewöhnte ſich nämlich an ein lebendiges
Werkzeug , das grade die Spürnaſe bei ihm entlaſtete : den
Hund . Als unfreiwilliger Begleiter bei der Wildſuche haben
ſich ihm wohl ſchon ſehr früh Schakale und kleine Wölfe an¬
geſchloſſen . Ihre weit überlegene Spürkraft hat er dann ſchlie߬
lich für ſich verwerten gelernt . Von da ab aber iſt 's dann
gegangen , wie überall : das Werkzeug ( in dieſem Fall ein
lebendiges , das er aber beherrſchte wie jedes beliebige tote )
hat bei ihm das Organ zurücktreten und ſchließlich verfallen
laſſen . Als ſich die Menſchennaſe einmal Jahrtauſende auf
die Hundenaſe verlaſſen hatte , war ſie ſelber abgeſtumpft bis
zum einfachſten Nichtmehrkönnen . Und das hat dann auch in
die Liebe hineingeſpielt , wie ſelbſtverſtändlich .
Von den Kopfhaaren iſt viel weniger zu ſagen und zu
ſpintiſieren . Den Mannesbart , meine ich , hat der Urmenſch
wirklich ſchon vom Affen mitgebracht . Als der ganze Leib noch
feſt im Affenpelze ſteckte , dürfte das Geſicht ſchon mehr oder
minder entblößt geweſen ſein und beim Manne vom Bart um¬
rahmt . So iſt es zu deutlich bei einer Menge Affen ſelber
ſchon , — warum ſoll der Menſch das alſo nicht einfach bereits
übernommen haben aus den Tagen , da er echter Affe war .
Grade weil der Bart als Ideal männlicher Schönheit und
Kraft ſo uralt , noch vom Affen her iſt , hat er ſich auch ſo
unverändert über die ganze ſpätere Zeit des Enthaarungs-Ideals
fortgerettet .
Beim eigentlichen Kopfhaar aber ſcheinen mir beide Mo¬
tive ineinander gearbeitet zu haben : das Nützliche und das
Erotiſche . Das Auftreten ſchon beim Kinde ſpricht dafür ,
daß dieſes Haar nie in Frage gekommen iſt und daß bloß
erotiſche Gründe es entſchieden nicht gehalten haben können .
Der Kopf des Menſchen nimmt eben eine ganz beſondere
Stellung ein . Einerſeits erträgt er , wenn der übrige Körper
warm iſt , ein ſtarkes Stück Kälte ohne Beſchwer . Wichtig
umgekehrt ſcheint es , daß er nicht zu ſehr durch Auflagen be¬
laſtet nnd und in ſeiner Ausdünſtung behemmt wird . Das konnte
zuſammen wohl Nützlichkeitsgründe abgeben , daß hier das Haar
erhalten blieb . Ich kann mir den Körper ſchon feſt beim Ur¬
menſchen in Felle verpackt denken und den Kopf doch noch
bloß durch ſeine natürlichen Haare , vielleicht unter einer leichten
Kappe , geſchützt . Aber ebenſo gewiß hat das Erotiſche auch
hineingeſpielt . Dafür zeugt in erſter Linie die Länge des
Frauenhaars , die ſicherlich durch Liebeswahl herangezüchtet iſt .
Noch heute iſt das geſunde , nicht mit Parfum narkotiſierte
Frauenhaar der Quell höchſt eigenartiger Duftwirkungen , deren
genauere Beſchreibung nur deshalb vorläufig verzweifelt ſchwer ,
ja faſt unmöglich iſt , weil uns für die Bezeichnung von Duft-
Nüancen geradezu die gröbſte Terminologie in unſeren Kultur¬
ſprachen fehlt . Jedenfalls hat das Kopfhaar zum mindeſten
der Frau in Zeiten , da erotiſche Düfte überhaupt eine Rolle
ſpielten , auch nach hier herüber ſeine ſtarke Bedeutung gehabt .
Und ſo hat hier alſo wahrſcheinlich ein ganzer Rattenkönig
verſchiedenſter Urſachen zuſammengewirkt in der Erhaltung .
B is hierher ſchließen ſich die Sachen ſehr nett aneinander ,
nicht wahr ? Jetzt mußt du aber eins wohl beachten .
Mit dieſer Geneſis , in der die menſchliche Nacktheit ſo
hübſch herauskommt , muß notwendig verknüpft gedacht werden ein
zweites Buch Exodus , das je nachdem nicht jedem ſo ein¬
leuchten wird .
Wir haben heute auf der Erde ungeheure Gebiete , vor
allem der heißen Zone , mit Menſchen erfüllt , die keinerlei
Affenpelz beſitzen und dennoch ſich nicht in Felle hüllen . Nackte
Menſchen , die auch wirklich nackt gehen . Sie haben keinen
Gegenſatz von daheim und draußen im Sinne von entkleidet
und künſtlich bepelzt . Willſt du jene Theorie alſo wirklich feſt
durchführen , ſo mußt du annehmen , daß alle dieſe heutigen
Nackt-Völker Abkömmlinge ſind von Urvölkern , die aus Kälte¬
gründen einmal bekleidet gingen und die auf Grund dieſer Be¬
kleidung ihr Affenhaarkleid verloren hatten .
Der heutige nackte , enthaarte Wilde wäre nicht eine ur¬
ſprüngliche , ſondern ſchon eine zweite , nachträgliche Stufe . Er
wäre der urſprünglich bekleidete und unter den Kleidern ent¬
haarte Menſch , der nach Süden wandernd nachträglich wieder
in warme Gegenden kam , wo der künſtliche Pelz nicht zu er¬
tragen war und der ſich nun dauernd auch von dieſem Kunſtpelz
wieder entpelzte , alſo nackt ging , wobei aber jetzt die enthaarte
wirkliche Nackthaut zum Vorſchein kam . Ausnahmslos alle
Menſchen , die heute auf der Erde hauſen , müßten Nachkommen
ſein von ſolchen , die irgendwie durch die Schule der Eiszeit¬
kälte hindurchgegangen wären . Denn alle ſind enthaart , und
und wenn das nur dort geſchehen konnte , ſo müſſen ſie eben
alle dort dabei geweſen ſein .
Ich geſtehe gern , daß mir ſelber dieſe Folge-Theorie
lange Zeit ſo ungeheuerlich vorgekommen iſt , daß ich um ihren
Preis die ganze Enthaarungs-Theorie nicht annehmen wollte .
Aber je mehr ich mich in den anfangs ſo alphaft drückenden
Gedanken eingelebt habe , deſto mehr hat er von ſeiner Un¬
geheuerlichkeit eingebüßt . Bis ich mir ſchließlich geſagt habe :
Ja warum denn nicht ?
Wenn man die Sitten und Bräuche unſerer ſogenannten
Naturvölker auf Erden anſchaut , ſo will es an allen Ecken
und Enden gar nicht als ſo wunderbar erſcheinen , ſich zu
denken : es könnten hier ſchon Ergebniſſe recht verzwickter alter
Entwickelungen vorliegen , Wandlungen , Verſchiebungen , Degenera¬
tionen aller Art . Ich will natürlich nicht etwa einer Theorie
der menſchlichen Ur-Weisheit das Wort reden , als wären alle
nackten Naturvölker Abfallsprodukte einer ſchon einmal enorm
hohen Geſamtkultur in unbekannt mythiſcher Vorzeit . Aber ein
ſo einfacher Schritt läßt ſich , meine ich , ohne viel Mühe machen :
zu denken , es ſei etwa der nackte Wilde von heute nicht nackt ,
weil er noch keine Bekleidung kennt , ſondern er ſei nackt , weil
er das Sichbekleiden wieder verlernt hat . Eine ſo große Kultur¬
ſache iſt ja das Tragen von Kleidern nicht . Ich möchte es
unter die ſchlichteſten und erſten Erfindungen des Menſchen
überhaupt rechnen . So wenig aber die Erfindung ein ſo
ganz Großes war , ſo wenig brauchte das Wiederentkleiden ein
beſonders großer Abfallsakt zu ſein . Es wäre wohl nur einer
geweſen unter vielen , die dieſe Naturvölker auf Wanderungen
durchgemacht haben .
Die weſentliche Frage , auf die ſich alles konzentriert , iſt ,
ob man ein Herabwandern ſämtlicher Menſchenraſſen dieſer Erde
von der Eiszeit-Gegend der Nordhalbkugel während oder gar
nach dieſer Eiszeit annehmen will . Es läuft das auf die große ,
eigentlich von nirgendwoher noch direkt diskutierbare Frage
hinaus , ob man ſich die Entſtehung des Menſchen irgendwo
lokaliſiert denken will . Grade dann ſehe ich aber keine andere
Denkbarkeit , wie ich dir früher ſchon ſagte , als das Heimats¬
zentrum der höheren tertiären Säugerwelt : alſo die Nordhalb¬
kugel bis in die wirklichen Eiszeitorte hinauf . Mit dem ſüd¬
lichen Abſtrömen dieſer Tierwelt ſind , wie ſchon erwähnt , viel¬
leicht Teile der allerälteſten Menſchheit ſüdwärts bereits mit¬
geſtrömt : haarige Affenmenſchen das noch , von denen ſich aber
lebend nichts bis heute erhalten hat . Das , was eigentlich
Menſch in unſerem Kulturſinne werden ſollte , aber war eben
dadurch gekennzeichnet , daß es zunächſt im Norden blieb . Im
Zwange der Kälteperiode errang es ſeine erſte Kultur : Herd¬
flamme , Waffe , Kleidung . Das Affenfell ging dabei in jenem
Sinne allmählich verloren . Aber nun war die Eiszeit zweifel¬
los ſehr lang . Ihre Wirkungen auf den Menſchen können
ganz früh ſchon in ihrer Vorepoche , ihrer Inkubationszeit
ſo zu ſagen , angefangen haben . Als zum erſtenmal die Gletſcher
dann wirklich als Binneneis grönlandhaft über Europa , Nord¬
aſien und Nordamerika ſtanden , mochte der Enthaarungsprozeß
längſt vollzogen ſein . Da in der Raumnot ging dann wohl
ein erſtes neues Abſtrömen von Menſchen — diesmal von
erſten echten Menſchen , nach Süden los . Das mag ſich in
der Länge und den Wechſeln der Eiszeit unzählige Male neu
vollzogen haben . Immer floſſen weichere , widerſtandsunfähigere
Gruppen ſüdwärts ab , während eine Ausleſe weiterkämpfte . Du
kannſt dir dabei ruhig denken , daß ſchon vorher gewiſſe Raſſen¬
verſchiedenheiten beſtanden , wenn du willſt . Der Enthaarungs¬
prozeß wird in dem ganzen Nordring des kälterwerdenden
Gebietes gewaltet haben , einerlei , ob da ſchon verſchiedene
Grundraſſen ſaßen , er betraf dann eben aus gleicher Wurzel
alle . Doch iſt das Nebenſache , wie weit du mit den Raſſen
zurückgehen willſt . Reſultat war jedenfalls : einerſeits eine zu¬
nehmende Eroberung der Erde nach Süden zu durch die von der
immer wachſenden Kälte ſchließlich doch abgeſtoßenen Menſchheits¬
elemente . Und das Übrigbleiben einer nordiſchen Elite-Raſſe
am Ende der Eiszeit , die den Kampf mit immer wachſender
Kulturkraft beſtanden hatte .
Als nach Abzug der Eiszeit auch dieſe beſte Zuchtraſſe
anfing , ſich auszubreiten , wenigſtens in die gemäßigte Zone
mehr und mehr hinein , — da bildete ſie ſofort in höherem
Sinne die „ Kultur-Menſchheit “ gegenüber jenen früher ab¬
geſtrömten Maſſen , die im Süden als „ Wilde “ ſaßen . Es
muß in den Verhältniſſen der Eiszeit gelegen haben , daß dieſes
engere Kulturvolk weſentlich ſich auf die alte Welt konzentrierte ,
Nordamerika ſcheint völlig verödet und erſt nachträglich wieder
bevölkert worden zu ſein . Doch ſei auch das dahingeſtellt .
Jedenfalls iſt es jene Elite , von Skandinavien bis an das
Mittelmeer und tief nach Aſien hinein ausgedehnt , die im
erſten Morgenſtrahl der Geſchichte als „ die Kultur “ in den
alten Reichen auftaucht , — „ die Kultur “ , gegen die drüben
wie eine ungeformte , nicht mitgeriſſene Teigmaſſe der Neger ,
und ſonſt der Wilde ſtehen . Und dabei iſt höchſt bezeichnend ,
daß der Kulturbegriff ſich im weſentlichen fortan deckt mit dem
Begriff des bekleideten Menſchen , während der Naturmenſch , der
Wilde , als nackt gilt . Denke an einen ſymboliſchen Höhepunkt :
die verpanzerten Spanier des Kolumbus vor den „ nackten “
Indianern Mittelamerikas . Der bekleidete Nordmenſch war
geradlinig weiter geſtiegen , — der unbekleidete Südmenſch hatte
mit ſeinem Kleide gleichſam den Talisman fortſchreitender Kultur
wieder abgelegt .
Mancherlei Thatſachen der heutigen Menſchenverbreitung
auf unſerm Planeten fügen ſich überraſchend leicht in dieſen
Rahmen ein . Man begreift , warum grade die Völker mit
niedrigſter Kultur heute am weiteſten nach Süden ſitzen : die
Auſtralneger auf dem auſtraliſchen Feſtlandreſt bei den Schnabel¬
tieren und Molchfiſchen , die Weddas auf Ceylon , die Feuer¬
länder an der Südſpitze Amerikas . Sie wären die zuerſt Ab¬
geſtoßenen , noch am primitivſten im Menſchentum und am
längſten außer Contakt mit der aufſteigenden Linie . Gedrängt
von den nachkommenden Maſſen , ſind ſie endlich bis in die
Winkel der Länder gepreßt worden , auf die äußerſten Kontinent¬
ſpitzen vor der großen Barriere der Waſſerſeite der Erde . In
die eigentlichen Südpolarlande ſind auch ſie nicht mehr über¬
geſtrömt .
In Afrika iſt es am deutlichſten , wie ein mehrfaches ,
ſtationenweiſes Überfluten durch von Norden eindringende Völker
ſtattgefunden haben muß , und zwar kamen ganz offenbar zuerſt
die primitiveren , als deren äußerſte ſüdliche Ecke heute noch
etwa die Buſchmänner gelten können , und dann erſt die etwas
höheren , wie ſie das Gros der heutigen echten Neger noch
vertritt . Natürlich haben die unvermeidlichen Miſchungen das
Bild verwiſcht , aber Konturen ſind unverkennbar noch da .
Manches könnte dafür ſprechen , daß zu den allerälteſten
Südwanderern , alſo den urtümlichſten , auch die ſeltſamen Zwerg¬
völker gehören , die beſonders grade in dieſem Afrika noch er¬
halten ſind . Die alten Pygmäenſagen haben ſich ja im tiefſten
afrikaniſchen Buſch heute zu wirklichen Zwergraſſen gefeſtet ,
bei denen der ausgewachſene Mann meiſt kaum ein und ein
drittel Meter hoch wird . Es iſt für unſere Betrachtung hier
wichtig , daß dieſe Zwerge wahrſcheinlich von allen Völkern die
ſtärkſte Körperbehaarung und den ſtärkſten Körpergeruch beſitzen .
Ihre Intelligenz iſt hoch , aber , man möchte gern ſagen , in ihrem
6
tropiſchen Urwaldleben wenig ausgenutzt . Sollte uns in dieſen
Pygmäen ein ganz urälteſtes Abſpaltungsprodukt der Menſch¬
heit noch erhalten ſein ? Eines , das ſchon ſüdwärts ging , als
die Enthaarung noch nicht ganz vollendet war ? Und ſollte
uns hier ein Fingerzeig am Ende gar gegeben ſein , daß die
Urraſſe der Menſchheit im Ganzen einen mehr oder minder
zwerghaften Bau beſaß ? Es iſt wirklich ein merkwürdiges
Ding um dieſe Zwerge . Am indiſchen Ozean taucht in den
Weddas ein ebenſo zwerghafter Reſt Menſchen mit denkbar
einfachſter , urtümlichſter Kultur auf . Durch alle Kulturländer
gehen die Zwergenſagen , wie das letzte Anklingen einer alten
Welle aus der Tiefe . Und den Gipfel ſetzt die Entdeckung
unverkennbarer Pygmäen-Skelette in einer noch vorgeſchichtlichen ,
der Eiszeit ſich nähernden Fundſtelle bei uns in Europa , —
in Schweizersbild bei Schaffhauſen . Mindeſtens wird man
ſich denken müſſen , daß ganz früh bereits ein beſtimmter
Raſſenzweig der Ur-Menſchheit dieſe Zwergenbahn eingeſchlagen
hat und , wo er ſich überhaupt erhielt , auch zäh bei ſeiner
Kleinheit geblieben iſt .
Doch dieſe Betrachtung führt dich von ſelbſt auf eine
tiefere : in wiefern wir uns überhaupt noch ein Bild aus dem
heute da und dort ſüdwärts Verbannten zurecht zimmern könnten
vom Kulturzuſtand unſerer Eiszeit- oder Voreiszeit-Ahnen .
Die alte Auffaſſung hatte es ja da bequemer , — ſie
ſagte einfach : alles , was nackter Wilder iſt , ſteht dem Tier
näher und muß alſo noch unſere Entwickelungsahnen an der
unteren Menſchengrenze ſpiegeln . Wir bedenken aber jetzt , wie
dieſer Wilde wohl eben nicht der ſtehen gebliebene Ahne ſelbſt
ſei , ſondern ein altes Abſpaltungsprodukt , das als ſolches ſich
vom großen Stamm löſte und ſeine eigenen , geſonderten Wege
fortan ging , niemals dort wieder nachkommend , dagegen ſicher
vielfach abwärts lenkend .
Es liegt in dieſer neuen Betrachtung etwas , was dich
vor einer gewiſſen Unterſchätzung des echten Ur-Kulturmenſchen
bewahren kann .
Es klingt ja ſo einfach , zu ſagen : der beſtialiſch roheſte
Wilde von heute iſt eben deshalb , weil er noch ſo roh iſt , das
ausgeſucht treue Konterfei unſrer eigenen Urkulturler . Aber
das vergißt , daß jener Urwilde , der hinter uns ſteht , der wir
ſelbſt , bloß entwickelungsverwandelt , durch die Unſterblichkeit
der Liebe eigentlich in Fleiſch und Blut heute noch ſind , doch
das Zeug gehabt hat , zu uns zu ſteigen , — während der
heutige Wilde in den ganzen Zwiſchenjahrtauſenden nichts ge¬
than hat , als ſeine Wildheit ſozuſagen zu mäſten , daß ſie wie
ein Menagerieobjekt erhalten geblieben iſt . Sollte er ſie nicht
in der Zeit doch auch oft ganz beträchtlich geſteigert haben bei
dieſer Pflege ohne Entwickelung ? So daß ein gut Teil ent¬
ſetzlicher Rohheit und Beſtialität von heute nun doch nicht auch
zum Konterfei unſerer wirklichen Kulturahnen zu gehören
brauchte ?
Es iſt gewiß eigenartig zu verfolgen : auch in unſerer
ganzen echten Kulturentwickelung bis auf den heutigen Tag
ſpalten ſich ſolche Wildheits- und Beſtialitätsäſte , die auf ihrem
Fleck beharren oder höchſtens noch tiefer ſinken , fort und fort
im Engeren noch ab , wenn auch die lokale Trennung heute
keine Rolle ſo mehr dabei ſpielt . Aber inzwiſchen geht die
wahre Kultur über einen ebenſo zäh immer neu erzeugten
Stamm feinerer , entwickelungsfähigerer Elemente ruhig ihren
Weg , und zwar geht ſie nur über dieſe Elemente . Sie geht
nicht über Tyrannen , Defraudanten und Obſkuranten , Zuhälter
und vergewaltigende Soldateska , ſondern über die Buddha ,
Sokrates , Chriſtus , Michelangelo , Dante , Spinoza , Goethe und
Darwin der Weltgeſchichte . Etwas derart wird aber immer
gewaltet haben .
6*
Wir ſind ja heute in unſerem an ſich berechtigten dar¬
winiſtiſchen Denken ſehr geneigt , in's andere Extrem zu gehen .
Wenn der Anfangsmenſch der Kultur kein gottgeleiteter Halb¬
engel war , ſo ſoll er nun der möglichſt rabenſchwarze Gorilla
ſein , den man ſich gar nicht beſtial genug denken mag . Es
muß aber doch gerade die Eigenſchaft dieſes menſchwerdenden
Tieres geweſen ſein , daß es eben nicht zur Gorilla-Linie hielt ,
ſondern Menſch wurde . Miſcht man Gorilla-Beſtialität mit
allem , was ſich an menſchlich beſtialiſchen Zügen bei Wilden ,
in der Geſchichte und in den Winkeln unſerer Kultur aufdecken
läßt und häuft das alles auf den Urmenſchen , ſo kommt ja
in der That ein Scheuſal heraus , gegen das der Gorilla allein
ein ſanfter Knabe iſt . Aber ich fürchte , du bindeſt dir in
ſolchem Strauß lauter Abſpaltungszweige deiner wahren Wachs¬
tumslinie zuſammen und kommſt ſo im Leben nicht auf dich ,
ſo kraus auch der Buſch wird . Mir liegt nichts ferner , als
mir wieder einen chriſtlichen oder auch nur Rouſſeauſchen
Ideal-Urmenſchen zu konſtruieren . Aber was ich meine iſt
dieſes . So lange die wilden Völker auf der Erde jetzt von
vernünftigen Beobachtern angeſchaut werden , ſo lange iſt auch
dieſen Beobachtern aufgefallen : neben ſo und ſo viel beſtialiſchen
Zügen findet ſich doch immer durchſchimmernd auch eine mindeſtens
ebenſo große Schicht ſchöner , wenn auch blaſſer Züge im Sinne
deſſen , was wir im edelſten Kulturſtande ſo nennen . Die
Miſſionäre haben das in ihrer Weiſe ſich ausgelegt als den
guten Kern Gottes in allem Menſchlichen . Alfred Ruſſel
Wallace hat es als das inkommenſurable Teil im Menſchen
beſchrieben , das nicht aus der Beſtie ſich habe entwickeln können ,
ſondern zu irgend einer Zeit aus einer edleren Geiſterwelt
ſpiritiſtiſch in den Urmenſchen eingefahren ſein müſſe . Gewiß
iſt , daß ein Widerſpruch da zuerſt ins Unbegreifliche zu klaffen
ſcheint . Der Wilde , der jetzt ſeinen wehrloſen Feind mit einem
wahren Wahnſinnsraffinement zu Tode gemartert und auf¬
gefreſſen hat , ſetzt ſich hin und ſchafft die zierlichſten Kunſt¬
ornamente . Das auſtraliſche Ehepaar , das nach Stammes¬
brauch das Umbringen eines neugeborenen Kindes aus der
geringfügigſten Bequemlichkeitsrückſicht für ſelbſtverſtändlich hält ,
liebt das erwachſende Kind mit der vollen Zärtlichkeit des
humanſten Kulturmenſchen und beweint ſeinen natürlichen Tod
in den ergreifendſten Gemütslauten . Der Dajak auf Borneo ,
der auf die „ Kopfjagd “ geht und abgeſchlagene Köpfe beliebiger
ihm begegnender Menſchen ſammelt wie unſereiner Käfer oder
Briefmarken : er iſt der treueſte , hingebend rückſichtsvollſte
Gaſtgeber , ſo bald einer einmal in ſein Haus aufgenommen
iſt und den Dunſtkreis ſeiner Menſchengefühle überhaupt be¬
rührt hat .
Warum aber zu metaphyſiſchen Ungeheuerlichkeiten der
Hypotheſe greifen ? Warum ſoll nicht jener „ göttliche Kern “ ,
jener „ inkommenſurable Teil “ eben gerade das ſein , was als
Erbe von der alten Zuſammengehörigkeit mit dem Hauptſtamme
der Menſcheit auch in dieſen abgezweigten Äſten unverſehrt
noch erhalten , wenn auch nicht fortentwickelt iſt ? Warum
ſollen gerade dieſe Eigenſchaften nicht ſummiert einſt geweſen
ſein in jenem echten Ur-Stamm als das , was ihn allmählich
über das beſtiale Tier erhob , was ihn eben allmählich zum
Menſchen werden ließ ? Alle Anfänge dazu liegen zerſtreut
ſchon im Tier . Nur ein glücklicher Sammelpunkt brauchte der
Urmenſch zu ſein . Immer iſt das Große , das ſcheinbar vom
Himmel Fallende ſolch ein Sammelpunkt geweſen . So hat
Goethe nur millionenfach verſtreute Anſätze ſeiner Zeit , ſeiner
Menſchheit zuſammengefaßt in einen Brennpunkt , der dann
allerdings wie eine neue Sonne über der ganzen Erde aufging .
Wenn der Urmenſch bloß beſtialiſcher noch als der Gorilla
war , — wie iſt er dann Menſch geworden ? Ich denke mir das
meiſte des Guten , das der Wilde heute beſitzt , das Beſte
was das Tier ſchon gab und vielleicht noch ein Teil mehr ,
( weil er doch eben der Kulturmenſch geworden iſt ) in dem
wirklichen Urmenſchen vereint . Wertvoll iſt ja da , daß es
einzelne wilde Völker gegenwärtig ſogar noch giebt , wo das
Beſtiale ſo zurücktritt gegen dieſen Kern , daß man faſt noch
das alte Bild greifen zu können meint . Jene Bakairi-Indianer
in Centralbraſilien , die uns Karl von den Steinen kennen
gelehrt hat , leben heute noch in der Steinzeit ohne Metall¬
waffen . Sie gehen ſo gut wie ganz nackt . Aber die brutalen
Kannibalenzüge fehlen . Ein ſanfter Zug liegt über ihren
uralt geregelten Sozialverhältniſſen , eine ſonnige Heiterkeit über
ihrem ganzen Weſen . Und die Kunſt , luſtige , in Ornamenten
und Farben gleißende , phantaſievoll ſich auslebende Kunſt
füllt einen Hauptteil ihres Daſeins . Über ihrer ſchönen Körper¬
nacktheit ragen Decke und Wand , Matte und Gerät in einem
wahren Rauſch von Kunſt und Kunſtgewerbe . Feſte mit Tanz
und Geſang ziehen ſich wie eine Blumenkette durch ihr Leben .
Das alles iſt wohl verſtanden , nicht mehr geſehen und beſchrieben
worden mit Rouſſeau- und Forſteraugen , ſondern durch die
Brille eines ausnehmend nüchtern denkenden Gelehrten modernſter
Schule . Eine ſolche Bakairi-Epoche nun möchte ich in der
Urzeit des aufſteigenden Nordmenſchen auf alle Fälle annehmen ,
ſei ſie nun zeitlich lokaliſiert wie ſie wolle und ſollte man damit
zurückgehen bis an die Grenze der immergrünen Tertiärwälder .
Damals müſſen beiſpielsweiſe die Kunſttriebe allgewaltig im
Menſchen erwacht ſein , ſie , die wir in den Tierbildern und
Schnitzereien der Eiszeit ſo ausgeprägt finden und die wie
ein unhemmbarer Strom auch durch alle Brutalität der ſpäteren
Wilden durchrauſchen . Warum nicht ebenſo auch die erſte
Menſchentwickelung auf ethiſchem Gebiet dort ſuchen ?
Es widerſpräche dieſen Anſchauungen nicht gerade , ſich
den Urmenſchen als zwerghaft kleine Raſſe zu denken , —
nötig aber iſt es nicht . Der Pithekanthropus von Java hat
ja ſchon volle Europäergröße von heute . Wichtiger ſcheint
mir , daß man den Menſchen in ſeinem aufſteigenden Stamme
ableitet von ſanften Formen des höchſten Säugeraſtes , wobei
gerade der Gibbon , dem jener Java-Affenmenſch ſo nah ver¬
wandt iſt , ſehr gut paßt . Der Gorilla aber iſt das denkbar
ſchlechteſte Anknüpfungs-Porträt . Im Auge wird man be¬
halten müſſen , daß gewiſſe Gorillazüge ſtets als Abſpaltungs- ,
als Entartungsmöglichkeit auch in dieſen Menſchen noch eingingen ,
die immer wieder , ſei es im Wilden als Stammtypus fixiert ,
ſei es innerhalb der Kultur als Individualanlage , als Charakter
ſpontan auftauchend , losplatzen konnten wie die Affennatur
im Orang des Hauffſchen Märchens . Aber gemacht haben
dieſe Gorillazüge niemals die Kultur , höchſtens immer einmal
wieder gehemmt . Wie ja eigentlich der Gorilla ſelber , der
heute noch brutaler Affe iſt , ſchon ein ſichtbarſtes lebendes
Verſteinerungszeugnis darſtellt .
Giebſt du dich dieſen Gedanken reſolut hin , ſo erſcheint
das ganze Bild jener Urtage auf einmal wieder heller . Du
denkſt an die unſagbar rieſige Arbeit , die damals gethan worden
iſt . Was ſind Pyramiden und Babeltürme gegen die Leiſtung
dieſer Urmenſchheits-Epoche , die die Sprache , das Werkzeug ,
die Kunſt , die erſten Linien von Recht und Moral geſchaffen
hat , all das , was wie auf ehernen Säulen ſchon als Urerbe
ragt , als der Vorhang der Geſchichte uns in Ägypten , Babylon
und China endlich aufgeht . Dieſes Urvolk iſt es geweſen , das
mit ſchwachen Menſchenkräften wirklich vollbracht hat , was
dieſe ſpätere Geſchichtszeit nur Göttern und Heroen zutraute .
Wenn je die Linie der Weltentwickelung dämoniſch groß erſcheint ,
ſo iſt es hier .
Vor dieſer Perſpektive erſcheint es auf einmal wie eine
Kleinigkeit , daß in dieſe Leiſtung auch das Naktwerden eingehen
ſoll als ein Akt der dämmernden Kultur ſelbſt . Aber die
war es nun doch nicht . Denn es war eine ſchlechtweg un¬
geheure Thatſache für das ebenfalls hier dämmernde Liebes¬
leben des Kulturmenſchen . Was aber das Liebesleben berührt ,
das rührt immer an die Fundamente , die „ Mütter “ im
Fauſtiſchen Sinne der Dinge .
Das Nacktwerden des Menſchen war anſcheinend eine
rein körperliche Sache . Als die letzte große Körperwandlung
des Menſchen habe ich es oben bezeichnet , — wobei ich dahin
geſtellt ſein laſſe , wie weit die körperliche Umbildung , die
mit der Ausgeſtaltung der Sprache zuſammenhing , vorauslief
oder parallel ging . Aber wir haben ſchon geſehen , daß ein
vergeiſtigtes Motiv der individuellen Liebeswahl — die Aus¬
leſe des Wohlgefälligeren — dabei mithalf . Und der nächſte
Schritt ſchon in der Rolle dieſer Körpernacktheit im Liebesleben
der Menſchheit führt mit endgültiger Wucht in dieſe geiſtigen
Mächte .
Der Menſch war ſchließlich nackt geworden , weil der
unbekleidete Menſch auch der erotiſche Menſch war .
Eines Tages bekleidet , verhüllt der Kulturmenſch ſeine
Nacktheit nicht mehr bloß aus Gründen der Kälte , ſondern
weil ihm der nackte Menſch der erotiſche iſt .
Am Meilenſtein dieſer Sätze beginnt das zweite Kapitel
im Liebesleben des Menſchen . Die Geſchichte nicht mehr der
Nacktheit ſelber , ſondern der geiſtigen Empfindung der Scham .
Sie hat am Menſchen körperlich nichts mehr verändert
im Umrißbilde . Aber ſie hat die ſtärkſte Rolle geſpielt in das
ganze Werkzeuggebiet der Kleidung hinein . Und ſie hat ſeeliſch
eine ſolche Gewalt an ſich geriſſen , daß das geſamte Liebes¬
leben des höheren Menſchen davon beherrſcht wird . Erſt vor
dieſer Scham trennt ſich das Liebesleben des Menſchen end¬
gültig und individuell von dem der übrigen Tiere .
Nackte Tiere giebt es auch unterhalb des Menſchen . Es
giebt ſelbſt Tiere , die ſich zu Verteidigungszwecken in einen
kleiderartigen künſtlichen Panzer hüllen . Die häßliche Larve
eines Inſekts , der ſogenannten Köcherfliege , baut ſich in unſern
Frühlingstümpeln ein wunderbares Röcklein aus Sand , Holz¬
ſtückchen , Blättern oder winzigen Schneckenhäuschen . Die Teile
werden mit feinſten Seidenfäden , die das Tier nach Spinnen¬
art aus Drüſen ſeines eigenen Leibes unerſchöpflich produziert ,
ineinander verſponnen zum echteſten „ Rock “ . Im Meer aber
birgt der Einſiedlerkrebs ſeinen weichen Hinterleib in einer
Schneckenſchale , die er huckepack ſich von hinten aufſtülpt wie
das berühmte Blechſtück , das der Schildbürger ſich in den
Hoſenboden als die gefährdetſte Stelle im Kampf einnähen ließ .
Das erotiſche Schamgefühl in ſeiner Verbindung mit Be¬
decken der Leibesnacktheit oder gar nur der engeren erotiſchen
Körperteile iſt dagegen das erſte ſpezifiſch menſchliche
Phänomen des geſamten Liebeslebens in der Natur .
D u bemerkſt : der Menſch , wenn wir ihn uns phyſiſch
im Angeſicht dieſer Stufe vorſtellen , hatte auch erotiſch bis
dahin vor dem Tier ſchlechterdings noch nichts voraus . Die
Methode ſeiner Liebes-Unſterblichkeit war die uralte : Löſung
von Geſchlechtszellen bei Mann und Weib aus dem großen
elterlichen Zellenverband , — und Vermiſchung zweier ſolcher
Zellen . Nach Art der höheren Wirbeltiere lag die Miſchſtätte
im geſchützten Innern des weiblichen Mutterkörpers . Dieſe
innerliche Miſchliebe aber wieder erforderte den äußeren Akt ,
wie wir ihn in ſeinem Werden vom Molch und Krokodil an
bis zum höheren Säugetier verfolgt haben . Im Allgemeinen
beſtimmend mußte dabei die aufgerichtete Stellung des menſch¬
lichen Körpers werden im Gegenſatz zum vierfüßig aufgeſetzten
Säugetier . Auch dieſen aufrechten Gang hat aber die Natur
ſchon viel früher erfunden als erſt beim Menſchen . Schon der
Vogel balanciert ſeinen Leib auf zwei Beinen . Allerdings
ſtehen bei der Mehrzahl dieſer Vögel Leib und Beinpaar noch
nicht menſchenhaft ſenkrecht aufeinander , ſondern eigentlich doch
noch mehr oder minder rechtwinkelig , — denke an ein Huhn ,
eine Taube . Bei gewiſſen Tauchvögeln findeſt du indeſſen die
Beine thatſächlich ſchon ſo weit nach hinten geſtellt , daß der
Leib gar nicht anders kann , als ſäulenhaft ſenkrecht darauf
laſten . So iſt's beim Haubenſteißfuß unſerer märkiſchen Schilf¬
waſſer , unſerm alten Freund vom Frühlingsſee . Entſprechend
vollzieht ſich bei ihm die Miſchliebe ſo , daß beide Hälften des
Liebesindividuums ſich im Waſſer hoch aufrichten und die ſchneeig
weiß befiederten Brüſte und Bäuche gegeneinander preſſen .
Das ebenfalls aufrecht geſtellte Beuteltier Känguruh umarmt
ſeinen Liebespartner dabei noch mit den Vorderbeinen und
ſtützt ſich gleichzeitig hinterwärts auf den mächtig entwickelten
Schwanz . Wo dieſe Stütze fehlt , iſt es klar , daß der Weg
mehr oder minder ausgeſprochen zur Rückenlage des weiblichen
Liebesindividuums leiten mußte .
Beim Orang Utan findeſt du eine hockende Stellung .
Abſolut ausgeſprochen im Sinne eines feſten Artmerkmals iſt
der Schritt vom Menſchen gar nicht vollzogen worden . Bei
den verſchiedenen wilden Völkerſtämmen von heute zeigen ſich
ganz verſchiedene Bräuche , die ſchließlich ſo ziemlich an alle
tieriſchen Methoden anklingen . Bei den Bewohnern Kamt¬
ſchatkas , die der alte Steller im achtzehnten Jahrhundert be¬
ſucht und ſo meiſterhaft geſchildert hat , den Itälmenen , iſt bei¬
ſpielsweiſe die Seitenlage religiös geſchützt . Die Fiſche , die
uns die Nahrung geben , ſagten ſie Steller , machen es ja auch
ſo . Auf den Aaru-Inſeln und in Queensland gilt der Brauch
des Orang . Leonardo da Vinci , der große Maler und Natur¬
forſcher , dem kein Ding im Kosmos zu gering oder ſchlecht
ſchien , ſich nicht mit der ganzen Hingabe des wahren Philo¬
ſophen ihm zu widmen , hat in ſorgfältigen anatomiſchen
Zeichnungen ſeiner Zeit ſchon wiſſenſchaftlich zu ergründen ver¬
ſucht , welche Stellung gleichſam mathematiſch die normale ſei .
Die unruhige , eklektiſche Phantaſie der Kultur iſt aber hier
wie überall aufs vage Experimentieren gegangen , ohne doch ,
wie geſagt , irgendwie über das Tier hinaus zu kommen .
Hatte die Miſchliebe aber ihre Schuldigkeit gethan , ſo
reifte das Menſchenweib ſein Kindlein aus ganz genau wie
das höhere Säugetier . Wie die Miſchliebe ſich immer tiefer
in den Mutterleib zurückgezogen , ſo hatte ja in der Entwickelung
der höchſten Wirbeltiere auch das „ Bebrüten “ des reifen Eies
ſich endlich ganz dorthin verlegt . Die grüne Zaun-Eidechſe
legt ihre Eier noch äußerlich an einen feuchten Ort ab und
überläßt ſie ihrem Schickſal . Die Python-Schlange , der Rieſe
Südaſiens , ringelt ſich ſchon über ihren fünfzehn Eiern wie
ein aufgeſteckter Mädchenzopf zuſammen und entwickelt zu dieſer
Zeit ganz ausnahmsweiſe bereits eine gewiſſe eigene Körper¬
wärme , die brüten hilft . Der Truthahn Talegallus im
auſtraliſchen Buſch häuft über ſeinen Eiern rieſige Hügel aus
Pilzen und Blätterwerk , die faulend auf chemiſchem Wege
Wärme erzeugen wie unſere Heuſchober und ſo als regelrechte
Brutmaſchine funktionieren . Verwandte Hühnervögel benutzen
auf Celebes den warmen Sand am Ufer heißer Quellen und
im Bismarck-Archipel gar die noch mollige Lava eines Vulkans
zum gleichen Zweck . Die große Maſſe aber dieſes Vogelvolks ,
dauernd warmblütig wie es ſchon iſt , ſetzt ſich einfach aufs
Neſt und bebrütet die Eier mit dem kleinen Brütofen des
eigenen Bauches .
Aber das Neſt ſteht am Fleck und läßt ſich nicht herum¬
tragen . Wenn es nun der Mutter zu wandern , den Ort zu
wechſeln , Nahrung zu ſuchen gilt ? Wohl ſchleppt der Kuckuck
ſein Ei , nachdem er es gelegt , im Rachen mit ſich fort , um
es einem fremden Vogel nach ſeiner bekannten Schwindelmanier
ins Neſt zu ſchmuggeln . Aber das iſt eben nur der Notweg
eines Einbrechers . Sinnreicher macht 's ſchon der Pinguin ,
der aufgeſchreckt ſein einziges Ei zwiſchen die Oberſchenkel
klemmt und ſo mit ihm davon humpelt . Ja der patagoniſche
Pinguin hätte das Problem nahezu noch als Vogel gelöſt :
er trägt ſein Ei gewohnheitsmäßig in einer Fettfalte am Bauch
wie in einem Säcklein mit . Doch die ganze , dauernd weiter
leitende Erfüllung ſollte nur dem Säugetier beſchieden ſein .
Das Land-Schnabeltier ſtopft ſein friſch abgelegtes Ei in eine
warme Hauttaſche des Unterleibes . Da kann das Junge
reifen , kann die Eiſchale behaglich ſprengen und gleich die
träufelnde Milch lecken . Die nächſte Staffel , das Känguruh ,
legt überhaupt keine Eier mehr . Immerhin ſind auch ſeine
Jungen noch embryonenhaft unvollkommen und winzig klein
— bohnenklein gegen die Menſchengröße des erwachſenen großen
Känguruhs — und der Beutel kommt zu Nutze , wenn auch
der eigentliche Brütofen jetzt bereits im Mutterleibe ſelber ſitzt .
Wie ausgiebig , einmal vorhanden , der Beutel als Kinderwiege
verwertet wird , davon ſpricht die luſtige Thatſache , daß das
Känguruh-Junge ſeinen Mutterbeutel immer noch als gelegent¬
liche Schutzſtätte aufſucht , auch wenn es ſelber ſchon geſchlechts¬
reif iſt . Weinland , der famoſe Tierkenner , beobachtete ein
hoffnungsvolles Känguruh-Töchterlein , das Ende September noch
im Beutel der Mutter ſchmarotzte , Ende Oktober noch regelrecht
ſich von der Alten ſäugen ließ und um dieſe letztere Zeit allen
Ernſtes bereits ſelber ein Kindlein im Beutel trug .
Noch eine Stufe — und auch der Beutel fällt fort : das
Junge , das beim Känguruh nur etwas über einen Monat
lang im wirklichen Mutterleibe ſteckte , reift länger da drinnen
aus und bedarf des Beutels nicht mehr . Die Maus bringt
es zwar noch fertig , auch ohne Beutelſtand ihren Embryo im
Eiltempo von einundzwanzig Tagen fertig zu ſtellen . Die
Katze braucht aber ſchon acht Wochen , und dem Elefanten glückt
es nicht mehr unter zwanzig Monaten . In dieſer Reihe ſteht
glatt und ohne Neuerung auch der Menſch : ohne Beutel , mit
einer Tragzeit von neun Monaten , an deren Schluß das Junge
geboren wird , in einer gewiſſen Reife , aber der Pflege noch
bedürftig und durch die Muttermilch im Normalfalle noch ge¬
raume Zeit mit der Mutter in unmittelbarem körperlichem
Kontakt . Die Milch des Menſchen , der bekanntlich die Eſels¬
milch ſtofflich am nächſten ſteht , iſt im Weſentlichen die des
höheren Säugetiers im Gegenſatz zu der des Schnabeltiers , die
keine Phosphorſäure enthält .
Mag das kleine Milchkind dann in ein feines Kultur¬
bettlein kommen oder in eine alte Bauernwiege , in einen Schild
wie des Hektor Söhnlein oder in einen Korb aus Weiden¬
ruten , den die mongoliſche Hirtin vor ſich aufs Roß nimmt ,
— neues über das Tier hinaus bietet auch das immer noch
nicht . Wie wunderbar iſt die Kinderwiege , die unſere Zwerg¬
maus ins Kornfeld hängt . Meterhoch oft über der Erde
flicht ſie einige zwanzig Rietgrashalme zuſammen und ſetzt ein
feinſtes Kugelkörbchen , einem Gänſeei an Form und Größe
gleich , hinein , aus vielfach zerbiſſenen , zu Fäden verdünnten
Rohrblättern gewoben und innen mit Rohrähren und Kätzchen
mollig gepolſtert . Der große ſchwarze Kolben-Waſſerkäfer aber
webt aus Spinnſtoff um den eigenen Hinterleib eine Art ſtumpf
geſchloſſener Badehoſe , beſchwert ſie mit ſeinen Eiern , ſchlüpft
dann ganz heraus und dreht die Offenſeite ſpindelförmig zu .
Die Spindelſpitze ragt über die Waſſerfläche vor und läßt
durch einen feinen Kanal friſche Luft zu den Eiern treten .
So wird das Moſesſchifflein vom Käfer entlaſſen , auch das
ein Wiegenkunſtwerk erſten Ranges .
Als Hüons Liebſte in Wielands „ Oberon “ in robinſon¬
hafter Einſamkeit Mutter werden ſoll , da muß Titania als
Schutzgeiſt helfend eintreten , — als Geburtshelferin . Unſer
Kulturgefühl ſteckt in der Erfindung des Dichters : daß ein
Menſchenweib rettungslos zu Grunde gehen müſſe , dem nicht
ein kundiger zweiter Menſch beim Geburtsakt zu Hülfe käme .
Die Hirſchkuh in ihrem Walde macht 's allein , die Katze auf
ihrer Heuſcheuer , die Zwergmaus in ihrem Neſt : der Menſch
braucht eine Hebamme . Und doch iſt auch dieſe Vorſtellung
nur eine durch und durch irrtümliche .
Unzählige ſchwangere Frauen wilder Stämme vollziehen
heute noch ohne beſondere Gefahr den Akt in völlig oberon¬
hafter Weltverlaſſenheit . Longfellow , der echte Indianerſagen
in ſein dem Oberon an Schönheit wohl vergleichbares Hiawatha-
Epos verarbeitet hat , hat mit Recht die Titania verſchmäht
und läßt ſeine Nokanis im Sternenſchein auf einem Lilienfelde
allein und „ freudig “ eine Tochter gebären . Denn die wirkliche
Dakotah- , Sioux- und Chippeway-Indianerin geht , wenn ihre
Wehen kommen , ſogar abſichtlich in den einſamen Wald und
braucht abſolut keine Hülfe . Gras und Heu , das ſie ſich
geſammelt , ſind ihr Linnen . Wenn alles vorüber iſt , ſchleppt
ſie ſich ans Waſſer , wäſcht ſich und ihr Kind reinlich ab und
— kehrt zu ihrer Arbeit , der harten Arbeit der Indianerfrau ,
zurück . Und ſo und nicht anders iſt es bei einer Menge von
Naturvölkern . Genau wie das Tier , das einen möglichſt
einſamen geſchützten Fleck ſucht , ſeine Jungen abzuthun , ſo das
urſprüngliche wilde Menſchenweib . Harmlos , wie eine winzige
Epiſode ihres Daſeins , die kaum der Rede wert , verläuft ihrem
geſunden Körper das , was in den weichen Linien der Kultur
zu einem Kampf auf Leben und Tod geworden iſt .
Bei den wilden Bergvölkern der Philippineninſel Luzon
nimmt die Mutter ſchon ein paar Stunden nach der Geburt
ihr Kind auf den Rücken und maſchiert in Tropenglut oder
Tropenregen ruhig weiter . Ein Weib von den Molukken kam
allein im Nachen nieder : ſie gebar und ruderte ſich dann
friedlich ihrem Ziele zu . Vereinzelt , wo es nötig wird , kommen
ſolche reſolute Selbſthülfen übrigens auch noch in ziemlich
hoher Kultur vor . Von der ſüdſlaviſchen Bäuerin wird er¬
zählt , daß es ihr paſſieren kann , mitten im menſchenleeren
Bergwald beim Holzſuchen Wehen zu bekommen . Dann kommt
ſie auch wohl ruhig nach kurzer Friſt auf ihren kräftigen
Bauernbeinen heim , das nackte Kindlein im Schurz ; und die
Laſt Holz , um die ſie ausging , darf nicht zurückbleiben : ſie
ſchleppt ſie treu auch noch auf dem Rücken an . Mir ſchwebt
aus modernem Großſtadtleben das Bild einer armen Waſch¬
frau vor , die in dieſer Hinſicht noch über die Heldin Chamiſſos
ging : ſie arbeitete noch am Tage ihrer Niederkunft wieder an
ihrem Waſchzober weiter , um die paar Groſchen Lohn nicht
zu verlieren .
Was unſerm Kulturdenken am wenigſten dabei in den
Sinn will , iſt das Abbinden des Kindes durch die eigene
Mutter . Bekanntlich wurzelt das Kind im nährenden Mutterleibe
durch eine Art wirklichen äußerlichen Wurzelorgans , den ſo¬
genannten Mutterkuchen ( Placenta ) . Ein langer Wurzelſchlauch ,
die Nabelſchnur , leitet vom Nabel des Kindes in dieſe Blut¬
wurzel kunſtvoll hinein , offen im Innern für den pulſenden
Lebensſaft . Nun kommt die Geburt : das Kindlein fliegt
plötzlich durch das weit geöffnete Geſchlechtsthor der Mutter
ins Freie hinaus . Der ganze anhängende Apparat , Schlauch
wie Wurzel , geht mit . Aber da draußen ohne Zuſammenhang
mit der Mutter ſind ſie fortan überflüſſig . Die Wurzel , dem
Nährboden entfremdet , ſtirbt und fault . Jetzt würde der offen
leitende Schlauch am Kindesnabel nicht Leben mit Leben
ſpeiſen , ſondern das Los ſchaffen eines ſiameſiſchen Zwillings¬
paares , von dem der eine Zwilling ſtirbt und alsbald den un¬
trennbar verwachſenen anderen tödlich vergiftet , daß er auch
ſterben muß . So müßte das Kind jetzt ſterben an der faulen¬
den Nachgeburt , wenn nicht eine eingreifende Hand reſolut
die Verbindung löſte . Das allbekannte Bild der Hebamme
taucht dir auf mit ihrer großen Klappſchere . Sie durchſchneidet
einfach die Nabelſchnur . Wie bei einem jäh durchſchnittenen
Stengel möchte es aber da geſchehen , daß nun der Lebensſaft
von der Kindesſeite her ſich todbringend ergöſſe , denn die
Hohlheit des Wurzelſchlauches mündete ja ohne Verſchluß
bisher in die Blutbahnen des Kindes ein . Darum wird von
der Hebamme gleich nach dem entſcheidenden Schnitt für einen
künſtlichen Verſchluß geſorgt .
Was uns nun nicht ein will , iſt , daß dieſe ganze ver¬
wickelte Prozedur von Abſchneiden und Zuſchließen die eben
entbundene Mutter ſelber ſollte vollziehen können . Hier vergiß
aber wieder einmal nicht , daß jene ganze ſeltſame Einwurzelung
des Kindes im Mutterleibe ſchon bei der ganzen Maſſe der
höheren Säugetiere oberhalb des Beuteltiers vorhanden iſt .
Die erſte Anlage dazu findet ſich noch bei einem Beutel¬
tier ſelber , dem ſeltſamen Beuteldachs Auſtraliens . Bei allen
Huftieren , Walen , Elefanten , Raubtieren , Nagern , Zahnarmen ,
Inſektenfreſſern , Fledermäuſen , Halbaffen und Affen iſt die
Sache dann perfekt . Bloß daß die Wurzel — eigentlich ja
ein Knäuel Blutgefäße — bei einem Teil dieſer Säuger ein
ſo inniges Geſpinſt von Mutteradern und Kindesadern ent¬
hält , daß bei der Geburt auch das betreffende Mutterſtück
mit abgeriſſen wird , — hierher gehört mit dem Affen auch
der Menſch . Während ein anderer Teil ſeine Kinderwurzel
etwas reinlicher noch herauszuziehen vermag , ohne daß Mutter¬
boden mitzugehen braucht . Auf alle Fälle hängt aber das
neugeborene höhere Säugetier , ob es nun Pferd oder Katze
oder Ratte iſt oder Menſch , immer noch durch die Nabelſchnur
an dieſer Nachgeburtswurzel und es fragt ſich auch bei ihm
zunächſt , wie es davon kommt . Da ſiehſt du nun bei dieſen
Tieren den einfachſten Prozeß . Bald reißt die Nabelſchnur
von ſelber durch die Schwere des im Geburtsakt abſtürzenden
Kindes oder wenigſtens , wenn die Mutter nach der Geburt
zum erſtenmal aufſteht . So geht's bei Kuh und Pferd . Oder
aber die Mutter hilft direkt nach : ſie beißt die leidige Wurzel¬
ſchnur mit ihren Zähnen einfach durch . So iſt's beſonders
bei den Raubtieren , die ja die nötige Zahnſchere immer im
Maule führen . Gerade die Raubtiermutter iſt meiſt ganz
beſonders aufs einſamverſteckte Gebären angewieſen , denn der
Gemahl frißt mit Liebhaberei ihr die Jungen , wie ſie auf¬
tauchen , als leckere Beute fort , wenn er ſie ſieht . Ein Sonder¬
brauch , der nicht gerade appetitlich , aber vom hygieiniſchen
Standpunkt aus nur zu billigen iſt , iſt vielfach dabei der ,
daß die Frau Mutter die eigene Nachgeburt einfach als erſtes
Wochenbettsſüpplein ſelber verſchluckt und die Nabelſchnur
gerade ſo weit abkaut , wie es not thut . Aber wie wird die
Blutung geſtillt ? Abreißen oder Abbeißen iſt doch noch kein
Abbinden ?
Nun , die ſimple Naturhülfe iſt folgende . Wenn ich eine
Schlagader glatt mit der Schere durchſchneide , ſo entſteht
7
allerdings eine gefährliche Verblutung aus der Schnittöffnung .
Wenn ich aber die gleiche Ader durch reiße oder durch quetſche ,
ſo pflegt ſie derartig in ſich einzuſchnurren , daß die Blutung
von ſelber zum Stillſtand kommt , ehe die Sache bös wird .
Solches Reißen gerade und kauende Zerquetſchen haben wir
aber in der Hebammenſorge , die das Muttertier ſeinem Jungen
angedeihen läßt . Und nun ſieh auf die Abnabelungsmethoden
der wilden Völker und du ſtößt auf Schritt und Tritt auch da
auf Ausnutzung dieſes gleichen Prinzips . Die Negritos auf
den Philippinen , deren Weiber beſonders oft allein gebären ,
zerreißen die Nabelſchnur mit einem Splitter Bambusrohr ,
einem Stein oder einer Auſternſchale . Die Indianerin
Braſiliens beißt , wenn ſie in ihrem Urwalde einſam nieder¬
kommt , wie eine Katze den Strang mit den Zähnen durch .
Im letzteren Fall haſt du noch ganz das alte angewachſene
Tierorgan : den Zahn , als Mittel . Im andern ſtehſt du ſchon
beim Werkzeug , doch noch unterhalb des Metalls . So wie
dieſe Negritos es machen , haben es zweifellos auch die Eis¬
zeit-Menſchen gemacht . Es war nichts neues in ihrer Methode
gegen das Tier als eben das Werkzeug ſelbſt , das Steinmeſſer ,
der Holzſplitter . Erſt die Anwendung des wirklichen Metall¬
meſſers und der Schere , alſo das Mittel einer ſchon vor¬
geſchrittenen Kultur , hat mit ſeiner ſtärkeren Blutungsurſache
dann auch die Notwendigkeit einer nachhelfenden Unterbindung
der Ader geſchaffen , deren hygieiniſcher Triumph die eingepaukte
Art der heutigen Hebamme bei uns iſt .
Und ſo magſt du immer vergebens durchgreifende Trennungen
ſuchen . Auch der alte zähe Glaube , daß die Menſtruation eine
eigentümliche Erwerbung des menſchlichen Liebeslebens ſei , iſt
heute völlig unhaltbar , ſeitdem die Brunſtperioden der Tiere
ſich als deutlichſte Parallelerſcheinung herausgeſtellt haben und
ſchließlich auch noch beim Schimpanſe-Weibchen die regelmäßige
Menſtruationsblutung ſelber nachgewieſen worden iſt .
Selbſt jene Liebeswahl mit ihren Schönheitsempfindungen ,
alles , was ich als Rhythmotropismus bezeichnet habe , konnte ich
dir zuerſt vom Paradiesvogel erzählen , um dann beim Menſchen
mich einfach darauf zu beziehen .
Aber nun ſollſt du ein Tier denken , Affe oder Maus oder
Vogel oder Käfer , das ſeine Blöße aus Schamgründen ver¬
hüllt — und du findeſt nichts mehr . Hier beginnt der Menſch !
Bei dem Problem der Entſtehung des Schamgefühls
ſtehſt du zunächſt freilich wieder vor einer Art philoſophiſcher
Prinzipienfrage .
Weil an dieſer Ecke wirklich der „ Menſch “ im Liebesleben
beginnt , giebt es einen Standpunkt , der den Urmenſchen be¬
wußt hier eingreifen läßt , um ſich zum erſtenmal im Ero¬
tiſchen als „ ſittlicher Menſch “ zu beweiſen .
Der Urmenſch , ſo hören wir , empfand eines Tages , daß
er auf allen anderen Gebieten ſich vom „ Tier “ losgelöſt hatte .
Bloß der Geſchlechtsakt blieb eine unvermeidlich tieriſche Sache .
So verhüllte er ihn wenigſtens nach Kräften . Er nannte ihn
unanſtändig , bedeckte alles , was an ihn erinnern konnte . Eine
That der erwachten „ Sittlichkeit “ war das , — das heißt des
vom Menſchen ſelber erkannten , ihm verliehenen höheren Welt¬
bodens , der das Tier überwand .
Das klingt nun ſehr hübſch . Ich ſtehe auch ſelber
durchaus auf dem Standpunkt , daß das Auftreten des Menſchen
auf Erden wirklich und wahrhaftig die Eroberung eines ſolchen
Bodens bedeutete . Nur die Wege denke ich mir doch etwas
anders . Ich meine , es bleibt die Wirkung und Leiſtung etwa
eines großen Goethe vollauf beſtehen , auch ohne daß wir
annehmen müſſen , es habe der alte Rat Johann Kaſpar der
Vater bei der Erzeugung geſagt : Jetzt werde ich den großen
7*
Goethe ſchaffen , der den Fauſt dichten ſoll . Das wäre etwas
viel verlangt . Der alte Fritz hat ja auch nicht nach dem
Wortlaut der Scherzlegende wirklich geſagt : Heute fängt der
ſiebenjährige Krieg an . Ich meine , man muß dem allgemeinen
Weltgeſchehen , das denn doch noch etwas mehr iſt als der
Wunſch und die ſittliche Erkenntnis eines Urmenſchen , ſein
Recht da breiter und umfaſſender laſſen . Dieſes Weltgeſchehen
regiert aber nach der Anſchauung , die wir ſo oft jetzt beſprochen
haben , thatſächlich durchaus im ſchlicht naturgeſetzlichen Rahmen ,
es fängt ſeine Fiſche mit den ſcheinbar nüchternſten Nützlich¬
keiten , — Hechte bleiben's darum doch , ob der Weg ſo oder
ſo geht , denn das Reſultat iſt immerdar das nämliche .
Solche ganz kleinen Züge , Nützlichkeiten , Anpaſſungen ,
Bevorzugungen im einfachſten Weltlauf , ſchlage ich vor , auch
hier zu ſuchen , ſtatt daß wir dem Urmenſchen zumuten , er
ſolle dies oder jenes gewählt haben , weil es im abſoluten
Sinne „ ſittlicher “ war und ihm auch ſchon ſo ſchien .
Ja was iſt „ ſittlicher “ in dieſem abſtrakten Sinne ? Eine
ältere , heute hoffentlich langſam veraltende Anſchauung hatte
es ja vor dieſem Komparativ gut . Ihr war ein entſcheidender
Fortſchritt der Sittlichkeit ſchlechthin , wenn der Menſch eines
Tages erkannte : alles Natürliche , Frühere , dem Tiere noch
Ähnliche iſt ſcheußlich , dämoniſch , teufliſch . Es muß verſteckt
werden als Erzgräuel . Alſo auch alles Erotiſche . Aber dieſer
leidige Standpunkt iſt im Kern ja ſelber grundfalſch ! Im
Kampf um die raſche Höherentwickelung mag er zeitweiſe eine
gewiſſe pädagogiſche Rolle gehabt haben . Aber vor einem
wirklich großen , die Natur mit einbegreifenden Standpunkt
des Denkens und Wertens iſt er der helle Unſinn . Gerade
vom Boden einer ganz hohen , dem „ abſoluten “ ſich nähernden
Sittlichkeit ſind die Liebesdinge des Menſchen in ihrem natürlichen
Verlauf eben gar nicht mehr unſittlich . Dieſe unſere ganzen
Betrachtungen hier wären unmöglich , wenn das nicht wäre ,
denn ich will doch nicht der Unſittlichkeit Vorſchub leiſten .
Du könnteſt alſo von dort her in ein merkwürdiges
Dilemma kommen . Der Urmenſch hätte ſich als Anzeichen
und kraft ſeiner erwachten Sittlichkeit eines Natururſprungs
geſchämt , der keineswegs abſolut unſittlich , ſondern vielmehr eine
ebenſo tiefe und reine Offenbarung des Gott-Natur-Geiſtes iſt
wie Sonnenſchein und Sternengang . Der Urmenſch ( der doch
ſchließlich wir ſelbſt im Nebel der Dinge ſind ) fährt wirklich
beſſer , wenn wir ihn aus dieſer Verwickelung losſprechen und
ganz ſchlicht fragen : was kann ihn für eine einfachſte Nützlich¬
keit getrieben haben , ſeine Blöße zu bedecken , auch wo Wärme
und Kälte nicht in Betracht kamen ? Du lege dafür die ganze
Kraft deiner Weltbetrachtung und deiner Achtung vor hohem
Weltengange in dieſes kleine Wörtchen „ Nützlichkeit “ ſelber .
Das iſt als Brücke des Weltfortſchritts wirklich ein Weltwort
erſten Ranges und hat im tiefſten Sinn mehr „ abſolute Sitt¬
lichkeit “ als irgend ein anderes .
D u willſt ein Bad nehmen , im Freien , vor anderen .
Du ziehſt dich nackt aus — bis auf eine Badehoſe . Was be¬
deutet das ?
Es bedeutet nichts geringeres als das Urphänomen der
ganzen Schamfrage .
Die Badehoſe läßt deine geſamte Körpernacktheit frei ,
verhüllt aber deinen Geſchlechtsapparat . Dieſe Badehoſe zieht
eine haarſcharfe Scheidewand noch einmal innerhalb deiner
Nacktheit . Sie trennt den einfach nackten , aus praktiſchen
Gründen hier des Waſſerbades nackten Menſchen vom erotiſch
nackten Menſchen . Zum erotiſchen Zweck könnteſt du eher die
ganze übrige Nacktheit entbehren als die an dieſer Stelle . Um¬
gekehrt die Verhüllung dieſer Stelle durch die Badehoſe predigt
jedem Beſchauer ſofort : es handelt ſich hier und ſoll ſich nicht
handeln um Nacktheit im erotiſchen Sinne , ſondern um einfache
Nützlichkeitsnacktheit des einzelnen Individuums beim praktiſchen
Badezweck .
Erinnere dich . Wir unterſchieden den Menſchen im Jäger¬
pelz und den Menſchen daheim . Erſterer der bekleidete , letzterer
der unbekleidete . Der unbekleidete fiel wenigſtens zeitweiſe zu¬
ſammen mit dem erotiſchen . Das hat ihn in der erzählten
Weiſe wahrſcheinlich erſt nackt im Sinne auch noch von haar¬
los gemacht . Jetzt , in dem Badehoſen-Beiſpiel , haſt du eine
verfeinerte Stufe nochmals der Unterſcheidung , — eine Nüancie¬
rung vor „ Nackt “ und „ Erotiſch . “
Es wird zweierlei Nacktheit unterſchieden .
Nacktheit aus einfacher Nützlichkeit , — in jenem Höhlen¬
menſchen-Falle fällt ſie mit dem Begriff „ daheim “ , zu Hauſe ,
in der warmen Höhle , wo 's kein Fell braucht , zuſammen . Und
Nacktheit noch wieder innerhalb dieſes Allgemeinbegriffs zum
ganz direkt erotiſchen Zweck . Was liegt näher , als daß dieſe
Nüancierung durch etwas ganz beſtimmtes äußerlich angedeutet
wird ? Und wo liegt ſchließlich der Brennpunkt des Unter¬
ſchiedes ? In den Geſchlechtsteilen . An ihnen müßte alſo
gleichſam das Zeichen angeſchrieben ſtehen . Wie könnte es
aber wieder beſſer gedacht werden , als in einem kleinen Deck¬
verſchluß — einem Tüchlein , Müſchelchen , Blättlein , Fädchen
ſchließlich nur , das aber vielſagend doch anmeldete : es iſt
nicht dieſe Nacktheit , was ich jetzt zeigen will , ich denke im
Augenblick nicht hierher , alſo denk du auch nicht dahin . Es
iſt warm hier , darum habe ich meine Kleider ausgezogen .
Oder ich will baden , darum bin ich nackt . Nicht erotiſch .
Die Schamverhüllung am ſonſt nackten Körper , das Feigen¬
blatt , iſt mit einem Wort ein Signal .
Sie mußte ſich aus praktiſchſtem Verſtändigungsgrunde
eines Tages einſtellen , nachdem nackt und erotiſch in ſo enge
Verhedderung miteinander geraten waren . Da „ nackt “ noch
für andere Zwecke gebraucht wurde , durfte es nicht dauernd
ſchlechthin zuſammenfallen mit „ erotiſch bereit . “ Die Nüancie¬
rung innerhalb des Begriffs mußte irgendwie einſetzen . Und
ſie ſetzte folgerichtig beim Menſchen auf ſeiner Werkzeugſtufe
ein nicht mehr durch eine Organumwandlung , ſondern durch
das Allerbequemſte , das Werkzeug ſelbſt : in irgend einer Ge¬
ſtalt wurde das „ Feigenblatt “ als beliebig aufſetzbares und
zum Zweck auch wieder abnehmbares „ Inſtrument “ , als
Signallaterne ſo zu ſagen , erfunden .
Mit dieſem ſchlichten Grundgedanken , behaupte ich , kommſt
du durch das ganze Problem .
Ich reihe dir eine Anzahl Beiſpiele , die alle darauf
paſſen , aneinander . Es ſind in Summa die ſeltſamſten des
geſamten Schamproblems .
Zuerſt ſelbſt hier noch eine kleine Analogie aus dem
Tierreich . Bei den Tieren iſt durchweg der Wechſel von
erotiſch aufgelegten und erotiſch indifferenten Zeiten ſcharf an¬
gedeutet durch Körpermerkmale . In der Brunſtzeit bilden ſich
jene lebhafteren Farben und Formen , die man geradezu als
„ Hochzeitskleider “ bezeichnet . In der Nichtbrunſt dagegen iſt
es , als ſolle eine allgemeine Ruppigkeit das äußere Signal
geben : jetzt nicht ! Nur in der Brunſt glüht die Goldgrundel
im Waſſer wie mit blauen Edelſteinen geſchmückt . Dem Kamm¬
molch ſchwillt der gezackte Kamm nur in der Liebe , um nach¬
her jämmerlich einzuſchrumpfen . Das Blaukehlchen iſt außer
der Brunſtzeit nur mehr wie ein blaſſer Nebenregenbogen
ſeiner verliebten blau-rot-ſchwarzen Farbenherrlichkeit . Der
Haubenſteißfuß giebt im nicht-erotiſchen Hausrock die geſträubte
Tolle her , der Affe die unheimliche Röte ſeiner verliebten
Rückſeite . Auch hier kann man ganz gut ſchon von Signalen
ſprechen . Und wenn das Weibchen , das noch nicht in der
Brunſt iſt , das Männchen noch ſcheu abwehrt , ſo läßt ſich das
in jenem Sinne immerhin für eine dunkle Vorſtufe deſſen
nehmen , was wir „ Scham “ nennen : es iſt das Benehmen
des Weſens , deſſen Signal nicht beachtet und verletzt wird .
Ich habe dir ja auch ſchon vom erotiſchen Duft und ſeiner
Rolle geſprochen . Es lag aber wahrlich nur zu nahe , daß
der Menſch mit ſeiner Werkzeugtechnik , nachdem er einmal die
künſtliche Bekleidung überhaupt entdeckt hatte , auch das Signal
aus dieſer neuen Kunſt entnahm : alſo ein Deckſignal wählte
als negatives Zeichen . Immerhin war gar nicht nötig , zu¬
nächſt eine wirkliche ganze „ Verdeckung “ zu nehmen . Das iſt
ſchon eine raffiniertere Idee . Das erſte war , wie mir ſcheint ,
wirklich bloß die möglichſte Deutlichkeit des „ Signals “ an ſich ,
— des Feigenblatts als Buchſtabe , als Stichwort . Die Ge¬
ſchlechtsgegend konnte dabei ſichtbar bleiben , — wenn ſie nur
irgend ein Merkmal zugleich wies , das gleichſam eine Tarn¬
kappe über ihre erotiſche Beſtimmung zog .
Die Sache mußte beim Menſchen beſonders wichtig werden ,
da er aller Wahrſcheinlichkeit nach von früh an keine ſo feſte
natürliche Einſchränkung des Geſchlechtsverkehrs durch beſtimmte
Liebes- und Nichtliebesperioden beſeſſen hat , wie ſie bei andern
Tieren als Wechſel von Brunſt und Nichtbrunſt , erotiſcher
Jagd- und Schonzeit , ſich geltend zu machen pflegen .
Gewiſſe Punkte ſind ja auch bei ihm da klar . Ein Reife¬
alter iſt nötig , damit überhaupt der nackte Körper als erotiſcher
in Betracht komme , — das markiert ja die Natur ſelber deut¬
lich genug im allmählichen Wölben der Mädchenbruſt , in jenem
ſpäten Nachwachſen der Schamhaare , und vor allem in der
erſt erwachenden Zeugungsfähigkeit ſelbſt . Schon im Punkte
des Termins , da das alles eintritt , variiert aber das Menſchen¬
volk mindeſtens heute außerordentlich ſtark . Alte Reſte einer
ganz regelrechten Brunſtperiode ſtecken ferner zweifellos , wie
ſchon erwähnt , in der Menſtruation . Im allgemeinen ſind
nach der Menſtruation die erotiſchen Gefühle am lebhafteſten .
Und bis in die älteſte indiſche und griechiſch-römiſche Litteratur
geht der feſte Glaube , daß ein tiefer Zuſammenhang beſtehe
zwiſchen Menſtruation und Befruchtung , — ein Glaube , der
im neunzehnten Jahrhundert ſich endlich zu einer feſten phyſio¬
logiſchen Schulmeinung verdichtet hat . Hier wurde auf Grund
unſerer endlich einſetzenden Kenntnis vom weiblichen Ei betont ,
daß nur in der Menſtruationszeit überhaupt ein ſolches Ei vom
Eierſtock zur Gebärmutter wandere , alſo in oder unmittelbar
nach der Zeit auch nur eine Befruchtung ſtattfinden könne ,
da dann allein beide Parteien , außer dem Mannesſamen auch
das Weibesei , am richtigen Fleck zur Begegnung beiſammen
wären . Das iſt dann von einer andern modernen Forſcher¬
ſchule wieder lebhaft bezweifelt worden , und das Ganze läßt
ſich wirklich in irgend einer abſoluten Form heute noch weder
pro noch contra benutzen . Wahr aber bleibt die ſinnfällige
äußere Ähnlichkeit des Menſtruationsvorgangs ſelber mit den
Vorausſetzungen einer tieriſchen Brunſtperiode , — einerlei , wie
es nun für den Menſchen mit der bindenden Kraft der Em¬
pfängnis dabei ſtehe . Ebenſo ſinnfällig aber wird ſogleich ,
wie verſchwenderiſch häufig dieſe Periode dann beim Menſchen
auftritt . Sie iſt nicht an beſtimmte Jahreszeiten , etwa an den
Frühling gebunden . Ich laſſe dahingeſtellt , ob das ganz ſchon
echtes Affenerbe war , die Menſtruation des Schimpanſe kann
dafür ſprechen , oder ob die wachſende Unabhängigkeit des Werk¬
zeugmenſchen von der Jahreszeit ( vor allem im Norden die
Überwindung des Winters durch Kleid , Hütte , Feuer ) noch
dabei nachgeholfen hat . Jedenfalls ſiehſt du in einen ſchon
ſehr frühen embarras de richesse dieſer Dinge bei uns . In
unſerer verfeinerten Kulturwelt hat man heute faſt nur noch
den Eindruck , daß es ſich ſelbſt bei dieſen zwölf Blutungs¬
ſtationen des Jahres nicht mehr um die Vorausſetzung von
entſprechenden zwölf Liebesſtationen handle , — ſondern die
Bluttage erſcheinen viel eher als eine zwölfmalige kleine Schon¬
zeit innerhalb eines ſonſt kontinuierlichen erotiſchen Jahres .
Und dazu halte noch die nahezu vollzogene Unabhängigkeit des
Mannes von jeder auf- und abſteigenden Liebeskurve im Jahr .
Ich ſage nahezu , viele werden ſagen abſolut . Ich perſönlich
glaube an kleine Schatten brunſtartiger Schwankungen , Zu¬
nahmen und Abnahmen auch in der jährlichen Zeugungsluſt
und Zeugungskraft des Mannes , aber ſie ſind zweifellos gering
und auch noch zu wenig erforſcht , um eine ernſthafte Rolle
in der Rechnung zu ſpielen ; und ſicher bleibt auch bei ihnen
die Häufigkeit bezeichnend , die auch hier nicht mehr die Brunſt
als Intermezzo in einem ſonſt unerotiſchen Jahr , ſondern die
kleinen Momente des Sinkens im Erotiſchen als Intermezzi
eines allgemeinen Brunſtjahres erſcheinen laſſen .
Daß natürlich äußere Umſtände in dieſe faſt permanente
phyſiſche Liebesbereitſchaft des Menſchen zu jeder Zeit ein¬
gegriffen haben und noch eingreifen , bleibt dabei in Ehren .
Wenn nach einer Statiſtik von großen Teilen der deutſchen
Bevölkerung heute im Hochſommer und Herbſt weniger Kinder
erzeugt werden als im Winter und Frühling , ſo mag gut und
gern die ſchwerere Arbeitsbelaſtung im Bauernſtand gerade für
jene Zeit eine künſtliche Regulierung mit einer Art Schonzeit
geſchaffen haben . Aber hier ſind offenbar von Urtagen an
keine Faktoren geweſen , die ſich phyſiſch bis zur allgemeinen
Einſchränkung in die Menſchennatur hinein Geltung verſchafft
hätten . In meiner lieben Vaterſtadt Köln giebt es ein ähn¬
liches ſtatiſtiſches Maximum der „ Karnevals-Kinder . “ Sie
ſind das Ergebnis einer jährlich einmal wiederkehrenden Pe¬
riode , da der größere Teil der Bevölkerung ſich hergebracht in
einen Rauſch gehobener Lebensfreude verſetzt und , nicht zu ver¬
geſſen , ſich in ziemlichem Maße zum Zweck dabei unter Alkohol
ſetzt . Solche Karnevalsfeſte ſind aber nicht etwa eine Er¬
findung raffinierter Kultur , ſondern ſie ſind im Gegenteil Reſte
aus dem Leben des Naturmenſchen , die mitten in unſer kon¬
ventionelles Zwangleben der Hochkultur hinein ſich noch erhalten
haben . Zweifellos haben ſchon beim Urmenſchen gelegentliche ,
periodiſche Rauſchfeſte , Orgien , Maſſenſpiele auch eine ſtarke
Rolle als gewiſſermaßen ſozial geheiligte Brunſtzeiten künſtlicher
Art geſpielt . Aber auch das hat an den phyſiſchen Ver¬
anlagungen offenbar nichts dauernd geändert . Und ſo mußte
ein geiſtiger Akt eintreten , der für gewöhnlich , im Tagesbrauch ,
„ nackt “ und „ erotiſch “ durch ein „ Signal , “ ein von reflek¬
tierenden Geiſtesweſen auf Geiſtesweſen bewußt berechnetes
Symbol , zunächſt einmal trennte .
Ich führe mit völliger Ruhe dabei den „ reflektierenden
Geiſt “ hier ein . Denn das , was ich darunter verſtehe , iſt
meines Erachtens genügend gegeben vom Moment an , da der
Menſch Werkzeuge herſtellte . Das Werkzeug iſt im Gegenſatz
zum Körperorgan ein Erzeugnis des reflektierenden Geiſtes .
Es iſt ein Naturprodukt zweiten , höheren Grades . Vom
Moment an , da wir es in der Hand des Menſchen annehmen ,
beſteht meines Erachtens auch die volle Freiheit , ein Symbol
des Liebeslebens , das wir uns beim Tier nur eben auch als
angewachſenes Körperorgan denken könnten , bei dieſem Menſchen
als ebenſolches Werk des „ reflektierenden Geiſtes “ zu ſetzen .
Doch wie ſollen wir uns ein ſolches urſprüngliches Symbol¬
zeichen vorſtellen , das alſo noch viel einfacher wäre als unſere
Kulturbadehoſe ?
Wir haben vom Eskimo geredet . Er ſpiegelt heute noch
prächtig jenen alten Gegenſatz des Urmenſchen : draußen in der
Kälte dick bepelzt , daheim in der warmen Hütte nackt . Ich
will dabei warnen , daß du den heutigen Eskimo nicht ohne
weiteres identifizierſt mit dem Urmenſchen . Ich ſehe in ihm
nichts anderes , als das am weiteſten nordwärts verſchlagene
Seitenzweiglein vom Hauptſtamm , wie er ſich nach der Eiszeit
in der gemäßigten Zone als „ Kultur “ feſtſetzte . In Folge
dieſer Polarprojektion hat der Eskimo gewiſſe Eiszeitzüge
allerdings ſchärfer bewahrt als etwa die tropiſchen Nacktwilden .
Aber herausgefallen aus der Kulturlinie iſt er ganz genau wie
dieſe , und wir wiſſen nicht , wie weit er , dauernd in zu rigoroſe
Klimaverhältniſſe gebannt , in der Zwiſchenzeit noch abwärts
gegangen ſein mag .
Nun denn : der Eskimomann , wenn er in Geſellſchaft
anderer daheim die ganzen Kleider abwirft , zieht keine Bade¬
hoſe an , wohl aber ſchnürt er ſich die Vorhaut mit einem
Faden zuſammen .
Sinnreicher zugleich und einfacher kann das Symbol nicht
gut gegeben werden . „ Das jetzt nicht ! “ predigt es in der
ſchlichteſten und doch verſtändlichſten Form . Alles hat ſeine
Zeit , heißt es im Prediger Salomonis . Und jetzt iſt nicht die
Zeit für das , woran ihr denken könntet , wenn ihr dieſen Um¬
riß Natur ſeht . Die Thür iſt verſchloſſen , nicht grob mit
einem Diebsſchloß , ſondern bloß ſo wie wenn einer eine Fahne
auf Halbmaſt zieht zum ſtillen Zeichen : Ich bin nicht zu
Hauſe .
Willſt du dieſem Eskimo ſeine Schnur abnehmen , wo¬
möglich in Gegenwart von Frauen abnehmen , ſo ſchämt er
ſich . Was iſt das ? Du haſt ihn plötzlich erotiſch nackt gemacht ,
obwohl alle Umſtände dem richtigen erotiſchen Zweck ſonſt
widerſprechen ! Du haſt etwas Unlogiſches , einen klaffenden
Widerſpruch geſchaffen . Die Unlogik wieder ſchafft bei ihm
Unbehagen , Reaktion , — Entrüſtung . Eine Zornesäußerung
iſt — die Scham . Zorn über eine unlogiſche Handlung .
Gewiß , dein Eskimo wird dir das nicht ſo profeſſoral
entwickeln können . Er hat kein Kolleg über Logik gehört . Das
Wort ſelber iſt ſchwerlich in ſeinem Wortſchatz . Sicherlich
aber hat er einen anderen Begriff : den Begriff Sitte , Brauch ,
hergebrachte Schicklichkeit . Ich weiß von keinem Volk der
Erde , ob nackt , ob behemdet , das dieſen ſchlichten Begriff nicht
hätte . Der Inhalt iſt unendlich verſchieden ; der Begriff aber
bleibt . Dein Eskimo wird dir ſagen , daß es ſich „ nicht ſchickt “ ,
den Vorhautsverſchluß jetzt abzulegen . Das iſt in Wahrheit
aber nichts als die hergebrachte Überlieferungs form der ur¬
ſprünglichen Empfindung von Handlungs-Unlogik . Der Menſch
iſt ein ſoziales Weſen , mit Zuſammenhang der Geſchlechter¬
folgen , mit Traditionen , mit Weitergeben alter Erfahrungen
als einfache Lehrregeln , die den Jungen immer wieder von
den Alten beigebracht werden . So und ſo lange iſt 's am
eigenen Leibe ſozuſagen erlebt worden : Du ſollſt nicht töten .
Dann endlich wird 's ein Wort , eine Sittenlehre , die als ſolche
überliefert wird . So iſt jene Unlogik der unzeitigen erotiſchen
Entblößung ebenfalls lange den Ahnen eingepaukt worden als
reale Fauſtthatſache des hauenden Lebens . Nachher iſt's als
„ unſchicklich “ dann ſchon „ überliefert “ worden . Das Bezeichnende
aber iſt , daß , wenn dieſe Überlieferung der Sitte einmal aus¬
ſetzte , unzweifelhaft die Sache ſelber ſich wiederum durchſetzen
würde , ſo gut wie jenes „ Du ſollſt nicht töten . “ Das Un¬
praktiſche mit ſeinen Folgen kröche eben nach und nach wieder
ſo unheimlich heran , daß alles ſich abermals regulieren müßte .
Und in dieſem Sinne kannſt du ruhig ſagen : auch der Eskimo
von heute erkennt , wenn auch mit dem Denkwörtlein „ Sitte “ ,
die tiefinnerliche Unlogik jenes Aktes an .
Das unmittelbare Gefühl für Unlogik des Geſchehens
ſteckt übrigens in uns allen auch in direkteſter Form noch viel
energiſcher , als man wohl denkt , wenn man ein ſo philoſophiſches
Kulturwort wie „ Unlogik “ oder „ Logik “ hört . Du kannſt es
erſtaunlich ſcharf beobachten bei Kindern . Ja du ſtößſt auf
Schritt und Tritt darauf beim Hunde . Kind wie Hund haben
auf Grund gewiſſer Erfahrungen Vertrauen zum Verlauf einer
Handlung gefaßt . Sie haben gemerkt : wenn die und die Um¬
ſtände eintreten , kommen die und die weiteren Folgen , etwa
im Einzelfall angenehme Folgen . Nun ändere plötzlich dieſe
Folgen , handle einmal total anders als ſonſt , prügle den Hund ,
wo er eine Liebkoſung erwartet — und du weckſt einen doppelten
Zorn , — nicht nur den über die Prügel ſelbſt , ſondern vor
allem auch über das Inkonſequente , das Unlogiſche deiner
Handlung .
Weil die Scham ihrem tiefſten Kern nach einer Entrüſtung
entſpringt , ein Zornakt iſt , hat ſich ihr auch ein ſonſt ſo un¬
begreifliches Zeichen bei uns zugeſellt : nämlich das Erröten .
Wer zornig wird , dem ſchwillt der Kamm vor Blutzufuhr :
das kannſt du ſchon am Truthahn ſtudieren . Wäre die Scham
bloß ein einfaches Erſchrecken , ſo würde das Geſicht blaß werden
ſtatt rot . Scham iſt ein viel aktiverer ſeeliſcher Vorgang als
Angſt , — es iſt ein Angriff ſchon darin , ein Urteil , eine
Kritik , und ſo hat ſie mit Recht in der Blutſprache des menſchlichen
Antlitzes das Vorzeichen Plus , das iſt „ Rot “ , erhalten . Keines¬
wegs aber wieder iſt Rot etwa die echte aktive Farbe des
Erotiſchen ſelbſt . Wo die reife Liebe freiwillig gewährt , wo ,
um mit Salomo zu ſprechen , das Erotiſche wirklich „ ſeine Zeit
hat “ da iſt wohl das Antlitz zu höchſter Lebenskraft geſpannt ,
die Augen blitzen oder ſinken in der Tiefe des Gefühls auch
in jenes wunderbare blaue Verſchwimmen wie die Sonne in
weiche feuchte Nebel ein , — aber nichts mahnt an die düſtere
Pupurflamme , die allemal da auflodert , wo die Scham proteſtiert .
Der Eskimo iſt draußen bekleidet , daheim nackt . Nun
wandere mit dem Blick vom Pol herab den Globus entlang in
die heißen Länder , — dorthin , wo die abgeſtrömten Menſchen
erſt ganz nackt , nackt in allen Lebenslagen geworden ſind . Wie
wichtig mußte hier erſt jene Zeichenſprache werden , die den
Konflikt vermied ! Und wie einfach ſtimmen die allbekannten
Thatſachen dazu , — dieſe ewig neu beſtaunten Thatſachen .
Wie haben ſich die Deuter die Zähne daran zerbiſſen .
Der Wilde konnte keine Scham haben , weil er nackt war .
Aber dann hatte er ſie plötzlich doch , — vor unberechenbar
winzigſten Bagatellen . Auf den Admiralitätsinſeln gehen die
Männer völlig nackt mit Ausnahme einer Gürtelſchnur , an
der eine kleine Muſchel ſo befeſtigt iſt , daß ſie die Vorhaut
deckt . Ein Reiſender kauft einem Manne eine ſolche Muſchel
ab und der Verkäufer wendet ſich beiſeite , als er ſie los¬
machen ſoll : — er müßte ſich ſchämen , ſollte er ſich einen
Moment ohne ſein Signal ſehen laſſen . Was ſoll das ? fragt
ſich der Europäer . Dieſe Sorte „ Scham “ erſcheint wie ein
ſchlechter Witz . Und doch ſind bei ihr ſämtliche Urbedingungen
deſſen , was wir ſelber Scham nennen , wie im feinſten , ver¬
klärteſten Extrakt gegeben .
Das Symbol braucht gar nicht einmal ſo realiſtiſch als
Verſchluß aufzutreten . Die Phantaſie iſt mit noch viel weniger
zufrieden . Ein Strick , ein Riemen nur in der Nähe thut 's
ſchon , eine grüne Ranke , die den ſtreitigen Punkt gar nicht
berührt . Der Neu-Kaledonier hat bloß eine Schnur um den
Leib , die Obbo-Negerin am Albert-Nyanza nimmt ein Laub¬
büſchel . Wo die Negerfrau bei der Feldarbeit gebückt ſteht ,
befeſtigt ſie ihr Symbol am Hinterteil und auch das wird
ſtreng gehalten ; wer es ihr nimmt , gegen den lehnt ſich ihre
Scham mit aller Energie auf . Vogel hat von einem armen
Weibe erzählt , das auf dieſe Moral eingeſchult war und in
der Gefangenſchaft ſeine Hinterhülle verloren hatte wie der Ein¬
ſiedlerkrebs ſeine Muſchel ; es ſaß nackt am Boden und weigerte ſich
aufzuſtehen , bis man ihm ein grünes Reiß reichte , — mit dem
deckte es dann ſeine abſeitige Blöße und fühlte ſich in ſeiner
Ehre gerettet . Auf Samoa iſt es der Nabel , der vielfach das
erotiſche Symbol trägt , — wer ihn entblößt , wo es nicht ſein
ſoll , der verfällt der Moralkritik , während die echten Geſchlechts¬
teile unbeachtet bleiben , — ſie bleiben es eben vom Standpunkt
der Erotik aus , ſolange das Symbol , einerlei von wo , ſeine
geiſtige Tarnkappe über ſie zieht .
Immer aber , ſei das Symbol auch winzig wie die
Stempelmarke auf einem rieſigen Aktenblatt , iſt die Achtung ,
die Wirkung die ganze . Erſt wo gar nichts iſt oder vermutet
wird , erſcheint in den Vorſtellungen der Begriff von Nacktheit
im Sinne einer Roheit , einer Unanſtändigkeit . Der Fidſchi-
Inſulaner , der nackt iſt bis auf einen winzigen Hüftſchurz ,
ſagt zum Miſſionär vom Neu-Kaledonier , von dem er meint ,
er gehe völlig ohne Schamſymbol : „ Die haben noch nicht
einmal einen Schurz drauf und wollen Götter haben ! “ In
Momenten höchſter Weihe aber geſchieht es , daß abſichtlich das
Symbol fortgelaſſen wird , eben um zu dokumentieren , daß
jetzt jede leiſeſte Möglichkeit einer Mißdeutung ausgeſchloſſen
ſei : die Königin der Balonda-Neger empfängt Livingſtone in
abſoluter Paradieſesnacktheit . Das iſt , wie wenn ein Gott
nackt dargeſtellt wird . Die Dinge liegen ſo hoch , daß die
erotiſche Sphäre überhaupt verſunken iſt . So ſpringt der
irrende Ritter nackt aus dem Bade , um der bedrängten Un¬
ſchuld zu helfen . In jenem Falle war das nackte Hofzeremo¬
niell zugleich das denkbar höchſte Vertrauensvotum für den
Beſucher .
Am vielſeitig lehrreichſten liegen die ganzen Dinge wieder
bei jenen nackten Indianern Zentral-Braſiliens . Wie in ein
Muſterbeiſpiel erſcheint da alles zuſammengedrängt .
Der Bakaïrí-Mann ( ich gebrauche das Wort hier meiſt
als Kollektivbezeichnung , obwohl es ſtrenggenommen nur einen
dieſer Indianerſtämme nennt ) iſt abſolut nackt im Sinne von
Kleidung . Statt deren bemalt er ſich auf der nackten Haut .
Sein Kopfhaar dreht er zu Locken und unterbricht er nach
uraltem Brauch durch prieſterhafte Tonſuren . Gegen die
Reſte des übrigen Körperhaars führt er heftigen Krieg , vor
allem die Schamhaare . Um den Unterleib aber trägt er eine
Schnur , einen Baumwollfaden . Ausnahmslos jeder Mann
trägt ihn . An der Schnur hängen meiſt allerlei Nippes , durch¬
bohrte Samenkerne , Fragmente von Schneckenhäuſern und der¬
gleichen . Aber ein echter Traggürtel iſt 's nicht , denn wenn
der Indianer ſein Handwerkszeug , Muſcheln oder ſcharfe Fiſch¬
gebiſſe oder ein geſchenktes Meſſer , tragen ſoll , ſo hat er zwar
keine Taſche dafür am nackten Leibe , aber er hängt's an
beſonderem Strick um die Schulter .
So könnte es dir zuerſt faſt ſcheinen , als ſei auch das
Bauchſchnürlein bloß ein kleiner Vorrat an Bindfaden für den
Notfall . Weit gefehlt : es iſt das männliche Symbol . Es
verdeckt allerdings abſolut nichts . Vergebens ſuchſt du das
etwa davon herabhängende Feigenblatt . Immerhin aber ſtellt
ſich dir doch beim längeren Beſehen die deutlichſte Ähnlichkeit
mit jener Verſchlußſchnur der Eskimos auch hier dar . Der
junge Mann , der in die Liebesjahre tritt , wird angehalten ,
8
ſein Liebesglied aufwärts zu ſchlagen und mit der Vorhaut
feſt unter die Schnur zu klemmen . Das zeigt ſymboliſch
den Verſchluß . Es hindert wohl auch rein mechaniſch das
ſtärkere Zurſchautreten vorübergehender erotiſcher Erregungen
zur falſchen Zeit .
Und es dehnt außerdem mechaniſch durch die Quetſchung
und Zerrung die Vorhaut ſelbſt .
Zu dieſem letzteren Zweck erſt ein beſonderes Wort .
Die menſchliche Vorhaut hat , wie unverkennbar iſt , etwas
zum Liebesakt nicht ganz zweckmäßig Paſſendes .
Auf der einen Seite iſt ſie ja ein unzweideutiges Schutz¬
mittel . Sie macht den Eindruck mindeſtens des Reſtes einer
alten guten Hautklappe über der männlichen Harnöffnung . Sie
ſchützt da gegen das Eindringen unberufener Dinge von außen .
Man hat das Gefühl , daß dieſer Schutzzweck , ſo lange es ſich
bloß um die Urinöffnung handelte , gar nicht weit genug ge¬
trieben werden konnte , — es genügte für die einfache ab¬
ſtrömende Welle vollkommen eine ganz kleine Durchbohrung in
der Kuppelwölbung eines ſonſt völlig ſoliden Schutzverſchluſſes ,
der bis auf ein kleinſtes Loch zugewachſenen Vorhaut .
Ich glaube , daß in unſerer Natur ein gewiſſer Zug , eine
gewiſſe Tendenz noch immer beſteht , dieſen Zuſtand zu reſti¬
tuieren : ich finde eine kleine , aber äußerſt zähe Wühlarbeit
derart nämlich in der immer und immer wieder bei ſo vielen
Kindern auftretenden ſogenannten Phimoſe , — der wirklich
ganz oder faſt ſo weitgehenden angeborenen Überkleidung der
Harnröhrenſpitze durch die Vorhaut .
Nun erinnerſt du dich aber aus unſerem früheren Ge¬
ſpräch , wie dieſer einfache Leibeskranen zum Ablaſſen der un¬
brauchbaren Urinſtoffe im Laufe der Entwickelung einſt die viel
größere zweite Funktion mitübernehmen mußte : das Heraus¬
treiben auch der männlichen Zeugungsſtoffe im Liebesakt . Der
ſchlichte Waſſerhahn , der bloß ein paarmal täglich auf und
zu gedreht wurde , erhielt hierbei jenen unvergleichlich ge¬
waltigeren , aktiveren Ejakulationsmechanismus , der im Akt die
köſtliche Lebenswelle weit vorſchleudern mußte .
Mit dieſer neuen Aufgabe und Einrichtung aber trat
offenbar jetzt jene Verſchlußhaut in den ernſteſten Konflikt .
So nützlich es für gewöhnlich ſein mochte , auch die ruhende
Geſchlechtsöffnung vor unberufen einkrabbelnden Gäſten und
anderem Eindringſel zu ſchützen : im Moment des Aktes war
jede Einengung da vorne eine fatalſte , zweckwidrigſte Hemmung .
Und um welchen größten Zweck handelte es ſich doch !
Das Naturgemäßeſte wäre geweſen , daß die zu weit
gehende Vorhautkapſel etwa beim erſten reifen Liebesakt ge¬
platzt und ſo einfach beiſeite getreten wäre nach Art des
weiblichen Jungfernhäutchens . In der That bietet dieſer kleine
Hautvorhang der weiblichen engeren Geſchlechtspforte ein geradezu
auffälliges Seitenſtück dar zur männlichen Vorhaut . Auch hier
zeigt ſich ein kleiner Hautverſchluß , der allerdings mit dem
Urinkranen beim Weibe nichts zu thun hat . Durch und durch
macht auch er den Eindruck eines Schutzſegels vor einer
wichtigſten Leibesöffnung . Auch er läßt ſoviel Raum , daß
eine glatt abſtrömende Welle durch kann , ohne ihn zu zer¬
ſprengen : die Menſtruationsblutung nämlich . Wenn aber zum
erſtenmal der , dagegen gehalten , ungeheure Zeugungsakt hier
Bahn haben will , ſo reißt eben das Jungfernhäutlein , — das
alte Schutzſegel muß brechen gegenüber dieſem höheren Zweck .
Immerhin macht auch hier das mit Blutung verknüpfte
gewaltthätige Reißen den Eindruck einer kleinen Unvollkommen¬
heit , als hätten ſich zwei Zwecke da im ſonſt ſo harmoniſchen
Prachtbau des Organismus nicht ganz reinlich voreinander auf¬
gelöſt . Ich halte es für ſehr wohl möglich , daß das Jungfern¬
häutchen ſeinen eigentlichen logiſchen Naturzweck hatte bei tie¬
riſchen Vorfahren des Menſchen , bei denen die Brunſtzeit noch
8*
nicht nahezu in Permanenz erklärt war , ſondern nur für eine
kleine Zeitſpanne als Intermezzo im großen Nichtbrunſt-Jahr
auftrat . Den größten Teil des Jahres konnte hier auch beim
geſchlechtsreifen Weibe ein möglichſt guter Verſchluß nur er¬
wünſcht ſein . Kam dann die Brunſtzeit , ſo wurde das Ver¬
ſchlußhäutlein allerdings beim erſten Akt zurückgedrängt und
die Geſchlechtspforte blieb wohl für die kurze Dauer der
Brunſtperiode offen . Nachher aber mag ſich der Verſchluß
wieder zuſammengezogen haben , um erſt beim Geburtsakt aber¬
mals ſich vorübergehend zu löſen oder wenigſtens zu weiten .
Immer wird ja auch hier die Geſchlechtsreife einen wichtigen
Einſchnitt gebildet haben , — bis zu ihr war der Verſchluß
ganz und dauernd intakt . Aber alles mochte ſich geregelter ,
glatter abſpielen . Erſt beim Menſchen , denke ich mir , iſt im
Gefolge des Verzichts auf eine einmalige Brunſtperiode im
Jahr zu Gunſten einer mindeſtens zwölfmaligen oder noch
viel öfteren der ganz grelle Riß zwiſchen einer intakt ver¬
ſchloſſenen Jungfrauenzeit und einem dauernd unverſchloſſenen
Frauenſtand eingetreten . An die Stelle einer beſchränkten
Zahl von Ausweitungen hat ſich zu Gunſten einer beſtändig
freien Paſſage ein einmaliges grobes Zerreißen beim erſten
Mal geſetzt , das denn allerdings ſeine kleinen Mißlichkeiten
hat wie jeder blutige Gewaltakt .
Ganz ähnlich mag's aber beim Manne mit der Vorhaut
hergegangen ſein . Hier iſt ja von gewaltſamem Riß beim
erſten Akt wenigſtens in der Regel keine Rede , — vorkommen
thut 's ſchon einmal , aber keinenfalls iſt es in der Mehrzahl
der Fälle nötig . Gewiſſe Unbequemlichkeiten des halben Ver¬
ſchlußes und der Neigung zu noch ſtärkerem machen ſich in¬
deſſen auch da vielfältig geltend . Die Schutzklappe wird im
Gegenſatz zu ihrer Beſtimmung oft der Sitz läſtiger Krank¬
heiten . Und für einen gewiſſen immerhin nicht unbeträchtlichen
Prozentſatz ſonſt völlig liebesreifer Männer bleibt ſie gar ein
Dauerhemmnis , eben weil ſie nicht ſo leicht zerreißlich iſt wie
das Jungfernhäutchen . Kommen doch ſelbſt bei dieſem Fälle
genug vor , wo es mindeſtens einen verzweifelten Widerſtand
entgegenſetzt , der ſchon ſo manchen ganzen Akt gefährdet hat .
Unter ſolchen Umſtänden kann es wahrlich nicht viel
Wunder nehmen , daß der Menſch ſchon früh anfing , darüber
nachzudenken , wie dieſem offenbaren kleinen Konflikt in ſeinem
Körperbau hier etwas nachzuhelfen ſei . So lange der Knabe
nicht mannbar war , kam ja auf die Sache nichts an , es ſei
denn , daß die Vorhaut ſo geſperrt war , daß ſelbſt der Urin
nicht recht herauskonnte . Aber mit dem erwachenden Liebes¬
frühling wurde es damit Ernſt .
Da hatte der Menſch nun das ſchneidende Werkzeug : das
harte Steinmeſſer . Mit ihm ſchnitt er ja ſchon die Nabelſchnur
des neugeborenen Kindes durch . Schon ſehr früh offenbar
hat er auch angefangen , ſich ſonſt damit am nackten Leibe
herumzuſchnitzeln . In Naſe , Ohr , Lippe bohrte er ſich Löcher ,
um Verzierungen hinein zu hängen , in die Arme und Beine
und Brüſte grub er ſich Tätowiermuſter als Ritznarben .
Gerade am Liebesglied ſelber aber wird noch heute von vielen
Wilden über alle Begriffe toll herumgewirtſchaftet .
Bei den Dajaks wird die Eichel mit einer ſilbernen Nadel
durchbohrt und in den dauernd offen verheilten Kanal wird
zum Liebesakt ein harter Apparat geſteckt , um die Erregung
beim Weibe zu ſteigern . Ampallang heißt dieſes ſeltſame In¬
ſtrument . Bald iſt es nur ein einfacher Stab aus Elfenbein
oder Silber , bald eine Art Silbergriff für eine Doppelbürſte
aus ſtarken Borſten . Bei den Batta auf Sumatra werden
kleine Steine , manchmal bis zu zehn Stück , unter die Haut
des Gliedes eingenäht oder auch dreikantige Gold- und Silber¬
plättchen . Es iſt , als wolle der Menſch mit dem Machtmittel
ſeines Werkzeuges ſich hier gewaltſam zurückerobern , was der
Hund in Geſtalt eines feſten Stützknochens in ſeinem Liebes¬
gliede noch organiſch beſitzt .
Bei den auſtraliſchen Stämmen iſt weit verbreitet die
Mika-Operation . Auch bei ihr handelt es ſich um eine Durch¬
bohrung der Gliedröhre von außen , doch wird ſie zu einem
viel radikaleren Zweck hier vollzogen : ſie ſoll nämlich den
freien Liebesverkehr ohne die Möglichkeit einer Schwängerung
gewährleiſten . Mit kühnem Schnitt durch ein glasſcharfes
Feuerſteinmeſſer wird faſt der ganze Gliedkanal zwiſchen Spitze
und Wurzel aufgeſpalten und die Spalte offen zur Heilung
gebracht . So verrinnt natürlich die Lebenswelle zwecklos ſchon
ganz oben beim Liebesakt , ohne die Tiefe ihrer Beſtimmung
zu erreichen .
Was Wunder , wenn die Radikalmethode , die bald die
Liebesfreuden mit dem Meſſer erhöhte , bald ihren Folgen damit
vorbeugte , auch gegen jedes noch ſo geringfügige Hemmnis
dieſer Freuden einſchritt .
Da ſiehſt du zunächſt Völker , die gegen das weibliche
Organ mit der unheimlichſten Grauſamkeit vorgehen .
Ich weiß nicht ſicher , ob es heute irgendwo auf der Erde
Brauch iſt , das Jungfernhäutchen abſichtlich ſchon vor der
Reifezeit mit einem eingetriebenen Werkzeug zu zerſtören als
eventuelles Hemmnis der Liebe . Zufällig geſchieht es jedenfalls
bei verſchiedenen Völkern . Vor allen ſind es die Chineſen , die
bei ihren ins Extrem getriebenen Reinigungen der kleinen
Kinder durchweg der Sache ſchon ein vorzeitiges Ende machen .
Durchaus bewußt zum Zweck aber findet ſich in faſt ganz
Afrika , auf Java , auf Kamtſchatka und in Peru — alſo in
den verſchiedenſten Ländern — die ſogenannte „ Beſchneidung
der Mädchen . “ Sie beſteht in einem blutigen Eingriff in die
äußeren weiblichen Geſchlechtsorgane , der die kleinen Scham¬
lippen und hauptſächlich jenen eigentümlichen weiblichen Glied¬
reſt , den Kitzler , betrifft . Dieſe Teile wachſen beſonders bei
einer großen Menge afrikaniſcher Völker vielfältig ſo aus , daß
ſie zu Hemmniſſen des Liebesaktes werden . Wir haben uns
in unſerm früheren Geſpräch ausführlich mit der Geſchichte des
Kitzlers beſchäftigt und du weißt , wie er ein Rudiment , ein
uraltes Überbleibſel darſtellt am Menſchenleibe . Da trifft nun
bei ihm wahrſcheinlich etwas ähnliches zu wie beim Jungfern¬
häutchen und bei der Mannesvorhaut : unter Umſtänden führt
er heute zu gewiſſen Konflikten , weil er nicht mehr in das
jetzt Vorhandene ganz hinein paſſen will . Wir haben ja andere
„ rudimentäre Organe “ in uns , die nicht ſelten geradezu lebens¬
gefährlich werden können , ſo den bekannten Wurmfortſatz am
Blinddarm , den Sitz der böſen Blindarmentzündung . Denkſt
du dir nun , daß bei einzelnen Menſchenſtämmen der Erde
eine natürliche Neigung der körperbildenden Kraft beſtehe , dieſen
Kitzler doch noch ziemlich ſtark immer wieder vorzudrängen ,
ſo wird wohl begreiflich , daß man dort ſchließlich zu einer
rohen Operation ſich entſchloß : man ſtutzte ſchon beim kleinen
Mädchen dieſen ſtörenden Auswuchs wie wir einem Hunde die
Ohren oder den Schwanz ſtutzen .
Einen Schritt von da zum Knaben — und du ſtehſt vor
dem uralt ehrwürdigen Brauche der „ Beſchneidung “ ſelbſt .
Was heute der Arzt bei uns an dem kleinen Kindlein
thut , wenn jener Schutzverſchluß ihm als ſogenannte „ Phimoſe “
allzu ſtark erſcheint , das erfaßte der Wilde , erfaßten erwachende
Kulturvölker in grauen Tagen als eine Notwendigkeit all¬
gemein . Mit hartem Steinmeſſer ſchnitt der Menſch die allzu
vordringliche Schutzhülle der Gliedſpitze einfach ab , — er
„ beſchnitt “ das Glied . Sein erſtes Werkzeug war der Stein .
Wir haben ſchon bei der Nabelſchnur geſehen , wie gerade das
Abpreſſen , Abquetſchen durch einen Stein ein praktiſches Vor¬
kehrmittel gegen allzu heftige Blutung umſchließt . Aus dieſem
Grunde iſt , auch als bei den Kulturvölkern das metallene
Werkzeug das ſteinerne und beinerne ablöſte , für den Be¬
ſchneidungsakt das Steinmeſſer ausnahmsweiſe in Gebrauch
geblieben . Und das hielt ſich , als ſelbſt die Medizin weit
genug war , auch eine Blutung aus Metallſchnitt zu ſtillen .
Religiöſe Mythen umwebten das ſteinerne und beinerne Be¬
ſchneidungsmeſſer in Tagen , da ſein Zweck längſt vergeſſen
war . Aus unſeren Zeiten , aus der Mitte unſerer Kultur
ſtammt die Geſchichte von dem Rabbiner , der , um kein Metall
an die Vorhaut zu bringen , die Beſchneidung der ihm anver¬
trauten Kinder mit den Zähnen vollzog . Das Unglück wollte ,
daß er ſyphilitiſch war und ſo unendliches Elend verbreitete .
Er ſelber wird ſo wenig gewußt haben , warum er ſo
handelte , wie die meiſten von heute es wiſſen , denen durch
ihre Religionsgemeinſchaft der Akt etwas ſelbſtverſtändliches
geworden iſt . Wie viel Träume , Ideen , Grübeleien , dumpfe
Erkenntniſſe , wieviel Mut und Thatkraft des erwachenden
Menſchen lagen darin , — dieſes unbändigen Prometheus , der
mit ſeinem Werkzeug die alte Natur meiſtern , beſſern , bilden
wollte , ob auch das eigene Blut in Strömen floß . Um den
größten Akt des Lebens , das über die Einzelperſonen hinaus¬
griff , handelte es ſich . Das ganze Ringen , das unſagbar
verwickelte Experimentieren der lebendigen Natur auf Erden
erſcheint konzentriert auf einmal vor ſolchen Verſuchen in ihm .
Sein Gehirn , ſeine Hand wollen jetzt das Werk des alten
Organgeiſtes fortführen . Noch ſind ſie jung , man darf ſich nicht
wundern , daß ſie roh zutappen . Auch die Natur unter ihm
hat ja eine Wolke goldenen Kiefernſtaubes verpulvert , um ein
Bäumlein zu ſchaffen . So watet er in Blut , um eine kleine
Linie nur einmal wieder weiter zu finden in der Liebesbahn .
Als ſein Gemüt ſich verfeinert , vor dem wilden Schneiden am
Leibe eines armen weinenden Kindleins zurückſchaudert , da
beſchwört er die höchſten Geiſtesgewalten ſeines Lebens : Reli¬
gion muß die Beſchneidung heiligen , die Götter führen das
Meſſer . Bis endlich in unſeren Tagen noch wieder eine
höhere Inſtanz ſeiner ſelbſt ſtill das Alte aufnimmt , die
mediziniſche Wiſſenſchaft , — dort es beſonnen wahrend , wo es
nötig iſt , dort es wieder ausmerzend , wo nur Übertreibung es
allgemein gemacht .
Ungefähr ein Siebentel der geſamten Menſchheit auf
Erden iſt heute noch beſchnitten . Es ſind ja nicht die Juden
und Mohammedaner allein , die dem Brauche gewohnheits¬
mäßig huldigen . Mit Staunen entdeckten ihn die Nachfolger
des Kolumbus in Mexiko und Südamerika . Der Auſtralneger
weiß es nicht anders in ſeinem Buſch , der Samoaner und
Fidſchiinſulaner in ſeiner Paradieſeslandſchaft . Und vollends
in Afrika geht die Sitte bis in die fernſten Winkel . Recht ,
damit ſich der Zuſammenhang mit dem erſten Liebesakt erweiſe ,
wird bei dieſen wilden Völkern nicht das kleine Kindlein be¬
ſchnitten , ſondern erſt der mannbare Jüngling .
Früh tritt ja bei ihm dort meiſt ſchon die Liebesreife
ein . Mit 14 Jahren iſt der kleine Betſchuane im Herzen Süd¬
afrikas ſchon ſo weit , daß der Vater ihm eine Braut ſucht . Dazu
muß ihn aber der feierliche Beſchneidungsakt erſt „ würdig “
machen . Alles vereinigt ſich zu dieſem Akt , was wir etwa in
die Feier der Konfirmation legen . Sind eine Anzahl dem
rechten Zeitpunkt naher Knaben beiſammen , ſo beginnt die
große Handlung mit der vorbereitenden Feierlichkeit eines
Opferakts . An einſamem Ort ſteht eine Hütte , da müſſen ſich
die Erwählten einfinden . Eine Herde Kühe wird ihnen zur
Obhut anvertraut , von deren Milch ſie ſich ſtärken mögen .
Nach einer gewiſſen Sammlungszeit kommt dann in Begleitung
des Häuptlings der Beſchneider und vollzieht mit der Aſſagaie ,
einer zweiſchneidigen , bajonettartigen Stahlklinge , die Operation .
Die Wunde wird mit heilenden Kräuter gekühlt und ſorgſam
verbunden . Dann muß jeder ſeinen nackten Leib mit Thon¬
erde ſchneeweiß färben . Das Leben muß dabei bis zum
Schluß der Prüfungszeit asketiſch rauh verlaufen . Ohne
Matte müſſen alle in der Aſche ſchlafen . Allmorgendlich
kommt der Beſchneider mit einem Geſandten des Stammes¬
haupts zurück und ſieht nach , ob die Wunde reinlich gehalten ,
der Körper vorſchriftsmäßig wieder weiß gefärbt iſt . Wer
nicht brav mitthut , bekommt noch Prügel wie ein Junge .
Aber endlich ſchlägt die Erlöſungsſtunde . Noch wird zu
feierlichem Schlußakt alles zuletzt gebrauchte Gerät wie eine
abfallende Hülle verbrannt . Dann geht 's ins Waſſer zu
einem großen Bade . Das iſt die Kriſis . Nun erſcheinen die
„ Männer “ ſtolz vor dem Häuptling . Die Eltern bringen
ihnen neue Fellmäntel und rüſten ein Feſtmahl aus gekochter
Hirſe mit Milch , bei dem es mit größtem Ceremoniell hergeht .
Zum Schluß werden ihnen Waffen gereicht , ein Stammes¬
älteſter erklärt ſie offiziell für Meiſter . Dem Häuptling wird
eine Art Fahneneid geſchworen . Waffenübungen werden ihm
vorgeführt , endlich giebt 's Fröhlichkeit und Tanz . Fortan
haben die jungen Männer einen neuen Namen , ſie dürfen
mit ihren Eltern gemeinſchaftlich eſſen , was früher wegen Un¬
reinheit nicht geduldet war , — umgekehrt aber ſchlafen ſie
jetzt nicht mehr mit in der Elternhütte . Das beſchnittene
Glied aber tragen ſie fürder in einem ledernen Futteral , das
wie ein Suſpenſorium befeſtigt iſt , — mit ihrer Mannbarkeits¬
erklärung ſind ſie ins Stadium des „ Symbols “ getreten .
Der Bakaïrí-Indianer , von dem wir ausgingen , gehört
nicht zu dieſen Völkern , die beſchneiden . Und doch beſchäftigt
auch er ſich angelegentlich mit dem Problem ſeiner Vorhaut .
Wenn heute der Arzt bei uns jene leidige Verengung , die
Phimoſe , heilen will , ſo hat er zwei Mittel . Das eine iſt
das radikale eben der blutigen Beſchneidung . Das andere ,
für milde Fälle ausreichende beſteht in einer allmählichen
Weitung der hemmenden Haut . Indem ſie immer wieder
vorgezogen und gymnaſtiſch gedehnt wird , wird von innen
hier Platz geſchaffen . Nun genau das ſcheint unſer Bakaïrí
zu erzielen durch ſein frühzeitiges Einklemmen und Abbinden
der Vorhaut in der Hüftſchnur . Es iſt alſo wirklich ein ge¬
wiſſermaßen hygieniſcher , mediziniſcher , prophyllaktiſcher Sinn
auch in dieſem ſeinen Thun , der als ſolcher aus dem Sym¬
boliſchen ſelber herausfällt , gleichwohl aber in tiefſtem Kontakt
mit dem Liebesleben bleibt , — ein unblutiges Seitenſtück zur
Beſchneidung .
Bei einem verwandten Indianerſtamm desſelben Landes
haſt du ſogar den direkten Eskimobrauch in Permanenz : die
Trumaís ſchnüren einfach auch die Vorhaut wie einen Wurſt¬
zipfel durch einen roten Baumwollfaden zuſammen . Noch ein
anderes dieſer Indianervölker hat wie jene Betſchuanen einen
regelrechten Stulp in Brauch , eine trichterförmige Schlinge
aus ſprödem gelbem Palmſtroh . Sie wird ſo über das Glied
geſtülpt , daß die Vorhaut unten aus dem Schleifenloch ſchaut
und auch hier allmählich hygieniſch ſcharf abgeſchnürt wird .
Auch die Bakaïrí-Frau iſt bis auf ihr Symbol abſolut nackt .
Auch ſie hat mit Sorgfalt ihr Schamhaar entfernt . Auch bei
ihr iſt das Symbol , wenn man es mit irgend etwas vergleichen
ſoll , unbedingt viel eher ein Verſchluß , als eine Verdeckung .
Und auch bei ihr miſcht ſich in den ſymboliſchen Zweck ein
ebenfalls eng dem Liebesleben angeſchmiegter hygieniſcher Zweck .
Bei dem einen Stamme trägt die Frau eine weiche ,
grauweiße Baſtbinde . Sie hat die Dicke eines Strickes . Eine
eigentliche Verhüllung der Geſchlechtsgegend konnte , wie Steinen ,
der treffliche Erforſcher dieſes Volkes , mit Recht betont , un¬
möglich dabei beabſichtigt ſein , „ da man den Streifen nur
hätte breiter zu nehmen brauchen . Sie rollten einen langen ,
ſchmal zuſammengefalteten Baſtſtreifen an einem Ende ein
wenig auf , hielten dieſes Röllchen mit der einen Hand gegen
den unteren Winkel des Schambergs angedrückt , drehten mit
der anderen Hand den freien Streifen einige Male um ſich
ſelbſt und führten ihn zwiſchen den Beinen nach hinten hinauf ,
kamen wieder nach vorn zu dem Röllchen , drückten es mit
dem quer darüberweg geſpannten Streifen an und wandten
ſich über die andere Hüfte zum Kreuz zurück , wo ſie das freie
Ende einſchlangen und feſtbanden . “
Bei einem andern Stamme wird die graue Baſtbinde
während der Monatsblutung durch eine ſchwarze erſetzt .
Sehr verbreitet dort iſt als Symbol endlich ein kleines
Dreieck aus hartem Rindenbaſt . Die Bakaïrí-Frauen nennen es
„ Uluri “ . Ein Viereck wird diagonal wie ein papierenes
Kinderſchiffchen zum doppelſchichtigen Dreieck eingeſchlagen . An
allen drei Spitzen ſitzen Schnüre , von denen die beiden oberen
die Schenkel umgreifen , während die unterſte zwiſchen den
Beinen zu ihnen durchgeht . Im größten Falle iſt das Uluri
oben 7 cm breit bei 3 cm Länge . Es liegt ſo auf , daß es
gerade den Anfang der Schamſpalte deckt und in Verbindung
mit der unteren Schnur , wenn alles feſt angezogen iſt , die
Pforte im Ganzen zudrückt , — alſo auch eine Art Verſchluß .
Das Uluri wird wie alle Handarbeit dieſer kunſtfrohen
Urwaldkinder kokett und nett gearbeitet . In der ornamentalen
Kunſt der Bakaïrí , die eine eminent hoch entwickelte iſt , ſpielt
neben einem Rautenviereck , das eigentlich das ſtiliſierte Bild
eines Fiſches iſt , das Dreieck des Uluri eine ganz beſonders
hervorragende Rolle . In ſchönen ornamentalen Reihen tauchen
auf allerlei Holzcylindern , Trinkſchalen und ſo weiter die Drei¬
ecke auf und immer nennt der Künſtler ſelbſt dieſes Ornament
„ Uluri “ , — das mathematiſche Bild des Dreiecks iſt ihm
realiſtiſch verwachſen mit dieſem dreieckigen Frauenſchürzlein .
Zu der Liebhaberei , die gerade ein ſolches Ornament mit
erotiſchem Beigeſchmack bevorzugt , macht Steinen in ſeiner
ſchönen Studie über die Bakaïrí-Kunſt eine treffende Rand¬
bemerkung . „ Auch wir “ , ſagt er , „ ſtehen ja noch heute auf
dem Standpunkt der Kuliſehu-Indianer . Nur haben wir
ziviliſierten Menſchen die anatomiſche Vorlage ſtiliſiert , wo
ſich die rohen Naturvölker mit dem zierlichen „ Kleidchen “
begnügten . Und ſeltſamerweiſe iſt es die hier ſo viel be¬
ſprochene Raute , die wir an Stelle des Uluri haben . Der
Bakaïri-Forſchungsreiſende würde — ich weiß nicht , ob in
allen Teilen Deutſchlands — auf unſeren Bäumen , Mauern
Thüren geſchnitzt , geritzt und gemalt , genau ſo wie er es
macht , zu ſeiner wahrſcheinlich großen Befriedigung in zahlloſen
Exemplaren ſeinen Pakufiſch , die Raute mit dem zentralen
Punkt , wiederfinden . Wehe dem , der ſich einmal daran ge¬
wöhnt hat , dieſes indianiſche Pakumuſter bei uns überall , wo
es angebracht wird , auch zu ſehen . Wollte er ihm entfliehen ,
ſo dürfte er keinen Bahnhof , keine Allee , keinen Ausſichtspunkt ,
kurz keinen Ort , wo Menſchen paſſieren , mehr betreten , denn
es hat den Anſchein , als ob eine unbekannte geheimnißvolle
Geſellſchaft ſich verſchworen hätte , ihn damit zu verfolgen ; er
trifft es in der Rinde uralter Waldrieſen , er trifft es im
friſchgefallenen Schnee . “
So naiv dieſer Wilde ſein „ Uluri “ als Kunſtornament
verwertet , ſo wenig macht es ihm Bedenken , dieſe Geſchlechts¬
ſignale ſelber künſtleriſch zu verzieren . Wenn jener junge Bet¬
ſchuane in Afrika ſeine lederne Gliedkappe mit bunten Perlen
ſtickt , ſo befeſtigt unſer braſilianiſcher Bororó-Indianer bei feſt¬
lichen Gelegenheiten an ſeinem Baſtſtulp eine lange rot und
gelb gemuſterte Fahne , — recht ein Beweis , daß es ſich hier
noch um alles eher als eine echte Ablenkung für den Blick
von dieſer Leibesgegend handelt : man ſoll ruhig hierher
ſehen , ſoll aber an dem am rechten Fleck befindlichen Signal
merken , was an der Zeit iſt und was nicht . Schmuck muß bei
dieſen geborenen Kunſtkindern einfach überall hin , wo nur eine
Anhängeſtelle iſt .
Der hygieniſche Zweck der Röllchen und Uluris bei dieſen
Frauen liegt auf der Hand : ſie dienen in der Menſtruationszeit
als Verband , Pelotte , Blutſtauer , als wahrſte hygieniſche
Binden , wie ſie die Kultur tief unter all ihren Kleidern ein¬
fach heute noch bakaïríhaft benutzt .
Ich will dabei erwähnen , daß Karl von den Steinen
einen geiſtvollen Beweis verſucht hat , es ginge der Urſprung
der geſamten Schambedeckungen zurück auf ſolche hygieniſchen
Zwecke nackt gehender Völker . Nicht bloß jene Vorhautdehnung
und dieſe Uluribinde ſollen dabei eine entſcheidende Rolle ge¬
ſpielt haben , ſondern auch der allgemeine Verſchlußzweck im
Urwalde gegen eindringendes Ungeziefer . Er hat nach eigener
Anſchauung ein lebhaftes Bild entworfen , was einem in dieſer
Hinſicht im Dickicht Braſiliens alles paſſieren kann . Wer im
Fluß badet , der wird vom Kandirúfiſch ( Cetopsis Candiru )
bedroht , einem zolllangen , durchſichtigen Ungetümchen , das ge¬
wiß zu den ſchauderöſeſten Erfindungen der Natur gehört .
Es ſchlüpft ihm mit beſonderer Bosheit gerade in den Glied¬
kanal , ſperrt ſich durch ſeine Floſſen dort feſt und nötigt zur
unheimlichſten Selbſtoperation . Wenn der Braſilianer aufſchneiden
will , ſo erzählt er , daß ſogar einem Pechvogel , der am Ufer
ein Bedürfnis verrichtete , der Fiſch , im Strahl empordringend ,
eingekrochen ſei . Schlimmer aber noch iſt 's im Walde ſelbſt .
Von allen Seiten regnet es bösartige Zecken ( Holzböcke ) von
den Zweigen . Sie ſaugen ſich an , pumpen ſich voll Blut wie
ein Schröpfkopf , und verurſachen die ſchlimmſten Entzündungen ,
wenn man ſie ungeſchickt abreißt . Der bekleidete Braſilianer
führt da einen wahren Verzweiflungskampf . Denn auch dieſe
Zecken greifen gerade die kritiſchſten Teile an . „ Hat ſich einer
der Schmarotzer in die Glans eingebohrt , ſo pflegt er ihm
mit einer brennenden Cigarrette ſo nahe auf den Leib zu
rücken , als ſeine eigene Empfindlichkeit nur eben geſtattet , da¬
mit das Tierchen , durch die Hitze bedroht , freiwillig ſeinen
Aufenthalt aufgiebt und ſich ans der Schleimhaut zurückzieht ,
ohne zerriſſen zu werden . “ In dieſem braſilianiſchen Wald iſt
zuerſt die Hängematte erfunden worden , — als Schutz wenigſtens
gegen die am Boden kriechenden Unholde der Inſektenwelt .
Wie naheliegend , daß der nackte Wilde ſich da ſchließlich
keinen Rat mehr gewußt hat , als die bedrohten unteren
Öffnungen mit künſtlichen Verſchlüſſen zu verſehen ?
Ich leugne gewiß nicht , daß ſolcher Zwang in beſtimmten
Gegenden ſtark übergeleitet hat von dem einfachen Symbol zum
Verſchluß . Aber Steinen weiſt ſelbſt auf jene weiteren hy¬
gieniſchen Dinge wie die Vorhautſtreckung hin und nimmt ſie
als Hülfsmotiv . Damit iſt aber der Weg ſofort auch ins
Liebesleben eröffnet , und ſo wie wir das berühren , ſcheint mir
die Rückſicht auf das erotiſche Symbol als ſolches unerläßlich .
Gegen das aber werden alle jene hygieniſchen Sachen klein
und zweiten Ranges . Die Zeckenplage iſt doch etwas zu lokal¬
winziges gegen die ungeheure Schamfrage !
So erſcheinen dieſe Nackten von Centralbraſilien in jedem
Betracht als lehrreichſtes Exempel einer ganzen Stufe .
Schon iſt bei ihnen der Liebesakt ſelber durchaus als
etwas gefaßt , das unter vier Augen gehört . Dieſe Stufe
haben im Prinzip wohl alle heute lebenden Völker errungen ,
ſie geht hinter unſere Kenntnis ins Urgrau hinein . Gerade
deshalb aber iſt die Grenze von nackt und nackt bei ihnen auch
ſchon ſcharf auf der Höhe des Symbols : ohne Symbol heißt
„ erotiſch nackt , “ mit Symbol heißt „ ſozial , alltäglich , gleichſam
zum Arbeits- und Geſellſchaftskoſtüm nackt , jedenfalls antierotiſch¬
nackt . “ Vielfach deutlich ausgebildet iſt das Symbol ſchon als
Verſchluß . So gut wie gar nicht ausgebildet iſt es dagegen
als wirkliche Verhüllung der Geſchlechtsgegend .
Hochintereſſant iſt bei dieſen Indianern ihr Verhältnis
zur Kleidung . Sie ſind nackt , — unſerer Anſchauung nach
hieße das aber ja nur : ſie ſind wieder entkleidet . Und ſeltſam :
dieſe Nackteſten der Nackten kennen ſeit alters wirklich den
Gebrauch und die Anfertigung von Kleidern , ohne daß es ihnen
etwa die ſpäten europäiſchen Beſucher beigebracht hätten . Sie
kennen das Kleid nämlich als althergebrachten — Karnevals¬
ſchmuck . Von Zeit zu Zeit regt ſich in dieſem Phantaſievolk
der Trieb zum Mummenſchanz . Tolle Tänze mit noch tolleren
Maskeraden reißen das ganze Mannsvolk hin , als ſeien ſie
plötzlich das Wichtigſte , abſolut Nötigſte der Welt . Bloß die
Weiber dürfen nicht dabei ſein , das iſt nun ' mal geheiligte
Sitte , — ſo wie es ja im Kölner Karneval auch eine drollige
Trennung wenigſtens von Herrn- und Damenkomitees in dieſer
hanswurſtlich auf den Kopf geſtellten Zeit giebt . Nun und
dieſe Masken jetzt ſind veritable Maskenkoſtüme , — Koſtüme
plötzlich der Nackten ! Aus Blattſtreifen und Stroh werden
da Mützen , Röcke mit Ärmeln und gleich daran gewebten
langen Hoſen hergeſtellt . Die Phantaſie ſieht in den grotesken
Sachen Tiere verſchiedener Art : der nackte Menſch verkleidet
ſich als „ Tier , “ indem er fellartige Kleider anlegt ! Daß
Kleider „ ſchamhafter “ ſind , davon hat der gute Bakaïrí noch
keine Ahnung . Wie um 's mit Abſicht klärlich zu erweiſen ,
hängt er nämlich außen auf ſeine Hoſen einen Maiskolben als
Geſchlechtsglied . Hier im Männerkaſino braucht 's ja keine
Symbolſtrenge , die Marke gilt als „ Tier , “ und zudem hat der
Karneval aller Völker und Kulturen einen Zug von erotiſchem
Generalablaß . Sollte nicht in dieſer Kleiderkenntnis eine alte
Reminiscenz ſtecken ? Eine dunkle Tradition des nackt ge¬
wordenen Tropenwilden an eine Kleiderzeit im Norden ?
Karnevalsgebräuche haben ein unglaublich konſervatives Element
in ſich : im rheiniſchen Karneval leben die alten Stadtſoldaten
wie unſterblich weiter , und ich glaube , wenn es ſonſt in der
ganzen Welt keine Mönche mehr giebt , wird man ſie auf der
Redoute finden .
D as Kind nimmt einen Stecken als Pferd . Seiner Phan¬
taſie genügt irgend eine winzige Ähnlichkeit als Signal , um
den ganzen Reſt ſelbſtthätig zu ergänzen . Der Erwachſene will
wirklich ein Pferd , er iſt ein nüchterner Realiſt gegen das Kind ;
freilich aber zieht er auch vom echten Pferde die nützlichen
Folgen , daß es lebendig ihn wirklich dahinträgt .
Dieſen Weg geht auch das Leben der Völker .
Je realiſtiſcher das Denken wird , deſto mehr verwandelt
das Scham ſignal ſich in eine Scham hülle .
Es kommen die echten Feigenblätter , die Schürzen , die wirk¬
lichen „ Badehoſen , “ die ihren Zweck nur noch erreichen durch das
Abſperren , das Unterbrechen der ganzen Leitung vom Geſchlechts¬
organ zu dem Organ , das ich dir früher ſchon öfter als das ero¬
tiſche Diſtanceorgan erſten Ranges bezeichnet habe , — dem Auge .
Wenn man nicht an Erotiſches denken ſoll , ſo muß die
erotiſche Gegend überhaupt nicht mehr geſehen werden ! Das
iſt gröber im Prinzip , aber es iſt unverkennbar in allen zweifel¬
haften Fällen noch viel wirkſamer .
Es ſchneidet eine ganze Maſſe Eventualitäten mehr ab .
Was ich nicht weiß , macht mich nicht heiß . Wenn ich für ge¬
wöhnlich gar kein Geſchlecht an meinen Mitmenſchen mehr
ſehe , werde ich auch für gewöhnlich immer mehr vergeſſen ,
mich als Geſchlecht zu fühlen .
9
Die Frage war nur , wo das Halt machen ſollte . Denn
nachdem einmal der nackte Menſch der erotiſche geweſen war ,
hatte eigentlich alles nackt Gewordene irgendwo und irgendwie
einen erotiſchen Beigeſchmack . Du haſt ſchon geſehen , wie
ſelbſt das Symbol herumrutſchte : vom Geſchlechtsthor auf den
Nabel , ja auf die Kehrſeite . Und alle dieſe Orte ſiehſt du
auch wirklich in die Schambewegung auf dem Stadium der
Bedeckung alsbald mit hineingeriſſen . Dann wird die Weiber¬
bruſt wichtig , als eine in der That auch eminent erotiſch
mahnende , lockende Gegend , — ſie wird bedeckt . Und ſo ſiehſt
du die Hülle aus „ Schamgründen , “ dieſe ſchon realiſtiſchere
Bedeckungshülle , um den nackten Menſchen wieder Stück für
Stück herumwachſen wie einen neuen Tierpelz .
Nun mußt du dir aber Hilfsmotive dabei noch ausmalen .
Der Kulturmenſch iſt auch daheim heute bekleidet nicht bloß
aus erotiſchen Gründen . Die Eiszeit wich eines Tages und
lieferte ihn der gemäßigten Zone aus . Die grellen Kontraſte
der Eskimopelzvermummung draußen und der Eskimonacktheit
drinnen verloren ſich in ihrer Schärfe . Das mittlere Klima
drängte auf ein Mittelſtadium auch der Kleiderbehandlung .
Im Norden ſiehſt du noch länger ſchärfere Kontraſte : der alte
Germane zum Beiſpiel zieht noch nackt in die Schlacht . Je
höher die Kultur aber ſprießt , deſto mehr drängt ſich das
ganz Nackte überhaupt im Alltagsleben in den Hintergrund
auch aus rein praktiſchen Gründen dieſes Alltagslebens , die
mit Scham nichts zu thun haben .
Je mehr es aber ſo wie ſo geſchieht , je ſeltener das
Nackte der meiſten Körperteile in nicht erotiſchen Lagen öffent¬
lich geſehen wird , deſto ſchärfer wird dieſe ſeltene Nacktheit
mit dem Erotiſchen identifiziert und , da dieſes Erotiſche denn
einmal im gewöhnlichen Leben unſichtbar gemacht werden ſoll ,
als erotiſch auch aus Schamgründen jetzt öffentlich verhüllt
werden , ſelbſt wo es jene direkten Gründe nicht verlangten .
Der Gipfel iſt , daß „ nackt “ und „ erotiſch “ ſchließlich
abſolut zuſammenfällt und der nackte Menſch aus der öffent¬
lichen Geſellſchaft überhaupt verſchwindet , weil er der erotiſche
und als ſolcher der aus Schamgründen zu verhüllende iſt .
Auf der Waſſerſcheide dieſer Entwickelung ſtehen wir ſelbſt .
Auf der einen Seite haben wir uns in der Kultur dahin ge¬
trieben , daß ein Kulturmenſch von feinen Nerven errötet , wenn
er öffentlich ſich nackt ſehen laſſen ſoll . Auf der anderen Seite
freilich erhebt ſich auch dagegen wieder eine Reaktion .
Werfen wir einen flüchtigen Blick auf dieſes Gegenwarts¬
problem , das ſich ſo ſcharf aus den einfachen Folgen der Urzeit¬
dinge ergiebt .
Das Verſchwinden der Nacktheit auf einer gewiſſen Stufe
der Kultur hatte ſein Notwendiges , aber auch ſein Mißliches .
Es iſt durchaus nicht ſchwer , Kulturgeſchichte ſo zu ſchreiben ,
daß es wie ein Triumph erwachenden Hochgeiſtes der Menſch¬
heit erſcheint . Je größer die Aufgaben dieſer Menſchheit , deſto
ſtärker das Bedürfnis ſtrenger Arbeitsregelung . Das Erotiſche
ſollte ſeine Stelle in höchſter Berechtigung wahren , aber es
ſollte nicht überwuchern . Ungeheure Ziele waren geſetzt , zu
denen das Erotiſche nicht unmittelbar gehörte . Ja ſie wurden
geſtört , wenn es ſich einmiſchte .
Man kann heranziehen , daß die Rolle des Einzelmenſchen ,
des einzelnen Geiſtesindividuums in der Kulturmenſchheit eine
unvergleichlich größere wurde als je . Die Erhaltung der Art
und alles , was mit ihr zuſammenhing , trat daneben höchſtens
ins Stadium der Gleichberechtigung für die Wertung . Im
Tier iſt das Individuum immer wie eine Welle nur in dieſer
großen Artlinie und ſein Leben ſcheint erſchöpft in der Arbeit
für die Erhaltung dieſer Linie : in der Liebe . Im Menſchen
9*
auf einer gewiſſen Kulturhöhe ſcheint das Individuum umgekehrt
eine ganze andere Erdbreite , ein ganz anderes feſtes Fußfaſſen
zu beſitzen , es iſt zunächſt und die fortſchreitende Welle erſcheint
nebenſächlich vor dieſer Stationsgröße . Hat doch dieſe Menſch¬
heit auch endlich noch ganz andere , vergeiſtigte Mittel , vom
Individuum auf die Nachwelt zu wirken , als bloß die Liebe .
Sie hält ein Buch , eine Reihe Bände , Goethes Werke gegen
einen Haufen Samentierchen . Wer ſolche Bücher ſchafft , der hat
ein Recht , ſich ſo lange nicht ſtören zu laſſen durch die Welt
dieſer Samentierchen . Und wenn ſie nicht anders aus dem Ge¬
ſichtsfeld gebracht werden kann , als durch Verhüllung aller Nackt¬
heit im öffentlichen Leben , — nun ſo falle dieſe Nacktheit .
Man muß im Querſchnitt dieſer Gedanken einen Moment
wirklich durch die Kulturgeſchichte ſchauen , um Extreme zu ver¬
ſtehen , die ſonſt völlig unbegreiflich blieben .
Durch die Menſchheitskultur gehen immer wieder Ver¬
ſuche , geradezu einen „ unerotiſchen Menſchen “ zu ſchaffen als
beſonderen Typus in den wachſenden geiſtigen Arbeitsforderungen .
Dieſer Menſch ſollte auch im ideellen Sinne niemals mehr „ nackt “
ſein . Es iſt die Idee , den reinen Geiſtesmenſchen zu ſchaffen
wenigſtens als Einzelerſcheinung zwiſchen den hergebrachten Men¬
ſchen . Er geht ſo ſehr auf in der rein geiſtigen Arbeitsleiſtung ,
daß er das Erotiſche für immer aus ſeinem Leben verliert .
Es iſt dieſe Idee , die ſeit alten Kulturtagen in die Askeſe
getrieben hat ; wir reden davon noch . Es iſt die Idee , die
durchklingt bis in die groben Geſchichten vom Cyniker Diogenes
in ſeiner Tonne . Er onanierte auf offenem Markt vor den
Leuten , heißt es , um ſeine Verachtung des Erotiſchen zu be¬
zeugen . Aber hinter dem grotesken Bilde ſteckt in dieſer ganzen
tiefen Strömung des Griechentums doch der Grundgedanke eben
jenes Experimentes einer Trennung des einſamen , nur durch
Gedanken mit der Menſchheit verketteten Geiſtesmenſchen vom
Menſchen , der ſich als Mann oder Weib , als erotiſche Hälfte
fühlt und den Weg zur Menſchheit durch Samentierchen und
Eizellen bauen will . Es iſt dieſer Gedanke auch , der den ur¬
ſprünglichen wirklich tiefen Kern bildete im kirchlichen Cölibat :
der geweihte Menſch , der nur noch ein Geiſtesträger auf Erden
ſein ſoll und darum in freiwilliger Arbeitsteilung Verzicht
leiſtet auf die erotiſche Seite des Lebens . Bloß daß die tiefere
Idee ſich hier untrennbar verknüpft hat mit der anderen , die
nicht in dieſen Zuſammenhang gehört : daß die Liebe nicht bloß
„ ihre Zeit “ und vielleicht ſogar „ ihren Menſchen “ habe , ſondern
daß ſie ſelber ein Schlechtes , Teufliſches , Herabziehendes ſei .
Und bloß auch , daß in der Organiſation der Kirche das Cölibat
alle Schäden zeitigen mußte , die eine noch ſo reine Idee erzeugt ,
wenn ſie in die Arme der eiſernen Jungfrau Zwang , Autorität ,
Machtdruck , Parteidisziplin gerät .
Und doch iſt es wiederum jene Idee ſelbſt geweſen , die
weitab von der Kirche edelſte , reinſte Genien der Menſchheit
immer wieder individuell zu einem Cölibat der freiwilligen
Entſagung geführt hat . Sie iſt es , die uns ſo oft entgegentritt
aus der Biographie großer Dichter , Maler , Muſiker und
Forſcher , wenn der Laie wildere Liebesfahrten als beim
Durchſchnittsmenſchen im Leben des Gewaltigen ſucht und der
Biograph bekennen muß , daß dieſes Blatt hier weit leerer iſt
als bei unzähligen gewöhnlichen Menſchenkindern .
Auch in ſeinem reinſten Gehalt aber wird dieſer extreme
Gedankengang , der die Linie von Erotiſch und Nichterotiſch
nicht mehr durch Hülle und Nacktheit des Einzelnen , ſondern
zwiſchen Menſch und Menſch durchzieht , immer ſchwach ſtehen
vor jener einfachſten Lehre , die von winzigen Tieren dieſer
Erde ſeit mehr Jahrtauſenden , als die ganze Kultur arbeitet ,
gepredigt wird . Gegen die lebendige Lehre des Bienenvolkes
und Ameiſenvolkes ! Bei ihnen iſt der Typus der Art zer¬
ſpalten in dreierlei Individuen : Mann , Weib und geſchlechts¬
loſes Arbeitsweſen . Zu vielen tauſenden ſtehen die unerotiſchen
Arbeitsbienen der einen erotiſch veranlagten Königin gegenüber .
Was iſt der Erfolg geweſen ? Wir haben davon geſprochen .
Eine Erſtarrung des Ganzen war er ſtatt Steigerung , eine
Verſteinerung des Geſamtintellekts , ein altjüngferlich unfrucht¬
barer Zug über der ganzen Arbeitsleiſtung , ein völliges Her¬
abſinken des Individuums zum automatiſch klappernden Organ
an Stelle des bei uns erhofften Triumphs des Individuums .
Das iſt die Kehrſeite eines weltgeſchichtlichen Zuges . Von
ihr läßt ſich die Brücke aber leicht finden zu dem , was ich
Dir als das Mißliche in dem ganzen Grundprinzip ſchon der
Nacktheitsſcheu bezeichnet habe .
So lange der Kampf in der Kultur gegen das Nackte
dauert , haben auch zwei Prinzipien unerſchüttert dagegen an¬
gefochten . Es waren die beiden uralten Faktoren , aus deren
Bund einſt die Nacktheit entſtanden iſt . Der eine war das ero¬
tiſche Wahlbedürfnis und Lockbedürfnis der Jugend ; der „ Früh¬
ling “ möchte ich geradezu ſagen . Der andere war die Kunſt .
Magſt du alles , was zur Miſchliebe gehört , vom Kuß an ,
moraliſch unter vier Augen verbannen : alles , was zur eigentlichen
erotiſchen Lockung gehört im Bereich der Diſtanceliebe iſt und
bleibt ein öffentlicher Akt . Die Schönheit muß ſich zuerſt
irgendwie ausbieten , um gefunden zu werden . Mag die Moral
von ihrer Seite her den Mantel heraufziehen bis über die
Ohren : die Schönheit , die Jugend , der Frühling werden immer
wieder verſuchen , um eine Lücke zu handeln , an der ſie irgend
etwas ſehen laſſen können .
Hier liegt wieder der berechtige berechtigte Wunſch des Erotiſchen ,
mindeſtens zu gewiſſen Lebenszeiten den ganzen Menſchen zu
durchſetzen , alſo auch den öffentlich ſichtbaren . Ein ſchönes
Mädchen behält ſeinen erotiſchen Charakter und wenn du auch
bloß eine halbe Locke und eine Fingerſpitze von ihm ſiehſt .
Eros der Herr will aber mit allen Kräften , daß man mehr
ſehen ſoll . Jede lebendige junge Schönheit ſteht zur Konkurrenz
in der Welt aus und ſoll es . Denn auf der Schönheitswahl
zur Weiterleitung der Menſchheit beruht ein tiefſtes , ſtetig
emporarbeitendes Harmonieprinzip der Welt .
Die Geſchichte aller Kleidermoden iſt ein unausgeſetzter
Kampf dieſes entkleidenden Eros mit der verhüllenden Moral .
Die Moral will die Miſchliebe iſolieren und greift dabei bis
auf die Diſtanceliebe über . Die ebenſo notwendige Liebeswahl
und Liebeslockung will die Diſtanceliebe retten und bedroht
dabei die Moral . Das iſt ein ewiges Auf- und Abpendeln ,
durch das die Menſchheit ſich durchſchlängeln mußte , ſo gut
ſie konnte .
Nun erſtand in dieſem Zwiſt um die Nacktheit aber ein
großer Helfer der Nacktheitsſeite in der Kunſt . Vergeſſen wir
nicht , daß der nackte Menſch im Sinne körperlicher Enthaarung
wahrſcheinlich nie zu ſtande gekommen wäre ohne die Beihülfe
des äſthetiſchen Triebes im Menſchen , ohne jenen urgeheimnis¬
vollen Rhythmotropismus , der die ſchönere , harmoniſch reinere
Linie inſtinktiv vorzog . Je mehr dieſer Rhythmotropismus ſich
aktiv im Werkzeugmenſchen in „ Kunſt “ umſetzte , deſto weniger
hatte dieſe Kunſt Luſt , auf ihr altes Konto zu verzichten .
Mit der größten Energie reklamierte ſie ihren nackten
Menſchenkörper für ſich . Sie ging weder die grobe Nützlich¬
keitsfrage etwas an , die aus Kältegründen dieſen Leib mit
Kleidern bedeckte , noch die feinere , die aus erotiſchen Schon¬
gründen ihn verhüllte . Der nackte Körper in ſeiner vollen
Nacktheit bis in die kritiſchſten Winkel hinein war einfach ein
harmoniſch ſchöner Gegenſtand und als ſolcher eine unſchätzbare
Domäne der Kunſt , die ſie ſich nie mehr entreißen ließ . Nichts
hat aber in der Welt bis in die höchſte Kultur hinein ſo
dämoniſch ſeinen geraden Weg verfolgt wie die Kunſt . Sie
hat nicht gemarktet , gefeilſcht , ſich auf ein Abwägen von
Nützlichkeitsgründen gegeneinander eingelaſſen . Sie iſt durch¬
gebrochen als Inkarnation einer tiefſten Nützlichkeit des
Harmoniſcheren um jeden Preis , unaufhaltſam vor allen
anderen Triebgründen und allen Bewußtſeinsgründen wie eine
jener ungeheuren Stoßwellen , mit denen ſich eine Niveau¬
änderung auf einem ganzen See ausgleicht und die allen
kleinen Windzügen im gewöhnlichen Wellenſpiel abſolut über
den Kopf gehen .
Zerrte die Moral das Tuch beſtändig nach oben und
feilſchte der Frühling beſtändig um eine Ecke mehr abwärts ,
ſo nahm die Kunſt ihrem Menſchen ruhig ſogar das Feigen¬
blatt fort und lachte jeden gründlich aus , der es wieder
aufkleben wollte . Wenn die Bayonette kamen , hat ſie 's ja
gelegentlich ſich gefallen laſſen müſſen , aber ihr Lachen iſt noch
jedesmal auf die Dauer ſo furchtbar geweſen , daß die Poſten
flüchteten : es war der Schrei des großen Pan in der Menſchheit ,
der aus dem Walde kam .
Bei dieſem unbeirrten Vorgehen hat aber die Kunſt dem
Erotiſchen einen ſeparaten , ganz unberechenbar großen Vorteil
angedeihen laſſen .
Je mehr nämlich mit den großen geiſtigen Aufgaben der
Menſchheit in der Kultur die Moral eine abſolut notwendigſte
Schutzmaßregel wurde und alſo im ganzen öffentlichen Leben
ein Prä vor allem noch ſo heißen Liebesfrühlingshauch bekam ,
— deſto mehr verſchwand mit dem nackten Menſchenkörper
auch das tiefe , feine Gefühl für ein fortſchreitend vervollkommnetes
Ideal dieſes nackten Körpers .
Je mehr der Leib wieder dauernd in Kleider verpackt
wurde und die Nacktheit , wie es ſchließlich Wunſch der extremen
Moral geweſen wäre , womöglich nur noch im dunklen Zimmer
bei Nacht erſchien , — deſto mehr mußte ſich notwendig der
Sinn für die Nüancen dieſer Nacktheit abſtumpfen . Wenn etwa
die weibliche Bruſt oder die Rückenlinie oder Schenkellinie
gar nicht mehr öffentlich , in offener Himmelsſonne und in
freier Muskelbewegung geſehen wurde , ſo verlor endlich das
Auge , verlor die Phantaſie jede Kraft , die Merkmale der
wahren Schönheit darin zu ergreifen . Die erotiſche Wahl wurde
ideallos , verlor die Direktive auf das Beſte , Harmoniſchſte .
Damit ſank aber nach dem einfachen natürlichen Geſetz die
Körperſchönheit ſelber . Das Nackte , unbeachtet , mochte unter
ſeinen Kleidern verfallen wie ein armer verwahrloſter Gefangener
im ſchwarzen Kerker , ohne daß die erotiſche Wahl nachhalf .
In dem Pendelſchlag der Kulturgeſchichte kehren immer
Zeiten wieder , wo in dieſer Hinſicht wirklich ein Tiefſtand
droht , das Seil ganz nahe am Boden ſchleift und der Leib
in ſeinem Rock zu degenerieren beginnt .
In allen ſolchen Zeiten der Gefahr aber iſt es die Kunſt
geweſen , die , wie ſie einſt dem Erotiſchen das Ideal der
Nacktheit in die Hände geſpielt , jetzt auch dieſes Ideal in
ſeinem Fortſchritt zu retten geſucht hat . Zogen wir uns die
Kleider bis über die Ohren und hatten das Erotiſche glücklich
ſo gut wie ganz hier vertrieben , ſo warf uns die Kunſt plötz¬
lich doch den ſplitterfaſernackten Menſchen wieder hin und zwar
ohne direkten erotiſchen Zweck . Und ſie ſetzte uns zugleich
das Ideal dieſes Nacktmenſchen vor Augen , paukte es uns ein
im Moment , da wir im Leben ihn faſt verloren hatten . Fern
von der Realität des Nackten um uns her , an uns ſelbſt ,
wurden wir zwangsweiſe vollgefüttert bis zum Rande mit
dem Idealbilde einer ſchon höheren Realität . Der nackte Adam
fing an , uns unbekannt zu werden , und dafür fütterte die Kunſt
uns mit Praxiteles und Michelangelo . Vor allem das Griechentum
iſt es geweſen , das uns zwei Jahrtauſende lang ſo den nackten
Menſchen in einer verklärten Schöne durchgerettet hat , daß
auch unſere erotiſche Phantaſie immer einigermaßen noch daran
ſatt werden und leiſtungsfähig bleiben konnte .
Auf die Dauer hat freilich , wie man ſich nicht verhehlen
darf , auch dieſe Hilfsarbeit der Kunſt ihre Grenzen .
Gerade wir heute kommen trotz all unſerer Kunſt und
Kunſtachtung aus einem tiefen Wellenthal der Körperſchau ,
in dem uns die Kunſtideale keineswegs immer ganz geholfen
haben . Gerade aus dem Kontraſt des nackten Kunſtideals
und der immer mehr zugeknöpften Kleidertracht ſind ſogar bei
uns unmittelbare Vergewaltigungen des Körpers in Einzelfällen
erwachſen .
Wenn man heute eine größere Anzahl Kulturfrauen
entkleidet , ſo zeigen ſich beiſpielsweiſe an dem nakten nackten Leibe
die unheimlichen entſtellenden Wirkungen einer künſtlichen
Taillenverengung durch die gangbare Frauenkleidung . Aufs
Gröblichſte iſt das Ideal des Frauenkörpers , wie es bei allen
Meiſtern der großen Kulturkunſtlinie vor Augen ſteht , darin
malträtiert und verfälſcht . Und zugleich iſt die Urhandſchrift
der Natur verdorben bis zur wahnſinnigſten Ungeſundheit durch
Quetſchung der Innenorgane . Schultze-Naumburg hat das
neuerdings noch wieder an ſo draſtiſchen Figuren gezeigt , die
ein Freund der harmoniſchen Schönheit des Weibesleibes ( die
zugleich Harmonie in ſeiner Geſundheit bedeutet ) nur mit
Grauen anſchauen kann . In dieſem Falle gerade iſt aber ſehr
leicht zu zeigen , was unſere Frauen und Mädchen getrieben
hat , ſo ſelbſtmörderiſch gegen ihren eigenen Nacktkörper vorzugehen .
In jenem Markten des lockenden Frühlings mit der ver¬
hüllenden Moral war ſeit alters ein Trick durchpaſſiert : das
Kleid wurde zugeſtanden , aber es wurde vom erotiſchen Be¬
dürfnis der Schauſtellung ſo angelegt , daß es ſelber ſchließlich
die Plaſtik der nackten Unterlage möglichſt deutlich wiedergab .
Die Maximalleiſtung in dieſer Hinſicht iſt das Bühnentricot .
Verſuche aber ſind mehr oder minder verſtreut über alle neueren
Frauentrachten . Du kennſt vielleicht die Broſchüre des „ Auch
Einer“-Viſcher über „ Mode und Cynismus , “ in der dieſer
treffliche Alte mit Entſetzen die Entdeckung verkündet , die er
auf ſeine ganz ſpäten Tage noch gemacht hat : nämlich eben
dieſe ſimple Sache , daß das erotiſche Bedürfnis immer im
ſtillen beſtrebt iſt , die Nacktheit ſozuſagen wieder außen aufs
Kleid zu bringen , wenn 's denn einmal nicht ohne Kleid
gehen ſoll . Viſcher denunzierte das in ſeinem Schrecken bei
der Moral als unerhörte Mogelei . Wäre er aber lieber auch
hier ſeiner Äſthetik treu geblieben , ſo würde er die einzige
wirklich gefährliche Seite des Prinzips geſehen haben , die
mit Moral an ſich abſolut nichts zu thun hat .
Dieſe Nachahmung des Nackten durch die Kleidung iſt es
nämlich , die zu ſolchen Unglücksirrungen geführt hat wie zu jener
künſtlichen Taillenverunſtaltung . Am unverbildeten lebendigen
Nacktkörper , wie am nackten Kunſtideal etwa der Venus von
Milo oder einer Schöpfung Tizians , liegt eine ganz beſondere
Wohlgefälligkeit in den Linien der Bruſt , der Körperſeiten ,
der Hüftenanſätze , des Rückens bis zum Geſäßanſatz . Dieſe
Linien wirkten ebenſo ſchön wie erotiſch . Das ſollte nun im
Kleide nachgemacht werden . Um auch nur etwas , wenn ſchon
karikiert , davon äußerlich herauszuarbeiten , mußte aber der
wahre Nacktkörper darunter ins Prokruſtesbett . Das Korſett
trieb ihm glühende Foltereiſen ins Fleiſch , damit oben darauf
die Taille eine annähernde Silhouettenähnlichkeit mit dem
äſthetiſch-erotiſchen Nacktideal bekam . Unſagbar roh wie der
Kleiderſtoff für ſolche Imitationen iſt , kam es im Grunde
nicht viel über eine Art Symbol des Gewollten auch äußer¬
lich hinaus , und das iſt dann als mathematiſche Figur bald
ins ganz Verrückte übertrieben worden , ſo daß der Weibesleib
ſchließlich ausſchaute wie eine Sanduhr , womit jeder Faden und
Anſchluß verloren war . Um dieſer Sanduhr willen aber wurde
die wahre Haut- und Fleiſch- und Knochenunterlage lebendig
geſchunden . Doch danach fragte kein Menſch — weil man ſie
nicht ſah . Wenigſtens öffentlich im ungetrübten Licht nicht ſah .
Aus ſolchen Fällen leuchtet gewiß ein Mene Tekel auf .
Mit einer Reformtracht im Einzelfalle iſt das Übel aber noch
nicht bei der Wurzel gefaßt .
Was wir brauchten , wäre eben doch wieder mehr un¬
mittelbare Anſchauung des lebendigen nackten Körpers . Wie
aber dazu kommen , ohne die berechtigten Schutzwälle der
Moral mutwillig zu zerſtören , ein Unterfangen , das ſo wie ſo
utopiſtiſch wäre , denn die Menſchheit läßt ſich nichts zerſtören ,
was ſie braucht ?
Wir haben zum Glück noch ganz vereinzelte Fälle , wo
wir die Nacktheit ertragen ohne erotiſche Entfeſſelung , — ſo
beim Baden . Es iſt das ein Beweis , daß wir innerlich eigent¬
lich ſtärker ſind , als wir uns für gewöhnlich halten .
Ich glaube , daß wir ſehr gut von da wieder zu einem
erſt geſchichtlich ſpät verlorenen Beſitz übergehen könnten : zum
nackten Turnen . Wenn das in ganz jungen , erotiſch überhaupt
noch indifferenten Jahren anfinge , könnte es uns ſehr gut vor
dem Schreckbilde bewahren , das heute eine Badeanſtalt mit
Erwachſenen ſo vielfältig bietet : einer Menagerie der ver¬
unſtaltetſten , vernachläſſigſten , der denkbar ſchlechteſt gehaltenen ,
gekrümmten , vermagerten oder verfetteten Körper . Würde von
früh an wenigſtens auf dem Turnboden der eine den andern
ſehen , jede Veränderung ſeines Nacktkörpers kritiſieren , würde
vor allem jeder ſich ſelbſt und an ſo und ſo viel anderen
gleichzeitig das Schönheits- und Geſundheitsideal regelmäßig
ſchauen , ſo wäre ganz von ſelbſt ein großer Fortſchritt bald
da , der uns viel Doktorkoſten ſparte und die Raſſe durch
Selbſtkritik und Kritik durch andere vom gleichen Geſchlecht
vorwärts brächte , — anſtatt daß wir jetzt auf dem Wege ſind ,
nur noch Köpfe zu entwickeln mit degenerierten Leibern . Die
Atlantoſaurier vor Millionen von Jahren ſind auf dem umge¬
kehrten Gipfel untergegangen : ſie bekamen ſchließlich Leiber
wie die wandelnden Berge und ein Köpfchen daran wie eine
Schwanzſpitze , in dem ein Gehirn wie ein Sandkorn ſaß !
Erſt wenn getrennte nackte Gymnaſtik bei beiden Ge¬
ſchlechtern unſern Blick allgemein mehr und mehr wieder „ un¬
ſchuldig “ der Nacktheit gegenüber gemacht haben wird — und
dieſe Stufe werden wir ſicher in abſehbarer Zeit einfach im
Zwang der Dinge erreichen , — erſt dann läßt ſich das Problem
enger ſtellen , ob auch bei beiden Geſchlechtern gemeinſam unter
Umſtänden wenigſtens ſehr viel mehr fallen könnte , als heute
die Schutzmoral für nötig hält .
Die Löſung hängt von der Antwort auf die viel tiefere
Frage ab : ob du an eine fortſchreitende Kräftigung der ſitt¬
lichen Gefühle , der inneren ſittlichen Harmonie im Menſchen¬
geiſte glaubſt . Glaubſt dn du nicht daran , nicht alſo an einen
unaufhaltſamen Aufſtieg im „ Menſchlichſten “ des Menſchen , ſo
iſt es ja ſchließlich auch einerlei , ob die Menſchheit degeneriert .
Findet aber dieſer Anſtieg ſtatt , ſo muß auch endlich der
Punkt in ihm liegen , wo der Menſch aus ſittlicher Herrſchaft
über ſich ſelbſt , aus ſittlicher Harmonie in ſich ſelbſt , das
wieder bewußt erringt , was der nackte Wilde in ſeiner naiven
Phantaſie doch bereits einmal gekonnt hat . Er muß die
Fähigkeit in ſich fühlen , kraft unbeirrbaren Entſchluſſes , un¬
erſchütterlicher Selbſtſetzung den nackten Körper des anderen
Geſchlechts in einem unerotiſchen Zuſammenhang auch unerotiſch
anſchauen zu können . Das Symbol , das die Phantaſie des
Wilden noch braucht , kann er dabei entbehren , denn es liegt
für ſein geiſtiges Erfaſſen eben in dem ganzen geiſtigen Zu¬
ſammenhang der Dinge .
Daß eine ſolche völlig unſchuldige Auffaſſung möglich
iſt von einem verfeinerten Kulturſtandpunkte aus , zeigt am
deutlichſten eben das Beiſpiel der Kunſt . Seit es große Kunſt
in unſerem Sinne überhaupt giebt , hat ſie den Menſchen auch
dazu zu erziehen verſucht , Dinge anzuſchauen auf ihre Ideal¬
ſchönheit hin ohne unmittelbares Begehren , — einen abſolut
nackten Mann , ein abſolut nacktes Weib ohne akute erotiſche
Erregung . Dieſen Unſchuldszauber hat der große Künſtler
ausgegoſſen über den Laien , wofern deſſen geiſtige Bildung
nur eine gewiſſe Empfängnisreife beſaß . Künſtler ſelber aber
haben es ſchon viel weiter gebracht . Im Banne des reinen ,
von allem anderen Begehren losgelöſten Kunſtwollens haben
ſie mit Ruhe das wirkliche nackte Modell anſchauen und ab¬
bilden können , alſo nicht bloß Marmor , ſondern warmen
nackten Menſchenleib .
Eine verwandte Linie kommt von der reinen Wiſſenſchaft
herauf . Auch ſie lehrt einen Standpunkt jenſeits des Be¬
gehrens , eine Betrachtung sub specie aeterni , — wie dort im
Anblick des geheimnisvoll ſchon realiſierten , aber doch mit
erotiſchen Organen noch nicht faßbaren Ideals , ſo hier im An¬
blick der ſozuſagen abſtrakten Gegenſtändlichkeit überhaupt , —
des rein objektiven Seins , das ebenfalls durch eine geheimnis¬
volle diamantene Wand von unſeren erotiſchen Wünſchen wie
von all unſerem ſubjektiven Lieben und Haſſen getrennt bleibt .
Alle dieſe Wege deuten eben auf das gleiche : daß es im
höher ſteigenden Menſchen immer ſtärkere Kräfte giebt , die , um
mit Schopenhauer zu ſprechen , uns in beſtimmten Fällen auf
die reine Vorſtellung , die reine Anſchauung konzentrieren unter
völligem Verzicht auf den begehrenden Willen . Tritt die
Nacktheit auf dieſes Gebiet über , ſo kann ſie bleiben , ohne daß
die Schutzlinie gegen das Erotiſche verletzt wird , alſo ohne
Gefahr für die Moral . Die Aufgabe wäre , dieſen Übertritt
zu ermöglichen .
Auch da erheben ſich freilich noch große Schwierigkeiten
durch Begleitumſtände , von denen ich allerdings nicht wüßte ,
wie ſie heute noch in unzähligen Fällen zu vermeiden wären .
Zu jener hohen Harmonie des Geiſtes , die jene un¬
beirrbare Willenskraft allein verleihen könnte , gehörte eine
gewiſſe allſeitige Beruhigung , eine Harmoniſierung der Triebe
im Menſchen , — alſo auch des Erotiſchen . Ich kann von
etwas nur auf Momente bewußt abſehen , wenn ich ſicher bin ,
daß ich es im richtigen Moment jederzeit zur Verfügung habe .
Bin ich dagegen krampfhaft geſpannt , es zu ſuchen , ſo werde ich
vor jener Forderung als einer viel zu ſchweren erlahmen , es
wird mir fort und fort den Weg kreuzen , wird mich verfolgen ,
wie ich es ſelber verfolge . Von einer ſchönen Harmonie
meiner Ernährungsverhältniſſe aus kann ich die Traube auf
dem Gemälde genießen , ohne daß mir nur der Gedanke auf¬
taucht , danach zu greifen . Der zum Sterben Verhungerte
wird aber danach greifen ; und wenn er fühlt , daß es eine
glatte Leinewand iſt , die ihn geäfft hat , ſo wird er fluchen .
Im Zuſtande dieſer ausgeſprochenſten Disharmonie befindet
ſich für das Erotiſche nun ein ungeheuerer Teil unſerer Kultur¬
menſchheit und das verſchiebt vorläufig für dieſen ganzen Teil
die Dinge weit bis hinaus über ihre , ſei es noch ſo ſtarke ,
ſittliche Kraft . Sie können nicht objektivieren , weil ein Trieb
im Subjektiven zu übermächtig iſt durch Nichtbefriedigung .
Der Kulturmenſch iſt in einer Unmaſſe von Fällen nicht der
beſonnene Menſch , der da ſagt „ Alles zu ſeiner Zeit “ und der
danach die Linie ſchätzt vom Symbol des Wilden bis zu
unſerer „ Moral , “ — ſondern er iſt der unfreiwillige Asket ,
in dem es brüllt von Verlangen , bloß einmal ſich erotiſch aus¬
leben zu dürfen , und der durch alle Spalten ſtarrt , ob es denn
niemals „ Zeit “ ſei . Er beugt ſich zähneknirſchend unter die
Moral , weil ſie ihn wenigſtens auf viele Momente vergeſſen
läßt , was er glühend begehrt und niemals erlangt . Und er
flucht mit den glühenden Augen des Fanatikers der Kunſt wie
der unbefangenen Wiſſenſchaft , die von ihrer Reine aus achtlos
das Nackte rehabilitieren , — er ruft vor ihnen nach dem
Mantel der „ Moral “ , genau wie der arme Heißhungrige die
gemalte Traube verhängt , damit ſie ihn nicht fort und fort
auch noch reize , ohne ihn wirklich phyſiſch zu ſättigen .
Die wahre Rolle der Moral , die wahre Aufgabe von
Wiſſenſchaft und Kunſt aber kennt er noch gar nicht , — kann
der Unglückliche nicht kennen .
Die echte Moral iſt eine Diät für Geſunde . Die echte
Kunſt iſt ein ſteigerndes Entwickelungsprinzip in der Menſchheit ,
das als ſolches natürlich auch nur beim geſundeſten Höhen¬
typus einſetzen kann . Der Kranke weiß mit beidem nichts
anzufangen .
Wer phyſiſch und geiſtig mit einer chroniſchen Blutſtauung
in das Muſeum voll nackter Statuen und Bilder tritt , der iſt
von Anfang an verloren für den „ Zweck “ dieſes Muſeums .
Wie ſollte er gar vor lebendiger Nacktheit ſittlich beſtehen !
Es ginge über Menſchliches hinaus , was von ihm verlangt wird .
Das war ja auch eine der grundböſen Fehlerquellen im
Cölibat , daß es ſolche Unbefriedigten ſchuf , ſolche ewigen Durſt¬
leider nach dem Erotiſchen , die nicht freiwillig indifferent ,
ſondern aus innerer Unſicherheit intolerant wurden . Jede
Quelle der Intoleranz iſt aber eine Grund- und Erzgefahr
für den Anſtieg der Menſchheit .
Unendlich viel ſchlimmer doch als alles religiöſe Cölibat ,
das ſchließlich wenigſtens eine „ Idee “ in ſich trug und auch
immer nur eine winzige Zahl Menſchen getroffen hat , iſt in
unſerm öffentlichen Leben bis heute das auferzwungene Cölibat
aus ſozialen , wirtſchaftlichen , nackt materiellen oder gar an¬
geblichen Sitte-Gründen , das nicht theoretiſch , aber praktiſch
auf tauſenden und tauſenden laſtet .
Bei ſo vielen , die heute über Moral , Wiſſenſchaft , Kunſt
reden und ſchreiben und die wohl gelegentlich gar nach Staats¬
geſetzen gegen die Freiheit dieſer Wiſſenſchaft und Kunſt
rufen , ſehe ich immer wieder dieſes hohläugige Geſpenſt über
ihre Schulter grinſen , dieſe unerlöſte Braut von Korinth ihres
Lebens , die ihnen das geſunde Blut ausſaugt .
Und hier können nur tiefgreifende ſoziale Beſſerungen
Rat ſchaffen . Von ihnen wird wieder ein Hauptteil Wand¬
lungen abhängen in dem , was wir Geſellſchaftsſitte im kräh¬
winkeligen Sinne nennen . Zum Glück unterliegen dieſe ſozialen
Fortſchritte ihren ganz feſten eigenen Entwickelungsgeſetzen , ſie
kommen mit der Wucht einer Naturgewalt , wenn der Becher
voll iſt , und alle Angſt und reaktionäre Steuerweisheit des
Einzelnen ändert nichts daran . Auch hier iſt es der Genius
der Menſchheit , der auf alle Fälle durchbricht , wie er noch
immer durchgebrochen iſt . Es iſt der Genius der aufſteigenden
Natur ſelber auf ihrer Stufe Menſch , daher die natur¬
geſetzliche Wucht .
Außer dem Sozialen im engeren wirtſchaftlichen Sinne
muß aber auch das hinzu , was ich ſchon in einem früheren
Geſpräch berührt habe : eine ganz anders hohe Achtung vor
dem Erotiſchen ſelbſt . Dieſe wunderbaren Prozeſſe , auf denen
die Fortexiſtenz der Menſchheit beruht , müſſen als etwas
Heiliges , innerlich abſolut Reines anerkannt werden , dem wohl
die Moral ſeine Zeit vorſchreibt in der großen Arbeitsteilung
des menſchlichen Erdenwerks , das aber in ſich ſelbſt auf der
vollen Höhe der ſittlichen That ſteht wie jede andere edelſte
Leiſtung des Menſchen .
Den Beobachter ergreift ein Grauen , wenn er ſieht ,
welchem Leben des Paria in der Dunkelheit mit allen Schäden
eines ſolchen unſer Sexualleben heute noch ausgeliefert iſt .
In den Händen der Unwiſſenheit , die aus Scham nicht zu
fragen wagt , liegen unſere Kroninſignien irdiſcher Unſterblichkeit .
Erſt mit der Beſſerung an dieſer Stelle kann der Ge¬
danke ſeine ganze Kraft erheben , daß die innere Harmonie im
Menſchen , ſein höchſtes Gut , ſo lange kranken und leiden muß ,
wie dieſer Stein in der Krone nicht ebenſo blank geputzt iſt
wie alle anderen .
Zukunftstraum ! Aber die Zukunft iſt kein Traum .
Das einmal wieder in Parentheſe , um den Faden wenigſtens
im dünnſten Goldgehalt bis zur Ferne auszuwickeln , noch über
uns ſelber hinaus .
Unten faßt dich aber jetzt ſofort ein anderes Problem
aus dem gleichen Wurzelſtock mit der größten Wucht .
10
E ine Reihe Wolken haſt du zerteilt . Aber im Hexen¬
keſſel der Menſchheit brodelt und brodelt es fort . Blaſen
ſteigen auf und zerplatzen . Und der blaue Dampf wirbelt
über den Rand , geht in menſchenhaften Gebilden dahin , immer
nach weiteren . Deine Frage iſt noch nicht ganz erſchöpft .
Aus dem Nebel tritt die Mohammedanerin . Starr bleibt
ſie vor dir ſtehen wie eine Wolke . Der Gipfelpunkt der
Schamverhüllung iſt hier erreicht : auch das Geſicht iſt dem
profanen Blick durch den dichten Schleier unſichtbar gemacht .
Ein wandelnder Vorhang , ein bewegter Haufen Tuch , in dem
die Menſchenform endlich ganz untergegangen iſt . Welch un¬
geheurer Kontraſt zu dem nackten Weibe , das nur noch eine
Muſchel als Symbol trug ! Wie realiſtiſch muß dieſe Menſch¬
heit geworden ſein , die nicht geraſtet hat , bis ſie bei dieſem
anderen Extrem angelangt war : dem Extrem , das den freien
Schmetterling des Weibesleibes ganz wieder in eine ſtarre
Puppe ſchloß . Und das alles als Schutzmaßregel , damit der
Schmetterling nur noch auskrieche zur rechten Zeit !
Doch du folgſt der Naturgeſchichte dieſes Schmetterlings
noch ein Stücklein weiter . Er beſitzt nicht bloß dieſe trans¬
portable Puppe ſeiner Bekleidung . Er fliegt in ſein Haus —
und er ſteckt alsbald in einer noch viel energiſcheren Puppe .
Dieſes Haus hat vergitterte Fenſter , verſchloſſene Thüren ,
herkuliſche Wächter mit blanker Waffe — für dich . Denn
du biſt nicht — der Mann dieſes Schmetterlings .
Dort , wo er auskriechen , ſeine nackten Menſchenſchwingen
regen darf , gehörſt Du überhaupt nicht mehr hin . Denn du
biſt zwar ein Mann , aber nicht der Mann . Um dieſes ver¬
ſchleierte Weib zieht ſich eine doppelte Puppe : die eine , die
das erotiſche Weib überhaupt trennt von dem Alltagsweibe ;
und die andere , hier noch viel wichtigere , die dieſes erotiſche
Weib noch wieder mit ehernen Wänden trennt von allen
ſiebenhundertfünfzig Millionen Männern der Erde mit Aus¬
nahme des einen einzigen , der — ſein Mann iſt .
Hier liegt eine Einpuppung des Schmetterlings vor , die
nicht mit dem allgemeinen Scham-Puppenſtand , wie wir ihn
bisher verfolgt und ausgewickelt haben , allein zu verſtehen iſt .
Denke dir zu dieſer Stunde einen tollen Spuk . Das
Machtwort eines Zauberers ſoll hereinbrechen über die ganze
nichts ahnende Kulturwelt . Er iſt vielleicht ein Grübler ,
dieſer Zauberer , wie ſie es alle waren , die Paracelſe und
Fauſte der Geheimgeſchichte . Er hat ins Extrem gegrübelt ,
was auch uns im ſchlichten Geſpräch immerhin auftauchte .
Wie eine Zuchtwahl wieder not thäte auch für die Leiber bei
uns , eine Ausleſe der ſchönen , ſtarken Raſſe im Körperſinn .
Und wie wir alle uns jählings einmal nackt ſehen müßten ,
um zu begreifen , wie arm , wie verwildert ſcheußlich wir unter
unſeren Kulturhüllen geworden ſind , gleich ſproſſenden Kar¬
toffeln in der Kellernacht . Der Gedanke aber würde ſeinen
Kräften Zaubermacht . Und plötzlich , mit magiſchem Ruck ,
wären alle Kleider von uns allen fortverweht . Was würde
der Erfolg ſein ?
10 *
Eine Viſion , wie Künſtleraugen ſich die Auferſtehung der
Toten gedacht haben . Aber über dieſen Seelen läge nicht das
Entrückte , Unnahbare des Todes . Eine ungeheure weiße Blüte
würde ſich plötzlich entfalten , — aber über dieſe Blüte hauchte
zugleich ein roter Schein : der Schein der Scham . Und in
dieſer Röte einten ſich ganz deutlich zwei Motive . Einmal
die Scham , nackt zu ſtehen auf der Straße , in der profanen
Öffentlichkeit überhaupt , zur unrechten Zeit . Dann aber in
ſo und ſo viel Fällen noch die beſondere Scham , nackt zu
ſtehen vor anderen als vier Augen : den eigenen und denen
eines ganz beſtimmten auserwählten Weſens , das
das erotiſche Privileg darauf beſitzt .
Scham iſt im Kern Entrüſtung . Dieſe Entrüſtung würdeſt
du noch unverkennbar als ſolche ſehen bei ſo und ſo viel
Männern , deren erſte Handlung ſein würde , ihre Frau vor
den Blicken der andern Männer zu verhüllen . Ihre Frau !
Von einem ganz beſtimmten Punkt der Kulturgeſchichte
aus muß noch ein Motiv in das wachſende Verlangen nach
Kleidung hineingeſpielt haben . Die Ehe . Das Zuſammen¬
halten von zwei Menſchen verſchiedenen Geſchlechts zu einem
engeren Verbande innerhalb der großen Maſſe . Mann und
Weib verhüllten nicht nur ſymboliſch oder wirklich ihr Geſchlecht ,
um anzudeuten , daß es jetzt nicht an der Zeit ſei , überhaupt
an Erotiſches zu denken . Sondern ſie verhüllten es auch als
Signal für die Welt , daß ihr Leib erotiſch vergeben ſei an
ein ganz beſtimmtes Individuum .
Hier erheben ſich auf einmal ganze Ketten neuer Bilder .
Über die Schamverhüllung von dieſer Seite her wacht nicht
nur die Moral , die allgemeine Sitte als abſtrakter Begriff und
die moraliſche Selbſtverantwortung . Es wachen plötzlich die
Augen jenes anderen Wahlmenſchen mit , — die eiferſüchtigen
Augen , denen jeder zweite Menſch ein Feind wird , ſobald auch er
erotiſche Gedanken vor dieſem Manne , dieſem Weibe zeigt , und
die dieſen Mann , dieſes Weib als treulos zerfleiſchen möchten wie
man ein eigenes krankes Leibesglied abſchneidet , wenn ſie ſelbſt
einen anderen Menſchen als ihn erotiſch empfangen wollten .
An dieſer Stelle iſt die Idee aufgetaucht , aus dem Scham¬
verſchluß ein wirkliches Sicherheitsſchloß der Geſchlechtsteile
zu machen , ein Sicherheitsſchloß für den Andern !
Auf der Höhe der Kultur noch findeſt du die wunder¬
ſamen Mären vom Keuſchheitsgürtel der Frauen . Der Ritter
zieht auf den Kreuzzug , ſeine Ehefrau daheim aber muß ſo
lange einen Gürtel aus Eiſenblech oder Silber tragen , der die
Pforte bis auf eine winzige Öffnung feſt verſchließt und zu
deſſen Schloß der kreuzfahrende Gemahl allein den Schlüſſel
beſitzt . Manch Stück Legende mag ſich auf den Flügeln williger
Phantaſie in dieſe Geſchichtchen verflattert haben . Von früh
auf aber zieht als feſte Wahrheit durch die Völker eine
Strömung in der Auffaſſung des Jungfernhäutchens , die eben¬
falls von hier her kommt .
Da wird dieſes Häutchen , dieſes rudimentäre Natur¬
riegelchen , mit hineingeriſſen in den vom Menſchen gewollten
Verſchlußzweck vor dem „ Unberechtigten “ . Aus dem Gedanken ,
daß das Weib nur einem Manne erotiſch angehören ſolle ,
entwickelt ſich der rückwirkende : daß es vom Tage ſeiner Ge¬
burt an auch nur einem beſtimmt ſei . Aber wenn er ſie nun
erſt in ihrer Reife kennen lernt , wer giebt ihm die Gewähr
einer unberührten Vergangenheit ? Hier hat die Eiferſucht
das winzige Sperrſegelchen , das der einfache Sinn bloß als
Hemmniß , als überflüſſige Komplikation auffaßte , plötzlich als
ein Zeugnis , ein unſchätzbares Dokument zu erkennen geglaubt .
Blutete es nicht mehr beim erſten Eindringen in die Pforte ,
ſo war dieſe Vergangenheit nicht mehr rein .
Feierliche Bräuche umgeben das bei einer Menge von
Völkern . Das rote Tröpflein im Linnen des Brautbettes
wird da zum heiligen Zeichen . So wichtig , ſo wirklich heilig
iſt es , daß es ſogar die Öffentlichkeit nicht mehr zu ſcheuen
braucht . Bei den orientaliſchen Kulturvölkern wird vielfach
ein beſonderer Ehrenrat von Freunden und Verwandten be¬
rufen , um das Zeichen zu beſtätigen . Wenn bei den Zulu¬
kaffern das Segelchen ſich nicht finden will , ſo muß Bruder
oder Vater der Braut dem Manne einen Ochſen zur Strafe
zahlen . Im Gebot des Moſes trifft die unverſchloſſene Braut
Steinigung .
Bei ſolchen Bräuchen geht ſchließlich eine Todesangſt um
dieſes Häutlein durch die Mädchenwelt ganzer Völker . An
die Stelle der Angſt vor allzu gutem Naturverſchluß treten
künſtliche Operationen , um ihm nachzuhelfen , ihn noch einmal
zu erſetzen , wo er ſchon verloren war . In Perſien , wo der
Mann auf alle Fälle das Recht hat , ſeine Frau nach der
Brautnacht noch zu verſtoßen , wenn ihm hier ein Zweifel
bleibt , näht der willige Chirurge dem deflorierten Mädchen ,
das heiraten ſoll , künſtlich die Schamlippen durch eine leicht
zerreißbare Naht zuſammen . Oder ein blutgetränktes Schwämm¬
chen wird heimlich in die Scheide gebracht . Solche Spiegel¬
fechtereien gehen , wie du weißt , bis in unſere europäiſche
Kultur hinein . Was aber dem Ganzen einen Stich ins
wirklich Tragiſche giebt , iſt die ſichere Thatſache , daß das
Jungfernhäutchen , ein unklares , ſchwankendes Naturding , wie
es bei uns iſt , jenes Vertrauen ſelber gar nicht in dem Maße ,
wie dort erwartet wird , verdient . Wie es ſich oft ſperrt , wenn
es nicht ſoll , ſo erweiſt es ſich gar nicht ſo ſelten umgekehrt
als weich und läſſig und läßt ſich im Akt beiſeite ſchieben ohne
einzureißen , Verdacht alſo weckend , wo nicht der leiſeſte Grund
vorliegt . Und die Menſchheit der Zukunft mag wohl den
Tag ſegnen , wo ſie auf Treu und Glauben , auf moraliſche
Logik ihre Schlüſſe bauen darf , wofern ſie ſie hier noch
braucht , — dagegen endgültig wieder abſieht von dieſem
verunglückten Gottesurteil eines Blutströpfleins .
Bei den afrikaniſchen Negern freilich , wo man der Natur
ſchon bei der Beſchneidung mit Schwert und Meſſer nach¬
zuhelfen unternahm , hat man auch in dieſem Punkte das radikal
Unheimlichſte nicht geſcheut , um ganz ſicher zu gehen .
Man hat die ſogenannte Infibulation der Mädchen erfunden .
Als Kind ſchon oder wenigſtens wenn die Geſchlechtsreife
naht , wird das Mädchen einer furchtbaren Operation unter¬
worfen : die Geſchlechtspforte wird ihm künſtlich zugenäht bis
auf die allernötigſte winzige Öffnung . Es geht eine Beſchneidung
vorher , die freie Wundränder ſchafft . Dieſe Wundränder
werden dann entweder durch längeres Einſchnüren in feſtem
Verband ſo aufeinander verheilt , daß eine natürliche Narbe
ſie fortan verknüpft und die Spalte ſchließt , oder es wird
mit gröbſten chirurgiſchen Mitteln und unter barbariſchſter
Quälerei geradezu eine regelrechte Naht angelegt . Steht nach
Jahren endlich die wirkliche Hochzeit bevor , ſo muß unter
ähnlichen Qualen dieſer Riegel künſtlich erſt wieder geöffnet
werden . Das männliche Organ ſelber iſt dieſer Arbeit natürlich
nicht gewachſen . Wieder muß der wirklichen Hochzeit ein
Martyrium voraufgehen . Alte Frauen des Stammes fertigen
einen Pflock aus Holz oder Thon , das Abbild eines Mannes¬
gliedes , aber genau in den angegebenen individuellen Maßen
des Bräutigams . Mit ihm wird ſo viel geöffnet , daß gerade
dieſer Erwählte den Hochzeitsakt durch die Lücke vollziehen
kann . Erſt wenn dann die Niederkunft naht , wird die ganze
Pforte in voller Breite künſtlich geſprengt . Sogleich aber
nach dem Geburtsakt pflegt eine neue Vernähung ſtattzufinden ,
die den Zuſtand der Jungfrau für die Dauer des Kindesſtillens
wiederherſtellt . Ihr folgt , ſobald der Ehemann neu in ſeine
Rechte tritt , eine neue Öffnung durch Operation . Und ſo
kann ſich das durch die Jahre fortſetzen , falls der Mann ſtreng
darauf beſteht .
Über ganz Central- und Nordoſt-Afrika dehnt ſich dieſe
unheimliche Sitte aus . Bei den Gallas gilt ſie und So¬
malis , in Maſſaua und bei den Beduinen nördlich Chartum
wie in Kordofan . Gewiß gehört ſie zu den furchtbarſten
Bildern aus der Leidensgeſchichte des Weibes auf Erden . Den
fremden Beobachtern iſt immer am ſtärkſten der Eindruck da¬
bei geweſen von der Erniedrigung des Weibes . Aber im
Grunde erſcheint doch nur wieder das urgewaltige Ringen
des Menſchen auch hier : das Titanenringen mit ſich ſelbſt ,
mit der eigenen Natur , — der Verſuch , ſeine Wünſche , ſeine
Ideale , ſeine Moralvorſchriften in den eigenen Körper hinein¬
zuſchneiden , wie man eine Tättowierung in die Haut einritzt .
Ich habe dir die Geſchichte eines niedrigen Krebstiers ,
des Kellereſels , erzählt . Dort ſchuf die Natur abwechſelnd
ſolche Verſchlüſſe und Wiederöffnungen . Es iſt , als wolle der
Menſch dunkel dahin , aber mit welchen Mitteln !
Und doch : wenn man ſieht , welche Mittel die Natur
braucht , um ihre Ziele zu erreichen , wie ſie durch zuckende ,
zerquälte Leiber , zerſchmetterte Leichen , verglühte , vereiſte , zer¬
pulverte Planeten wandert , — dann darf man von dem
Menſchen nicht zu viel verlangen in der Wahl ſeiner Mittel ,
— iſt er doch ſelber nur ein Akt , eine Rolle , eine Ver¬
kleidung dieſer Natur . Aber dieſe Natur ſteigt höher und
höher über dieſen ihren Pfad . Und auch im Menſchen glüht
ſchließlich durch allen Dunſt von Blut und Wunden die un¬
endliche Sehnſucht , das unabläſſige Empor und Empor eines
reineren , harmoniſcheren Sittengeſetzes .
Selbſt dieſe armen infibulierten Mädchen ſind Stationen
dazu . Sie ſind das Extrem der Idee , daß mit dem abſoluten
Körperverſchluß außerhalb der individuellen erotiſchen Hingabe
die Moral dieſer Hingabe allein zu retten ſei . Abſolute
Reinheit bis zur Ehe wurde vom Weibe gefordert . Hier hatte
ſich die Moral feſtgeſetzt . Aber die Schwäche des Menſchen
ſtand auch vor Augen . Wie dieſe Reine erhalten in einem
nackten Leben zwiſchen beſtändigen Berührungen mit dem
anderen Geſchlecht in jeder Intimität ? Vor dem Altar dieſes
Konfliktes wird der arme Menſch gekreuzigt , der Weg der
Liebe , die zum höheren moraliſchen Stockwerk anſteigen ſoll ,
fällt wieder einmal unter das Meſſer .
Unwillkürlich , wenn man an die Millionen ſchwarzer
Mädchen denkt , die alle dieſer , ſchwierigen , auf Tod und Leben
ſchmerzhaften , tief beſchämenden Operation unterworfen werden ,
drängt ſich doch der Gedanke vor : welche dämoniſch koloſſale
Wucht eine ſolche menſchliche Idee , wie hier die der Jungfern¬
ſchaft , an ſich in den Menſchengehirnen beſeſſen haben muß .
Wir fühlen den Atem dieſer Gewalt ſelbſt auf einem ſolchen ,
wie wir ſagen müſſen , Narrenwege , wo der Sturm ſich ver¬
bohrt hat und thatſächlich nicht weiter kommt .
Aber es war auch etwas in jedem Betracht Hinreißendes ,
was gerade hier noch in das Ganze hineingeraten war .
Um es zu erfaſſen in ſeiner vollen Größe , müſſen wir
ein anderes Blatt in der alten Liebesbibel der Menſchheit
aufſchlagen . In dieſer ganzen letzten Betrachtung hat es eigent¬
lich ſchon neben uns geſtanden .
Die Geſchichte der menſchlichen Ehe .
D ie Ehe iſt keine Erfindung des Menſchen .
Sie iſt älter als der Menſch .
Das Tier hat den Menſchen erfunden . Aber lange ehe
es dazu kam , hatte es die Ehe erfunden .
Da liegt wieder die Grotte im Kalkſtein , dieſes Paradies¬
bild moderner Forſchung . Das rote Licht der Herdflamme
glüht über nackte Menſchenleiber . Draußen glänzen die
Gletſcher der Eiszeit im Sternenlicht und der Sturm brüllt .
Gab es vor dieſem Hintergrunde ſchon etwas , was unſerer
Ehe glich ?
Uns heute verſchlägt es nichts , uns einen Urmenſchen
auch zu denken ohne Ehe .
Wenn wir tönende Worte hören von der „ ewigen In¬
ſtitution “ der Ehe , ſo regt ſich in uns eine ſtille , ehrliche
Beſcheidenheit . Der Menſch iſt ja nicht ewig , er war einmal
Tier . Er war Fiſch und Wurm . Was ändert's da , ob wir
die Ehe rückwärts auch noch irgendwo mit in Kauf geben .
Irgendwann mag auch ſie ſich erſt entwickelt haben .
Nun mißt der Blick . Da ſind wir bei dem Menſchen
noch nahe an der Grenze der Tierheit . Erſt eben fällt ſein
altes Affenhaar . Sollen wir ihm wirklich dort ſchon etwas
anſcheinend ſo kompliziertes zuſchreiben wie die „ Ehe “ ?
Im warmen Bauch der Höhle ſitzt die nackte Bande um
ihr Feuer , Männer und Weiber . Eine Beute iſt gemacht ,
ein Mammut iſt in einer Grube gefangen , mit Pfeilen vom
ſicheren Rande aus erſchoſſen worden . Nach langem Hungern
ſind alle einmal wieder ſatt geworden . Ihr Blut glüht von
Wärme und junger Kraft . So regt ſich der gewaltigſte Trieb .
Jahrtauſende noch trennen dieſen Tag von unſern älteſten
Überlieferungen feſter menſchlicher Liebesſatzungen . Wie nahe
liegt es , ſich hineinzudenken in ein freies Umarmen Aller mit
Allen ! Kein Geiſt irgend einer überkommenen Vorſchrift weht
durch den heißen Raum . Nur das uralte Liebesgebot ſelbſt .
Wo ſollen da Schranken geweſen ſein ? Wie die Tiere werden
ſie in ihrer Kraft ſich ausgetobt haben , wahllos , regellos , nur
Keime pflanzend im dunkeln Trieb , damit die Menſchheit
nicht wieder ausſterbe , nun ſie eben endlich da war , — wie
die Eintagsfliegen , wie die Heringe in den Schauern ihrer
großen Gattungsnacht ... .
Wie die Tiere ! Das klingt ſo überaus plauſibel .
Indeſſen , es giebt da eine hübſche Geſchichte , die ich dir
nicht vorenthalten möchte .
Es war einmal ein Häuptling auf der Inſel Ceylon .
Die Geſchichte ſpielt in neuerer Zeit und der Mann lebte
durchaus innerhalb gewiſſer Begriffe von Ehe . Er war aber
Polygamiſt nach Landes Brauch , hatte alſo mehrere Frauen .
Nun kommt er zu den Weddas , jenem viel urtümlicheren , zwerg¬
haften , noch den Grenzen aller Kultur anſcheinend außerordent¬
lich nahen Volksreſt in den Urwäldern ſeiner Inſel . Ihm mag
zu Mute geweſen ſein , wie wenn wir unter jene Schuſſenrieder
oder Taubacher an der Eiszeitgrenze gerieten . Er ſchaut ſich
auch nach der Ehe der Leute um und er bemerkt hier etwas ,
was ihn förmlich entſetzt . „ Dieſe Menſchenkinder “ , ruft er ,
„leben ja in der kompleteſten Barbarei , denn ſie — haben
jeder nur eine Frau , von der ſie ſich nur im Tode trennen .
Unerhört , — die leben ja reinweg wie die Wanderu-Affen ! “
Die Geſchichte iſt bekräftigt durch die Autorität von zwei
guten Leuten , nämlich John Lubbock und Charles Darwin .
Ihr wichtigſter Inhalt iſt , daß dieſer Sohn der Paradies¬
inſel ſich eine entſchieden andere Meinung darüber gebildet
hat , was es im Punkte Liebesleben heißt , wie ein Affe , alſo
wie ein Tier , leben . Es heißt für ihn in einer Ehe leben mit
monogamiſcher Strenge . Wenn er an ſeinen Wanderu-Affen ,
den ſchwarzen Geſellen mit dem langen , weißen Patriarchen¬
bart auf den Zweigen ſeiner Wälder , denkt , ſo giebt ſich ihm
das Bild eines Tierpärchens , das auffällig konſequent in
ſeiner Zweiheit zuſammenhält . Und er mißt die Barbarei
eines Menſchenſtammes daran , wie nah er ſolchem Wanderu-
Brauche noch ſtehe .
Nun läßt ſich wirklich nicht darum herumkommen : dieſer
Häuptling hat in ſeiner Art recht .
Wenn wir von unſern Schuſſenrieder Steinzeitmenſchen
ſagen wollen : ſie lebten im Punkte Liebesleben noch wie „ die
Tiere “ , — ſo brauchen wir bloß eine Anzahl wirklich be¬
obachteter Tierbeiſpiele uns zu vergegenwärtigen , um zum
Schluß zu kommen : gerade das kann heißen , ſie lebten in
der ausgeſprochenſten , feſteſten , treueſten Ehe auf Lebenszeit
und ſogar der monogamiſchen Ehe zu zwei und zwei . Um
ihre Höhle herum gab es eine ganze Maſſe hochentwickelter
Tiere , die ſtrikt ſo lebten . Sie leben heute noch und leben
noch genau ſo , mit dem durchweg geltenden Konſervativismus
der Tiere . Wir können hier alſo direkt ſchließen und ausſagen
und haben nicht bloß mehr oder minder wahrſcheinliche Schlüſſe
zur Hand . Nicht einmal das Wort „ Ehe “ , das doch ſo
proteiſch uns heute unter den Händen durch will , ſchwankt
hier . Es handelt ſich bei dieſen Tieren um die ſo zu ſagen
waſchechteſte Bedeutung des Wortes , die ganz ſchlichte , ur¬
väterlich in unſerer ganzen Litteratur vom Pfarrershandbuch
bis zum Standesamtskodex ſanktionierte . Ich höre einen
Pfarrer reden . Ihr ſollt nun Mann und Frau ſein , ſagt er
Das heißt : ihr habt einen Tiſch und ein Bett . Abſolut treu
bleibt ihr euch bis zum letzten Atemzug . Wo der eine hin¬
geht , geht der andere auch . In Gefahren ſteht ihr zuſammen
wie ein Leib . Aus eurer Ehe entſprießen Kinder . Ihr ſorgt
für ſie gemeinſam bis zur Aufopferung . Jedes iſt euch ge¬
meinſam , iſt euch gleich lieb , iſt euch heilig . Wenn ihr ſo
handelt , ruht der Segen Gottes auf euch , — der Segen der
Weltlogik .
Nun eben dieſe Ehe iſt es , die das Tier bereits an
beſtimmten Stellen längſt errungen hatte , als der Menſch
überhaupt erſt entſtand .
Eine ganz beſtimmte Kette von Vorgängen , von tieriſchen
Notwendigkeiten hatte dazu führen müſſen .
Du weißt , welche Kunſtſtücke die Natur zunächſt vollführt
hat , die Geſchlechter zu trennen . Hier ein Männchen , dort
ein Weibchen . Das wurde jedes im Ganzen ſo individuell
herausgearbeitet wie irgend möglich . Bloß im Punkte des
Geſchlechtes war jedes eine Hälfte . Zum Geſchlechtsakt mußten
beide eng zuſammenkommen . Für den Moment der Samen¬
ergießung mußte jedes der beiden Individuen ein Stück
Individualtrotz freiwillig aufgeben und die beiden mußten
momentweiſe zu einem einzigen höheren Individuum verſchmelzen .
Momentweiſe ! Ja das war der Anfang . An dieſer Ecke aber
haſpelte die Maſchine gar bald weiter und faßte am kleinen
Finger die ganze Hand .
Ein Männchen und ein Weibchen kommen einmal in
ihrem Leben zum Begattungsakt zuſammen . Dabei werden die
Eier befruchtet und zugleich abgelegt . Dann ſterben beide Tiere .
Das iſt die Urſtufe dieſer Linie .
Du kennſt ſie : es iſt die Eintagsfliege . Da nur zwei
Individuen in Frage kommen , wenn es ſich überhaupt nur um
einen einzigen Akt handelt , ſo liegt hier ſcheinbar ſchon etwas
monogamiſches , aber in Wahrheit iſt ja in dieſem Sinne jeder
einzelne Liebesakt monogamiſch und von Ehe iſt noch keine
Rede dabei .
Zweite Stufe : das Männchen und Weibchen leben auch
nach dem Akt noch weiter und beſitzen gleich oder ſpäter die
Kraft , den Akt nochmals und öfter zu vollziehen . Ein Bock
in gutem Alter hat Gaben genug für hundert Ziegen ! In
dieſem Falle liegt aus der Sache heraus zunächſt kein Grund
vor , daß nicht jedes neu belegte Weibchen auch wirklich ein
neues für das Männchen ſein könnte und umgekehrt . Es
giebt ſo zu ſagen keine erotiſche Erinnerung und damit erſt
recht jetzt keine Spur von irgend etwas Eheähnlichem .
Doch gemach : die dritte Stufe ſetzt ein bei dem „ gleich
oder ſpäter “ . Folgt auch nicht auf die Begattung mehr der Er¬
ſchöpfungstod , ſo folgt doch ein gewiſſes Kräfteſinken , das erſt
wieder Zuwachs erfordert , alſo Zeit braucht . Beim Weibchen
kommt hinzu , daß das Kinderkriegen ein Intermezzo noch da¬
zwiſchen legt . Kurz , du ſiehſt das Allbekannte eintreten : die
Begattungszeit dauert nicht über das ganze Jahr , ſondern
regelt ſich mit Pauſen dazwiſchen . Es treten jene feſten „ Brunſt¬
perioden “ ein , vielfach nur eine jährlich . Je zur Brunſtperiode
einigen ſich Männlein und Weiblein . Iſt die Periode um , ſo
trennen ſie ſich auf Nimmerwiederſehen . Zur nächſten geht
das Spiel wieder los , aber wie viel liegt da dazwiſchen . Die
alten Individuen , zerſtreut überall hin , gehen mit neuen auf
neue Liebesfreuden ein . Und ſo fort . Auch hier noch keine
Spur von Ehe .
Bemerkenswert iſt ja hier bereits ein Zuſatz .
Mindeſtens ſchon auf dieſer Stufe wird in der Brunſt¬
periode nicht wahllos bald das , bald jenes Individuum gewählt
werden . Mangel kann an Weibchen oder je nachdem auch an
Männchen herrſchen . Dann iſt ein Männchen froh , wenn es für
ſeine ganze Brunſtperiode ein Weibchen überhaupt hat und wird
zäh an dieſem feſthalten , der Rarität wegen . Es wird es heftig
verteidigen , wird anderen Männchen in lodernder Eiferſucht
entgegentreten . Und dann : jene Liebeswahl im Paradiesvogel¬
ſinne wird ſich geltend machen . Das ſtärkſte , auffälligſte ,
hübſcheſte Männchen oder Weibchen wird bevorzugt werden ,
und auch das giebt zähes Zuſammenhalten der Erwählten für
die ganze Brunſtperiode , zur reinen Seltenheit tritt ja jetzt
der Liebhaberwert . Streng genommen fangen dieſe Dinge ſchon
da an , wo es ſich noch gar nicht um öfter wiederkehrende
Brunſtperioden handelt . So iſt bei unſern Nachtſchmetterlingen ,
die durchweg weniger Weibchen haben , als Männchen , die
numeriſche Seltenheit ſchon bedeutſam und ebenſo ( bei dem
hohen Rhythmotropismus aller Schmetterlinge ) die äſthetiſch-
erotiſche Wahl beſtimmter „ ſchönſter “ Individuen . Dieſe Zu¬
ſatzerſcheinung läßt ſagen : es einigen ſich zur Brunſtperiode
jedesmal je ein Männchen mit einem Weibchen , als ſollte es
eine Ehe werden . Aber das Entſcheidende iſt doch hier noch ,
daß es eben keine wird , denn bald iſt die Brunſt herum , nun
kommt das lange Interregnum , in dem nichts die beiden zu¬
ſammenhält , und wenn die neue Brunſt kommt , heißt's „o wie ,
liegt ſo weit , was mein einſt war “ , die alten Individuen
haben ſich verloren und vergeſſen , und es erfolgt eine neue
Wahl . Im Grunde iſt 's und bleibt's doch nur eine individuelle
Wahl zu einer großen Begattung , nichts weiter . Und die
nächſte Höhenlinie erſcheint erſt hinter dem Sätzchen „ das lange
Interregnum , in dem nichts die beiden zuſammenhält . “ Dieſes
Interregnum ſorgt eines Tages doch für etwas derart .
Die vierte Stufe ſetzt nämlich mit einer ganz anderen
Ecke als der Begattung ein . Erinnere dich an Spinne und
Stichling . Die Jungen erfordern Pflege ! Eines der beiden
Alten wird da zunächſt herangezogen für einen Teil ſeiner
Nichtbrunſtzeit . Im Falle Spinne iſt es das Weibchen . Im
Falle Stichling das Männchen . Wenn aber die Anforderungen
größer werden , müſſen beide Liebespartner heran . Das
Männchen und Weibchen , die den Begattungsakt vollzogen
haben , müſſen auch über dieſe Zeit weit hinaus noch beiſammen
bleiben . Es gilt ein Neſt bauen , Futter tragen , die brütende
Mutter und die hilfloſen Jungen verteidigen . Dieſe Dinge
ſchieben ſich zum Teil zurück in die Brunſtperiode noch ſelber .
Dieſe kann gar nicht mehr anders durchgeführt werden als von
ein und demſelben Paar . Ein ganzer Complex von Pflichten
wickelt ſich nach allen Seiten um die Gatten . Dieſes Stadium
iſt entſchieden ſchon eheähnlich . Es iſt eine Art Zeitehe
auf Widerruf .
Von hier aber iſt der Schritt zur fünften Stufe eine
logiſche Kleinigkeit . Die Jungenpflege dehnt ſich ſo lange aus ,
daß Männlein und Weiblein noch beiſammen ſind , als ſchon
die nächſte Brunſtperiode naht . Was wird geſchehen ? Sie
bleiben halt auch in der zuſammen , ſie beide . Erſtens legt 's
die Gewohnheit nahe . Sind ſie ſich doch in der gemeinſamen
Zeit nicht bloß durch die Liebesfidulität nahe gekommen ,
ſondern noch durch etwas entſchieden Dauerhafteres : nämlich
gemeinſchaftliche Arbeit . Zweitens mag der Vogel denken :
eine beſſere , einen beſſeren kriege ich vielleicht doch nicht ;
möglich daß ich ganz ſitzen bleibe , wenn ich dieſe oder dieſen
jetzt laufen laſſe . Mag's nun der Vogel bewußt ſelber ſo
denken oder ( je nach deiner Auffaſſung von Inſtinkt ) mag
„ es “ in ihm denken , das laſſe ich dir offen . Jedenfalls iſt
das Fazit , daß der Ehekontrakt ſtillſchweigend auch für das
neue Brunſtquartal erneuert wird . Dieſes Brunſtquartal liefert
aber wieder Junge und damit geht die Geſchichte wieder ins
ſelbe Geleis . Die Zeitehe iſt einfach zur Dauerehe erklärt ,
ohne viel Skrupel . Willſt du dir ausmalen , es bliebe noch
ein Lebensreſt über die Zeugungszeit hinaus , wo alſo die
Brunſtperioden erlöſchen , und wie es da werden ſoll , ſo denke
an das Bild kleiner Seidenäffchen oder der lieben Inſeparables
unter den Papageien : da haſt du Ehepaare , die auch außer¬
halb der gemeinſamen Liebe und Jungenpflege ſich derartig
ans Umklammern , Drücken , gegenſeitige Wärmen , Zuſammen¬
ſchlafen gewöhnt haben , daß du ſolche Gewohnheit ſchließlich
nicht mehr auseinander bekommſt , du töteſt die beiden denn .
Mit dieſer fünften Stufe biſt du aber ſchon auf dem
Gipfel : bei der Ehe im ſchärfſten Sinn . Und doch ſtehſt du
noch mit beiden Beinen feſt im Tierreich unterhalb des
Menſchen .
Damit es nicht bei der Behauptung bleibe , will ich ein
paar kurze Beiſpiele noch für die letzten Stufen nachtragen , —
für die erſten haben wir ſie ja ausführlich genug ſchon früher
berührt .
Das ſchönſte Geſamtbeiſpiel für die Vollendung bereits
der letzten und höchſten Stufe bieten die Vögel .
Gegen den Menſchen und in vieler Hinſicht überhaupt
gegen das Säugetier gehalten , iſt der Vogel ein weſentlich
niedriger ſtehendes Tier . Er iſt der Gipfel des Reptilientypus ,
die Maximalleiſtung der Eidechſe , die befiedert , im höchſten
Maße warmblütig und geiſtig äußerſt regſam geworden iſt .
Bei dieſem Vogel iſt die ſtreng monogamiſche Ehe auf Lebens¬
zeit nicht die Ausnahme , ſondern die Regel , an der einzelne
Ausnahmen nichts ändern .
Man darf ſich den Eindruck dieſer Ehe natürlich nicht
trüben durch extreme Idealforderungen , die beim Menſchen ,
beim höchſten Kulturmenſchen ebenſo wenig zutreffen würden .
Unſere monogamiſche , mit allen Speeren des Rechts , allen
11
Heiligungen religiöſer Verklärung , allen Feuerflammen der
Moral wie Brunhild in ihrer Waberlohe umgürtete „ Ehe “
bildet faktiſch auch nur einen Pfahlbau inmitten eines weiten
Meeres von Untreue , Störungen , Idealtrübungen , gewaltſamen
Riſſen aller Art . Das iſt ſo und war ſtets ſo . Auch das
Vogelweibchen iſt in ſo und ſo viel Einzelfällen untreu , Ehen
zerreißen doch noch wieder , die Witwe tröſtet ſich raſcher noch
als die berühmte von Epheſus . Das iſt aber das Nebenwerk :
die allgemeine Gebrechlichkeit jeder Inſtitution . In der Maſſe
triumphiert die monogamiſche Dauerehe des Vogels trotzdem
abſolut .
Das geringſte Nachdenken zeigt , wie im Sinne jener
Skala gerade der Vogel auf dieſe Ehe geraten ſein muß .
Von der Eidechſe übernahm er den Brauch , ſeine Eier
noch äußerlich abzulegen . Erſt im gelegten Ei , unter dicker
Kalkſchale , entwickelte ſich das Junge , außerhalb der Mutter .
Aber dieſe Vogelmutter hatte etwas Beſonderes : Wärme . Sie
hatte eine innere Heizung . Es iſt der Natur auf dieſer Stufe
nicht geglückt , dieſe Heizung ſchon in das Ei zu bringen im
Sinne , daß dieſes ſich ſelbſt von innen heizte . Es will vom
elterlichen Leibe noch gewärmt , will bebrütet werden . Das
Bedürfnis des alten Tieres , ſich brütend auf ſeine Eier zu
ſetzen , hat dann wieder das Neſt erzeugt . Der Strauß legt
ſeine Eier noch wie die Schildkröte in eine ſchlichte Sandgrube
und benutzt wenigſtens in den Pauſen des Brütens einfach die
Sonnenwärme in dieſem Sande als Brütofen . Unſer kleiner
ſchnurrender Ziegenmelker der Sommernacht wählt als Niſtſtätte
einfach einen verborgenen Winkel des geſtrüppverdeckten Wald¬
bodens , einen Neſtbau kennt er noch nicht . Aber dann ſiehſt
du Schritt für Schritt anſteigend die Fortſchritte . Der ſchaufelt
eine kleine Mulde im Erdreich , der ſcharrt ſchon ſelber etwas
Geſtrüpp darin zuſammen . Die Wildente füttert ſchon mit ein
paar weichen Federn , — das wird bei der Eiderente zum
wahren Daunenbett . Der Pinguin tieft die Mulde nach unten
zur Röhre , endlich zum reinen unterirdiſchen Kaninchenbau .
Die Uferſchwalbe , der ſchöne Eisvogel und der farbenfrohe
Bienenfreſſer ſchlagen metertiefe Röhren in die Wände der
Flußufer . Aber der Vogel kann ja mehr , als ſchlangenhaft in
die Tiefe gehen : ſein Reich iſt die Luft . So ſucht er ſich hoch
auf der Aſtgabel eines Baumes ſeinen Fleck , dorthin trägt er
mit ſeinem prächtigen Organ , dem Schnabel , die Reiſigfüllung
der Erdgrube , bis die Plattform der Ringeltaube und Turtel¬
taube zunächſt einmal roh im Blätterverſteck ſchwebt . Der Wind
will den loſen Bau fortreißen , aber ein natürlicher Kitt hat
ihn verklebt : der Vogelmiſt . Das greift die Elſter auf : ſie
wirft den Miſt hinaus , trägt aber feuchte Erde ein und kittet
mit der die Neſtwölbung feſt . Da es der Schnabel iſt , der
die Erde bringt , fließt Speichel darauf und thut ſo natürlichen
Klebſtoff dazu . Alſo beſpuckt die Singdroſſel um und um ein
Gebröſel von zerbiſſenem faulen Holz der Erlkönigsweiden und
klebt ſich davon eine ſolide Neſtwand . Die Salangane aber ,
die indiſche Schwalbe , bringt es in der Übung des Spuckens
ſo weit , daß ſchließlich das ganze Neſt aus Schleim zuſammen¬
gerülpſt wird , — gerade dieſes Neſt hat der Menſch ſich als
Leckerbiſſen auserkoren zur Vogelneſtſuppe . Inzwiſchen haben
die andern Schwalben regelrecht aus Lehm mauern gelernt und
der Töpfervogel Amerikas mauert ſich daraus gar ſchon ein
Häuslein mit zwei Kammern inwendig . Die Spechte aber
haben in das Baumholz Röhren getrieben wie der Eisvogel
in ſeine Uferwand . In ſolchem Baumloch brütet auch das
Weibchen des großen Hornvogels , damit es aber ja niemand
dort ſtöre , mauert der Mann mit Lehm die Öffnung bis auf
ein winziges Löchlein zu , durch das er die Nonne im Kerker
ſo lange atzt . Die Kleinſten der Kleinen , deren Schnäbelchen
am allergewandteſten iſt , laſſen endlich Bohren und Spucken
und Mauern noch wieder als zu roh beiſeite . Sie bauen ihr
Neſt zur grünen Kugel aus mit nur einem kleinen Eingang ,
wie der Zaunkönig . Sie pflanzen es als Pfahlbau zwiſchen
11*
Rohrſtengel über den Waſſerſpiegel , wie der Rohrſperling , daß
kein ſchwereres Klettertier mehr hinzu kann . Sie werden zum
Schneidervogel , der den Schnabel als Nadel benutzt und feine
ſelbſtgedrehte Fäden durch eingeſtochene Blattlöcher zieht , bis
das Neſt in einer regelrecht vernähten Blattſcheide ſteckt , die
von den lebendigen Blattſtielen frei getragen wird . Und ſie
werden endlich zum Webervogel , der aus Wolle und Baſt die
zierlichſten Hängekörbchen , Beutel und Flaſchen webt , die ſteil
vom freien Aſtende übers Waſſer hinaushängen , ebenfalls gegen
jeden Feind wunderſam geſchützt .
In dieſem Neſt kriechen die Jungen aus dem Ei , in un¬
zähligen Fällen völlig hilflos , nur nach Nahrung ſchreiend ,
Tag und Nacht . Die muß das alte Tier jetzt auch anſchleppen
in raſtloſer Arbeit . Und noch der flügge junge Vogel muß
angelernt werden .
Kein Zweifel : das iſt unendliche Arbeit . Schon der Neſt¬
bau fordert beide Gatten heran . Wenn das Weibchen brütet ,
muß der Mann es atzen , oder er muß ihm Mittagspauſen
gewähren , wo er ſelbſt die Eier bedeckt . Sind die Jungen
da , ſo müſſen beide vereint zutragen . In dieſer Schule iſt es
wahrhaftig kein Wunder , daß die beiden , die ſich zur Begattung
gewählt , ſich als rechte Eheleute aneinander gewöhnen .
Bei den Zwergpapageien herrſcht ( um Schomburgks
Wort zu gebrauchen ) „ die vollkommenſte Harmonie zwiſchen
dem beiderſeitigen Wollen und Thun : frißt das eine , ſo thut
dies auch das andere ; badet ſich dieſes , ſo begleitet es jenes ;
ſchreit das Männchen , ſo ſtimmt das Weibchen unmittelbar mit
ein ; wird dieſes krank , ſo füttert es jenes ; und wenn noch ſo
viele auf einem Baume verſammelt ſind , ſo werden doch niemals
die zuſammengehörigen Pärchen ſich trennen . “
Von einem Pärchen der umgekehrt rieſigſten Papageien ,
der Araras , ſchoß ein Jäger das Weibchen ab und hängte es an
den Sattel ſeines Pferdes . Das Männchen folgte dem Reiter
bis zu ſeinem Hauſe mitten in der Stadt , warf ſich dort über
ſeine tote Genoſſin und war mehrere Tage nicht zu vertreiben .
Es ließ ſich mit Händen greifen und blieb ſchließlich als Ge¬
fangener bei den Leuten .
Wenn die Goldſpechte in Nordamerika glücklich verehelicht
ſind , erzählt Audubon , der alte unvergleichliche Charakterſchilderer ,
ſo beginnt jedes Paar „ ſofort einen Baumſtamm auszuhöhlen ,
um eine Wohnung zu erbauen , welche ihnen und den Jungen
genügt . Beide arbeiten mit größtem Eifer und , wie es ſcheint ,
mit größtem Vergnügen . Wenn das Männchen beſchäftigt iſt ,
hängt ſich die Gattin dicht daneben und beglückwünſcht es über
jeden Span , welchen ſein Schnabel durch die Luft ſendet .
Wenn er ausruht , ſcheint er mit ihr auf das zierlichſte zu
ſprechen , und wenn er ermüdet iſt , wird er von ihr unterſtützt .
In dieſer Weiſe , und dank der beiderſeitigen Anſtrengung ,
wird die Höhle bald ausgemeiſelt und vollendet . Nun liebkoſen
ſie ſich auf den Zweigen , klettern mit wahrem Vergnügen an
den Stämmen der Bäume empor oder um ſie herum , trommeln
mit dem Schnabel an abgeſtorbene Zweige , verjagen ihre
Vettern , die Rotköpfe , verteidigen das Neſt gegen die Purpur¬
ſtare , kichern und lachen dazwiſchen “ .
Wer da weiß , wie ſtark im Vogel überhaupt Solidaritäts¬
gefühle vorhanden ſein können , den wird es keinen Moment
wundernehmen , daß dieſe eheliche Lebensgemeinſchaft ſie auch
über das Erotiſche hinaus zur wärmenden Flamme entfacht .
Man muß an die Geſchichte vom Rotkehlchen denken , die
Brehm aus eigener Erfahrung mitteilt . „ Zwei Rotkehlchen¬
männchen , welche in meinem Heimatsorte gepflegt wurden und
einen und denſelben Käfig bewohnten , lebten beſtändig in Hader
und Streit , mißgönnten ſich jeden Biſſen , anſcheinend ſelbſt
die Luft , welche ſie atmeten , und biſſen ſich aufs heftigſte ,
jagten ſich wenigſtens wütend in dem ihnen gegönnten Raume
umher . Da geſchah es , daß eins durch einen unglücklichen
Zufall das Bein brach . Von Stund an war aller Kampf be¬
endet . Das geſunde Männchen hatte ſeinen Groll vergeſſen ,
nahm ſich mitleidig des ſchmerzgepeinigten Kranken an , trug
ihm Nahrung zu und pflegte ihn aufs ſorgfältigſte . Der
zerbrochene Fuß heilte , das krankgeweſene Männchen war
wieder kräftig wie vorher ; aber der Streit zwiſchen ihm und
ſeinem Wohlthäter war für immer beendet . “
Oder die andere liebliche Rotkehlchen-Novelle bei Snell ,
wo das Männchen , mit den Jungen im Neſt gefangen , zuerſt
die eigene Brut im Zimmer groß zieht und danach auch noch
die eines zweiten , fremden Neſtes .
Wo ſolche Grundlagen gegeben ſind , da muß ein lebens¬
längliches Freud- und Leidteilen zweier Individuen allmählich
die Ehe auch mit all ihren Gemütsregungen herſtellen .
T ief im Erdreich unter dem alten Gartenzaun , wo du
das Liebesleben der Spinnen beobachtet haſt , liegt , profanen
Augen völlig verborgen , ein geheimnisvoller Eskimobau . Dort
hauſt in ſeinen Mußeſtunden ein ſchwarzer Einſiedler , den du
aus ſeiner Arbeitszeit gut kennſt .
Es iſt der Maulwurf .
Weit ab von dieſem Verſteck ſtößt er dir Haufen um Haufen
in die grüne Wieſe . Sie iſt ſein Jagdgebiet , das er unabläſſig
in raſch gewühlten unterirdiſchen Gängen durchpürſcht . Ab und
zu ſchmeißt er eine Laſt überflüſſigen Materials dabei herauf
und läßt zugleich friſche Luft in ſeine Katakombe ſtreichen .
Was er bei dieſen Rundgängen trifft , wird gepackt und mit
dem böſen Gebiß zermalmt : Regenwurm und Grille und
Engerling . Der Ringelnatter beißt er unentwegt ins Schuppen¬
kleid , den armen Froſch zieht er plötzlich von unten am Bein
in die Verſenkung . Wenn er aber ausgefreſſen und ausgejagt
hat , dann fährt er in einen beſonders präparierten , feſtgeſtampften
Dauergang ein , der bis an die fünfzig Meter lang ſein kann .
Erſt am Ende dieſes großen Laufganges liegt ſein eigentliches
Häuslein , die beſagte Eskimohütte .
Als Hauptteil eine rundliche Kammer , wohlig ausgepolſtert
wie ein molliges Neſtlein mit jungem Korn , Moos und Wurzel¬
faſern . Um dieſe Zelle zieht ſich ein überaus ſinnreiches Ring¬
ſyſtem von Vexiergängen zum Entrinnen und unbemerkten Ver¬
laſſen . Zunächſt ſtrahlen drei Röhren von der Kammer aus ,
die oberhalb der Wohnzelle ein kleiner Kreiskanal ringförmig
vereint . Von dieſem oberen Kreiſe aber fallen ſechs Zwiſchen¬
röhren ab in einen größeren Ringkanal , der parallel dem kleinen ,
aber tiefer , genau auf dem Kammerniveau , die Wohnzelle um¬
kreiſt . Wieder von dieſem großen Ring fahren zehn neue
Röhren ſcheinbar ganz ins Weite in die Erde hinaus . Doch
im Verfolg biegen ſie faſt alle um und münden ſchließlich wie
ein verkrümmtes Stromnetz in eine längſte ein , die ſelber dann
wirklich weiter und weiter geht und endlich nichts anderes
iſt als jene Laufröhre , die viele Meter weit zum Jagdrevier
in die Wieſe leitet . Vorher aber kommt in dieſen Externkanal
noch eine allerintimſte Verſenkungsöffnung , nämlich eine Röhre ,
die ſenkrecht aus dem Boden der Kammer abfiel , um ſich auch
im Bogen hier heranzukrümmen . Die Pforte zu dieſem raffi¬
nierteſten Geheimgang liegt unmittelbar unter dem Polſter¬
bettlein des Maulwurfs . Deckt ein Unberufener die Kammer
von oben auf , ſo verſchiebt der Alte ſeine Mooskiſſen , plumpſt
einfach zwiſchen ihnen in die Tiefe , erreicht mit einem Purzel¬
baum und einer Richtungsänderung durch den krummen Aſt
ſeinen Laufgang und ſauſt bereits ſeine fünfzig Meter dort
unſichtbar ab , während der plumpe Spaten oben noch nach
ihm wühlt .
Dieſer Maulwurf in ſeiner Burg iſt ein wunderbares
Beiſpiel aus der niedrigeren Säugetierwelt für unſere Station
Numero Vier in der Geneſis der Ehe . Er kennt noch keine
Dauerehe , dagegen ſchon alles Tiefere : Zeitehe , individuelle
Wahl und die tollſte Eiferſucht .
Nicht umſonſt hauſt er unter dem Spinnenzaun . In
ſeiner außerehelichen Zeit iſt er , Männlein wie Weiblein , der
ſpinnefeindlichſte Eremit und Haſſer ſeines eigenen Volks , ganz
einerlei ob es Mannsperſon oder Weibsbild ſei . Schnüffelt
er ſich durch ſeine Röhren und ſtößt dabei auf einen anderen
Maulwurf , ſo ſetzt's unter allen Umſtänden eine wilde Holzerei ,
wo nicht Kampf auf Leben und Tod . Kann er , ſo frißt er
einfach den anderen auf . Und das iſt hier genau wie bei
der Spinne : der ſtärkere Adam beißt ſich ſkrupellos in die
ſchwächere Eva und umgekehrt . Aber darin iſt der Moll denn
doch der Spinne weit über : er kennt ganz genau den Unter¬
ſchied zwiſchen Freſſen und Liebe .
Wenn die Liebeszeit , die Brunſtzeit im Jahre ihm in den
Pelz fährt , ſo weiß er ganz genau , was die Stunde geſchlagen
hat . Adam wie Eva fahren aus ihrem einſamen Bau ins
Weite mit dem ausdrücklichen Verlangen , einander zu begegnen .
So abſolut leicht iſt das nun nicht . Es giebt nämlich mehr
Adams als Evas . Und wenn Adam auf Adam in dieſen
Tagen ſtößt , ſo iſt der Abſcheu einfach noch größer , er iſt ja
ein Nebenbuhler . Doch das Glück will wohl : im langen
Laufgang rennt Adam gegen eine wirkliche Eva . Die Selten¬
heit entſcheidet : ſie iſt ſein Weib oder keine . Ihr freilich
pflegt das nicht ſo von vornherein ſelbſtverſtändlich zu ſein .
Sie geht ja wohl mit , aber ſie erwartet dabei ein gewiſſes Gottes¬
urteil . Entweder in ſeine Klauſe geht ſie mit , oder ſie läßt
ihn in ihre . Er iſt durchweg der Stärkere , einfach davongehen
kann ſie ihm alſo nicht . Schließlich will ſie das aber auch
gar nicht . Denn einen Mann will ſie ſchon . Bloß ſoll er
ſich noch ſo zu ſagen etwas ausweiſen , daß er auch ein echter
und rechter „ Mann “ , daß er ein Muſterbeiſpiel ſeiner Art
ſei . Und dazu pflegt es nicht an Gelegenheit zu fehlen .
Kaum hat Adam Fräulein Eva mit einiger Grobheit
( fein iſt ſeine alte Eremitenart noch nicht ſo bald ) ins Neſt
getrieben , ſo beginnt er plötzlich noch eine Sorte beſonderer
Röhren von dem aus in die Weite zu graben , die aber von den
anderen des Hauſes darin wunderſam abweichen , daß ſie hinten
blind endigen wie ein Sack , in den etwas geſtopft werden ſoll .
Und dazu iſt in der That meiſt ſehr bald die Zeit da .
Sei es nun auch hier durch irgend einen lieblichen Par¬
füm , den die Braut ausdüftet oder aus einer anderen Urſache :
die Mär pflegt ſich raſch bei anderen irrenden Mannesmaul¬
würfen verbreitet zu haben , daß in dieſem Bau ein friſch er¬
worbenes Weiblein zu finden ſei . Da berennt denn ein ſolcher
Ritter plötzlich die Liebesburg , indem er außen in den Gängen
erſcheint und rumort . Gleich wird er drinnen ſein , was thun ?
Im Adam erwacht eine wahnſinnige Eiferſucht . Auf und
hinaus zum Kampf . Aber die Feſtung hat ſeiner eigenen
Baukunſt nach ſo viel Notausgänge , daß eins zu beſorgen
ſteht . Während er für ſeine Schöne ficht , kann er dieſe nicht
bewachen . Wenn ſie nun durchbrennt ? Oder wenn ein dritter
Ritter gerade in dieſem Moment eindringt ? In der Not wird
alſo die Braut unſanft in eine der neuen Sackgaſſen gedrängt
und die Pforte zur Wohnſtube hinter ihr feſt verrammelt , zu¬
geſtopft , unkenntlich gemacht . So , nun kann der Rivale kommen .
Er kommt und das Duell geht los .
Dieſes Duell liefert aber ein unverkennbares Gottesurteil
der individuellen Körperſtärke . Wer ſiegt , iſt der Tapferſte .
Das denkt zweifellos niemand ſchärfer durch , als Eva ſelbſt .
Immerhin ſorgt ſie vor . Sie wühlt , während das ſchauerliche
Gefecht drüben im Dunkeln tobt , das verſchloſſene äußere
Wurſtende ihres Verließes ſelbſtthätig durch und ſchiebt ſich
im ſelbſtgegrabenen Fortſetzungskanal langſam auf eigene Fauſt
ein Stückel ins Weite . Vielleicht erlebt ſie ein drittes Abend¬
teuer . Aber der Sieger reißt plötzlich hinten den Verſchluß
fort und kommt ihr nach . Gut , ſei 's auch das . Nur , wer
iſt's ? Ob der Erſte oder der Neue , das iſt ihr höchſt egal .
Zu ſehen iſt hier in der Finſternis an den beiden doch nichts .
Aber unbedingt iſt der Sieger der „ Stärkere . “ Es lebe der
ſtarke Mann ! Und nunmehr giebt 's wirklich Ehe für die
nächſte Zeit .
Ein neuer Bau wird angelegt für die Jungen . Dieſes
Säugerweibchen legt zwar keine Eier mehr . Sein eigentliches
warmes Brütneſt iſt der warme Mutterleib . Aber darum
muß die tragende Mutter eben ſich pflegen . Und auch ſo noch
kommen die Jungen gar ſchwach und hülflos zur Welt . Sie
müſſen geſäugt und nachher noch durch zugeſchleppte Nahrung
gefüttert werden . Da ſorgen denn Mollmann und Mollfrau
in der rührendſten Weiſe ſolidariſch mit . Und erſt wenn das
junge Volk eine gewiſſe Reife hat , dann iſt es auf einmal , als
ſei die Ehe der Alten jetzt ohne Zweck . Die Brunſt iſt noch
nicht wieder da . Im Alltagswerk ſind ſich die beiden aber
eigentlich bloß im Wege . Die Eremitenſehnſucht regt ſich von
neuem und eines Tages ſitzt jedes wieder im eigenen Bau wie
die Spinne im Netz . Sie kennen ſich nicht mehr wenn das
nächſte Frühjahr eine neue Brunſtperiode bringt .
Und doch : wie wenig wäre nötig , um auch dieſe Zeitehe
in eine Dauerehe zu verwandeln ! Ich erzähle dir noch eine
Säugetiergeſchichte gleich hinterdrein , die dich faſt mathematiſch
genau auf die Wende von der vierten zur fünften Station
mitten im heiß pulſierenden Liebesleben noch heute ſtellt .
D u erinnerſt dich an die wilde Liebesfahrt der Heringe .
Wie unendliche Maſſen zur Küſte drängen und das Meer weit¬
hin mit Eiern und Samen erfüllen .
Das war der Fiſch . Über dieſen Fiſch hoch hinweg
aber ſtieg die Entwickelung der Wirbeltiere bis zum Säuge¬
tier . Im ganzen war dieſe Linie zugleich ein Herausſteigen
vom Waſſer aufs Land . Auf dem Lande und für das Land
iſt , wie der Vogel , ſo auch das Säugetier ſchon urſprüng¬
lich entſtanden . Aber wie vom Vogel der Pinguin wieder
faſt in Fiſchgeſtalt , mit ſchuppenartiger Feder und floſſenhaftem
Flügel , in die Salzflut zurückgeſtiegen iſt , — nachträglich
noch einmal — ſo vom Säugerſtamm Robbe , Seekuh
und Wal .
Das Fiſchſäugetier oder Seeſäugetier entſtand , — nicht , wie
der Laie wohl meint , ein noch lebender Übergang vom Fiſch
zum Säugetier , ſondern eine wunderbare Rückanpaſſung des
ſäugenden Huftiers und Raubtiers nochmals an das feuchte
Element .
Dieſe nachträgliche Anpaſſung bedingte aber im Liebes¬
leben wieder gar ſeltſame Folgen .
Auch die Robbe , auch der rieſige Walfiſch : ſie blieben
in ihrem Liebesroman echte Säuger , wie ihr Athmungsorgan
Lunge blieb anſtatt Fiſchkieme . Auch bei ihnen , wie beim
Maulwurf , wie beim Menſchen ſelbſt , war das erſte Neſt , wo
die Eier befruchtet , gelegt , ausgebrütet wurden , das tiefverſteckte
Innere des Mutterleibes . Mit dieſem Neſtlein in der Gebärmutter
mußte das Fiſchſäugetier ſeine Waſſerstiefen durchſchwimmen .
Noch mehr aber : wenn das Junge kam oder , je nachdem , die
Jungen , ſo wollten ſie am Euter des Weibes mit warmer
Muttermilch geſäugt ſein . Und ſchon die Begattung ſelber : ſie
wollte vollzogen ſein nach der ganzen komplizierten Art , wie
wir ſie durch Pforte , Glied und Innenanſchluß entſtehen ſahen
bis zum höheren Säugetier herauf .
Das äußerſte Wunder hat da der Walfiſch und ſein Ge¬
ſchlecht vollbracht : ihm fällt nicht nur die Zeugung , ſondern
auch die Säugung in ſein Bereich , den Ozean . Wo aber das
Seeſäugetier noch ein klein wenig mehr am Lande haftete ,
wenigſtens zeitweiſe noch freiwillig mit unbehilflicher Floſſe
einen Inſelfels oder Strand zu erklettern verſtand , da machte
ſich das Liebesleben noch das Hilfsprinzip zu Nutze . Und
hier iſt es , wo der Liebesroman der Robbe einſetzt , des
Seehundes .
Wenn du gegen einen großen Erdglobus ſo ſchauſt ,
daß der Stille Ozean ſich dir gerade entgegenwölbt , dann er¬
ſcheint dieſe Erde wie eine blaue Kugel , ein einheitlicher
Waſſerplanet . Über dieſes ganze Waſſerantlitz aber dehnt ſich
die Heimat der Robbe , die man „ Seebär “ nennt . Sie iſt
eng verwandt mit dem Seelöwen , den heute jeder Zoologiſche
Garten zeigt , etwas kleiner , immerhin im alten Manne aber
auch noch ihre drei Meter lang .
In ſeinem erſten Aufgang iſt es wirklich faſt , als wieder¬
hole das Liebesleben des Seebären den tollen Heringsſpuk .
Da iſt droben im Beringsmeer , wo Amerika und Aſien
aufeinander zueilen , der Frühling erwacht . Auf den Inſeln
iſt der Schnee getaut und die See liegt eisfrei . Um die Mitte
des April mag es ſein .
Da auf einmal tauchen wie in der ſkandinaviſchen Sturm¬
nacht von der Hochſee her anſchwimmende Tiere auf , große
Meerſäugetiere , die wie die Ochſen brüllen : nämlich alte
männliche Seebären .
Sie erſcheinen als Vorboten einer geheimnisvollen Wander¬
ſchaft . Acht Monate jetzt hat ſich dieſes Robbenvolk frei in
der Meeresweite herumgetrieben , — in dieſem ungeheueren
Meer , das nach Süden abermals bis zum Pol flutet , an
Koralleninſeln mit wehenden Palmen und Bananen vorbei bis
in die wilde Öde , wo nur die ſchwarzweißen Pinguine noch in
langer Reihe auf einem kriſtallblauen Eisberge dahinſegeln .
Dort wußten ſie von Liebe nichts , von Ehe nichts . Höchſtens
von einer allgemeinen harmloſen Geſelligkeit . Da aber , ge¬
nau wie bei den Heringen , regt ſich in beiden Geſchlechtern
plötzlich ein unhemmbarer Drang .
Ans Land !
Es iſt wie ein Beſinnen auf die uralte Säugetierheimat ,
— Meluſine , die ſich plötzlich erinnert , das ſie einmal Menſch
war .... Aber mehr . Zurück zur eigenen Jugendſtätte ! Jedes
iſt in erſten Tagen einmal am Lande geweſen , hat dort das
Licht der Welt individuell erblickt . Das mag die Jüngeren
beſonders dunkel ziehen . In den Älteren , den Lebensreifen ,
arbeitet dagegen noch etwas ganz beſonderes , etwas noch
„ lebendigeres . “
Es iſt bei Mann und Weib zunächſt verſchieden , grade
darin aber hat es eine echte Heringsähnlichkeit ,
Der Robbenmann fühlt Liebesſehnſucht im Sinne des
Heringsmännchens : ſeine Brunſt iſt erwacht , ſeine Zeugungs¬
zellen wollen auf die große Wanderſchaft zur Unſterblichkeit
der Art .
Das Robbenweib dagegen fühlt einen Drang , der aller¬
dings auch durchaus dem des weiblichen Herings entſpricht und
der dort , beim Heringsfrauchen , in der That ebenfalls mit dem
Begriff der Liebe zuſammenfiel , — der aber hier , beim Säuge¬
tier , vielmehr auf ein weit höheres Kapitel deutet : nämlich
die Ehenotwendigkeit . Das Heringsweiblein ſehnte ſich , ſeine
Eier fallen zu laſſen , noch vor der Befruchtung und erſt zum
Zweck , daß dieſe erfolge . Frau Robbe aber trägt längſt ein
befruchtetes Ei in ſich , aus dem hat ſich in ihrem warmen
Neſtbauche ganz allmählich in den acht Monaten ein großes
junges Seebärlein entwickelt , das jetzt anpocht und heraus
will . Es will geboren ſein , will dann geſäugt ſein , beſchützt
ſein . Das fordert eine Wochenſtube , eine Wiege , ein ſorgendes
Elternpaar . Und dazu zunächſt ſtrebt die hochſchwangere
Seebärin ans Land , nachdem ſie die vielen Monate ohne Be¬
ſchwer ihre langſam zunehmende Schwangerſchaft durch die
Wellen der Hochſee getragen hat . Was dann weiter noch , zu
fernerem Liebesleben , am Lande ſich zutragen mag , das tritt
einſtweilen noch dunkel für ſie in den Hintergrund vor dieſem
Zweck . Unſere Robbin befindet ſich eben genau in der Lage
des armen Mädchens , das dicht vor der Niederkunft ſagt : es
muß jetzt geheiratet werden um jeden Preis . Bloß daß das
im Robbenvolk keine anſtößige , ſondern die hergebrachte , ſozu¬
ſagen heilige Sache iſt . Die Schwangerſchaft , nach Säugerart
endlos über dreiviertel Jahr ausgedehnt , brauchte keine Ehe .
Aber jetzt wird's Zeit dazu , alſo heim ans Land .
Feſt vorgeſchrieben iſt der Weg .
Denn das „ Land “ iſt unter allen Umſtänden das Geburts¬
land , — für jedes Individium der ganz beſtimmte Fleck , das
Inſelchen , der Felsblock , wo es geboren worden iſt . Jahr um
Jahr geht es dahin „ heim . “ Auf der St. Pauls-Inſel im
Beringsmeer fiel ein Seebär den Leuten auf : es fehlte ihm
nämlich eine Vorderfloſſe . Im nächſten Jahr zur rechten Zeit
lag er auf dem gleichen Block . Und das ſiebzehn Jahre ſo
hindurch ! Unwillkürlich ſchweift der Blick wieder über die
blaue Waſſerſeite des Globus . Das iſt das Revier — und
dann doch ſiebzehn Jahre lang im April der gleiche Block !
Die Ankunft der Robben vollzieht ſich in derſelben feier¬
lichen Weiſe wie der Aufzug der Lachſe im grünen Rhein .
Jene Vorpoſten , ein paar alte ehrwürdige Brummer , inſpizieren
zunächſt genau das Terrain , ob auch noch alles in Ordnung
ſei . Erledigt ſich die Prüfung zur Zufriedenheit , ſo holen ſie
den Schwarm . Wieder iſt es erſt ein Regiment Männer , das
naht . Ältere und jüngere Männchen . Die älteren haben ſchon
mehr als einfaches Geburtsrecht hier , das merkt man . Sie
ſuchen ſich jeder ein beſtimmtes Strandrevier , zu dem kein
anderer heran darf . Recht groß wird es gewählt , an die
fünfundzwanzig Ouadratmeter Quadratmeter pro Kopf . Nur wo eine Lücke
zufällig bleibt , ein alter Platz ſeinen Gebieter vom Jahre
vorher nicht mehr findet , da der irgendwo inzwiſchen das Zeit¬
liche geſegnet hat , oder wo der Strand gar ſo ausgedehnt iſt ,
kann auch einer der jüngeren Herrn gleich zu einem Land¬
quartier kommen . In den meiſten Fällen aber bleiben die
lungernd , vagabundierend und auf allerlei Zufälle paſſend im
Waſſer . Die Alten inzwiſchen ranzen ſich ſo lange an , brüllen
und fauchen und bollwerkern herum , bis jeder glücklich ſeine
Quadratmeter Platz für ſich hat . Was er damit will , wird
binnen kurzem klar .
Denn um die Mitte des Juni beginnt der zweite Akt.
Hurrah , die Weiber kommen . Truppweiſe erſcheinen ſie , alle
höchſt rundlich anzuſchauen vermöge ihrer hoffnungsvollen Bürde ,
aber äußerſt munter . Sie umſchwimmen das Ufer , wehren
die jungen Leute entrüſtet ab , die ſich in Sicht des Strandes
mit verliebten Augen herumtreiben ( denn noch denken ſie an
alles eher als an ſinnliche Liebe ) und ſcheinen nur ein Ver¬
langen zu haben : nämlich den Altenherrenſtrand einmal prüfend
zu überſchauen . Wenn irgend möglich , erklettern ſie einzelne
vorſpringende Klippen , äugeln überall herum , ſtoßen beſondere
Lockrufe aus und lauſchen , ob aus dem Revier der älteren
Männer jemand antworte .
Dieſes Benehmen iſt unzweideutig . Die Weibchen ſuchen
„ ihren Mann “ . Sie wünſchen , einen ganz beſtimmten Mann
wiederzufinden : den Vater ihrer ſüßen Bürde , ihren „ Ehe¬
mann “ vom Sommer vorher . An den alten Fleck nach langem
freiem Schweifen zurückgekehrt , ſuchen ſie individuell dieſen
Mann , um ihm gleichſam zu melden , daß es Zeit ſei , die ſo
lange loſe verſchleppte Ehe wieder aufzunehmen . Denn das
Kind kommt und fordert beide Eltern wieder heran !
Vielfältig finden denn auch dieſe Wiederanknüpfungen
ſtatt . Dazwiſchen muß freilich auch hier und da neu gewählt
werden . Eine gewiſſe Verwickelung liegt ja in dem Umſtand ,
daß die Ehe hier nicht monogamiſch , ſondern polygamiſch iſt .
Jeder Mannesbär wird von einer Anzahl Frauen begrüßt .
Jeder hat aber nach dem Brauche aller polygamen Familien¬
häupter auch das Bedürfnis , noch ein paar neue Schöne für
ſeinen Harem anzuwerben . Immer wieder macht ein Stärkerer
dem Schwächeren ſeine Weiber ſtreitig . Und derweil die beiden
ſich balgen , kommt ein dritter und wälzt ſich das eine oder
andere Weiblein aus beider Bereich zu ſich herüber . Denn
ob die Bärinnen auch im allgemeinen darauf ſehen , den alten
Beherrſcher ( der ſich ja früher ſchon als „ Starker “ bewährt
hat ! ) wiederzubekommen , ſo halten ſie ſich doch ſtill , wenn
ein noch Stärkerer kommt , ungefähr ſo wie die Frau Maul¬
würfin . Beſſer iſt eben noch beſſer .
Indeſſen , endlich regelt ſich auch alle das . Jeder Mann
hat ſein Weibervolk beiſammen und Ruhe ſenkt ſich über den
ganzen Stamm . Nur das junge Volk ſchwimmt noch lüſtern
draußen herum . Jetzt aber kommt ein großer dritter Akt .
Alle die guten Haremsfrauen kommen nämlich ſamt und
ſonders am zweiten oder dritten Tage nach ihrer Landung
mit einem luſtigen kleinen Seebärlein nieder .
Damit iſt die Station Vier unſerer Eheleiter klar gegeben .
Gemeinſame Jungenpflege hält den Mann und ſeine Frauen
jetzt für etwa vier Monate feſt beiſammen in „ Ehe “ .
Aber das Sinnreiche iſt , daß dieſe Viermonatsehe gleich¬
zeitig wieder das Fundament bildet für ihre Fortſetzung im
12
nächſten Jahr . Denn kaum ſind ein paar Tage über der
Niederkunft vergangen , ſo regt ſich auch in den Weibern die
Brunſt , — die Liebe beider Geſchlechter begegnet ſich und ihr
Gipfel iſt die Zeugung eines neuen Familienſprößlings .
Mit ihm im Leibe trennt ſich nach Ablauf der vier Monate
die Ehefrau vom Ehemann .
Beide treiben ſich jetzt unabhängig voneinander , als hätte
nie eine Ehe exiſtiert , im freien Weltmeer herum , bis nach
vielen Monaten im Manne die neue Brunſt , im Weibe das
Nahen der Geburt ſich meldet — und nun reſtituiert die Heim¬
kehr zum alten Fleck die Ehe alsbald , als wäre nichts paſſiert !
Die Jungenpflege ſelbſt iſt rührend und treu über alle
Maßen . In der Liebe dagegen giebt es natürlich auch hier
noch allerlei Möglichkeiten . Die Begattung vollzieht ſich ( im
Gegenſatz zum Jungenſäugen ) bei dieſen ungeſchlachten Walzen¬
leibern bequemer im Waſſer und wird alſo gern auch dorthin
verlegt . Das ſchafft aber wieder Gelegenheiten für erotiſche
Diebe : dem herumlungernden jungen Volk glückt es , die eine
oder andere Ehefrau , wenn ſie ſchon einmal ſich auch im Waſſer
herumtreibt , abzufaſſen und nebenher zu lieben . Und dies¬
mal hat ſie , in Brunſt wie ſie jetzt iſt , weniger , ſcheint es ,
dagegen , zumal wenn ihr echter Gebieter allmählich doch etwas
ſehr ins Patriarchenalter gerät .
Ganz an die Lachſe erinnert dabei der Umſtand , daß die
Geſellſchaft , Herren wie Damen , während dieſes ganzen Bade¬
aufenthaltes am Wochen- und Flirtſtrande keinerlei Nahrung
zu ſich nimmt . Die Ehe iſt hier freiwillig , was ſie bei uns
vielfach unfreiwillig iſt : die reine Hungerkur . Man merkt
eben , wie das freie Ozeanleben füttert : als die vollkommenen ,
ſchwimmenden Speckſchwarten kommen dieſe ſchweren Walzen ins
Eheland , genugſam verproviantiert , um ihre ganze Arbeit vier
Monate lang auf andere Ziele zu richten als den faulen Bauch .
Überſchauſt du aber das groteske Bild in ſeiner Geſamtheit ,
ſo führt es dich , wie ich meine , geradezu packend mitten in
das Werden der Ehe hinein . Auf der einen Seite haſt du
eigentlich noch Zeitehe , — eine Viermonatsehe , in die alle
Liebe , Niederkunft und Jungenpflege fällt , und dann eine
Achtmonatspauſe ohne Ehe . Auf der andern Seite haſt du
aber das Raffinement , daß die Begattung durch den einen
Mann und die Niederkunft von dieſer Begattung her ſamt
Jungenerziehung ſich über je zwei ſolcher Eheperioden verteilen .
Das in Verbindung mit dem peinlich genau gleichen Ort hat
ganz ſelbſtverſtändlich auch hier ſchon zu einer Verknüpfung
der Eheperioden geführt , die ſich im Wählen des gleichen
Männchens ( es iſt ja ſtets der echte Vater der erſt zu erziehen¬
den Kinder ! ) offenbart . Damit aber iſt bereits das Prinzip
der Dauerehe , der Lebensehe auch hier in das Ganze gebracht :
die zeitlich getrennten Eheperioden verſchmelzen ſchließlich faktiſch
zu einer einzigen , da ſie dieſelben Paare immer wieder ver¬
einigen .
Das Beiſpiel würde wahrſcheinlich noch anſchaulicher , noch
ſtraffer ſein , wenn ſich nicht etwas einmiſchte , was ich bisher
aus der geraden Stufenlinie abſichtlich herausgelaſſen habe :
nämlich die polygamiſche , vielweiberiſche Eheform . Mit ihr
berühren wir ein bedeutendes Zweites .
12*
D er Menſch , auf den wir zielen , kam nicht aus dem
Vogel , ſondern aus dem Säugetier . Es braucht keines Wortes
alſo , daß das Säugetier höher gipfelt als der Vogel . Trotz¬
dem iſt unverkennbar , daß die große Maſſe der Säugetiere in
der Ehefrage ſich nicht ſo ſcharf entſchieden hat wie der Vogel .
Stufe Fünf iſt keineswegs hier regelmäßig erreicht worden ,
vielmehr ſiehſt du die Mehrzahl der vielgeſtaltigen Experimente
im Maulwurfsſinne bei Vier oder mindeſtens nur an der
Grenze von Vier und Fünf .
Die Zeitehe dominiert durchweg noch . Allerdings muß
man ſagen , daß ſie ſtets anch auch eine ſichere Schwankung zeigt ,
beim geringſten Vorſchub in Dauerehe überzugehen . Wo der
geringſte Zwang beſteht , daß dasſelbe Paar in der nächſten
Brunſtzeit ſich zuerſt wieder begegnet , beſteht auch die größte
Wahrſcheinlichkeit für Dauerehe . Sperrt man ein Paar in der
Gefangenſchaft dauernd zuſammen , ſo iſt Dauerehe ganz im
Sinne wie bei den Vögeln ſelbſtverſtändlich . Die niedlichen ,
kleinen , amerikaniſchen Affen rollen ſich da ineinander , genau
wie die Inſeparables-Papageien . Aber auch im Freien können
die beſten Drängprinzipien zur Wiederwahl : Seltenheit und
individuelle Liebhaberei , ihre Rolle unmöglich verleugnen . Auf
der Seltenheit mögen die Anzeichen von Dauerehe mit großer
Zärtlichkeit der Gatten beruhen , die man bei einzelnen Rieſen
der Säugerwelt , zum Beiſpiel dem Rinozeros , beobachtet hat .
Die individuelle Neigung ( äſthetiſche Wahl ) iſt unverkenn¬
bar bei Hunden . Hundezüchter wiſſen ganz genau , daß eine
Hündin durchaus nicht jedes beliebige Männchen annimmt ,
ſondern ihren „ Geſchmack “ hat . Dieſer Geſchmack als bleibende
Sache muß in vielen Fällen unbedingt auch zu konſtanten
Wiederholungsehen , alſo zur Dauerehe führen . Ein weiblicher
Pinſcher , den Darwin erwähnt , liebte einen Waſſerhund mit
Leidenſchaft , und als man die beiden gewaltſam trennte , ließ
er keinen anderen Hund mehr heran und blieb im Cölibat .
Eine Hirſchhündin lebte mit vier Männchen zuſammen , die
alle geſunde Raſſe waren . Sie bevorzugte aber einen und
denſelben Hund dabei immer wieder und brachte in drei Liebes¬
perioden alle drei Mal nur von ihm Junge . Ähnliche That¬
ſachen ſind von Pferden und Ochſen bekannt .
Gerade vom Orang Utan , der uns wegen ſeiner Menſchen¬
nähe intereſſiert , berichtet ein Beobachter , daß er einem Männ¬
chen begegnet ſei , das ein Weibchen mit einem größeren und
einem ganz kleinen Jungen bei ſich hatte . Unzweifelhaft waren
hier mindeſtens zwei Brunſt-Perioden zu einer Dauerehe ver¬
ſchmolzen .
Aber der Gegenſatz zum Vogel iſt doch unverkennbar da .
Und man verſteht gerade aus dem Seebärenfall heraus auch
das Moment , das beim Säuger die Dauerehe hintertreiben
konnte , wenn nicht beſondere Maßregeln ( wie beim Seebär die
ſtrenge Wiederkehr beider Parteien an den gleichen Ort ! ) zu
ihrem Schutz getroffen waren . Es lag in der vielfach endlos
gedehnten Schwangerſchaft . Die Länge dieſer Schwangerſchaft
ſcheint im Verhältnis zur Größe zu ſtehen . Je rieſiger das
Säugetier , deſto mehr Monate , — bis zu den zwanzig Monaten
des Elefanten . Eine beſondere Schutzbedürftigkeit des Weibchens
in dieſer Zeit beſteht durchweg nicht . Es fehlt alſo über weite
Spannen weg dem Paar die gemeinſame Arbeit . Wie nahe
liegt es , daß ſie ſich darin verlieren und daß die neue Ehe¬
notwendigkeit zugleich die Notwendigkeit einer Neuwahl bedingt !
Indeſſen gerade hier miſcht ſich , wie mir ſcheint , ein
Zweites ſchon zwingend mit ein , das überhaupt die ganze
Ehefrage in der intereſſanteſten Weiſe verſchiebt .
Rekapitulieren wir einen Augenblick .
Die Linie bis hierher würde , falls ſie allein gilt , be¬
weiſen : daß der Menſch aus einer Tierwelt hervorging , die
teils die Dauerehe ſchon als feſte Inſtitution eingeführt hatte ,
teils mindeſtens ſich auf der äußerſten Schwebe hielt , wo die
Zeitehe durch den geringſten Vorſchub in Dauerehe übergehen
mußte .
Wenn wir ſehen , was aus dem Menſchen geworden iſt , ſo
müſſen wir ihm entſchieden auch für ſeinen Urzuſtand eine
ganze Anzahl Eigenſchaften zuſchreiben , die im Sinne jener
Tierverhältniſſe zunächſt alle nur den Übergang zur Dauerehe
auch bei ihm begünſtigen konnten . Seinen Rhythmotropismus ,
der zu individuell-äſthetiſcher Wahl führte , und ſeine altruiſtiſchen
Anlagen werden wir gewiß nicht unter den Vogel herabdenken
wollen . Seine Höhle , ſein Herd , ſein Werkzeugbeſitz machten
ihn zum ausgeſprochenſten Neſttier im Vogelſinne , mit ſchärfſter
Lokaliſierung im Seebärenſinne . Ja es erſcheint ſchlechterdings
undenkbar , daß er nicht von Anfang an mit vollen Segeln in
die feſte Individualehe und Dauerehe hineingeſteuert ſein ſollte ,
wenn bei ihm noch gar die Verzettelung der Brunſtperioden ,
die das Säugetier hemmt , ganz fortfiel und die Liebe ſich ſo
zu ſagen in Permanenz erklärte , ſo lange die Reifejahre an¬
hielten , — Mann und Frau immerfort neu kettend durch das
mächtigſte Band mit nur geringfügigen Unterbrechungen , noch
ganz abgeſehen von der gemeinſamen Kinderpflege .
Unwillkürlich fühlt man einen Augenblick das Bedürfnis ,
die große Liebesbibel hinzulegen und über ihre Seiten hinweg
jetzt zu träumen , wie denn überhaupt irgend ein denkender
Menſch vor ſolcher Durchſichtigkeit der Linien auf die Idee
kommen konnte , das Liebeskapitel Menſchheit habe nicht mit
der Ehe in dieſem ſchlichten Normalſinne angefangen ?
Jene zoologiſchen Thatſachen liegen allerdings nicht gerade
auf der Straße . Und es iſt zuzugeben , daß eine ganze Anzahl
Leute bis heute über die Urfragen der Ehe Bücher geſchrieben
haben , ohne ſich jemals mit ihnen auseinanderzuſetzen . Aber
ſchließlich iſt alle Zoologie hier doch nur Unterbau für etwas ,
was auch ſo ſchon aus allen Menſchendingen von heute zunächſt
als das Selbſtverſtändliche zu entſpringen ſcheint .
Unſere Kulturbetrachtung ging jederzeit aus von der Ehe ,
die Ehe war oben im Mittelpunkt , — wie ſollte ſie nicht der
Wahrſcheinlichkeit nach doch auch ſchon unten dageweſen ſein .
Der ganze ältere Standpunkt iſt hier , er , den eben bloß
Darwins Idee von der Entwickelung des Menſchen ſelber er¬
zittern machen konnte . Nun giebt gerade dieſe Idee uns aber
wieder die zoologiſchen Details , wonach die Ehe ſchon im
Tier unterhalb des Menſchen wirklich exiſtiert , — man ſollte
meinen , jetzt ſei alles klar .
Wir gehen aber zu dem gleichen Tier noch einmal und
es lehrt uns noch etwas .
Jene hübſche gerade Linie der Eheentwickelung wird beim
Tier allenthalben gekreuzt durch eine zweite Entwickelungslinie ,
die für ſich ebenfalls eine ganz urgewaltige , unwiderſtehliche
Macht hat .
Es giebt keinen brauchbareren Ausdruck dafür als das
Wort „ ſozial “ .
Doch verſtehen wir ihn recht .
Die Ehe ſelber iſt ja ſchon eine ſoziale That . Sie ver¬
knüpft zwei oder gar ſchon mehr Individuen zu einer höheren
Gemeinſchaft . Seit alters giebt es Leute genug , die gemeint
haben , aller ſoziale Verband auf Erden ſei nur eine Aus¬
geſtaltung dieſer Ehegemeinſchaft . Die Familie iſt die „ Urzelle “
der Geſellſchaft , ſagt ein hübſches Wort . Aber laß es uns
auch hier machen , wie es in der Bibel heißt , und zu den
Gemſen auf ihren Höhen und den Kaninchen in ihren Gruben
gehen . Die Praxis , die da geübt wird , iſt doch noch etwas
älter und ehrwürdiger als menſchliche Doktrin .
Wenn der Maulwurf das abſolute Muſterbeiſpiel unter¬
halb des Menſchen wäre , ſo hätteſt du allerdings alle Anfänge
des Sozialen ausſchließlich in der Ehe . Sie allein verknüpft
ein paar Tiere miteinander , — auch das ja noch recht mangel¬
haft , denn es geſchieht ja nur zeitweiſe . Iſt die „ Ehe auf
Wiederruf “ , die „ Zeitehe “ wieder herum , ſo leben Maulwurf
und Maulwürfin jedes für ſich als borſtige Stirnerianer . Willſt
du ſie in Gedanken zur Genoſſenſchaft , zur Geſellſchaft dir
erziehen , ſo mußt du dir allerdings vorſtellen , ſie träten zunächſt
von der Zeitehe über zur Dauerehe , dann bliebe auch noch
ein Dauerband zwiſchen Alten und Jungen und ſo geſtaltete
ſich ſchließlich eine patriarchaliſche Überfamilie , ein Stamm ,
ein Geſchlecht heraus , deſſen inneres Band die Blutsverwandt¬
ſchaft wäre . Viele ſolcher Familiengenoſſenſchaften möchten
dann ſich wieder zum Volk , zum Staat zuſammenthun und
ſo erhielteſt du endlich die ſozial geordnete Welt der Maul¬
würfe .
Aber der Maulwurf iſt im Volk ſeiner Mitſäugetiere
nicht das Beiſpiel , ſondern die Ausnahme hinſichtlich ſeiner
individualiſtiſchen Wirtſchaftsform außerhalb der Ehe . Eine
ungeheure Fülle von Säugetieren hat das Soziale gerade erſt
recht außerhalb der Ehe erfunden , und zwar gerade weil
die Ehe noch nicht feſte Dauerehe war .
Die Ehe iſt abgeſehen von ihrem Zeugungszweck eine
Schutzgenoſſenſchaft , die zwei Tiere eingehen . Nun hört ſie
eines Tages auf . Männlein wie Weiblein ſteht wieder für
ſich . Monate lang , einen großen Teil vielleicht des Jahres
lang . Denke an die acht Monate eheloſen Interregnums der
Seebären . Warum nicht auch in dieſer Zeit gewiſſe Anläufe
zu Schutzgenoſſenſchaften ? Für ſie gilt natürlich nicht das
Doppelprinzip : Mann und Weib . Es können ein Dutzend
oder mehr Weiber zueinanderhalten zum gegenſeitigen Schutz¬
zweck ; oder ein Haufen Männer . Gleich dieſe erſte Stufe des
außerehelichen Sozialverſuchs haſt du aber wirklich in reicher
Auswahl bei allerlei Tieren .
Der alte Fechner hat einmal ein niedliches Gedicht gemacht .
Ein Mäuslein hat vom Himmel gehört , wo es ein Schlaraffen¬
leben als Engel geben ſoll . Nun gerät es von ungefähr auf
die kalte Eſſe des Küchenherdes und blickt empor . Es glaubt
den Himmel zu ſehen . Denn da oben hängen im Rauchfang
ungezählte Speckſeiten , umkreiſt von geflügelten Mauſeengeln :
Fledermäuſen .
Wenn der Maulwurf aus ſeinem finſtern Loch fahren
und ſich ins Blau hinaufſchwingen könnte : die Fledermaus
wäre er . Dieſe Fledermaus aber beſitzt ſchon jene bewußte
Sozialvereinigung außerhalb der Ehe in ſchönſtem Beiſpiel .
Die Ehe der luſtigen Flatterer ſteht an ſich noch ſehr
tief . Kaum daß ſie über das Spinnenſtadium hinausgediehen
iſt . Eine kurze Zeit des Liebesſpiels , halsbrecheriſche Jagden
in der Luft , Umklammern und Kitzeln und Necken und Herab¬
kollern , — endlich iſt die Begattung vollzogen , bei der Mann
und Weib ſich in ihre Flughäute wickeln wie in ein gemeinſames
Laken . Aber zugleich iſt die Zeitehe auch ſchon um . Die
Männchen flattern davon und ſuchen ſich fernab ihr Revier ,
wo ſie ſich nach der Liebe Arbeit und Kaſteiung wieder ihre
runden Bäuchlein am ewig gedeckten Tiſch der Inſektenwelt
mäſten . Sie verharren alſo im Stadium Maulwurf , bloß noch
etwas früher und freier , als Stirnerianer jedem Kommunismus
abhold . Anders aber die Weiber .
Vom Tag des Ehewiederrufs an thun ſie ſich in großen
Scharen zu einem eigenen Sozialverband zuſammen . Ge¬
meinſam bewohnen dieſe Weiberhorden beſtimmte Baumhöhlen
oder Geſteinsſpalten . Unerbittlich wird der Mann , der doch
noch in ein ſolches Frauenſpittel eindringen will , heraus¬
gebiſſen . Erſt in dieſem Frauengemach kommt die ſchwangere Ex-
Gattin auch nach etwa anderthalb Monaten nieder . Es iſt keine
ganz leichte Prozedur . Während ſonſt die Fledermaus , wenn
ſie daheim iſt , ſich mit den freien Hinterbeinen an die Decke
klammert und den Leib nach unten hängen läßt , die Flügel
eingeklappt wie ein Regenſchirm , macht die Schwangere es jetzt
juſt umgekehrt . Sie hakt die Daumenkrallen , die jederſeits ja
wie ein Griff aus dem Regenſchirm ſtehen , an der Decke an
und krümmt unten den Schwanz mit ſeinem Stück Flughaut
wie ein Becken , etwa wie ein vorſpringendes Weihwaſſerkeſſelchen ,
unter den abwärts hängenden Bauch . Dahinein fängt ſie , ge¬
bärend , das Junge auf , dem ſie unvorzüglich die Nabelſchnur
durchbeißt , worauf es ſich der Mutter mit ſeinen Krällchen an
den Wollbauch häkelt und die Milchdrüſen ſucht . Noch ſchwerer
hat es die Sorte Flatterer , die den Schwanz ohne rechtes
Separatſegelchen frei herausſtehen hat : bei ihr geſchieht das
Wunder , daß ſich das Kleine ſo zu ſagen während ſeines Ge¬
borenwerdens ſchon mit dem Mäulchen in ein warzenartiges
Anhängſel am Damm der Mutter einbeißt , um nicht köpflings
in die Tiefe zu ſchießen ; erſt von da klettert es dann mit
wachſender Kraft zu den echten Bruſtzitzen hinauf . Lange
Wochen wird beim abendlichen Fluge jetzt das Kindlein am
Buſen mitgeſchleppt , bis es ſich endlich probeweiſe und unter
ſorgſamer Leitung der Mutter einmal löſt und ein Stückchen
nebenher flattert . In dieſer ganzen Zeit aber ſpielt der Mann
abſolut keine Hülfsrolle mehr , und alles , was er etwa noch
ſein könnte , erſetzt der Frauenverband . Es iſt , als wenn bei
uns alle Frauen ſofort nach der Hochzeit ins Kloſter gingen .
Nun ſpinne an dem Wort Kloſter aber dir den Faden
wieder gedanklich weiter .
Ein Frauenkloſter , — warum nicht auch ein Männer¬
kloſter ? Warum ſollen ſich die wieder ledigen Männer nicht
nach der Zeitehe ebenfalls zu einer unerotiſchen Schutzgenoſſen¬
ſchaft vereinigen ? Da hätteſt du alſo zwei Sozialverbände
außerhalb der Ehe , ja ihr ſo zu ſagen zum Trotz ; hier die
liebesreifen , aber nichtbrünſtigen Männer als Genoſſenſchaft ,
— dort die liebesreifen , nichtbrünſtigen Frauen ſammt allen
Kindern vom Säugling bis zum noch nicht liebesreifen Jungen
und Mädchen als ebenſo geſchloſſene Genoſſenſchaft .
Denkſt du aber an ein Kloſter , ſo kommt dir auch leicht
das Wort hinzu : Abt und Äbtiſſin . Bei dem Weiberverband
ergiebt ſich ganz von ſelbſt eine gewiſſe Leitung innerhalb der
Gruppe : die Mütter leiten die Kinder . Aber auch dieſe
Mütter ſind verſchieden alt . Und dasſelbe trifft dort die
Männer der anderen Geſellſchaft . Beim Tier , wie beim Men¬
ſchen , heißt älter im Allgemeinen ſtets auch klüger . Wären die
Tiere bloß eine blind losfunktionierende Inſtinktmaſchine , ſo
gäbe es ja bei ihnen kein Lernen und die Jahre wären be¬
langlos . In Wahrheit lernt das Tier enorm viel . Ein älteres
iſt ganz durchweg auch ein erfahreneres Tier . Es wird ſich alſo
von ſelbſt machen ohne Magie , daß in jedem Trupp von den
reifen Tieren noch wieder das älteſte eben als das erfahrenſte
eine gewiſſe oberſte Leitung übernimmt . Natürlich muß „ alt “
noch zuſammenfallen mit „ auf der Höhe der Kraft , “ nicht mit
Greiſenvertrottelung . Auch wird das Genie , das beim Tier ſo
gut vorkommt wie bei uns , ſeine Rolle in die einfache An¬
ciennitätsliſte hinein nicht verleugnen . Fazit aber iſt auf alle
Fälle : das Männerkloſter erhält ſchließlich einen Abt , das
Weiberſtift eine Äbtiſſin .
Gehen wir auch für dieſe Stufen vom Bildlichen gleich
zum Beiſpiel . Wir geraten damit auf die ſozial lehrreichſte
Gruppe der ganzen Säugetiere : die Wiederkäuer . Dieſe Tiere
lehren dich über das Eindringen ſozialer Separatdinge in jene
ſonſt ſo ſchön geſchloſſene Eheentwickelungslinie thatſächlich
mehr , als der phantaſievollſte Profeſſor der Nationalökonomie
auf ſeinem Katheder ſich ausklügeln kann .
D ie Gruppe der Wiederkäuer iſt eine , in jeder Hinſicht
hochintereſſante .
Als Ganzes ſtellt ſie eine der glänzendſten Anpaſſungen
der Säugerwelt dar . Erinnere dich an das zierliche Füßchen
eines Rehes , an ein Bocksbein , wie es vom Wiederkäuer
übertragen dem Pan angedichtet iſt , an einen leckeren Kalbs¬
fuß . Immer haſt du die geſpaltene Zehe in der einfachen
Zweizahl , den Doppelhuf . Urſprünglich hatten alle Säuger
fünf gute Zehen an jedem Fuß , wie ſie das Schnabeltier und
der Maulwurf haben und du ſelber ſie noch haſt . Das Huf¬
tier , die größte Anpaſſung ans Laufen im Gegenſatz zum
Graben , Springen , Schwimmen , Fliegen oder Klettern , ſchaffte
von dieſen fünf Zehen dann , je nachdem , ein paar ab zur Ver¬
einheitlichung und Spitzung des Fußes : das Pferd alle bis
auf die Mittelzehe , der Paarhufer alle bis auf dieſe und die
nächſte gegen die kleine Zehe hin . Das Pferd war der Gipfel
der Anpaſſung an den Galopp auf feſtem Wieſenplan . Der
Paarhufer umgekehrt zielte auf weichen Waldboden bei breiterem ,
behaglicherem Trotten . Auf dieſes letztere Ziel lenkten das
Schwein und ſein noch dickerer Nebenaſt , das Nilpferd , — den
Sieg aber errangen Schaf und Ochs und Hirſch , Antilope und
Giraffe , Kameel und Moſchustier : die Wiederkäuer .
Wo immer die Erde ein grüner , pflanzenfroher Planet
war , da wuchs und mehrte ſich dieſes Geſchlecht ins Ungemeſſene .
Und mit ſeinem Glück und Wachstum kamen die wunderbarſten
Exempel ſozialer Verbände in die Welt . Denn dieſen großen
Grasfreſſern war über alles wichtig die Geſelligkeit . Dieſem
ihrem allgemeinen Drange that aber die Ehe lange nicht Genüge .
Auch die Wiederkäuer führen ein Doppelleben aus kurzer
Zeitehe und langem Zwiſchenraum . In der einfachſten Form
regelt ſich das genau wie bei den Fledermäuſen : die Männer
ſtreifen in der Nichtbrunſtzeit regellos als mürriſche , egoiſtiſche
Einſiedler umher , — die Weiber aber mit ihren Jungen bilden
große Genoſſenſchaften .
Das Kloſterhafte ſchwindet zwar im äußeren Bilde , da
es für dieſes Volk ſo vieler Rieſen keine Verſtecke im Sinn
von Genoſſenſchaftshäuſern zu geben pflegt . Was kloſterhaft
hier zuſammenhält , das erſcheint auf offener Weide in langer
Prozeſſion : als „ Herde “ .
Auf den kalten Grasebenen des Hochlandes von Tibet
findeſt du ſo den Yak , den großen wilden Ochſen mit dem
wallenden Haartalar , der bis zum Boden ſchleift . Hier weiden
ganz abgetrennt für ſich die einzelnen alten Stiere , Griesgrame ,
die nach niemand fragen . Dort aber bebt die Erde vom Traben
einer ungeheueren Prozeſſion : hunderte , ja tauſende von Kühen
mit Kälbern und ſchon ſtattlichen jungen Tieren ziehen daher ,
einträchtig , bei jeder Gefahr und jeder Raſt ſich eng aneinander
drängend .
Und ein weiteres Bild . Statt Tibet die Gebirge Spaniens .
Auch dort hauſt ein prachtvolles Wild : der Steinbock .
Nur wenig über einen Monat währt auch bei denen die
Ehe im Jahr . Den ganzen Reſt leben Mann und Frau ge¬
trennt . Keines von beiden aber verzichtet in dieſem langen
Interregnum auf Geſelligkeit und ſozialen Schutz . Du kletterſt
ins rauhe ſpaniſche Hochland , etwa in die Sierra de Gredos ,
bis zu über 2500 Meter Höhe . Und du ſcheuchſt Herden der
Steinböcke auf . Hier eine von über hundert Stück : ſämtlich
Böcke . Sie ſind wetterfeſt , turnen ins wildeſte Schneegebiet
hinauf . Etwas tiefer — und du ſtößt anf auf eine zweite Herde ,
nicht viel kleiner : diesmal ſind 's aber ausgeſpart lauter Ziegen ,
lauter Weiber .
Der Männerklub iſt verwegener als das Weiberkränzchen ,
Vorteile vom Sozialleben haben ſie aber beide . Und zwar
beſteht der größte für Bruderſchaft und Frauenverband darin ,
daß jede Schaar an ihrer Spitze ein „ Leittier “ hat . Es iſt
das ſchlaueſte Tier der Herde . Bei den Böcken iſt 's ganz
naturgemäß ein alter , grundverſchlagener Bock . Bei den Ziegen
iſt es die ehrwürdigſte , alterprobteſte Geis . Unbegrenzt iſt
beſonders bei den ängſtlichen Ziegen das Vertrauen der ganzen
Genoſſenſchaft auf dieſe Verſtandespräſidentin . Das Leittier
geht ſtets der Genoſſenſchaft voran , äugt , wittert , probt den
Boden , giebt Signale , bald ermunternde , bald warnende als
grellen Pfiff , kurz erweiſt ſich als unſchätzbare Hilfe . Wo es
allein nicht langt , werden auch wohl mehrere andere Genoſſen
noch nach verſchiedenen Richtungen als Wachen ausgeſtellt .
Immer aber ſchlingt ſich ein Band der Sicherheit , der Ruhe
auf Grund dieſer Dinge um das ganze Volk : das Einzelauge ,
Einzelgehör hat ſich erhoben zum Geſellſchaftsauge , Geſellſchafts¬
ohr . Und das alles ohne Eros , ja ausgeſprochen für die Zeit
des Verzichts auf ihn , — für die Zeit , da Mann und Weib ſich
fremd ſind , als handle es ſich um verſchiedene , feindliche Arten .
Im Großen und Ganzen iſt , wie erklärlich , das Bedürfnis
nach ſolchen Verbänden immer größer bei den Weibern . Bei
einer ganzen Menge von Wiederkäuern iſt die Männerherde
nur ganz loſe oder gar nicht konſtituirt , die Frauen dagegen
haben Trupp und Äbtiſſin . So iſt es bei unſerer lieben
deutſchen Antilope , der Gemſe . Bald ſtreifen hier die Böcke
in der Nichtbrunſtzeit ganz allein , bald wieder einmal zu zweien
oder dreien , aber ſtets in ganz zwangloſem Bund . Die Geiſen
dagegen mit ihrem Nachwuchs bilden regelrechte Rudel von
dreißig und vierzig Stück , und dieſes Rudel leitet auch hier
eine Alterspräſidentin , eine beſonders erfahrene Geis . Der
Bock kann ſich eben auch allein helfen , die Weiber aber drängen
ſich zuſammen im Gefühl der Schutzloſigkeit jedes Einzeltiers . Wie
nah liegt aber dann von dieſer Stufe aus abermals eine höhere !
Warum ſoll nicht auch außerhalb der Ehezeit der Ver¬
ſuch gemacht werden , für die Allgemeinheit der weiblichen Herde
einen ſtarken Mann oder einige Männer zu gewinnen , die rein
zu Leit- und Schutzzwecken mitgehen ohne jede erotiſche Zuthat ?
Etwa im Sinne , wie wenn ein Frauenkloſter ſich einen Ge¬
wappneten wirbt , der bei Nacht das Haus verteidigt , oder einen
Rechtsanwalt , der ſeine Prozeſſe führt ? Wobei dann der letzte
Schritt noch wieder nahe genug kommt : daß nämlich einfach die
Männer und die Weiber nicht als Ehe , ſondern als außerehe¬
liche Genoſſenſchaft ſich herdenweiſe zuſammenthun und dann im
Ganzen das älteſte Männchen als Leittier an die Spitze wählen .
Klettere in die Berge von Corſika und du findeſt bei dem
ſchönen Wildſchaf dort , dem Mufflon , den letzteren Brauch in
alter Kraft . Zu fünfzig und hundert Stück bilden Widder
und Schafe den außerehelichen Trupp , an der Spitze aber geht
ein bewährtes altes Männchen .
Reine Weibergenoſſenſchaften mit einem einzelnen alten
Herrn als Führer haſt du dagegen in geradezu maſſenhaften
Beiſpielen . So kommen die Lamas an in der Kordillere Süd¬
amerikas und viele andere . Hier brauchſt du auch nicht bei
den Wiederkäuern zu bleiben . So leben die Pavianaffen .
Nur daß du hier gerade eine kleine Schwenkung erſt zur Re¬
ſerve vornehmen mußt .
Du gerätſt nämlich doch hier auf eine Kreuzungsſtelle des
Soziallebens außerhalb der Ehe und der Ehe ſelbſt , die das
Bild verſchiebt .
Du haſt bis hierher , eine neue Kette erlebt : Sozial¬
verbände in der Nichtbrunſtzeit , die mit Erotik zunächſt gar
nichts zu thun hatten . Nun fragt ſich : wie ſtellen dieſe Ver¬
bände ſich aber zu der Brunſtzeit mit ihrem Ehebedürfniß ,
wenn dieſe eintritt ?
Die erſte Antwort ſcheint ganz einfach . Die Brunſtzeit
löſt eben alle größeren Verbände zu Gunſten einer neuen
Schutzgenoſſenſchaft von zwei und zwei auf . Wo die Männer
getrennt lebten und die Weiber in Genoſſenſchaft , da erſcheinen
zur Brunſtzeit die Männer bei der Weiberherde . Es wird ge¬
wählt , vielleicht noch etwas in Rivalitätsfragen gefochten , ſchlie߬
lich aber zieht jeder einzelne Mann mit einer einzelnen Frau
ab und gründet mit ihr auf kürzere oder längere Zeit die
Ehe . Und erſt wenn die Ehen wieder aus ſind , läuft die Ge¬
noſſenſchaft der Frauen wieder zuſammen .
Genau ſo geht 's da , wo auch die Männer ihr außerehe¬
liches Kloſter bilden . Kloſter kommt zu Kloſter und beide
löſen ſich aneinander auf , wie in den Zeiten der Reformation ,
indem Paar um Paar zur Ehe ausſcheidet .
Endlich in der ſchon ſo wie ſo gemiſchten Genoſſenſchaft
heißt es einfach , wie beim Tanzen : Ordnung zur Polonaiſe ,
— Paar tritt zu Paar und fliegt endlich losgelöſt vom
Ganzen , aber eng verſchlungen zum Einzeltanz dahin .
Ein ganz famoſes Beiſpiel dieſes logiſchen Verlaufs bietet
dann auch in der zoologiſchen Wirklichkeit der nordamerika¬
niſche Biſonbüffel .
Du kennſt das ſchwarzwollige Ungetüm mit den glühenden
Augen , das unſere Tiergärten noch hegen , während ſeine heimiſche
Prärie auf dem Punkt ſteht , es endgültig durch Ausrottung zu
verlieren . Im außerehelichen Stande leben dieſe Rieſen in
kleinen Trupps , von denen die einen ſtets ſehr ſtreng aus
Ochſen , die andern aus Kühen mit Milchkälbern beſtehen . Es
iſt allerdings eine kleine Variante gegen die Miſchgenoſſenſchaft
im Mufflonſinne hin dabei ſchon Brauch : dieſe Einzeltrupps
13
pflegen nämlich durch nahes Beieinanderweiden gewiſſermaßen
doch wieder loſe größere Verbände gemeinſam zu bilden , etwa
wie wenn verſchiedene Bruderſchaften und Schweſterſchaften mit¬
einander in einer einzigen großen Prozeſſion ziehen . Doch das
iſt hier nicht von Belang .
Nun naht aber die Brunſt und alles ordnet ſich genau
in jenem logiſchen Sinne . Im Hochſommer kommen die Stiere
an die Kühe heran . Eine individuelle Wahl findet ſtatt . Je
ein Stier einigt ſich mit je einer Kuh . Wo mehrere Bewerber
für dieſelbe Kuh da ſind , giebt es wilden Zweikampf , bei dem
die plumpen Wollköpfe gegeneinander rennen wie die Eiſen¬
ritter im Turnier . Aber auch das geht vorüber und ſchlie߬
lich trollt jedes Paar vergnügt für ſich ab . Streng monogamiſch
löſt ſich hier in der That alſo die Ehe aus dem allgemeinen
Sozialverband . Und erſt wenn ſie vorüber iſt , ſchließt ſich
dieſer Sozialverband wieder . So geht es Jahr aus , Jahr ein
in voller Eintracht , ohne jeglichen Konflikt der beiden Linien .
Indeſſen : dieſe ganz einfache Regelung der Dinge wird
doch ſehr leicht eine Trübung erfahren können , ſo wie wir die
Dinge praktiſch noch etwas ſchärfer beſehen .
Denke dich in den Fall , wo die Männchen einzeln ſchweifen
und die Weiber in kleinen Trupps . Ein ſtarkes Männchen
dieſer Art ſtößt auf einen Weibertrupp . Es hat keine Konkurrenz .
Seine Kräfte reichen für mehrere Weiber . Die Weiber ſind
willig . Weshalb ſoll der Herr ſich bloß eine Dame aus der
Reihe wählen und nicht den ganzen Trupp ? Er ſtellt ſich
einfach an ihre Spitze für die Brunſtzeit und verwandelt die
Weibergenoſſenſchaft in eine — polygamiſche Ehe !
Dieſer Fall kann ſich auch herausregeln , wenn ein kleiner
Trupp Männer in der Brunſt zu einem großen Trupp Weiber
ſtößt . Die paar Männer teilen ſich in die Weiber , jeder be¬
kommt ſo viele , wie ihn mögen und er verteidigen kann .
Die denkbar ſicherſte Linie hierher aber muß jener Brauch
ergeben , wo ein ſtarker Mann ſchon in der Nichtbrunſtzeit
einen Weibertrupp anführt . Hier iſt gar keine Unterbrechung
nötig : der männliche Führer , der in die Brunſt kommt , macht
einfach die Weiberſchar , die ſich zu ihm gefunden hat , zu ſeiner
Kollektivfrau .
Die polygamiſche Ehe iſt hier überall ein Produkt der
außerehelichen Sozialgliederung , — am ſchärfſten im letzten
Falle , wo ſie einfach mit dieſer verſchwimmt . In der Polygamie
ſiehſt du hier zum erſtenmal den Einfluß der Sozialverbände
jenſeits der Ehe in dieſe Ehe hinein .
Und auch dieſen Weg kannſt du noch mit den ſinnfälligſten
Beiſpielen belegen , ja ſie ſind weitaus reichlicher als die ein¬
fachen Biſonfälle . Unſere Seebären waren ja ſchon ein poly¬
gamiſches Exempel . Die meiſten Wiederkäuergeſchichten aber
laufen auf die gleiche Melodie .
Wenn die Brunſt ſie packt , ſo erſcheinen die einſiedleriſchen
Gemsböcke plötzlich bei den Trupps der Geiſen . Um den Be¬
ſitz eines ſolchen Trupps , nicht einer Einzelgeis , geht der
Wunſch des Bockes und geht , wenn zwei Böcke ſich vor dem
gleichen Trupp begegnen , der erbitterte Kampf . Der Sieger
zieht mit dem ganzen Trupp ab .
Bei den Mufflons zerfällt mit der Brunſt die große ,
doppelgeſchlechtige Schar in ſo viel kleinere Trupps , als er¬
wachſene Widder da ſind ; jeder reſerviert ſich ſein Teil Schafe ,
wobei der bisherige Leitwidder der ganzen Genoſſenſchaft
jedenfalls den Löwenanteil ſich erzwingt .
Bei den Guanakos ( Lamas ) ſorgt der Leithengſt immer
dafür , daß die jung anwachſenden männlichen Tiere in ſeiner
Herde verjagt werden , ſobald ſie mannbar werden , — ein deut¬
licher Beweis , daß er die Weiberſchar , die er leitet , nicht bloß
ſozial , ſondern ehelich , mit der Eiferſucht des Ehemanns , auffaßt .
13*
Bei den Vikunjas , einer anderen Lama-Art , erobert das
Männchen ſich in der Brunſtzeit ſein Rudel , bleibt aber dann
treuer und umſichtiger Leiter auch über dieſe Zeit hinaus :
polygamiſche Ehe und Weibergenoſſenſchaft mit einem männlichen
Leittier iſt hier und in vielen ähnlichen Fällen überhaupt nicht
mehr klar auseinander zu halten .
Als Schlußbild mag der Affe gelten . Brehm ſoll hier
reden , weil jede Umſchreibung die Kraft der prachtvollen Stelle
ſchwächte . „ Das ſtärkſte und älteſte , alſo befähigſte männliche
Mitglied der Herde ſchwingt ſich zum Zugführer oder Leitaffen
auf . Dieſe Würde wird ihm nicht durch das allgemeine
Stimmrecht übertragen , ſondern erſt nach ſehr hartnäckigem
Kampfe und Streite mit anderen Bewerbern , d. h. mit ſämtlichen
übrigen alten Männchen , zuerteilt . Die längſten Zähne und
die ſtärkſten Arme entſcheiden . Wer ſich nicht gutwillig unter¬
ordnen will , wird durch Biſſe und Püffe gemaßregelt , bis er
Vernunft annimmt . Dem Starken gebührt die Krone : in
ſeinen Zähnen liegt Weisheit . Der Leitaffe verlangt und ge¬
nießt unbedingten Gehorſam und zwar in jeder Hinſicht .
Ritterliche Artigkeit gegen das ſchwächere Geſchlecht übt er
nicht : im Sturme erringt er der Minne Sold . Das jus
primae noctis gilt ihm heute noch . Er wird Stammvater
eines Volkes , und ſein Geſchlecht mehrt ſich gleich dem Abra¬
hams , Iſaaks und Jakobs wie der Sand am Meere . Kein
weibliches Glied der Bande darf ſich einer albernen Liebſchaft
mit irgend welchem Grünſchnabel hingeben . Seine Augen
ſind ſcharf , und ſeine Zucht iſt ſtreng ; er verſteht in Liebes¬
ſachen keinen Spaß . Auch die Äffinnen , welche ſich oder beſſer
ihn vergeſſen ſollten , werden gemaulſchellt und zerzauſt , daß
ihnen der Umgang mit anderen Helden der Bande gewiß ver¬
leidet wird ; der betreffende Affenjüngling , welcher die Harems¬
geſetze des auf ſein Recht ſtolzen Sultans verletzt , kommt noch
ſchlimmer weg . Die Eiferſucht macht dieſen furchtbar . Es iſt
auch thöricht von einer Äffin , ſolche Eiferſucht heraufzubeſchwören ;
denn der Leitaffe iſt Manns genug für ſämtliche Äffinnen ſeiner
Herde . Wird dieſe zu groß , dann ſondert ſich unter der
Führung eines inzwiſchen ſtark genug gewordenen Mitbruders
ein Teil vom Haupttrupp ab und beginnt nun für ſich den
Kampf und den Streit um die Oberherrſchaft in der Leitung
der Herde und in der Liebe . Kampf findet immer ſtatt , wo
mehrere nach gleichem Ziele ſtreben ; bei den Affen vergeht
aber ſicher kein Tag ohne Streit und Zank . Man braucht
eine Herde nur kurze Zeit zu beobachten und wird gewiß bald
den Streit in ihrer Mitte und ſeine wahre Urſache kennen
lernen . Im übrigen übt der Leitaffe ſein Amt mit Würde
aus . Schon die Achtung , welche er genießt , verleiht ihm Sicher¬
heit und Selbſtändigkeit , welche ſeinen Untergebenen fehlt ; auch
wird ihm von dieſen in jeder Weiſe geſchmeichelt . So ſieht
man , daß ſelbſt die Äffinnen ſich bemühen , ihm die höchſte
Gunſt , welche ein Affe gewähren oder nehmen kann , zu teil
werden zu laſſen . Sie beeifern ſich , ſein Haarkleid ſtets von
den läſtigen Schmarotzern möglichſt rein zu halten , und er
läßt ſich dieſe Huldigung mit dem Anſtande eines Paſchas
gefallen , welchem eine Lieblingsſklavin die Füße kraut . Dafür
ſorgt auch er treulich für die Sicherheit ſeiner Bande und iſt
deshalb in beſtändiger Unruhe . Nach allen Seiten hin ſendet
er ſeine Blicke , keinem Weſen traut er , und ſo entdeckt er auch
faſt immer rechtzeitig eine etwaige Gefahr . “
Dieſer Umſchlag der Einweiberei in Vielweiberei iſt aber
wieder nur ein einzelnes ſtrammes Exempel der gegenſeitigen
Durchkreuzung von Ehe und außerehelichem Sozialleben . Es
giebt noch mehr . Und zwar giebt es weitere Züge , in denen ,
wie hier , die Ehe leiſe Wandlungen , Verſchiebungen erfährt
durch das Soziale ; wieder noch weitere aber auch , in denen
dieſes Soziale in gewiſſe Konflikte und Nötigungen gerät um¬
gekehrt durch Einmiſchung der Ehe .
Bleibe doch gleich bei der letzten , ſchönen Hiſtorie vom
Affen . Hier ſiehſt du vollkommen deutlich ſchon angedeutet ,
wie das Verhältnis vom Leittier zur Herde noch über die ein¬
fache , polygamiſche Ehe hinausführt , — bis an eine Grenze
wo die Ehe überhaupt wieder anfängt zu ſchwimmen .
In der Herde haſt du Männer und Weiber . Über beiden
und ihren Beziehungen aber ſteht der Leitmann , der Anführer
noch einmal als ein beſonderer Mann , eine Art „ Übermann “ ,
der alle Beziehungen dort nur duldet , ſoweit ſie ihm nicht in
die Quere kommen , der dabei für ſich aber das Recht auf alle
Weiber des Stammes zuſammen noch wieder ſeparat beſitzt . Laß
in der Gruppe Ehen ſein , wie ſie wollen und ſo viele wie wollen ,
monogamiſche oder polygamiſche , zeitliche oder lebenslängliche :
der Häuptling umgreift ſie noch einmal alle mit einem höheren
Kollektivrecht , er lebt für ſein Teil mit der geſamten weib¬
lichen Partei des Stammes in einer Kollektivehe , die als Ober¬
ehe alle jene Verbände in ſich faßt und , je nach Bedarf , für
die perſönlichen Liebeswünſche des Herrn Anführers ausſchaltet .
In dieſem Prinzip liegt nicht mehr bloß eine Erweiterung
des Ehebegriffs : es liegt ſchon ein Anlauf darin zu einer
Auflöſung dieſes Begriffs in verwickeltere ſoziale Uberordnungen
hinein . Es tritt ein Beſitzrecht auf das Weib auf , das ſich
nicht mehr mit der Ehe einfach deckt .
Dieſes Wörtlein „ Beſitz “ iſt ja wieder für ſich ein ſehr
intereſſantes in der ganzen Geſchichte .
Der Beſitzbegriff in der Ehe iſt im Tierreich offenbar genau
ſo alt wie jene beiden Begriffe „ Seltenheitswert “ und „ Lieb¬
haberwert “ . Wo das andere Geſchlecht überhaupt ſelten war ,
alſo ſchon ein Glücksfall vorlag , wenn eine ergänzende Liebes¬
hälfte gefunden wurde , — oder wo eine individuelle Wahl
aus Schönheitsgründen , Stärkegründen und ſo weiter ein ganz
beſtimmtes andergeſchlechtiges Individuum ausgeleſen hatte aus
vielen als das erwünſchteſte , — — überall da mußte , wie
einerſeits die Dauerehe , ſo andererſeits ſtreng parallel dazu
der Beſitzbegriff ſich ausbilden . Heiſa , das Tier hatte endlich
einen Mann oder ein Weib , je nachdem . Es hatte gar gerade
den oder die , die ihm die allerliebſten dünkten . Jetzt galt 's
aber auch dieſe Errungenſchaft verteidigen wie ein Raſender .
Die ganze Eiferſucht bäumte auf , dieſe wahre Stichflamme der
Erotik .
Daß das höhere Tier an und für ſich ſchon ſehr aus¬
geprägte Beſitzvorſtellungen hat , kann dich jeder Hund lehren ,
der ſeinen Knochen verteidigt .
In der Ehe war aber in dieſem Beſitzverhältnis eins
zunächſt gar nicht bindend gegeben : daß gerade der Mann
nämlich ausgeſprochen die Frau als ſeinen Beſitz anſah . Das
urſprünglich Logiſche war zweifellos ein gegenſeitiges Be¬
ſitzverhältnis . Das entſprach der Arbeitsteilung von genau
Halb und Halb , — der Arbeitsteilung im Ehebund von zwei
an und für ſich vollkommen gleichwertigen Individuen . In
der Maulwurfsgeſchichte haſt du ſehr hübſch verteilt : der Mann
ſchätzt das Weib um ſeiner Seltenheit willen , — weil er
überhaupt eins hat ; das Weib umgekehrt ſchätzt ihn um des
Liebhaberwertes willen , als den „ Stärkſten “ in der Männer¬
konkurrenz , — alſo als ihr „ Ideal “ . In die Ehepflichten
aber teilen ſich beide .
Immerhin haſt du aber auch hier ſchon ein Hinneigen
dazu , daß der Mann eben als der phyſiſch Stärkere die Frau
mehr „ beſitzt “ als dieſe ihn . Sie will den ſtärkſten Mann ,
aber nun hat ſie eben auch einen , der nötigen Falles viel
ſtärker iſt als ſie und ſie auch da zwingen könnte , wo ſie
nicht will .
In den verwickelten Linien , wie die Ehe im Tierreich
herankommt , mußte ſich ähnlich die reine Logik vielfältig ver¬
ſchieben zu einer gewiſſen Ungleichheit der eigentlichen Macht
zum Beſitz .
Auch da aber iſt nun wieder ſehr evident , daß in vielen
Fällen dieſe überwiegende Seite zunächſt gar nicht ohne
weiteres beim Manne zu ſein brauchte . Die Frau , das
„ Weibchen “ , erſcheint in den Eheanfängen vielfach als die
ſtärkere , als die eigentliche Arbeiterin , und zwar das nicht
im Sklavenſinn , ſondern gerade im edeln , freien Kraftſinne .
Das Weibchen hat von Anfang an in der rein körperlichen
Liebesteilung ſchon die umfaſſendere Kinderfabrik unter ſich . Es
hat in der Mehrzahl der Fälle auch die weitere Kinderſorge
in erſter Linie in ſeiner Hand . Es hat ſo zu ſagen die ehelichen
Hoſen zunächſt an , was ſich ſchon äußerlich in ſeinem gröberen ,
mehr auf Schutzzwecke gerichteten Arbeitskleide andeutet , —
denke an die Paradiesvogelgeſchichte .
Das Männchen umgekehrt erſcheint in zahlreichen Fällen
viel mehr wie das bunte Dekorationsſtück der Liebe . Es paradiert
in ſtrahlenden Farben und wallenden Schweifen , es tanzt und
ſingt und treibt alle Sorten äußeren Liebesfeuerwerks . Aber
in der Ehe ſelbſt iſt es viel mehr das Nebenrad , das gelegentliche
Erſatzglied , die Reſerve , der Gehülfe der Meiſterin , der aber
immer im Dienſt von deren Initiative iſt . Die Stärke ja
des Männchens ſelbſt , wo ſie zuerſt auftritt , ſeine Hörner ,
Geweihe , Waffen aller Art , ſie gehören ihm offenbar keineswegs
von Beginn der Dinge an als Mannesprivileg , ſondern auch
ſie gerade verdankt es nur der umſichtigen Wahl , der Sorge
der Frau . Die Frau hat das erſt bei ihm herangezüchtet als
das , was ſie als Hülfe bei ihrer Arbeit am beſten gebrauchen
konnte , ſie hat durch beſtändige Ausleſe der beſtgewappneten
Männchen ihm die Waffe allmählich auf den Leib gezüchtet .
Erſt ganz allmählich ſiehſt du dann auf Grund dieſer
Stärke ein gewiſſes Übergewicht des Mannes eintreten . Wiederum
das aber gewinnt eine außerordentlich viel größere Macht erſt
durch die Einmiſchung jener ſozialen Linie .
Der Begriff des „ Leittiers “ wird für die Herde ſo un¬
geheuer wichtig , daß die einfache Arbeitsteilung der Ehe da¬
gegen zurücktritt . Indem dieſes Leittier ein Mann wird , tritt
dieſer in eine Übergewichtsſtellung , die eine ganz neue Ordnung
anbahnt .
Nun paßt ſich gar in vielen Fällen die Ehe dem an ,
wird zur Polygamie , der Anführer wird Kollektivgatte einer
ganzen Gruppe von Frauen . Damit wird das Beſitzverhältnis
allmählich ein ganz anderes : ein Mann gilt an Kraft etwa
zwanzig Frauen , jede dieſer zwanzig Frauen aber nur ein
zwanzigſtel Mann ! In Wahrheit liegt auch dieſer Linie
eigentlich immer noch ein Akt , eine Initiative der Frau zu
Grunde : ſo und ſo viel Weibchen wählen ſich einen ſtärkſten
Mann als Anführer . Es iſt halb Sparſamkeit , halb geſchickteſte
Ausnützung der thatſächlich höchſten Kraft : beſſer zu zwanzig
hinter einem wirklichen Kraftgenie , als zwanzig Paare mit der
Chance , daß neunzehn davon weniger ſtarke Männer haben .
Aber nun macht dieſer „ Anführer “ ſich kraft ſeiner Kraft auch
zum Ehemann , und damit kommt nun doch ſchließlich eine
ſtärkere Einverleibung der Weiber in ſeinen „ Beſitz “ zu ſtande .
Und eine Steigerung davon iſt endlich dann jenes eigentümliche
Verhältnis , daß der Leitaffe einer doppelgeſchlechtigen Herde
noch einmal über die Köpfe aller echten Ehemänner hinweg ,
alle Weiber „ beſitzt “ .
Damit ſind wir aber allgemein bei einem Punkt , wo das
Sozialleben anfängt , die Ehe überhaupt wieder zu verſchlingen .
Ein zweites Motiv iſt dabei von anderer Seite her flott beim
Werk , je „ ſozialer “ das Ganze wird . Es betrifft die Kinderpflege .
Du erinnerſt dich , wie auf ihr ſich eigentlich die Ehe
ihrem Zweck nach aufgebaut hat . An dieſer Stelle wurde die
„ Liebe “ zur „ Ehe “ . Überall im Vogel- wie Säugetierreich aber ,
wo du ſoziale Verbände ſtark hervortreten ſiehſt , gewahrſt du
auch Anfänge einer Sozialiſierung der Kinderpflege , die dieſe
enge Eheform wieder überflüſſig macht . Das Band zwiſchen
Eltern und ihren Kindern erweitert ſich zu einer Solidarität
des ganzen Stammes allen Kindern gegenüber , — ob das
Kind nun pflegende Eltern hat oder nicht : es gehört dem
Stamme , dem Volk , der Genoſſenſchaft , und dieſe ſorgen auf
alle Fälle für ſein Wohlergehen .
In unzählbaren Scharen brüten auf ihren Klippen ge¬
meinſam die Tauchervögel , im Norden unſeres Planeten , Alk
und Lumme , im Süden der Pinguin . Bei allen herrſcht ein
ſolidariſcher Gemeinſchaftszug in der Kinderpflege , obwohl die
Einzelehe an ſich noch nicht geſtört iſt . Wenn die Brützeit da
iſt , ſcheint es , als genüge die eigene Leiſtung dem Triebe
nicht mehr . Die Pinguinweibchen gehen bei ihren Genoſſen
geradezu auf den Eierraub : ſie mauſen ſich , wo ſie können ,
noch fremde Eier zu ihren eigenen . Dabei macht der Art¬
unterſchied keine Grenze . Große Arten holen den kleinen ihre
Eier mit Gewalt vom Neſt , ſo daß nachher Junge des ver¬
ſchiedenſten Ausſehens beiſammen hocken . Bei den Lummen
genügt es nicht , daß Männchen und Weibchen bei jedem Ehe¬
paar abwechſelnd brüten : alle überzähligen Junggeſellen drängen
ſich noch herzu und machen ſich eine Ehre daraus , eine Weile
bald hier , bald da als Aushilfsbrüter mitzuthun . Wo ſolche
Sitten herrſchen , iſt es klar , daß das einzelne Elternpaar leicht
ſich ganz verlieren kann , ohne daß doch die Jungen verkommen
müſſen , wie es ſonſt Vogelregel iſt . „ Unbeſchreibliches Leben
regt ſich “ , erzählt Brehm von ſolcher Tauchvogelkolonie , „ und
doch herrſcht ewiger Frieden unter der Gemeinde , welche an
Anzahl die unſerer größten Städte übertrifft . In dieſen ge¬
ſchieht es , daß der Menſch an ſeinem verhungerten Mitbruder
kalt vorübergeht : in den Gemeinden der tiefſtehenden Vögel
finden ſich hunderte , welche nur auf die Gelegenheit warten ,
Barmherzigkeit zu üben . Das Junge , welches ſeine Eltern
verlor , iſt nicht verloren : die Geſamtheit ſteht ein für
das Wohl des einzelnen . “
Von den wilden , meerumtobten Schären und Klippen
dieſer Genoſſenſchaftsvögel fort ſinkt der Blick dann in den
tiefen grünen Tropenwald . Ein dumpfes Knacken der Zweige ,
ein ſchriller Trompetenton : eine Elefantenherde ſchiebt ſich lang¬
ſam dahin . Auch dieſe Ungetüme leben in Gemeinſchaft , bis
zu fünfzig , ja hundert und mehr Stück . Ein kluger alter Leit¬
elefant geht voraus . Die Herde bilden eine kleine Anzahl
Männchen mit ihren viel zahlreicheren Weibchen . Dieſe Weibchen
aber wieder zeigen das ſeltſamſte Verhältnis zu ihren Jungen .
Sie ſind nicht zärtlicher gegen ihr eigenes Kind , wie gegen das
jeder andern Mutter im Trupp . Je nachdem ſich gerade dieſes ,
jenes Truppkind in ihrer Nähe befindet , bietet die Elefanten¬
frau ihr Euter dar , wahllos , denn alles , was zum Trupp
zählt , iſt mit ihr ſolidariſch . Das Kind gehört der Geſellſchaft !
So haſt du alſo , merk es wohl , ganz deutlich ſchon im
Tierreich , wo es ſozial wird , zwei Pole gleichſam der Möglichkeit :
— hier alle Kinder gemeinſames Eigentum , ſozial erhalten
durch die Geſamtheit unter immer geringerer Individualiſierung
der Herkunft , — dort einem Manne der Möglichkeit nach
zugänglich alle Weiber ; dieſer Mann thut als Anführer der
Geſamtheit einen unſchätzbaren Dienſt und dafür ſtehen ihm
alle Weiber zur Verfügung .
Male das einen Schritt nur noch weiter aus : und die
Ehe hat überhaupt hier keinen Zweck mehr . Was dem einen
Anführer zuſteht und mit ihm durchführbar war : Kollektivbeſitz
aller Weiber und Kollektiverziehung aller von ihm gezeugten
Kinder durch die Geſamtheit , — das kann ſchließlich jeder
Mann in der Genoſſenſchaft beanſpruchen und gewährt erhalten ,
ſobald er in wachſender Arbeitsteilung auch der Allgemeinheit
nur ſein Teil Dienſte leiſtet . Fazit : alle Männer haben das
Recht auf alle Weiber des Stammes und alle Kinder haben
das Recht auf genoſſenſchaftliche Erziehung durch den ganzen
Stamm . Freie Liebe — und ein geſellſchaftlich anerkanntes
Staatsfindelhaus — die Ehe aber zwecklos . Notabene : wir
reden hier immer noch bloß von Affen , Pinguinen und Elefanten
und malen zunächſt nur aus , was dort leicht noch hätte ent¬
ſtehen können ....
Indeſſen : auch die umgekehrte Wirkung mußte ihren Weg
nehmen , — nämlich die Beeinfluſſung des Sozialen durch das
eindringende Eheprinzip .
Die urſprünglich nicht erotiſche Genoſſenſchaft wurde zu¬
nächſt vielfach eine Genoſſenſchaft von Eheverbänden . Die
jungen Tiere blieben bei der Maſſe , ſchloſſen wiederum Ehen
innerhalb der Gemeinſchaft und ergänzten dieſe ſo immer wieder ,
wenn ältere Glieder durch Tod ausſchieden , aus ſich ſelbſt . Je
regelloſer dabei auch die Ehe ſelbſt allmählich behandelt werden
mußte im eben erzählten Sinne : das Geſamtbild eines ſolchen
Stammes näherte ſich doch als Ganzes unaufhaltſam ſo immer
mehr dem Bilde einer einzigen großen Familie . Und
zwar nicht bloß für eine Generation , ſondern gerade fortgeſetzt
von Generation zu Generation . Das junge Tiervolk paarte
ſich immer wieder in die Gemeinſchaft hinein , — die Stammes¬
zugehörigkeit wurde eine immer engere wirkliche Blutsver¬
wandtſchaft .
Da kommt noch einmal die Elefantenherde durch den
indiſchen Urwald . Sie hat ſich etwas zerſtreut beim fröhlichen
Äſteknacken . Aber der eingeborene Indier , der dich begleitet ,
wirft nur auf ein einziges Exemplar einen Blick und er weiß
ſchon : es iſt der und der altbekannte Elefantentrupp . Woran
kann er das erkennen ? Er beobachtet ein feſtes Merkmal , etwa
eine beſtimmte Art des Rüſſels , ſich nach der Spitze zu nicht
zu verjüngen , oder eine beſtimmte Stellung der Augen , ein
beſtimmtes Profil der Stirn , — und er weiß abſolut ſicher :
alle Mitglieder dieſes Trupps und ſollen es zwanzig und mehr
ſein , haben ausgeſprochen dieſen Individualtypus . Die Urſache
iſt eben : der ganze Trupp hat ſeit Generationen ſich immerzu
nur aus ſeiner eigenen Mitte heraus ergänzt . Alle ſeine
Mitglieder , ob Mann , ob Weib , ob Führer oder geführt , ob
verheiratet oder ledig , alleſamt ſind ſie außerdem noch echte ,
enge Blutsverwandte . Daher die gleichen Naſen , Stirnen und
Augen bei allen : ſie ſind ihr durch Inzucht fort und fort
geſteigertes Familienwappen .
Ja aber durch Inzucht ! Die Inzucht iſt eben die große
Gefahr , die das Eheprinzip , das Erotiſche überhaupt in das
Soziale auf dieſer Stufe bringt . Es iſt ſo hübſch , den Stamm
möglichſt geſchloſſen halten , wenn er glücklich einmal beiſammen
iſt ! Keine fremden Eindringlinge zu dulden ! Und das aus¬
zudehnen über Generationen . Den Jungen die Mühe der
neuen Konſolidierung gleich zu ſparen . Kinder ſind ja da
durch die eifrige Liebesmühe der Stammgenoſſen . Männlein
und Weiblein ſind dabei . Warum ſollen die nicht gleich wieder
ſich begatten , — wenn auch nicht genau Bruder und Schweſter
vom gleichen Mutterleibe , ſo doch wenigſtens Stammeskind hier
und Stammeskind dort ? Anfangs iſt das in der That ſehr
hübſch . Aber ein paar Generationen : und alle ſind doch ſo
eng blutsverwandt wie Sprößlinge einer einzigen Ehe . Die
Inzucht ſteht in ihrer Sünden Blüte , — dieſe Inzucht , auf
die die Natur nun einmal immer und immer wieder ihren
ſiebenfachen Fluch gelegt hat . Wenn ſie nicht wieder heraus¬
kommt aus dem ſchönen Rechenexempel , ſo muß der Stamm
eines Tages an ſeiner eigenen ariſtokratiſchen Reinheit , ſeinem
Blaublut , das Giftblut wird , elendiglich zu Grunde gehen .....
Ganz unbedingt lag hier ein Punkt , wo die erotiſche
Einmiſchung das Sozialprinzip gefährdete , — es gefährlich
machte . Sollten beide miteinander dauernd auskommen , ſo
mußte irgend eine Regulierung eintreten . Die Natur iſt ja
unerſchöpflich geweſen in Auswegen vor dem drohenden Inzucht¬
geſpenſt .
Wie die Sache ſich bei den Elefanten wieder ins Rechte
ſtellt , iſt nicht genau erforſcht . Immerhin iſt aber bei ihnen
wie bei verſchiedenen anderen ſtark ſozial lebenden Tieren auf¬
fällig das Beſtehen ſogenannter „ Herumſtreicher “ . Man nennt
ſo einzelne reife Männchen , die merkwürdigerweiſe keiner Ge¬
noſſenſchaft angehören , ſondern für gewöhnlich ein abſolut
einſames , trotziges Junggeſellenleben führen . Es ließe ſich
ganz gut denken , daß dieſe Sekte der Herumſtreicher nichts
viel anderes darſtellte , als eine ſtändige Reſervearmee gelegent¬
licher Blutauffriſcher bei den verſchiedenen feſten Genoſſen¬
ſchaften . Sie mögen in ihrem urſprünglichen Stamme irgend¬
wie überzählig geworden ſein bei der Weiberregulierung , haben
ſich vom Verbande gelöſt und bilden nun , wo immer ſie ein
Weib aus anderem Stamm im paſſenden Moment überrumpeln
oder gutwillig in ambulando verführen , eine unbeabſichtigte ,
aber äußerſt nützliche Liga gegen die böſe Inzucht .
Ein viel probateres Mittel aber beſteht überall da , wo
der Anführer oder die Körperſchaft der alten Männchen im
Stamm gewohnheitsmäßig jedesmal die heranwachſende männ¬
liche Jugend aus der Genoſſenſchaft gewaltſam hinauswirft , ſo
wie ſie anfängt , ſich mit den Weibern im Stamm mauſig zu
machen . Ein ſolches vor die Thür geſetztes Jugendheer als
lauernde Maſſe im Hintergrund hatteſt du ſchon bei den See¬
bären . Ähnliche Verhältniſſe herrſchen vielfach bei den geſellig
lebenden Affen . Und der Erfolg iſt ein ſinnfälliger . Das
lüſterne junge Volk zerſtreut ſich und umlagert als ſtändige
Verſuchung die verſchiedenen Verbände , ſtets auf dem Sprung ,
ſich hier oder da ein fremdes Weib herauszuräubern . Es
braucht nicht immer mit Gewalt zu geſchehen . In dieſem oder
jenem Stamme mag Überfluß an jungem weiblichem Nachwuchs
ſein , der aus freien Stücken anfängt , zu ſchwärmen . Gelegent¬
liche Liebeleien mögen ſich da im Stillen anbändeln hinter dem
Rücken der Anführer oder ſonſtigen Stammespaſchas , zuletzt
mag es Flucht geben und Anfänge neuer , eigener Stammes¬
bildung durch Ehe . Immer aber wird — neben der über¬
haupt wieder erweiterten Liebesauswahl in die Maſſe vieler
Stämme hinein , ſtatt bloß in einen — der Inzucht aufs
wirkſamſte ſo entgegen gearbeitet werden .
Auch dieſe Linie kannſt du dir mit etwas Phantaſie ſehr
leicht ein Stückchen noch weiter als „ möglich “ ausmalen .
Denke dir etwa eine Anzahl ſolcher Affengenoſſenſchaften
noch etwas feſter und zugleich etwas weniger roh und gewalt¬
ſam konſtruiert . Jeder Stamm hat in ſich ſeine geregelten Ehen ,
die ſtreng verteidigt werden . Aber das junge Volk iſt frei .
Nur ein Geſetz gilt auch da : keine Liebſchaften dürfen inner¬
halb des eigenen Stammes angeſponnen werden . Sobald die
jungen Leute Liebesgelüſte bekommen , ſind ſie angewieſen , mit
einem andern Stamm anzuknüpfen . Dort wird das ermöglicht
durch eine ſehr weitgehende Liberalität der jungen Mädchen .
Es mag in einer Zeit loſen Herumpouſſierens eine ausgiebige
Liebeswahl ſtattfinden . Reſultat iſt endlich die feſte Wahl
eines fremden Mädchens zur Ehe . Für dieſe ſind dann zwei
Möglichkeiten gegeben . Es kann der junge Mann ſich mit dem
fremden Mädel als Ehepaar in den Stamm des Mädels ein¬
ordnen . Oder er kann es zu ſeinem väterlichen Stamm als
Frau heimführen . Je nachdem das Verhältnis der Stämme
im Ganzen zu einander gut oder ſchlecht iſt , mag ſich das voll¬
ziehen . Iſt es ſchlecht , ſo wird die letztere Form wahrſcheinlicher
ſein und zwar wird die endgültige Losreißung des Mädchens
von ſeinem Stamme dann wie ein „ Raub “ erſcheinen . Jeden¬
falls aber iſt auf beiden Wegen garantiert , daß jede Inzucht
aufhört unbeſchadet des Beſtehens wohlgefügter Sozialverbände
und wohlgefügter Ehen . Auch das aber wieder , wohlverſtanden ,
bloß einmal angenommen als denkbaren Fortſchritt der Ele¬
fanten oder Paviane .
Und damit wären wir mit Fug beim Abſchluß der Tier-
Beiſpiele .
Was ich aber behaupte , iſt , daß wir jetzt den ganzen
Urmenſchen endgültig mit unter der Klappe haben .
Auch im Problem der „ Ehe “ faßt dieſer Menſch das ganze
Tier wie ein Winkelried ſeine Speere in Eins zuſammen , —
er , der alle Anpaſſungen dieſer Erde ſchließlich in ſich vereint
und alle „ Ideen “ irdiſcher Entwickelung in ſich zuſammen- und
weiterlebt .
D er Menſch war von Beginn ſeiner Bahn an ein ge¬
ſelliges Tier , ein ſozial lebendes Tier . Für dieſen Satz ſpricht
ſo viel Wahrſcheinlichkeit , als in irgend einer dieſer Urgeſchichts¬
fragen füglich verlangt werden kann .
Der Oberſchenkel jenes Weſens von der Inſel Java , das
die Mitte hält zwiſchen Affe und Menſch , des berühmten
Pithekanthropus , zeigt in dem einzigen uns erhaltenen Exem¬
plar eine Knochennarbe , die von einem verheilten , ſchweren
Abſzeß erzählt . Die Möglichkeit , daß dieſer längere Zeit das
Leben bedrohende Abſzeß heilen konnte , erzählt dir aber , daß
dieſer Affenmenſch Genoſſen gehabt haben muß , die ihn ſo
lange ſchützten , nährten , pflegten . Die Schuſſenrieder und
Taubacher Eiszeitmenſchen treten dir in den Reſten ihrer Ur¬
kultur entgegen nicht als einſamer Adam , höchſtens mit einer
Eva , — ſondern als Trupp , als Jägergeſellſchaft , als kleine
Kolonie an einem Seeufer . Die wichtigſten Dinge , die den
Menſchen über das Tier erheben , haben einen durch und durch
ſozialen Zug : die Sprache , die größte aller ſozial verknüpfenden
Welterfindungen , die wir überhaupt kennen ; und das Werkzeug ,
dieſe wahre Löſung des Problems , wie das Organ abgetrennt
werden könnte vom Individuum , um für viele Individuen
gleichmäßig benutzbar zu werden , — meine Hand iſt in ihrer
zufälligen Stärke nur mir an den Leib gewachſen und ſtirbt
14
mit mir , — das ſtarke Meſſer können tauſend Menſchen nach¬
einander benutzen und es bleibt dasſelbe , ob auch ſein erſter
Beſitzer ſtirbt , es erbt ſozial fort . Die ganze uns klar ſichtbare
Geſchichte der Menſchheit iſt Sozialgeſchichte . Die roheſten
Naturvölker zeigen ſoziale Formen , zum Teil von ſtaunens¬
werter Verwickelung . Alle Höhen und Tiefen des Menſchlichen
auf Erden durchdringt das Soziale . Es ſteht über der Schädel¬
pyramide Tamerlans wie über der Abendmahlstafel , wo Chriſtus
die Menſchenliebe einſetzt . Seine Wandlungen , ſeine Fort¬
ſchritte bewegen uns , wie ſie vor ein paar tauſend Jahren ſchon
alles durcheinander gerüttelt haben . Im Sozialen liegen unſere
politiſchen Probleme und unſere Brotfragen .
Auch die Urgeſchichte der menſchlichen Ehe muß ihren
Menſchen auftreten laſſen als dieſes ſoziale Tier von Anfang
an . Und damit werden alle die Linien , die ich dir zuletzt an¬
gedeutet , auch für den Menſchen hoch bedeutſam : ſoziale An¬
fänge neben der Ehe und außerhalb der Ehe ; und Kreuzung ,
Verſchiebung der Ehe durch dieſe Sozialverbände , wie dieſer
Sozialverbände ſelbſt wieder durch die Ehe .
Suchen wir doch einmal beim Menſchen , wie er heute
noch vor uns ſteht , die Stücke raſch zuſammen , die an alle jene
tieriſchen Detailzüge gemahnen .
Die erſte , ſchlechterdings denn doch nicht zu leugnende
Sache iſt allerdings die Exiſtenz der monogamiſchen Ehe beim
Menſchen in ungezählten Fällen heute noch . Die Beiſpiele
ſteigen , wie geſagt , vom nackten Wedda auf Ceylon bis zum
oberſten Kulturmenſchen , ſie ſchreiten im Großen den geſamten
lebenden Kreis der Menſchheit ab . Alſo dieſen Punkt hat der
Menſch unzweifelhaft .
Wo dieſe monogamiſche Ehe Lücken läßt , da tritt zunächſt
dann die polygamiſche ein . Auch ſie herrſcht in Afrika und
den größten Teilen Aſiens heute noch in ſtattlicher Kraft , fehlt
dagegen bei vielen ſehr urtümlichen Völkern unten und wiederum
bei den höchſten Kulturvölkern oben . Im allgemeinen macht
ſie den Eindruck einer mittleren Erſcheinung , als ſei ſie auf
gewiſſer Stufe zwiſchen die bereits beſtehende Monogamie ge¬
treten , um dieſer , die unentwegt fortbeſtand , ſchließlich doch
wieder zu weichen . Nach unſern Tierbeiſpielen werden wir
ſagen , daß in ihr bereits das Soziale mit der Ehe ſich kreuzte
und zwar in einer Form , die in der Ehe etwas verſchob . Die
Verſchiebung führte zu einer Herabſetzung des Weibes , und das
möchte , werden wir vermuten , die Urſache geweſen ſein , weshalb
ſie im höchſten Entwickelungsaſt der Menſchheit doch allmählich
von der höheren Zweckmäßigkeit wieder ausgemerzt wurde .
Jedenfalls werden wir hier aufmerkſam gemacht , das Soziale
jetzt beim Menſchen für ſich aufzuſuchen .
Wenn wir an ſoziale Ordnung bei uns denken , ſo ſchwebt
uns immer als erſtes Bild vor eine ſolche Ordnung , die die
Ehe als Glied in ſich faßt . So umgreift bei uns der Staat
die Ehe als feſt eingeordnete Inſtitution . Aber wir betrachten
jene Tierverbände , die ſich außerhalb der Ehe bildeten , Herden
von Männchen oder Weibchen , jede für ſich geſellig lebend in
der Nicht-Brunſtzeit . Und das lenkt deinen Blick auf gewiſſe
ſoziale Zwiſchengliederungen auch der Menſchen , die in einem
gewiſſen Gegenſatz zur Ehe ſtehen .
Ich gehe in eine kleine Provinzſtadt , um ein befreundetes
Ehepaar zu beſuchen . Die Leute leben ſeit vielen Jahren in
muſterhafter Ehe . Aber ich finde niemand zu Hauſe . Die
Dame iſt im Kaffeekränzchen nebenan bei der Frau Pfarrer .
Der Herr ſitzt mit ſeinen Altersgenoſſen am Stammtiſch im
„ roten Hirſch “ . Der Sohn iſt in der Hauptſtadt in einer
Knabenerziehungsanſtalt . Die Tochter iſt in der Schweiz in
14*
einer Mädchenpenſion . In dieſem trivialen Beiſpiele haſt du
vier kleine Sozialverſuche außerhalb der Ehe mit ausgeſprochenem
Zuſammenhalten der Geſchlechtsgenoſſen , Frauen , Männer , Knaben ,
Mädchen . Die beiden letzten liegen noch vor der Ehe , die beiden
erſten aber ſchieben ſich bereits zwiſchen dieſe . Nun wirſt du
füglich einwenden , daß es in der Urzeit bei Mammuten und
Eiszeitgletſchern noch keine Skatabende und keine Mädchen¬
penſionate gegeben habe . Indeſſen wir wollen einmal wieder
unſer Provinzneſt mit einem zentralbraſilianiſchen Flußufer
vertauſchen , an dem jene bewußten Bakaïri-Indianer hauſen .
Sie ſtehen , wie du weißt , heute noch in der Steinzeit und
laufen ſplitterfaſernackt umher , bloß mit einem winzigſten Ge¬
ſchlechts-Symbol .
Bei dieſen Indianern haſt du zwei ganz feſte Einrichtungen
nebeneinander .
Hier die Ehe , die Familie , das Familienheim , wo Mann
und Frau und kleine Kinder hauſen . Und daneben den
Männerbund , eine außereheliche oder beſſer nebeneheliche Klub-
Genoſſenſchaft der Männer . Der Männerklub hat ſein be¬
ſonderes Klubhaus , ſein „ Männerhaus “ . Es iſt für die Frauen
im allgemeinen völlig verſchloſſen . Die Männer aber leben
hier ungeniert für ſich , ſo viel ſie können , — ganz ſo , als
gebe es vom Moment , da ſie durch dieſe Thür gegangen ſind ,
gar kein anderes Geſchlecht mehr in der Welt . Hier wird ge¬
tanzt und geſungen und muſiziert , hier wird geſchwelgt und
geſoffen , hier werden Feſte gefeiert , hier tollt der Karneval
mit ſeinen bunten Masken , — hier wird Rat gepflogen , werden
die Waffen geputzt , wird von den Ahnen erzählt , wird die kleine
Tradition aufrecht erhalten . Die jungen , reifen , aber noch
unverheirateten Männer leben ganz hier . Wer Weib und Kind
daheim hat , kommt nur beſuchsweiſe , aber immer findet auch
er hier ein zweites Heim .
Leicht verſteht man , wie gerade bei dieſen Stämmen dieſer
Männerklub ſich ſo ſcharf herausbilden konnte . Einmal iſt er
eben ein Vorerſatz der Ehe für den noch ſuchenden Junggeſellen .
Aber das iſt nur die eine Wurzel . Die andere liegt darin ,
daß auch hier die Ehe ſtarke Unterbrechungen erleidet durch
Arbeitsteilungen . Die Frau ſitzt daheim , ſorgt für die kleinen
Kinder , pflegt den Acker , macht Töpfe und kocht . Die Männer
aber ziehen auf die Jagd , gemeinſam . Lange ziehen ſie da
herum , immer unter ſich . Eine beſondere , rein männliche Ge¬
ſelligkeit entwickelt ſich . Jagdfeſte werden arrangiert . Und da
das ewig wiederkehrt , prägt es ſich zur feſten Inſtitution .
Das Männerhaus iſt gewiſſermaßen die permanent ſtehen¬
bleibende , improviſierte Laubhütte der Jagdgeſellſchaft .
In dieſes Haus gehört die Frau aus guten Gründen nicht .
Gerade damit die Ehe echt beſtehen bleibe ! Im Männerhaus
wimmelt's von Junggeſellen , die auf der Weiberſuche ſind . Es
taugt nicht , dieſer Geſellſchaft die Ehefrauen in beſonders leichten
Situationen , bei Trank und nächtlichem Tanz , nahe zu bringen .
Im Männerhaus verkehren auch Gäſte aus anderen Stämmen , die
man auf der Jagd kennen gelernt hat , hier wird der fremde
Reiſende einquartiert , es iſt das große Hotel des Stammes ,
dem man auch den Ruf der Ehefrau nicht gern anvertraut .
Etwas laxer ſind ja allerdings in den meiſten Fällen
wohl die Beziehungen des Männerbundes zu den unverheirateten
jungen Mädchen des Stammes . Hier dürfen Ausnahmen ſtatt¬
finden , damit die erotiſche Wahl ihren Weg gehe . Das
Männerhaus ſoll ja die Ehe auch in dieſem Sinne , in ihrer
beſtändigen Neuentſtehung , wieder nicht anfechten , ſoll nicht
etwa die Geſchlechter in der Zeit , wo ſie ſich frei ſuchen müſſen ,
ganz voneinander fernhalten . Wo freilich Mädchen dauernd
in die Junggeſellenhäuſer eindringen , da entwickelt ſich von
dem freien Verkehr zur Ehewahl hinweg eine gewiſſe Anfangs¬
ſtufe der Proſtitution , — dieſe Mädchen heiraten überhaupt
nicht mehr , ſondern bilden eine Art ( übrigens ganz harmlos
beurteilter ) Hetären des Klubhauſes , deren Kinder der Stamm
verſorgt , weil ein ſicher beſtimmter Mann nicht exiſtiert .
Doch laſſen wir dieſe ſchon verwickelteren Ausgeſtaltungen
beiſeite , ſo bleibt als Kern ein feſter Männerbund , der zwar
nicht gegen die Ehe , aber doch neben ihr exiſtiert , ein Männer¬
bund , für den es wenigſtens theoretiſch innerhalb ſeiner vier
Wände gar keine Frau giebt . Wie ſtreng die Frauen offiziell
ausgeſchloſſen ſind , erlebten bei gewiſſen , bereits von den
Miſſionären bekehrten „ zahmen “ Bakaïriſtämmen , die predigenden
Herren Patres . Sie entdeckten zu ihrer großen Befriedigung in
jedem Dorf das große „ Flötenhaus “ , nämlich eben das Klub¬
lokal des Männerbundes . Das ſchien ja die geſchaffene Kirche ,
um die neue Gemeinde zu verſammeln . Als aber die Sache zum
erſtenmal gemacht werden ſollte , ſah der fromme Herr ſich
plötzlich vor einer ihm ſelbſt nicht vorgeſehenen Strenge in der
Befolgung des alten Spruches : Mulier taceat in ecclesia , —
es waren nämlich nur die Männer gekommen , die Weiber da¬
gegen hatten ſich gar nicht über die Schwelle gewagt , ſintemalen
es doch eben — das Flötenhaus war !
Solche Klubhäuſer mit allen Sorten komplizierter Bräuche
findeſt du nun nicht bloß bei den Bakaïris allein . Semon ,
der famoſe Erforſcher des Molchfiſchs und Schnabeltiers , hat
ſie beiſpielsweiſe aus Neu-Guinea ſehr klar beſchrieben .
Das iſt das Land , wo heute noch die Wilden vielfältig
ihre Häuſer als wahre Pfahlbauten errichten wie unſere vor¬
geſchichtlichen Ahnen es in den Schweizer Seen machten , ſo daß
die ganze Geſchichte mit dieſer Staffage förmlich ſchon einen
Eiszeitzug bekommt . Das Männerhaus iſt denn auch als
großes Gemeinſchaftslokal recht ein ſolcher hoch aufgeſtelzter
Bau auf Pfählen . „ Marea “ heißt es . Im Marea wohnen und
ſchlafen alle Junggeſellen ſtändig , die Ehemänner wenigſtens
einen Teil ihrer Zeit . Kein Weib darf auch hier bei Leibes-
und Lebensgefahr mit herein . Die Waffen und Trophäen des
Mannsvolks aber liegen und hängen frei herum , die Pfoſten
ſind mit Liebe ausgeſchnitzt , vor der Pforte ſchwebt eine Platt¬
form , wo es zu Zeiten hoch hergeht , Schweine geſchlachtet
werden und Hunde nach Landesbrauch und die Mahlzeit ge¬
halten wird wie in der Freierhalle Homers .
Der Vergleich giebt ſich ſo leicht : fliegt dir nicht unwill¬
kürlich wirklich der Gedanke hinüber zu der Männertafel im
Hauſe der Penelope ? Die Geſchichte auch unſerer ganzen Kultur
im Griechentum , Germanentum , Indertum iſt allerorten in der
That voll noch von Anklängen an Männerhäuſer , Männer¬
bünde der Art , von Ithaka bis zur germaniſchen Methalle .
Wo die Jagd zurücktritt , da iſt es der Krieg , der die Männer
eint , das Klubhaus bekommt einen kaſernenhaften Charakter .
Immer auch ſpielt das Saufen eine große Rolle , die ja bis
in unſere Studentenkommerſe und unſere Stammkneipen hinein
ungeſchwächt fortlebt .
Was iſt das Ganze aber , frage ich dich , im Grunde
anderes , als die Ausgeſtaltung der uralten Linie , die du ſchon
bei den Biſons und Steinböcken anheben ſiehſt : Sozialverbände
gleichſam in den Vorpauſen und Mußeſtunden der Ehe , wobei
ſich die Geſchlechter jedes für ſich ordnen ?
Die Sitte des ſeparaten Frauenhauſes , des Weiberklubs
iſt ja im Menſchenleben beſonders der heutigen Naturvölker
ſeltener nachzuweiſen , da die Frau durchweg feſter an Heim
und Familie ſchon da gekettet iſt . In vielen Fällen ver¬
ſchwimmt auch das Bild mit der Polygamie , — im Harem
haſt du eine Art Frauenhaus mit ganz ähnlichen Zügen , aber
doch eingegliedert in die Ehe ſelbſt . Es hat ſich eben hier
nur vollzogen , was bei den Lamas und anderen Wiederkäuern
auch eintrat : der Weiberklub hat ſich einen männlichen Be¬
ſchützer genommen und der iſt zum Ehepaſcha ausgewachſen ,
der ſchließlich das Weiberhaus auf ſeinen Namen als Privat¬
beſitz zuſiegelt . Immerhin findeſt du deutliche weibliche Seiten¬
ſtücke gelegentlich wenigſtens zu den Junggeſellen-Verbänden :
Klubs der reifenden jungen Mädchen . So etwas triffſt du bei
einzelnen Negerſtämmen ganz unzweideutig , mit regelrechtem
„ Mädchenhaus “ . Und die Neigung hierher lebt ſchließlich ſich
auch hier ja ſo tauſendfältig noch bei uns aus in den Freund¬
ſchaften , Heimlichkeiten , Solidaritäten des Backfiſch-Daſeins , die
in der Ferne immer ſchon auf den Mann ſchielen und mit der
Ehe ſpielen , aber zunächſt doch alle ihre Sozialgefühle im An¬
ſchluß an das gleiche Geſchlecht erſchöpfen .
Mit der Exiſtenz ſolcher außerehelichen Sozialverbände
ſiehſt du dann weiter beim Menſchen aber auch alle die Folgen
ſich einſtellen , die wir bei Tieren teils fanden , teils als geringe
logiſche Steigerungen erkannten .
Der Menſch ſcheint allenthalben dieſe logiſche Steigerung
einfach zu ſein .
Da haſt du die Gefahren der Inzucht .
Die Gefahr bedrohlich wachſender Inzucht war für den
ſozial lebenden Menſchen genau an der gleichen Stelle gegeben
wie beim Elefanten . Sobald ſich nämlich kleine Genoſſen¬
ſchaften abſonderten , die in ſich eine Anzahl Ehen umfaßten —
und ſobald ſolche Genoſſenſchaften über eine Kette einander
folgender Generationen hinweg geſchloſſen zuſammenhielten .
Eine ſolche Sippe heiratete ſchon von der zweiten Ge¬
neration ab immer nur wieder in die Sippe ſelbſt hinein und
geriet mit der Folge der Geſchlechter immer tiefer in die In¬
zucht . Nun war aber gerade der Zuſammenſchluß zu ſolchen
kleinen Sippen , Stämmen , Geſchlechtern überall offenbar die
Grundlage aller menſchlichen Sozialgliederung oberhalb der
Ehe . Wo immer du in die Geſchichte der Völker gehſt , ſtößt
du auf ſie .
Sie lag ſo unendlich nahe . Nimm noch einmal das alte
eiszeitliche Höhlenbild . Die Höhle iſt ein koſtbarer Beſitz .
Aber ſie bietet mehr Raum als für zwei Menſchenkinder . Sie
ermöglicht einer kleinen Genoſſenſchaft das Leben . Weitab biſt
du noch von Tagen der Menſchenliebe . Schlicht praktiſche Ge¬
ſichtspunkte entſcheiden . Gerade ſie ſind aber hier für das Soziale .
In jeder Höhle eint ſich ein Menſchenhäuflein , es eint ſich auf
dieſe Höhle hin . Soviel bewohnbare Höhlen in einem Kalkgebirge
ſind , ſoviel Sippen entſtehen , jede ſtreng für ſich . Sie genügen
jede dem Sozialbedürfnis ihrer Teilnehmer , ſie erſchöpfen es .
Jenſeits dieſer Erfüllung tritt dann wieder das ältere
Prinzip in Kraft : die Abſtoßung , das Feindliche . Sippe zu
Sippe ſteht wie Spinne zu Spinne , Maulwurf zu Maulwurf
im Alltagsleben . Bloß von höherer Stufe aus . Die Sippen
zu einander ſind eben wieder höhere Individuen geworden , mit
dem ganzen Trotz des Individuums : Das bin ich — und wer
ſonſt noch Ich ſein will , den freſſe ich . Immer wiederholt ſich
ſo auf der höheren Stufe das frühere im Umriß wieder .
In dieſem Falle ſind es die uralten Naturſpiele , die ſich
neu konſtituieren : Anziehung und Abſtoßung . Die Sippenglieder
treten unter ſich alle in ein Anziehungsverhältnis wie die Zellen
im Einzelindividuum , — Sippe zu Sippe aber kehrt ſich alle
Igelſtacheln der Abſtoßung zu . Der Fortſchritt braucht eben
immer wieder beide Kräfte . Für die Sippe iſt es unberechen¬
barer Vorteil , daß ſie in ſich Frieden hält , in Hilfe und
Arbeitsteilung eintritt . Aber es iſt auch ihr Vorteil , daß ſie
als Ganzes ein kleiner Körper bleibt , der in einer Höhle
gemeinſam Platz hat , daß ſie ein gewiſſes Gebiet ſich abgrenzt ,
auf das ſie ihr Wachstum , ihre Stärke einſtellt .
Indeſſen die höheren Dinge gehen denn doch auch weiter ,
genau wie bei Spinne und Maulwurf . Spinne wie Maulwurf
gingen zu Grunde , wenn ſie ſich dauernd ſelbſt befruchteten .
Sie müſſen alſo ihr Prinzip zeitweiſe verlaſſen und ihre In¬
dividualität zum Liebeszweck doch einer zweiten bedingt Preis
geben . Sei es auch nur eine Zelle ihres Leibes , die ſie der
Miſchung mit einer fremden , aus anderem Leibe ſtammenden
ausliefern , — um dieſe eine kommen ſie nicht herum .
Nun laß das viſionäre Höhlenbild dunkler Urzeit und
geh in eine uns weit näher noch lächelnde Sonne hinaus .
Träume dich in die grüne Prärie Nordamerikas , in eine
Lederſtrumpf-Staffage : zu den Irokeſen .
Bei dieſen Indianern haſt oder beſſer geſagt , hatteſt du
noch in unſere Zeit ragend , ein prächtig konſerviertes Beiſpiel
für jene Zerſpaltung des Geſamtvolkes in eine Menge einzelner
Sippen .
Dieſe Sippen ſtehen zwar nicht mehr wie die Einzel¬
maulwürfe auf „ Freß dich , freß dich wieder “ miteinander , —
dafür iſt man ſchon zu hoch im Sozialen überhaupt und im
Menſchlichen . Aber ſie bilden trotzdem gewiſſe kleine Völker
noch immer im Volk . Jede Sippe wählt in ſich ihre Häupt¬
linge , begräbt und beerbt in ſich ihre Mitglieder und hält zur
Blutrache zuſammen . Sie hat ihr beſonderes ganz individuelles
Wappen oder Symbol , auf das die Sippenleute ſozuſagen ver¬
eidigt ſind , ihr „ Totem “ , wie ſie das nennen : irgend ein Tier
etwa , einen Wolf oder Bär oder Büffel ; überall wird das
Bild dieſes Wappenungeheuers angebracht , ſein Name iſt das
Freimaurerzeichen , in dem man ſich erkennt .
Hinſichtlich der Ehe aber haſt du da ein feſtes Geſetz .
Jede Sippe unter dem Schutz ihres heiligen Totem beſteht
aus vielen Ehen . Alle dieſe Ehen ſeit grauer Zeit ſind aber
auf folgende merkwürdige Weiſe zu ſtande gekommen .
Es heiratet niemals ein Jüngling oder ein Mädchen in
die eigene Sippe , in den heiligen Kreis des eigenen Totem
hinein .
Niemals nach altgeheiligtem Brauch , der feſte „ Moral “
geworden iſt , kann ein Wolfsirokeſe , der den Wolf als Stammes¬
wappen führt , eine Wolfsirokeſin heiraten , niemals ein Büffel¬
mädchen einen Büffeljüngling . Heiraten dürfen unter allen
Umſtänden nur geſchloſſen werden zwiſchen Angehörigen zweier
verſchiedener Sippen . Alſo Bär darf Wolf oder Büffel und
umgekehrt ehelichen , ſo viel er will , — in dieſem einen einzigen
Punkte der Liebesmiſchung iſt das heilige Totem nicht ein
Trennungsſignal , ſondern es verlangt gerade Anſchluß , Er¬
gänzung , Bäumchenverwechſelſpiel .
Auf den erſten Blick ſiehſt du , daß hier einfach das Grund¬
geſetz zur Verhütung der Inzucht zur heiligen Moral erhoben
iſt , das wir oben ſchon als eine notwendige Forderung zur
Rettung der Elefantenherde logiſch uns ausdachten . Jede Heirat
bedingt zugleich eine Blutauffriſchung in der Totemſippe , da
ſie thatſächlich eine Ehehälfte aus einem anderen Totem herein¬
bringt .
Allerdings ſind die Dinge in dieſem indianiſchen Ehe-
und Sozialkodex noch etwas verwickelt durch das Eindringen
eines zweiten Problems .
Nachdem dieſes Grundgeſetz der Überskreuzheirat zwiſchen
Totem und Totem einmal gegeben war , blieb ja eine zweite ,
damit allein noch nicht gelöſte Frage : nämlich welcher Totem¬
ſippe denn nun das neue Ehepaar mit ſeinen Kindern angehören
ſolle ?
Ein Bärenmann heiratet ein Büffelmädchen . Gehört er
damit ſamt ſeinen Kindern fortan dem Büffeltotem , alſo der
Sippe ſeiner Frau an , — oder tritt das Büffelmädchen durch
die Heirat über in den heiligen Bannkreis des Bärentotem ?
Die Totems ſelber ſollen bleiben , ſie dürfen ſich alſo als ſolche
nicht vermiſchen , — was thun ?
Es muß ein Alexanderſchnitt durch den Knoten gemacht ,
irgend ein Geſellſchaftsgeſetz gegeben werden , das ſo oder ſo
entſcheidet .
Unſerem Kulturempfinden entſpräche ja als geradezu ſelbſt¬
verſtändlich , daß das Büffelmädchen ſamt all ſeiner Nachkommen¬
ſchaft Bär wird . Fräulein Meier , die einen Schultze heiratet ,
heißt bei uns fortan Schultze und ihre Kinder werden in dulce
infinitum Schultzes . Der Irokeſe indeſſen entſcheidet faſt genau
umgekehrt . Bär heiratet Büffel . Bär bleibt ſeiner Sippen¬
zugehörigkeit dabei Bär , wie Schultze Schultze . Frau Büffel
aber bleibt ebenfalls im Totemſinne , was ſie iſt , nämlich
Büffel . Die Kinder der Linie Bär-Büffel aber werden —
und das iſt das Entſcheidende — nicht Bär , wie der Vater ,
ſondern Büffel wie die Mutter .
Sie gehören unter allen Umſtänden dem Totem der Mutter
an . Sie wachſen auf in den Rechten und Bräuchen dieſes und
nicht des väterlichen Totem . Ja ſie erhalten in dieſer ihrer
Sippe noch eine Art beſonderen Sippenvormundes neben ihrem
leiblichen Vater , meiſt einen Bruder der Mutter , alſo einen Onkel .
Du haſt in dieſem zunächſt ja höchſt kurioſen Brauch ein
prächtiges Exempel vor dir deſſen , was man mit einem etwas
hochtönenden Namen in der Völkerkunde als „ Mutterherrſchaft “
oder „ Mutterrecht “ bezeichnet hat .
Wie der Totemismus ſich durch die ganze Naturgeſchichte
des Menſchen teils in noch lebendigen Beiſpielen , teils in
allerlei Reſten und geſchichtlichen Überlieferungen nachweiſen
läßt , ſo auch dieſes eigentümliche Vorrecht der Mutter , ihre
Kinder ihrem Stamme und nicht dem des Vaters einzuverleiben .
Die nordamerikaniſchen Indianer ſind ja ſelbſt heute nur noch
eine kleine Ruine , hinſterbend unter den Händen der Kultur
wie die Biſons ihrer Prärie , wie die Biber ihrer Gewäſſer .
Mit ihnen ſtirbt ihre Totemwirtſchaft auch aus . So aus¬
geſtorben iſt ſie aber bei anderen Völkern bereits innerhalb
der geſchichtlichen Überlieferung durch fortſchreitende ſoziale
Entwickelung oder völlige Verwandlung der ganzen Völker .
Die Sippe der Irokeſen wiederholt ſich in der europäiſchen
Geſchichte ſo ſinnfällig in der gens der Römer , daß von dem
genialen modernen Geſchichtsſchreiber jener Indianerſitten ,
Morgan , das lateiniſche Wort geradezu dorthin übertragen
werden konnte . Andere Parallelſtufen ſtecken im alten Griechen¬
tum , wie Germanentum . Eine uns noch ſehr geläufige iſt
der ſchottiſche Clan . Totemiſtiſche Reminiscenzen ſtecken ferner
in unſeren heute noch kulturfähigen , faſt hätte ich geſagt , noch
lebendigen Wappentieren . Sie ſtecken in unſeren deutſchen Per¬
ſonennamen wie Wolfgang ( Wolf ) , Bernhard ( Bär ) . Sie liegen
zur Mumie und Religion erſtarrt in den heiligen Tieren , den
Katzen , Sperbern , Nilpferden und Krokodilen , der alten Ägypter .
Mit dem Totembegriff wandert aber auch der des „ Mutter¬
rechts “ um die Menſchenerde und durch die Menſchenzeit .
An der afrikaniſchen Goldküſte gehört das Kind von Ge¬
burt an dem Stande der Mutter an : iſt ſie frei , ſo iſt es
frei , — iſt ſie Sklavin , ſo iſt es Sklave von Geburt . Klaſſe
und Namen erben beim Auſtralneger , beim Bewohner der
Fidſchi-Inſeln , beim Maori auf Neu Seeland von der Mutter ,
nicht vom Vater auf das Kind . Bei den Dajaks auf Borneo
wie bei den Bororo-Indianern Central-Braſiliens zieht der
junge Ehemann geradezu in das Haus der Schwiegereltern ,
tritt alſo ſelber in die Familie der Mutter ein . Hoch im
Norden geht 's ähnlich wie am Äquator : auch bei den Itel¬
mänen in Kamtſchatka gehören Mann wie Kinder zum Totem
der Frau .
Bei unſeren zuſammenhängenden Kulturvölkern war etwa
in der Zeit , da Strabo ( ſagen wir rund um Chriſti Geburt )
ſeine ſchöne Geographie ſchrieb , eines der feinſinnigſten Werke
der ſpäteren Antike , ſolches Recht allerdings ſchon durchweg
anſtößig , ja undenkbar geworden . Herodot aber weiß noch
von den alten Lyciern , daß ſie das Kind nach der Mutter ge¬
nannt und im Stande eingeſchätzt hätten , — es erſchien ihm
wie eine tolle Arabeske närriſchen Barbarentums . Thatſäch¬
lich muß auch im Griechentum ſelber die Sitte lange Zeit die
herrſchende geweſen ſein und ſich erſt allmählich zu Gunſten des
Vaters umgeſtaltet haben .
Denn geheimnisvoll tönt in die tiefſte Tragödie des
helleniſchen Geiſtes , wie ſie des Äſchylus Dichterkraft aus der
alten Sage geſtaltet , noch der Kampf hinein zwiſchen „ Vater¬
recht “ und „ Mutterrecht “ : in die Tragödie des Oreſtes in
Äſchylus „ Eumeniden “ .
Klytemnäſtra , des Agamemnon untreue Gattin , hat Mit¬
ſchuld am Morde ihres Gatten . Oreſtes aber , der Sohn der
beiden , hat die eigene Mutter erſchlagen , um den Vater zu
rächen . Iſt das „ Auge um Auge “ im Sinne alter Gerechtigkeit ?
Die Erinnyen ſagen Nein !
Sie verfolgen den Oreſtes wegen eines furchtbaren Über¬
ſchuſſes in ſeinem Muttermord . Die Frau war dem Manne
nicht ſtammverwandt , trotz der Ehe . Der Sohn aber ſteht zur
Mutter im Verhältnis der abſoluten Blutsverwandtſchaft . Sein
Mord war alſo unendlich mehr als jener : er ſchnitt ins eigene Blut .
Wir heute würden ganz anders urteilen . Uns ſtänden
Vater und Mutter zum Sohne völlig gleich . Die Erinnyen
des Dramas aber urteilen vom Standpunkt des Totemismus
mit Mutterrecht !
Hochintereſſant aber iſt nun wieder , daß ſie ſelber in der
Dichtung des Äſchylus nicht Recht behalten . Apollo und Athene
legen ſich ins Mittel zu Gunſten des Oreſtes . Die Mutter
ſei keineswegs mehr als der Vater ! Und der Schluß iſt , daß
Oreſtes wirklich entſühnt wird : das „ Vaterrecht “ ſiegt . Es
iſt die neue Zeit , die Kultur , der Fortſchritt im großem Völker¬
märchen ſelber , die ihren Stimmſtein in die Wage werfen .
Willſt du das Mutterrecht in ſeinen letzten Kulturſchlupf¬
winkel noch bei uns heute verfolgen , ſo findeſt du es noch
in dem konventionellen Bilde oder Zerrbilde der „ Schwieger¬
mutter “ , die den Mann als Eindringling in ihre Familie auf¬
faßt und ſich auch in die Ehe der Tochter hinein ein engeres
Verhältnis zu dieſer Tochter und ihren Kindern anmaßen
möchte , als der Ehemann ſelber beſitzen ſoll . Es iſt die äußerſte ,
kleine , ſchwache , mehr gluckſende , als donnernde Welle des
Totemismus mit Mutterrecht , die hier an unſeren ſonſt überall
veränderten Kulturſtrand brandet .
Unermüdlich ſind , ſeit man die Thatſachen mühſam etwas
geſammelt und geſichtet hatte , die Erklärungsverſuche dafür ge¬
weſen , warum der Totemismus gerade das Mutterrecht ſo viel¬
fältig bevorzugt hat .
Das mißverſtändliche Wort „ Mutterherrſchaft “ hat da
zuerſt allerlei Blaſen geworfen , als ſehe man überall in uralte
Amazonenſtaaten , die wirklich nach dem Spinnentypus gebaut
ſein ſollten : der Mann nur zur Zeugung zugelaſſen , dann
aber geſtäupt , und alles fortan nur in den Händen der
„ Herrſcherin Frau “ . Das iſt heute nur ſelber noch ein luſtiges
Grenzpoſtenmärchen der Forſchung .
Ich meine , daß du dir die richtige Antwort vielmehr recht
einfach aus jener Erinnyen-Affaire ſelber ſchon herausleſen
kannſt .
Nachdem die Geſchichte ſich hier auf den Gipfel zugeſpitzt ,
geht ſie über allen Totemismus und alle ſozialen und recht¬
lichen Fragen in eine Debatte ein , die ich im Gegenſatz als eine
em bryologiſche bezeichnen möchte . Alles gipfelt thatſächlich
in einer Entſcheidung , die nur der Naturforſcher heute löſen
könnte , vorausgeſetzt , daß auch er ſchon ſo weit iſt , es zu können .
Die Erinnys ſagt zu Oreſtes , er habe wider ſein Blut
gefrevelt . Denn die Mutter habe ihn als ihr Blut einſt unter
ihrem Herzen getragen . Frage : aber war der gemordete Vater
nicht auch ſein Blut , das er alſo rächen mußte ? Hier ergreift
Apollo als Anwalt des Oreſtes das Wort zu einem Plaidoyer ,
das ſich eben auf eine verbeſſerte — Embryologie ſtützt . Er
ſagt wörtlich :
„ Darauf ſag ich alſo , mein gerechtes Wort vernimm :
Nicht iſt die Mutter ihres Kindes Zeugerin ,
Sie hegt und trägt das auferweckte Leben nur ;
Es zeugt der Vater , aber ſie bewahrt das Pfand
Dem Freund die Freundin , wenn ein Gott es nicht verletzt . “
Die Erinnyen warnen dagegen :
„ Darnieder ſtürzeſt du die Mächte grauer Zeit .
Du , der junge Gott , willſt uns , die Greiſe niederrennen . “
Die menſchlichen Richter ſind ſelber unſchlüſſig : Stimmen¬
gleichheit . Da ſpringt Athene für Oreſt und Apollo ein . Sie
bringt ein Entſcheidendes , und zwar nochmals aus der Embryo¬
logie : die Parthenogeneſis aus einem Manne ohne Mutter .
„ Mein iſt es , abzugeben einen letzten Spruch ,
Und für Oreſtes leg ich dieſen Stein hinein ;
Denn keine Mutter wurde mir , die mich gebar ,
Nein , vollen Herzens lob' ich alles Männliche . “
Athene war bekanntlich in der Sage unmittelbar aus dem
Haupte des Vaters Zeus entſprungen . Von der wirklichen
Parthenogeneſis etwa der Blattläuſe oder der Bienen hatte die
Zeit des Äſchylus natürlich noch keine Ahnung .
Aber die ganze Geſchichte iſt , meine ich , für die Haupt¬
ſache von einer wirklich durchſchlagenden Beweiskraft . Die
Urſache des „ Mutterrechts “ lag in einer beſtimmten , älteren
Embryologie ! Es kam mit ihr und fiel mit ihr , ganz unab¬
hängig von aller ſonſtigen Eheentwickelung .
In jenem Totemfalle gab es ja , wie geſagt , nur ein
Dilemma von zwei Möglichkeiten .
Entweder die Kinder der Totemehe übers Kreuz kamen
zum Vatertotem oder zum Muttertotem . Die Logik , die hier
für die Mutter entſchied , war nun durchaus nicht Ergebnis
einer imaginären , amazonenhaften Herrſcherrolle der Frau in
den Totems , ſondern ſie wurde einfach diktiert von der Vor¬
ſtellung , daß der Anteil der Mutter an der Erzeugung des
Kindes der entſcheidende , der weit überwiegende ſei .
Den wahren Vorgang bei der Zeugung , bei dem genau
eine Zelle des Mannes , belaſtet mit dem geſamten väterlichen
Erbe , ſich mit einer mütterlich ebenſo belaſteten Zelle des Weibes
körperlich miſcht , kennen wir ja heute erſt dank der glücklichen ,
mikroſkopiſchen Arbeit des 19. Jahrhunderts . Alle frühere
Auffaſſung über den Anteil von Mann und Weib war Ver¬
mutung . Noch durch das ganze 18. Jahrhundert tobt der
heftigſte Zwiſt zwiſchen den führenden Häuptern der exakten
Naturforſchung , ob das Weib , oder ob der Mann überhaupt
Anteil habe .
Die Präformationslehre glaubte alle Keime als mikro¬
ſkopiſch winzige Modelle ſchon von Gott im erſten Menſchen¬
leibe miterſchaffen . Aber in wen waren dieſe Milliarden und
Abermilliarden künftiger Homunkuli nun hineinerſchaffen : in
Adams Hoden oder in Evas Eierſtöcke ? Pflanzte jeder neue
Adamsſohn bloß ſeinen Homunkulus in den Schoß des Weibes
wie ein Pflänzlein in ein warmes Miſtbeet , — oder umgekehrt ,
ſtieß der Adamsſohn bei der Evastochter jedesmal nur gleich¬
ſam wieder die harte Erdſcholle auf und befeuchtete ſie , auf
daß der im Weibe ruhende Homunkulus wie ein Pflanzenkeim
im warmen Frühlingsregen ſich recke und ausgeſtalte ? Über
dieſe Fragen iſt eine ganze Bibliothek damals zuſammen¬
geſchrieben worden . Was Wunder , wenn noch früher oder gar
bei ganz unwiſſenſchaftlichen Naturvölkern die Meinungen noch
einſeitig-paradoxer liefen .
Der ſchlichte Verſtand , der neun Monate gegen eine
Minute abwägt , muß ja auf die Idee kommen , die Mutter ſei
das Entſcheidende . Das Blut , ſo dachte man ſich allgemein ,
iſt das eigentliche Leben . „ Blutsverwandt “ war das große
Wort . Ihr Blut vermiſchten zwei noch nachträglich wenigſtens
ſymboliſch , wenn ſie Blutbrüderſchaft ſchloſſen . Aus der Todes¬
wunde ſtürzte das rote Blut , — dann lag der Leichnam ſtarr
und tot : das Blut war das Leben !
Nun denn : der Vater verlor bei der Zeugung kein echtes
rotes Blut . Wenn aber das Kind ſich im Geburtsakt winſelnd
von der Mutter losrang , dann ſchoß das köſtliche rote Lebens¬
blut in ganzen Strömen mit . Dieſes Mutterblut nährte das
Kind , ſo ſchien es , in den ganzen neun Monaten vorher .
Hatte das Weib aber kein Kind , ſo perlte ihm das Blut von
ſelbſt allmonatlich nieder , als rufe es nach Verwertung . War
das Kind gezeugt , der kleine Blutſauger da drinnen , ſo ver¬
ſiegte jählings der äußere Quell . Im alten Indien , in den
15
Lehren des Arztes Susruta , taucht der Embryo durch den
Kraftſtoß des Mannesſamens wie eine Lotosknoſpe unmittelbar
aus dem Menſtrualblut auf . Das kehrt wieder bei Ariſtoteles
und geht von dem in die Weisheit der arabiſchen Ärzte ein .
Bei Ariſtoteles iſt das weibliche Menſtrualblut der „ Stoff “ ,
der Mannesſamen nur der Bewegungsanſtoß . Das Verhältnis
iſt wie bei Milch und Lab : die Milch giebt den Stoff , das
Lab den Stoß zum Gerinnen . Im Banne ſolcher Anſchauungen
wird die Logik in der Knotenzerhauung bei der Totemfrage
durchaus ſcharf : das Kind galt nur mit der Mutter als wirk¬
lich blutsverwandt und damit gehörte es fraglos in ihr
Totem .
Immerhin aber ergab ſich dieſes „ Mutterrecht “ nicht an
ſich notwendig ſchon aus dem Totemismus und ſeiner Anti-
Inzucht ſelbſt . Für dieſen konnte rein ſozial auch das um¬
gekehrte Prinzip ebenſogut Geltung erlangen : alſo Übergang
der Frau und der Kinder durch die Ehe in das Totem des
Ehemanns . Wo trotz aller ſozialen Übergliederung die Ehe
in möglichſt feſter Form wirtſchaftlich ſich behauptete , da war
es ſogar aus rein praktiſchen Gründen doch näher liegend , daß
die Familie ſich dem Beſchützer , dem Manne , auch im Blutſinne
angliederte , alſo in ſein Totem übertrat wie in ſeine Ehegewalt .
Und ſo ſiehſt du in der That , wenn auch nicht bei den kon¬
ſervativen Irokeſen , ſo doch ſonſt das Mutterrecht ſich wieder
vielfältig vom Totemismus ablöſen , das „ Vaterrecht “ erſetzt es
wie in jener Stelle des Äſchylus .
Gerade bei dieſem Übergang haben wir aber noch einmal
ein ſchlagendes Beiſpiel für die Richtigkeit der Annahme , daß
das ganze „ Mutterrecht “ nicht auf einer beſonderen ſozialen
Urſtellung der Frau beruhte , ſondern lediglich auf einer ein¬
ſeitig mutterfreundlichen Embryologie .
Dieſe Embryologie war offenbar noch lange Zeiten hin¬
durch ſehr viel zäher als der Dichter mit ſeinen Götterurteilen
erwarten läßt .
Die Embryologie Apollos bei Äſchylus :
„ Nicht iſt die Mutter ihres Kindes Zeugerin ,
Sie hegt und trägt das aufgeweckte Leben nur , “
entſprach in Äſchylus ' Tagen allerdings einer gerade wechſelnden
Strömung der zeitgenöſſiſchen Schulmedizin : Hippokrates ver¬
trat wenig ſpäter mit Eifer die Behauptung , daß das weib¬
liche Menſtrualblut thatſächlich nichts mit der eigentlichen
Zeugung zu thun habe . Hippokrates ſelbſt näherte ſich mit
ſeiner eigenen Anſicht vom Sachverhalt ſtark ſchon unſerem
heutigen Wiſſen ; ihm liefert das Weib zur Zeugung einen ſamen¬
artigen Beitrag genau wie der Mann , beide Beiträge treffen
ſich im Akt und beide ſind im ſtande , dem Kinde Ähnlichkeiten
zu übertragen , da ſie ſelber einen Extrakt aus allen Teilen des
elterlichen Körpers enthalten ; in unſeren Tagen hat Darwin
ſogar den letzteren Zuſatz in ſeiner ebenſo berühmten , wie viel¬
befehdeten Pangeneſis-Theorie wieder aufgenommen . Etwas
von neuen Ideen dieſer Art hatte jedenfalls auch ſchon Äſchylus '
Apollo bei ſeinem embryologiſchen Plaidoyer läuten hören .
Anderswo aber , wo die Medizin keineswegs ſo gefällig
entgegenkam , wurde ein ganz anderer , viel verwickelterer Aus¬
weg probiert vom Moment an , da das Vaterrecht praktiſch
erwünſchter ſchien . Wieder einmal wie bei jenen unheimlichen
Näh- und Schneidekunſtſtücken wurde probiert , der Natur nach¬
träglich die Sache aufzuzwängen .
Konnte der Vater nicht künſtlich dem Kinde blutsverwandt
gemacht werden ?
Das Schlichteſte wäre ja ein einfacher Rechtsakt geweſen :
der Vater adoptierte ſein eigenes Kind für ſein Totem . Cere¬
monien dieſer Art findeſt du in der That bei höheren Kultur¬
völkern , z. B. bei den Römern , noch in deutlich ſichtbaren Reſten
geſchichtlich vor . Aber die realiſtiſche Phantaſie des natur¬
näheren Menſchen begnügte ſich noch nicht mit ſolchem Ver¬
ſtandesakt . Ihm mußte etwas hinein , das wirklich einigermaßen
auf „ Fleiſch und Blut “ ging . Wie , wenn man den Vater
15*
noch nach der Geburt des Kindes doch noch in eine körperliche
Verknüpfung mit dem Kinde brächte , die es auch ihm leiblich
verwandt machte trotz ſeines angeblich ſo geringen Anteils an
der urſprünglichen Erzeugung ?
Hier beginnt das wunderſame Kapitel vom „ Männer¬
kindbett . “
Auf den erſtbeſten Anblick giebt es wohl nichts verrückteres ,
als die Vorſtellung , daß ein Mann ein Wochenbett abhalten
ſollte . Ein Mann kann doch überhaupt nicht niederkommen .
Denn ein Mann kann nicht ſchwanger werden .
Es iſt aber nötig , daß du dich an dieſer Stelle einmal
wieder etwas unterhalb des Exempels Menſch in der Natur
über das unterrichteſt , was in dieſer Natur alles möglich iſt .
Die Natur hat bei der Entwickelung der höheren Tiere ganz
unzweideutig einen Punkt gehabt , wo ſie mit dem Problem ſich
ernſtlich befaßte , ob die Schwangerſchaft nicht beſſer dauernd
dem Vater ſtatt der Mutter aufzubürden ſei .
D ie Eiszeithöhle mit unſeren nackten Urmenſchen ver¬
wandelt ſich auf einen Moment in eine moderne kühle , ge¬
ſpenſtiſch aus bläulichen Glasaugen erleuchtete Grotte . Du biſt
im Aquarium .
Im Aquarium hört die Tierkunde des Laien auf . Pflanze
und Tier wächſt dir durcheinander . Du ſollſt dich an das
Tier gewöhnen , das ( wie die Seeroſe ) die Symmetrie einer
Blume hat oder den Bau eines Sternes . Hinten und vorn ,
die alten Urbegriffe , verſagen . Der Tintenfiſch hat die Beine
auf dem Kopf , und die Qualle hat überhaupt keinen Kopf .
Nun kommen noch die Namen . Der Tintenfiſch iſt gar kein
Fiſch , und die Seegurke iſt keine Gurke , ſondern ein Tier .
Das Seepferd dagegen iſt ein Fiſch .
Im letzteren Falle riskiert der Beſucher wohl trotz ſeines
Laienbewußtſeins einen Disput . Der Pferdekopf mag noch hin¬
gehen . Aber wann hat ſich je ein Fiſch ſo durchs Waſſer be¬
wegt , daß er den ganzen Leib ſenkrecht und ſtarr hält und
bloß aus dem Rücken ein Floſſenrädchen wachſen läßt , das ge¬
ſpenſtiſch ſchnell ſchwirrt und die Maſchine treibt wie eine
Schiffsſchraube ? Und wo hat ein regelrechter Fiſch ſeinen
Leib in der Ruhelage um einen Zweig geringelt wie ein
Wurm ? Gerade dieſe Abnormitäten laſſen aber wieder den
Naturforſcher ganz kalt . Ihm iſt der Begriff „ Fiſch “ ein der¬
artig weiter , daß noch ganz andere Luftſprünge der äußeren
Geſtalt hineinpaſſen . Es giebt einen auſtraliſchen Verwandten
unſeres Seepferdchens , der „ Fetzenfiſch “ heißt , weil ihm die
Haut in eitel Fetzen wie eine Lumpenhoſe hintennachſchleift ,
— dieſer Fiſch hat eben aus Schutzzwecken ( zum Verſtecken )
ein Intereſſe daran wie ein lappiges , zerſpliſſenes Stück See¬
tang auszuſehen und ſieht auch ſo gründlich danach aus , daß
ihn der Laie einfach für eine Tangpflanze hält ; hier beginnt
erſt das wahre Wunder der fiſchlichen Fratzen- und Extremform ,
gegen die das Seepferdchen harmlos iſt . Der wahre Grund
aber , warum der Tier-Philoſoph das Seepferdchen mit der
ganzen Liebe zu einem zoologiſch-philoſophiſchen Sonntagskinde
anſchaut , liegt in etwas völlig Beſonderem , das der Laienblick
ſchlechterdings nicht beachtet .
In der Komödie des Tierreichs ſetzt hier ein Stück ein ,
das nach berühmtem Muſter „ Der Vater “ heißen müßte .
Und zwar noch wieder in einem ganz anderen Sinne , als du
es früher beim Stichling erlebt haſt .
Das Seepferdchen bietet ein voll entwickeltes Beiſpiel der
Mannesſchwangerſchaft .
Du erinnerſt dich , wie die eigentliche Schwangerſchaft bei
den Wirbeltieren entſtand : die Eier wurden nicht mehr nach
außen abgelegt , ſondern bis zur Geburt im Leibesinnern be¬
halten und ausgereift .
Auch das Seepferd-Fiſchlein bevorzugt ſchon ſtatt des
freien Eierlegens in irgend ein Neſt eine ſolche innerliche
Schwangerſchaft .
Das beſondere Kunſtſtück iſt aber dabei , daß die Mutter
zwar die Eier erzeugt , der Vater dagegen die Schwanger¬
ſchaft übernehmen muß .
Um die Liebeszeit wächſt dem Seehengſtchen an der unteren
Leibesſeite durch Wucherung der eigenen Haut eine geräumige
Taſche . Der Übertragungsakt beſteht dann darin , daß die beiden
Pferdlein ſich vermöge ihrer famoſen Ringelfähigkeit umeinander¬
wickeln und die Mutter dabei ihre Eier dem Vater direkt auf
den Leib legt . Die Hauttaſche hebt alsbald ihre Ränder
ſchützend darüber , und — die Mutter iſt guter Dinge , denn
ihre Mühe iſt vorbei , der Vater aber hat fortan die ganze
Laſt buchſtäblich am Halſe . Er muß die ſüße Bürde tragen ,
bis jedes Ei ſich zu einem niedlichen Seefüllen ausgewachſen
hat ; erſt dieſe verlaſſen durch eine kleine Öffnung probeweiſe
den Beutel und ſuchen endlich , kühn geworden , ganz das Weite .
Natürlich bedeutet die Schwangerſchaft für den Vater hier
eine wahre Belaſtungszeit , genau wie ſonſt für die Mutter .
Und es giebt andere , ſchon etwas höher ſtehende Tiere , denen
die gleiche Vaterpflicht auferlegt iſt und die wirklich durch dieſe
unerhörte Erſchwerung des Vaterberufs zu einer regelrechten
Zeit des Exils und der Askeſe verurteilt werden .
Was das Seepferd zuerſt vormacht , das treiben nämlich
gewiſſe Kröten ſozuſagen im Großen , und mit der Dimenſion
wachſen die Folgen ins Unheimliche .
Auf der roten Erde Weſtfalens hauſt ein kleiner Lurch ,
der wohl der ſpaßhafteſte ſeines ganzen Geſchlechts in Europa
iſt : die Geburtshelferkröte . Ihr Name hängt mit der Miſſion
des Männchens zuſammen . Dieſe kleinen grauen Krötenmänn¬
lein ſind in der Liebeszeit hitzige Geſellen , die tolle Balgereien
miteinander um den Beſitz einer Krötenprinzeſſin vollführen .
Iſt aber endlich der Bund geſchloſſen , ſo bietet der Vater in
treueſter Hingabe ſeinen Rücken als „ Bauch “ dar . Es wächſt
ihm jedoch keine Taſche wie dem Seepferdchen . In langer
Schnur haben die Eier nach Krötenbrauch das Licht der Welt
erblickt . Dieſe Schnur wickelt ſich der Krötenvater kunſtvoll
um die Oberſchenkel und zieht mit der offenen Bürde zunächſt
ab . Die ſtrenge Naturgeſchichte verſchweigt nicht , daß bei Mangel
an Vätern bisweilen ein und derſelbe Krötenprinz das Liebes¬
angebinde von drei Prinzeſſinen zugleich fortſchleppt .
Mit dem Schleppen iſt es aber nicht allein gethan . Die
Eier müſſen feucht erhalten werden , denn es ſind waſſer¬
bedürftige Amphibieneier . Das Rätlichſte wäre ja , gleich ins
Waſſer damit zu gehen . Gerade die Lebensart dieſer Kröten
ſcheint aber bereits eine Anpaſſung an zeitweiſen Waſſermangel
zu enthalten . So gräbt ſich unſer Vater mit der ſüßen Bürde
erſt anderthalb Wochen in die feuchte Erde , oder er hüpft von
Zeit zu Zeit unter naſſem Graſe hindurch . Inzwiſchen reifen
in den Eiern die Kaulquäppchen . Und eines Tages bietet ſich
nun doch dem Wandernden ein Tümpel , er taucht , und das
kleine geſchwänzte Volk löſt ſich von ſeiner Wiege , um den Reſt
ſeiner Entwickelung nach gemeiner Froſchart nun frei im Waſſer
zu vollenden . Erſt das fertige Krötlein wirft den Ruderſchwanz
wieder ab und klettert ans Land .
Ganz deutlich fühlt man durch : die Geſchichte iſt hier eine
uralte Reiſeanpaſſung . Die Liebe vollzog ſich fern vom Waſſer .
Eine Reiſe mußte ſich erſt dazwiſchen ſchieben . Ohne dieſen
Dienſt des Vaters als Paketbriefträger der köſtlichen Fracht
wären die Eier elendiglich in der Wüſte liegen geblieben und
verdorrt . Heute machen das uralt Erworbene die Enkel auto¬
matiſch nach , wenn auch Tümpel ganz in der Nähe ſind . Sie
iſt ein Stück verſteinerter Urweltsnotwendigkeit , dieſe Kröte ,
das Monument einer bangen Stunde fern vom rettenden Kinder¬
teich . Aber wie ſeltſam , daß der Vater gerade der Retter , der
Poſtbote geworden iſt !
Unſere brave Geburtshelferkröte iſt aber nur erſt wieder
eine ſchlichte Anfängerin gegen die Naſenkröte Chiles , die nach
Darwin benannt iſt : die Rhinoderma Darwinii .
Es iſt ein ganz kleines , ſchwärzliches Ungetüm , durch Haut¬
lappen an der Naſe ſelbſt innerhalb des Krötenideals beſonders
häßlich . Ein Naturforſcher greift das Tier auf und findet es
an der Unterſeite merkwürdig geſchwollen . Er ſchlitzt ihm den
Bauch auf , und aus einer hohlen Trommel , die alle Eingeweide
nach oben gequetſcht hat und faſt den ganzen Raum allein füllt ,
quellen ihm ein Dutzend fertig entwickelter junger Kröten ent¬
gegen . Alſo vermutet er ein Weibchen und glaubt den höchſt
eigenartigen Fall eines lebendig gebärenden Amphibiums feſt¬
geſtellt . Aber ſeine Kröte iſt in Wahrheit ein Männchen , und
die myſteriöſe Trommel iſt nichts anderes als der erweiterte ,
unter den ganzen Bauch herabgeſchwollene Kehlſack , alſo nach
gewöhnlichem Krötenbrauch der ſchöne Reſonanzboden für die
liebenswürdigen Geſangesleiſtungen dieſer Sumpfnachtigallen .
Mit einiger Mühe wird endlich folgende Hiſtorie vom
Naſenvater klargelegt . Wenn die Frau Mutter ihre Eier glück¬
lich abgeſetzt hat , ſo ſchluckt ſie der Vater . Das heißt : er
ſchluckt ſie nicht in den Magen hinein , ſondern bloß ( um nach
Menſchenart das Bild auszudrücken ) bis in den Kehlkopf . Hier
kugeln ſie hinterwärts in den bewußten Kehlſack , der von der
Laſt faſt zum Berſten ſchwillt wie ein überſtopfter Torniſter .
Aber er birſt nicht und bald giebt es Leben da drinnen . Im
Ei entſtehen Kaulquäppchen und aus dieſen ( das Waſſer iſt
hier ganz ausgeſchaltet ) endlich leibhaftige junge Kröten . Kein
Zweifel , daß das Mitführen dieſer angenehmen Menagerie dem
Vater in dieſem Falle eine wahre Leidenszeit bedeutet . Da die
Botaniſiertrommel mit ihrem Lebensinhalt den Magen über ſich
zu einem Minimum zuſammenpreßt , iſt Diät ſelbſtverſtändlich :
ſie entwickelt ſich für eine gewiſſe Zeit allem Anſchein nach zur
vollkommenen Askeſe — der Vater hungert um ſeiner Liebe
willen und magert zum Gerippe ab , trotz der dicken Trommel .
Noch iſt nicht beobachtet worden , wie er endlich die Geiſter , die
er ſich durch ſeinen kühnen Schluck beſchworen , wieder los wird ,
— es bleibt wohl kein Ausweg , als daß die Neſtlinge , eines
Tages frech geworden , ihm zum Halſe wieder herausſpringen , —
immerhin keine beſonders hübſche Situation . Aber die Natur
hat einmal wieder eine Art gerettet , und das iſt die Hauptſache .
Das waren Amphibien-Experimente . Das Säugetier weiß
davon nichts mehr . Der Beutel des Känguruh , der die Jungen
hegt , ſitzt am Mutterbauche , vollends das Kind im Bauche trägt
nur die Mutter . Da aber naht wieder von ganz neuer Ecke
— der Menſch .
Komm noch einmal zu unſeren nackten Bakaïris in den
braſilianiſchen Urwald .
Als echte Indianer , wenn auch von der Südſeite , ſtehen
auch ſie einigermaßen noch im Totemismus , wenn ſchon nicht
mehr ſcharf . Noch hat jedes Dorf ſein Wappentier , das wo¬
möglich in einem lebendigen Exemplar gehalten wird , wie Bern
ſeine Bären , Rom ſeine kapitoliniſchen Wölfe hegt . Mitten
auf ſolchem Dorfplatz fanden die Reiſenden einen Käfig von
mehr als Haushöhe aus langen , wie ein Zelt ſpitz aufein¬
ander mündenden Stangen . In dieſem Zelt ſaß ein Harpyen¬
adler als Surrogat für den Sperber , nach dem die Kolonie
eigentlich „ Sperber-Dorf “ hieß . In dieſer inſelhaft abge¬
ſchiedenen Welt , wo ſo viel Menſchenaltertümer fortleben in
der Hülle ſchöner nackter Menſchenkörper von heute , da ſtößt
du nun auf einen Brauch , der vom erſten Tage an den Be¬
obachtern nicht wenig das Zwerchfell gekitzelt hat .
Ein Indianerkindlein iſt geboren worden . Du weißt , wie
wenig dieſer Aktus durchweg dort der geſunden Mutter aus¬
macht . Die Frau kniet auf den Boden nieder und klammert
ſich an einen Pfoſten an . So kommt ſie nieder . Das eigent¬
liche Lager , die Hängematte , iſt zu ſchade für dieſe doch nicht
ganz reinliche Geſchichte . Nun wird die Nabelſchnur durch¬
ſchnitten , und nicht allzu lange danach iſt die Indianerin
wieder wohlauf und geht an ihre Arbeit . Und doch giebt 's
in der Hütte ein umſtändliches Wochenbett .
Der Mann nämlich muß ſich in die Hängematte legen ,
muß faſten oder doch ſtrengſte Diät mit „ Wochenbettsſüpplein “
halten . Er wird gepflegt wie ein Schwerkranker , gepflegt
unter Umſtänden von der Frau ſelbſt . Neben ihm liegt das
Kindlein , als habe er es in Schmerzen geboren . Er bläſt es
an , wenn es ſchwach iſt . Er achtet , ob der Reſt der Nabelſchnur
richtig abheilt . Die acht Tage , die das dauert , ſind ſeine
ſtrengſte Zeit . Die Hängematte darf er darin nicht verlaſſen
außer zur Befriedigung der Notdurft . Sollte die Frau doch
auch noch in der Zeit unpäßlich ſein oder das Kind wegen
Schwäche der Doppelhülfe dauernd benötigen , ſo hängen die
Wöchnerin und der „ Wöchner “ ernſthaft nebeneinander in
ihren Matten . Steinen fand ſo in gleicher Hütte eine Wochen¬
ſtube mit vier Hängematten , zwei mit Weiblein , zwei mit
Männlein . Die ausſchließliche Nahrung der armen mithaften¬
den Ehemänner war ein ganz dünnes Süpplein mit etwas
Mandiokaeinlage .
Das iſt aber ſchon eine Bevorzugung , denn bei anderen
Indianerſtämmen darf der traurige Ehemann in den erſten
fünf Tagen überhaupt nichts eſſen . Dann giebt es weitere
vier Tage nur Mehlſuppe und ſo ſchrittweiſe etwas mehr .
Fleiſchkoſt bleibt aber für mehrere Monate noch verſagt . Und
zu dieſem Leidenszuſtand färbt der Wöchner ſich ſchwarz wie
ein Schornſteinfeger .
Je nach der Stammesſitte , wird die Sache noch ſo oder
ſo überhaupt erſchwert . Wo das Stilleliegen und Diäthalten
ſelbſt in die Monate geht , da erſteht der Arme aus dem
„ Männerkindbett “ abgemagert zum Skelett . Aber mehr noch .
Es giebt Stämme dieſer Südamerikaner , die das Spiel noch
weiter in den Ernſt zu treiben ſuchen . Der Vater ſoll nicht
nur ſtille liegen und faſten : er ſoll bluten , ſoll ſich in
Schmerzen winden wie die Mutter . Da muß das unentwegte
Probatmittel des Schneidens und Brennens nur ſchon wieder
heran .
Nach Ablauf der erſten vierzig Tage iſt der Unglücks¬
mann verpflichtet , ein Diner zu geben . Die Anverwanden ver¬
ſammeln ſich um ihn und eſſen zunächſt feierlich die ſämtlichen
Brodkruſten auf , die ſich in den vierzig Tagen bei ihm auf¬
gehäuft haben , ſintemal er ſolange nur die Krume verzehren
durfte . Zum Dank gehen ſie aber mit ihm ſelber dabei um wie die
Satane . Mit dem ſpitzen Zahn des Aguti-Nagetiers ritzen ſie
ihm die Haut am ganzen Leib , als ſolle er lebendig geſchunden
werden . Nach dieſem kochen ſie einen dicken Brei aus 60 bis
80 Körnern ſpaniſchen Pfeffers von der ſtärkſten Sorte ,
der wird dem Marſyas als Pflaſter auf ſeine Wunden gelegt .
Lebendigverbranntwerden auf wirklichem Roſt ſoll nichts da¬
gegen ſein . Aber das Opfer darf keinen Laut von ſich geben ,
ſonſt iſt der Vater der Ehre nicht würdig . Erſt wenn er ſich
in Blut und Pfeffer wälzt , gilt das Kind als abverdient und
man überläßt ihn wieder ſeiner Diät in der Hängematte , die
noch weitere Monate dauern muß , während die liebe Verwandt¬
ſchaft , Mann , Weib und eigene Ehefrau , ſich auf ſeine Koſten
zu einem großen Kindbettfeſt mit üppiger Schlemmertafel
zuſammenſetzt .
Die anſcheinend unübertreffliche Verrücktheit dieſer Sitte
läßt zunächſt vermuten , ſie möchte doch wohl nur eine Art
lokaler Geiſtesverirrung in einem kleinen Narrenwinkel der
Menſchheit ſein . Aber dieſer Winkel iſt nahezu das ganze
Südamerika . Dann belehrt dich der alte Marko Polo , daß
genau die gleiche Geſchichte ſchon vor 600 Jahren in China
gang und gäbe war , und dort blüht ſie in dem Gebirgsvolk
der Miau-tße heute noch . In Afrika iſt ſie wenigſtens in
früheren Zeiten noch bei Kongo-Negern angetroffen worden .
Die antike Notizweisheit bei Diodor und Strabo bringt ſie
dir dann gar dicht an den Pforten unſrer Kultur geſchichtlich
in Sicht : nach Diodor gab es ein Männerkindbett im Mufflon-
Lande , auf Korſika . Der zuverläſſige Strabo aber hat es bei
den Iberern in Spanien gefunden . Und es ſetzt dem Ganzen
die Krone auf , daß in einem ſpaniſch-franzöſiſchen Grenz¬
winkel , bei den noch fortvegetierenden Reſten der alten Basken
im Pyrenäengebiet , die Sitte denn glücklich auch thatſächlich
noch inmitten der heutigen Kultur , bei bekleideten , modern
ſtaatlich einregiſtrierten Bauersleuten , vorkommt . Von dort
haben wir den offiziellen Titel der Kultur dafür erhalten , das
franzöſiſche Wort : „ Couvade . “ Die baskiſche Bäuerin ſteht
auf , ſobald nur die erſte Attake vorüber iſt : der Bauer aber
legt ſich an ihrer ſtatt mit dem Neugeborenen im Arm ins
Bett und empfängt ernſthaft die Wochenbeſuche und Glück¬
wünſche der Nachbarn .
Angeſichts dieſer Sturzwelle von Narrheit um die ganze
Erde herum , iſt es denn eine wahre Erlöſung , wenn man ſich
ſagen darf , daß der Unſinn doch wenigſtens Methode hat . Er
verkörpert wieder nichts anderes als ein Stück menſchlicher
Urwelt .
Überall da , wo das auftauchende und ſieghaft durch¬
brechende „ Vaterrecht “ an Name , Beſitz , Stammeszugehörigkeit
des Kindes in Zwiſt geriet mit den alten , embryologiſchen Vor¬
ſtellungen , die der Mutter den Löwenanteil am Kinde bei¬
maßen , ſchob ſich das Männerkindbett ein als eine Art
myſtiſchen Ausgleichs .
Es rehabilitierte künſtlich den Vater .
Es verſuchte einen nachträglichen Anſchluß herzuſtellen
zwiſchen Vater und Kind , der dem Gebärakt ungefähr ent¬
ſprach , da denn einmal die Zeugung allein nicht genügen
ſollte . Wunderlich ſpielten Phantaſie und Realität hier durch¬
einander . Eigentlich war 's ja doch nur ein Mummenſchanz .
Aber man muß ſich in dieſe Prozeſſe der Völkerſeele eindenken .
Alles Mediziniſche hat da von Anfang an etwas von Zauberei
an ſich gehabt . Faſten , in der Hängematte liegen , gar Blut
und Pfeffer : das hatte eine magiſche Macht , es griff über in
die dämoniſchen Zuſammenhänge hinter den Dingen , hinter
den Perſonen . Die Hexe legt einen Strohwiſch ins Feuer und
läßt ihn verkohlen , — dabei denkt ſie an einen Menſchen ,
dem ſie übel will , der aber hundert Meilen fern iſt ; in der
gleichen Stunde packt den ein unerklärlicher Fieberbrand und
rafft ihn hin . Auf ſolchen Ideengängen wächſt auch das
Männerkindbett . Es iſt eine magiſche Adoption . Erſt wenn
ihre Bedingungen erfüllt ſind , darf der Vater ſich als Beſitzer
des Kindes anſehen vor Gott und Menſchen , erſt dann ge¬
hört es leiblich und ſeeliſch ihm an , ſeinem Geſchlecht , ſeinem
Stamm . Durch einen Zauber , durch ein Wunder iſt es über¬
geführt in ſein Totem , iſt fortan Blut von ihm , obwohl eine
Mutter aus fremdem Totem es leiblich geboren hat .
Auch hier wieder iſt es das ungeheure Verlangen des
Menſchen , das durchbricht : das Verlangen , die Natur zu meiſtern ,
zu biegen nach ſeinem Wunſch . Er iſt das gleiche Verlangen ,
das ſchließlich Berge durchbohrt und den Blitz gebändigt hat , das
heute auf Dampfwagen fährt und durch Wände ſchaut . Bloß
daß der erſte , ältere Weg die Welt zu zwingen meinte mit dem
Fußtritt einer Zauberformel , während wir anfangen , die wirk¬
liche feine Sprache der Naturgeiſter — das Geſetz der Natur¬
kräfte — zu verſtehen , und eine gebildete Rede mit ihnen
zu führen wiſſen , die wirklich zum Ziel führt . Die Sehnſucht
aber iſt heute die von vor Jahrtauſenden . In dieſer Sehn¬
ſucht ſteckt der Menſch . Es war die Sehnſucht , die durch das
ganze Leben heraufkam , aber unendlich zerſplittert : die Sehn¬
ſucht , Herr der Dinge zu werden . Aus ihr die millionen
Anpaſſungen . Bis das alles eines Tages Menſchengeiſt wird ,
Prometheus , der jetzt endlich das ganze wimmelnde Verlangen
der vielköpfigen Tierheit in ſeiner Hand vereinigt — und der
dieſe Hand ausſtreckt , das Feuer des Himmels zu ſtehlen , das
Feuer , in dem das Schwert der Erdherrſchaft geſchmiedet wird .
S tamm zu Stamm ſtanden ſich alſo wieder gegenüber
wie Männchen und Weibchen in den Anfängen der Geſchlechter¬
trennung , — als die beiden Hälften eines höheren Liebes¬
individuums . Jeder Stamm war ein vielköpfiges Individuum
mit hermaphroditiſchem Bau gleich der Weinbergſchnecke ge¬
worden , — mit männlichen und weiblichen Geſchlechtsteilen
in ein und demſelben Körper . Wie bei den Schnecken durfte
aber auch hier der Hermaphrodit ſich nicht ſelber befruchten ,
ſondern die Organe zweier Individuen mußten ſich kreuzweiſe
berühren . So tauſchten die Stämme ihr junges Volk übers
Kreuz aus .
Auf dieſer Stufe iſt klar , daß ſich alle die Gegenſätze
wiederholen mußten , die unten bei dem einfachen Anſchluß des
Liebesindividuums dir entgegengetreten ſind . Stamm zu Stamm
konnten in wilder Gegnerſchaft ſtehen als einfache Individuen
wie die Spinnen und die Maulwürfe . Dann mußte auch die
Liebeseinheit ſich in roher Form ertrotzen . Oder Stamm zu
Stamm konnten in einem annehmbaren Frieden leben , eine noch
wieder größere Genoſſenſchaft von Stämmen konnte ein „ Volk “
bilden , indem eine durchgehende Rechtsordnung die Dinge regelte .
Dann war der Umtauſch des jungen Nachwuchſes ein fried¬
liches Geſchäft , das nur beſtimmte totemiſtiſche und damit zu¬
ſammenhängende wirtſchaftliche Rechtsregelungen nötig machte .
In der einfachſten logiſchen Linie fügt ſich dir hier wieder
ein „ Wirkliches “ ein , das in der Völkerkunde eine umfaſſende
Rolle ſpielt . Die Sitte nämlich des Frauenraubs und des
Frauenkaufs .
Wenn du in die ſüßeſte Romantik dich hineinträumen
willſt , ſo denkſt du an die Ritterburg auf hohem Fels , wo die
ſonnenſchöne Tochter vom böſen alten Vater ſtreng bewacht
wird . Der ſtarke junge Ritter erklettert in wilder Sturmnacht
die ſenkrechte Felswand und entführt das liebesfrohe Burg¬
fräulein auf ſeinem ſchnellen Roß . Oder aus dem ſchwarzen
Walde brechen die Räuber und verſchleppen das Bürgermädchen ,
damit ſie ihre Räuberkönigin werde . Als Schuljunge lernſt du
zwiſchen viel Langeweile doch auch die pikante Hiſtoria vom
Raub der Sabinerinnen , von der gewaltſam in den Hades
ſtibitzten Proſerpina , vom kühnen Paris , der aus dem fremden
Trojanervolk die Helena entführt , von der wilden Brunhild ,
die mit Gewalt erzwungen werden muß und des Königs ſpottet ,
der zu ſchwach iſt . Durch alle dieſe Bilder gaukelt der gleiche
Zauber : der Bräutigam raubt die Braut ! Je nachdem hat
das etwas von wilder Notzucht . Aber das wäre nicht eigent¬
lich romantiſch . Die Romantik braucht heiße Liebe beider
Parteien , ſie braucht auch Ehe als Ziel . Aber dazwiſchen
ſchiebt ſich wie ein beſonderes Gewürz das Wilde , Handgreif¬
liche , Gewaltſame : der Raub , der mit einem Ruck alle Fäden
ſprengt , in denen die Braut bis dahin eingeſponnen ſaß , der
ſie ſymboliſch nackt in die Hand des Geliebten giebt , als des
fortan Einzigen , der nun Vater und Mutter und alles zu¬
gleich für ſie wird , wie es in Andromaches wunderbarer
Rede zu Hektor bei Homer heißt .
Und es iſt ein altes Gewürz , aus uralter Küche . Wieder
rollſt du das große Panorama auf , das dieſe ganze Romantik
doch noch gar nicht kannte : den tropiſchen Urwald , die
dampfende Vulkaninſel , das palmenüberwehte Koralleneiland
im blauen Südmeer . Und auch dort ſtößt du auf Fälle die
Fülle , wo eine ſolche luſtige Räuberromantik heute noch der
Ehe vorausläuft , hergebracht , als müſſe es ſo ſein , wenn auch
meiſt in eine halbſpielende Form gebracht , die uns zeigt , daß
gemilderte Sitte hier nur noch ein Schattenbild alten blutigen
Ernſtes bewahrt . Auf dem Feſtland von Auſtralien und in
Neu-Guinea , auf den Fidſchis im Korallenmeere und wieder
auf den Kurilen und bei den Samojeden und Lappen hoch im
Norden , bei den Feuerländern polariſch tief im Süden , —
überall holt der Bräutigam ſich heimlich , bei Nacht , durch Ein¬
bruch und Liſt und , wenn es not thut , unter kleinen Kämpfen
mit den Verwandten ſogar , die Liebſte aus dem fremden Stamm
heraus . Freilich iſt es in den meiſten dieſer noch „ lebendigen “
Fälle nicht mehr ein Raub gerade auf Tod und Leben .
Schließlich will man ja doch , daß die jungen Leute Ehen
gründen . Bei den Auſtraliern iſt der eigentlich grobe Raub
meiſt nur ein Ausweg , wo ein ordentliches Rechtsgeſchäft
zwiſchen Stamm und Stamm nicht zuſtande kommen will . Die
Seele dieſes friedlichen Rechtsgeſchäfts würde ja ſein , daß
jeder Stamm mit dem anderen genau ſeine disponiblen Jüng¬
linge und Mädchen kreuzweiſe austauſchte . Wo aber die
Jünglinge des einen Stammes nicht genug Schweſtern als
Gegengift ins Feld führen können , alſo an ſich verworrene
Fäden einſpielen , da muß der Raub das Recht brechen : der
junge Mann ſtibitzt ſich ein Mädel außerhalb aller Verein¬
barung , und wenn das ſelber auch willig mitgeht , ſo ſetzt es
für den Entführer doch eventuell jetzt wirklich noch blutigen
Kampf mit den Anverwandten der Entführten . Anderswo iſt
aber , eben mit immer beſſeren Sitten , der ganze „ Raub “ eine
Art Komödie geworden , blos geeignet , mit etwas Sturm und
Drang über den Akt des Losreißens der Braut von ihrer
Familie irgendwie wegzuhelfen . Der Brautraub iſt da zum
Polterabendſcherz oder zur derben Ehekomödie für die Un¬
beteiligten umgeformt . Das haſt du bis zu unſeren deutſchen
Bauern von heute noch im bayriſchen Hochzeitsſpiel des
16
„Brautlaufs “ mit einem improviſierten Haſchen der Braut
durch den Bräutigam , oder in ähnlichen Lokalſcherzen , wo der
Bräutigam regelrecht bei der Hochzeit verwalkt wird von den
lieben Anverwandten , ohne daß das ärger gefaßt wird , denn
als hergebrachter Spaß . Und doch iſt der Urgrund zweifellos
jener alte aus wirklich rauher Zeit , da Stamm zu Stamm
feindlich ſtand wie Spinne zu Spinnerich und doch die Not¬
wendigkeit ſich einſtellte , von Stamm zu Stamm die Mädchen
auszutauſchen . Der „ Frauenraub “ war der alte Kompromiß ,
ſo , wie der Spinnerich ſich ſein Eherecht als einen Raub im
günſtigen Augenblick holt .
Wo die Sitten ſich verfeinerten , ſtellte als höhere Stufe ,
als Stufe der Milde , ſich allgemein der friedliche Tauſch nach
Übereinkommen oder , wo der nicht möglich war , der einfache
Kauf ein . Der junge Mann des einen Stammes erſchien im
anderen und kaufte ſich das Mädchen , das ihm gefiel . Es
klingt das ja ſo bitter , viel bitterer als das Wörtchen „ Raub “ .
Raub ſchmeckt auch uns noch nach Romantik , Kauf wirkt als
ekles Krämertum . Die Frau erſcheint aufs tiefſte plötzlich er¬
niedrigt . Ihr Wert , für den dort das Blut des Werbers
gerade genug war , ſcheint auf eine Stufe herabzuſinken wie
ein Stück Vieh . Und um Vieh geht es ja wirklich dabei . Da
kommt der Neger und bringt ſeine Ochſen an . Ein Tarif be¬
ſteht . Für ſo und ſo viele ( etwa 5 im geringſten Falle bei
den Betſchuanen ) bekommt er das Mädchen .
Und doch wieder , wenn du auch das auf ſeine echte alte
Farbe abſtimmſt , iſt es gar nicht ſo ſchlimm . Das Mädchen
wird aus dem fremden Stamme geriſſen . Dieſe Lücke müßte
eigentlich ein entſprechender Menſchenzuwachs füllen , indem
einer ſeiner Stammesgenoſſen drüben in des Bräutigams
Stamm auch ein Mädchen freite . Das wäre die ſozuſagen
mathematiſche Regelung , bei der keiner zu kurz käme . Nun
läßt ſich das aber in verwickelteren Verhältniſſen nicht mehr
ſo durchführen . Was thun ? Raub entſpricht den Sitten auch
nicht mehr . So wird wieder ein Kompromiß geſucht . Der
Werber muß dem Stamme irgend einen Erſatz geben . Auf
dieſem naiven Standpunkte läßt ſich ſehr gut ein Menſchenwert
in Ochſen verrechnen . Es gehört gar keine beſondere Mi߬
achtung des Weibes dazu . Auch der Mann könnte nötigen
Falles genau ſo taxiert werden .
Bei den Zulukaffern heißt der Ehekauf Ukulobola . Alles
iſt dabei feſtgeregelt . Der Durchſchnittspreis der Frau ſchwankt
hier von 4 bis 6 Rindern , die Häuptlingstochter aber gilt
mindeſtens 25 , oft 100 . „ Die tiefſte Wurzel “ , ſagt Ratzel ſehr
gut , „ hat dieſe Sitte dabei nicht etwa im Herzen der Männer ,
ſondern vielmehr in dem der Weiber , in welchen das Gefühl
ihres Wertes mit der Zahl der Rinder ſich erhöht , um welche
ſie gekauft werden . Ebenſowenig würde in der Regel ein
Mann geneigt ſein , eine Frau für nichts zu nehmen ; er würde
ſich ſelbſt dadurch erniedrigt fühlen . Die Kraft gegenſeitiger
Anerkennung gewinnt das Heiratsband erſt durch dieſen Kauf ,
und Mann wie Frau würden ſich nicht für regelrecht mit¬
einander verbunden halten , wenn jener nicht für dieſe etwas
gegeben oder mindeſtens verſprochen haben würde . “ Iſt die
Frau in der Ehe beſonders leiſtungsfähig , was Arbeit und
Kinderſegen angeht , ſo kommen nicht ſelten die Angehörigen
noch mit einer Nachforderung . Umgekehrt ereignet es ſich , daß
der Mann dem Schwiegervater die Tochter als unbrauchbar
heimſchickt und um Rückzahlung der Kaufſumme einkommt .
Geht der Alte nicht darauf ein , ſo degradiert jetzt der Mann
die Frau zur Sklavin ; der Kauf , ſo lange er von beiden
Parteien zu Recht anerkannt war , beſtätigte ſie vielmehr gerade
als Nichtſklavin , als freie Frau !
Andererſeits darfſt du den Frauenkauf aber auch nicht zu¬
ſammenwerfen etwa mit unſerem Begriff der Ausſteuer . Die Aus¬
16*
ſteuer geht an die jungen Leute ſelbſt , ſoll eine materielle
Grundlage ihrer Ehe bilden . Den Kaufpreis erhält der
Schwiegervater und in ihm der Stamm , aus dem das Mäd¬
chen fortgeholt wird , er iſt die Sühne für den ideellen „ Raub “ .
Lieblich aber miſchen ſich hier die Melodieen aus den
Hirtenbildern des alten Teſtaments ein . In der Sage von
Jakob , der um die Rahel freit , haſt du den Kauf in ſeiner
idylliſchſten Form . Das Kapital des Freiers , das er anbieten
kann , ſteckt in ſeiner Hände Kraft . Sieben Jahre ſtellt er dieſe
Kraft in des Schwiegervaters Dienſt , dann iſt die Sühne ab¬
getragen und die Tochter ſein . Wir ſind fernab von Kampf
und Raub . Nicht mit ſeinem Blute , ſondern mit ſeiner Arbeit
erkauft der Freier die Braut . Aber auch hier noch iſt es Arbeit
für den fremden Stamm , nicht für das eigene Heim . Wer das
alte Teſtament mit ſeinen Liebesgeſchichten prüfend auf dieſe
Dinge lieſt , der findet allerorten die alten Pfade noch , die
dieſe urtümlichen Liebesdinge in der Menſchheitsſeele aus¬
getreten haben . Die Frühſonne der Kultur leuchtet ſchon
hinein und läßt die Umriſſe verſchwimmen . Aber es macht
dieſes Buch ſo wunderbar , daß es mit einem Fuße wirklich
noch in dem großen Nebelgrau ſteht , aus dem dieſes wilde
und zarte , rohe und ſich bildende Menſchentier herauf¬
gekrochen iſt .
Ein verwandtes Bild , das aber zugleich ſchon weiter
führt , haſt du hoch oben in Kamtſchatka . Es iſt kurz vor der
Mitte des achtzehnten Jahrhunderts . Da verunglückt dort
eine Expedition . Die Teilnehmer werden durch Schiffbruch
faſt ein Jahr an wildem Strande feſtgehalten . Es iſt der
Strand , wo auch die Liebesgeſchichte der Seebären ſpielt .
Jene Expedition aber iſt berühmt geworden durch zweierlei .
In ihrer Not entdeckten die Schiffbrüchigen dort als Nahrungs¬
quelle eine rieſige Seekuh , das ſogenannte Borkentier . Sie
lebte noch , — wenig ſpäter war ſie durch dieſe und folgende
Beſucher bis auf den letzten Kopf ausgerottet , — aufgegeſſen .
Daß wir aber genaues von ihr wiſſen , danken wir dem anderen
Umſtand , daß bei dieſer Expedition ein großer beobachtender
Naturforſcher war , — Steller . Dieſer Steller aber hat uns
nicht nur von Seebären und Seekühen und ihrem Leben und
Lieben berichtet . Er hat auch die Sitten der Kamtſchadalen
da oben geſchildert , der Itelmen oder Itelmänen , der Hyper¬
boreer an der Beringsſtraße , in ihrem einförmigen Eskimo¬
daſein auf der Grenze der Polaröde . Auch hier taucht zu¬
nächſt das ſchlichte Bild auf : der Freier , der ſich die Braut
beim Schwiegervater abverdienen will .
„ Wenn jemand von den Itelmänen heiraten will “ , hörſt
du da , „ ſo kann er auf keine andere Art zu einer Frau kommen ,
als er muß ſie dem Vater abdienen . Wo er ſich nun eine
Jungfer ausgeſehen , ſo geht er hin , ſpricht nicht ein Wort ,
ſondern ſtellt ſich , als ob er noch ſo lange daſelbſt bekannt geweſen
wäre . Fängt an , alle Hausarbeiten gemeinſchaftlich mit vor¬
zunehmen , und ſich vor anderen durch Stärke und Leiſtung an¬
genehmer und ſchwerer Dienſte den Schwiegereltern und ſeiner
Braut angenehmer zu machen . Ob nun gleich in den erſten
Tagen ſowohl die Eltern , als die Braut wahrnimmt , auf wen
es abgeſehen , dadurch , daß er ſich alle Zeit beſonders um die¬
jenige Perſon macht , mit allerlei Handreichung bemüht , und
ſich des Nachts ſo nahe zu ihr ſchlafen legt , als er immer
kann , nichtsdeſtoweniger fragt ihn niemand , bis er nach ein- ,
zwei- , drei- , vierjährigen Knechtsdienſten ſoweit kommt , daß er
nicht allein den Schwiegereltern , ſondern auch der Braut ge¬
fällig werde . Gefällt er nicht , ſo ſind alle ſeine Dienſte ver¬
loren und vergebens und er muß ſich wieder ohne alle Bezahlung
und Revanche wegpacken . Giebt ihm die letztere Zeichen von
ihrer Gunſt , ſo ſpricht er den Vater alsdann erſt um die
Tochter an und erklärt die Abſicht ſeiner Dienſte , oder die
Eltern ſagen ſelbſt zu ihm : nun biſt du ein fertiger und
fleißiger Menſch , fahre alſo fort , und ſieh zu , wie du deine
Braut bald betrügſt und überkommſt . Der Vater entſagt ihm
niemals ſeine Tochter , thut aber auch nicht mehr , als daß
er ſpricht : gwatei , haſche , greife ſie , alsdann geht die Freierei
und Hochzeit zugleich an . Von der Zeit aber an , da der
Bräutigam in der Wohnung arbeitet und dient , hat er alle¬
zeit das Recht zu probieren , ſeiner Braut auf den Dienſt zu
lauern , ob er ſie nicht unverſehens überrumpeln könne . Die
Braut hingegen ſieht ſich allezeit vor , daß ſie nicht mit ihm
allein in- oder außerhalb der Wohnung zuſammenkomme . “
Indeſſen eines Tages glückt ihm der Sieg doch . Wir
ſind in einer naiv-rohen Welt . Die Überrumpelung iſt derb
gewaltſam gemeint . Sie muß wenigſtens ſymboliſch bis zu
einer beſtimmten Grenze kommen . Gewaltſam muß der Über¬
winder dem Weibe die Kleiderhülle löſen und mit der Hand
die Liebesſtätte bezeichnen . Mißlingt ihm das , ſo wird er zum
Überfluß von den Verwandten jämmerlich verprügelt . „ Aber “ ,
ſetzt Steller hinzu , „ war die Braut dem Bräutigam ſehr ge¬
wogen , ſo ergab ſie ſich bald in ſeinen Willen , verſchanzte ſich
nicht ſo ſtark und gab ihm ſelbſt Gelegenheit , daß er bald
dazu käme , doch aber mußte allezeit eine Weigerung um der
Ehre und der Ökonomie willen ſimuliert werden . “
Nun merke wohl , wie hier ein zweites nebenher völlig
deutlich wird .
So lange man vom „ Brautkauf “ gehört hat , ſo lange iſt
auch darüber des Schreckens kein Ende geweſen , daß hier ein
Weib einfach wie ein Stück Vieh , über ſeinen eigenen Wunſch
fort , könne vergeben werden . Und auch auf den Freier fiel ein
ſeltſames Licht , der ſo ohne alles Vorſpiel kam und , kaum be¬
ſehen , ſchon kaufte . Wo blieb da alle „ Liebe “ , oder , um es
zoologiſch zu ſagen , wo blieb alle freie Ausleſe des Beſten ,
alle individuelle Wahl ? Soll etwa gerade der Menſch auf
Formen des Liebeslebens geraten ſein , die dieſen ungeheuren
Faktor , der doch ſchon im oberen Tierreiche mächtig und
mächtiger heranwächſt , wenigſtens zeitweiſe ganz wieder aus¬
geſchaltet haben ?
Nun ließe ſich ja ſagen , es möchte für den Freier ein
einziger Blick auf die Körperſchöne des Mädchens genügen ,
daß er Luſt fühle , auf den Kauf einzugehen , und das wäre
dann ſchon eine äſthetiſche Wahl . Das Mädchen aber könnte
denken , wer am beſten zahlt , ſo daß der Vater auf die Sache
eingeht , der wird der beſte ſein . Aber ſchon die letztere Ent¬
ſchuldigung hinkt gefährlich . Es liegt ja auch für den Menſchen
wie für den Maulwurf ein unvergänglicher Sinn in dem Ge¬
danken , daß der der beſte Mann iſt , der an das Mädchen
heran kann , — eben weil er es kann . Brunhild liegt getroſt
in ihrer Waberlohe : denn wer die überwindet , der muß eben
ein Siegfried ſein . Aber wenn die Waberlohe auch mit Geld
abgezahlt werden kann , ſo drängt ſich doch ein ſeltſames Ge¬
fühl auf . Und hier iſt die kleine Itelmänenhiſtorie überaus
lehrreich . Sie zeigt klärlich , wie eben doch die Natur mit
ihrem Wahlgeſetz zum Vorteil der unabläſſigen Raſſenbeſſerung
ſich auch hier durchſetzte .
Das Abverdienen der Braut im Hauſe hat neben dem
Geldſinn auch noch einen Sinn des Sichkennenlernens , es
ſchiebt ein längeres Interreguum der Wahlfreiheit für das
Mädchen ein . Eine derbe phyſiſche Kraftprobe muß das Ganze
krönen , bei der aber auch ſchon das Fazit mitſpricht , das das
Mädel aus den Jahren des ledigen Nebeneinandergehens ſich
gezogen hat . Nun findet freilich dieſes Dienen beim Schwieger¬
vater wieder nicht überall ſtatt , — was alſo dann , wenn wirk¬
lich der Freier ganz unvermittelt zum Vater des Mädels kommt
und ſie kaufen will ?
Was nützt es , daß der Vater ſelbſt die Tochter fragt ,
ob ſie einwillige ? Wo die Verhältniſſe nicht mehr oder
minder in der Degeneration ſind und etwa die Polygamie ohne¬
hin das Weib bereits tief unter das Normalmaß erniedrigt hat ,
da wirſt du auch beim nackten Wilden ſehen , daß dieſe Frage
geſtellt wird und daß das Veto der Frau gilt . Es iſt klar ,
daß dem Mädchen von vornherein der reiche Freier imponiert ,
warum nicht , Reichtum iſt im Werkzeug-Sinne des Menſchen ,
ja im Grunde nur ein nach außen verlegtes Organ , ein Stück
außen niedergelegtes und alſo auch der Frau zugängliches
Nährblut , ein Stück Nervenkraft auf Reſerve . Aber wenn der
Reichtum erſetzen ſoll , daß der Freier einen Buckel hat , ſo hat
ſich vom nackten Wildenkinde bis zur feinſten Kulturdame
noch in jedem geſunden Mädchen der geſunde Naturſinn
aufgelehnt . Umgekehrt iſt immer wieder ein Plus an Geiſtes-
und Körperliebreiz von den Mädchen aller Jahrtauſende aus¬
geſpielt worden als Äquivalent für Armut an klingenden Schätzen .
Und immer in allen wirklichen und ſagenhaften Liebesgeſchichten
aller Völker findeſt du auch das Mädchen ſtark ſich in dieſem
geſunden Inſtinkte zu behaupten . Der ſchöne junge Schweine¬
hirt kriegt die Prinzeſſin und der Mümmelgreis , der mit der
Goldtruhe kommt , hat das Nachſehen . Aber bei alledem und
gerade deswegen erſt recht fragt ſich , wo und wie dem Freier ,
wie dem Mädel Gelegenheit gegeben werden ſoll , ſich kennen zu
lernen , ehe der Fall vor den Schwiegervater überhaupt kommt .
Hier wird nun wieder eine Linie im Liebesleben des
Naturmenſchen klar .
Je feſter die Ehe ſich ausgeſtaltet , je höher ſie ſteigt , je
mehr ſie eine große , grundwichtige Angelegenheit zwiſchen zwei
Sippen mit bindenden Rechtsdingen wird , — deſto mehr wird
der Verkehr zwiſchen den jungen , noch unverheirateten
Leuten beiderlei Geſchlechts freigegeben .
Auch das iſt wieder ein Zug , der durch die ganze
Menſchheitsgeſchichte heraufkommt , vom nackten Wilden , wo
das junge Volk vielfältig eine Art Verband unter ſich bildet
mit freieſten Sitten , an denen Niemand Anſtoß nimmt , —
bis zu unſeren feierlichen Tanzvergnügen im Salon . Es hat
ja den Beobachtern je nachdem das verzweifeltſte Kopfzerbrechen
gemacht : dicht nebeneinander ſtießen ſie bei allen möglichen
Völkern der großen Erdenarche auf die wahrhaft raffinierteſten
Feſtigungen der Ehe , als ſei dieſe das ſchlechterdings einzig
Echte und Heilige neben Mann und Frau — und dann wieder
auf eine Ungebundenheit des Verkehrs der ledigen Jünglinge
und Mädchen , die alledem Hohn zu ſprechen ſchien .
Bei den Negern in Afrika haſt du vielfach die ſchärfſte
Auffaſſung von Treue der Ehefrau — und daneben gar kein
Verſtändnis für klöſterliche Keuſchheit des noch unverheirateten
Mädchens . Bei den Malayen in Lambok wird die Ehe¬
brecherin mit dem Verführer zuſammengebunden und den
Krokodilen vorgeworfen : das ledige junge Mädchen kann ſich
mit Männern einlaſſen ſoviel es will . Wo das Männerhaus
noch ſo abgeſchloſſen gegen alle Ehefrauen ragt , da ſpinnen
ſich doch , wie erzählt , die Fäden ohne Scheu zu den ledigen
Mädchen hinüber . Überall kreuzt ja dieſen Zug jener andere
feindlich : daß die Braut noch körperlich rein ſein ſoll beim
Eheſchluß . Wo das ein Paragraph des Kaufkontraktes wird ,
muß natürlich der freie Mädchenverkehr eine Grenze haben
weit unterhalb des eigentlichen erotiſchen Zieles . Aber anders¬
wo legt man hierauf eben kein Gewicht und dann ſteht gar
nichts im Wege , daß nicht der echten Ehe die verſchiedenſten
Probeverhältniſſe vorausgegangen ſein könnten .
Wer das jetzt oberflächlich anſchaut , der wird jeden
Standpunkt der Moral verlieren und von himmelſchreiender
Unkeuſchheit des jungen Volkes reden . Und doch hatten gerade
auch dieſe Sachen ihre grobe Naturmoral . Dieſes freie Inter¬
regnum vor der Ehe ſteht in einem tiefen Kauſalzuſammenhang
gerade mit dieſer Ehe . Es bildet in der dunkel taſtenden Ab¬
ſicht wieder einen Kompromiß : den Kompromiß der endgültigen ,
nicht mehr lösbaren Ehe eben mit jenem Prinzip der Wahl
des möglichſt guten , möglichſt für den Ur-Zweck der Ehe
tauglichſten Paares .
Je feſter Stamm ſich in Urtagen ſchon gegen Stamm
abſchloß , — je notwendiger aber die Ehe trotzdem übers Kreuz
von Stamm zu Stamm griff mit all den genannten Folge¬
erſcheinungen wie Brautraub und Brautkauf : — deſto nötiger
wurde das Zerhauen des Knotens an einer Stelle : nämlich
eben bei den Beziehungen der jungen , noch unverehelichten Leute
zwiſchen Stamm und Stamm . Für ſie mußte der Stamm als
ſolcher zeitweiſe wirklich gewiſſermaßen aufgehoben werden , ein
loſes Hin- und Wiederſpielen mußte von beiden Stämmen her
toleriert werden ſo lange , bis die rechten Paare zur
Ehe ſich gefunden hatten .
In der Ehe ſelbſt konnte , ſollte nicht mehr „ geprobt “
werden . Wenn ſie geſchloſſen war , war das Fallgitter herunter .
Sie hatte etwas endgültiges . So lag es nahe genug , daß dieſe
vorehelichen Proben ſchon in ihr faktiſches Gebiet taſtend über¬
griffen . Würde der Mann erotiſch ſtark genug ſein ? Würde
das Mädchen Kinder bekommen ? Beſſer das auf Probe feſt¬
ſtellen , als nachher die Ehe daran ſcheitern ſehen . Bei jenen
Kamtſchadalen darf der Mann das Mädchen nahezu vor der
Ehe vergewaltigen , ja es wird verlangt , daß er die phyſiſche
Kraft wenigſtens dazu zeige . Doch er geht nur ſymboliſch bis
ans letzte Ziel , nicht wirklich . Wenn er die Stelle , wo in der
Ehe das neue Leben erblühen ſoll , ſymboliſch mit der Hand
berührt hat , ſo iſt die Probe beſtanden . Mitten in unſerer
Kulturwelt haſt du aber Bräuche , die wirklich noch viel
weiter gehen .
Man muß die ganze Feierlichkeit einer Bauernhochzeit
mitgemacht haben , um einen Begriff zu erlangen , wie hoch bei
unſeren Bauern gerade der Rechtsſtandpunkt der Ehe ſteht . Und
doch haſt du in Bauernkreiſen maſſenhaft ganz ruhig daneben
die „ Sitte “ , daß der Brautſtand vor der Ehe ſich ſchon zu
einer regelrechten „ Probeehe “ entwickelt .
Dieſe „ Probeehe “ iſt keineswegs , wie ein oberflächliches
Moraliſieren glaubt , ein ſexuelles Monſtrum , ſondern ſie hat
ihre ganz feſte Idee . Das verlobte Paar tritt nicht ſofort
zur echten Ehe über , ſondern es unterhält , ein oder einige Jahre
lang , einen freien Geſchlechtsverkehr , der allerdings als ſolcher
völlig bis zum Ziel geht . Erprobt wird dabei — und darauf
eben geht die Sache — ob des Mannes Kraft und des
Mädchens Anlage wirklich derart ſind , daß das große , abſolut
notwendige Pfand der wirklichen Ehe erwartet werden darf :
nämlich Kinder . Wird mit allem Probeverkehr keine Schwängerung
erzielt , ſo geht das Paar wieder auseinander und der Verkehr
ſelber gilt für das Mädchen nicht als Makel . Erfolgt dagegen
eine Schwängerung , ſo iſt das allerdings jetzt das Urteil höchſter
Inſtanz : vom Moralboden muß jetzt die Ehe geſchloſſen werden .
Der Bräutigam , der ſein Mädchen jetzt verließe , gälte als ehr¬
loſer Verführer , der ſich über einen Zweck hinwegſetzen will ,
der allein das Mittel heiligte .
Dieſe „ Probeehe “ iſt bei den Kulturvölkern Europas offen¬
bar uralt . Das urtümliche alemanniſche Geſetz kennt ſie ſchon .
Der engliſche Bauer in Yorkſhire hat eine beſtimmte Verlobungs¬
formel „ If thee tac , I tac thee “ , das iſt : „ Wenn du empfängſt ,
nehme ich Dich . “ Bei den Schwarzwälder Bauern unterſcheidet
man „ Kommnächte “ und „ Probenächte “ . Der junge Burſche
klettert durch das Fenſter in die Schlafkammer des Mädchens ,
doch zunächſt nur zur einfachen Plauderei . Das iſt die Komm¬
nacht , die erſte Stufe zum Kennenlernen . Erſt nach einer
Weile entwickelt ſich daraus die Probenacht mit allen Freiheiten .
Aber auch ſie kann ruhig noch einmal vorübergehen und das
Mädchen darf ohne Schaden ihres Rufes den Bräutigam wechſeln .
Es war eben doch nicht der rechte ! Nur wenn der Wechſel
zu oft ſtattfindet , heftet ſich das Odium daran , es ſeien die
Burſchen der veranlaſſende Teil und das Mädchen müſſe einen
„ Ehefehler “ haben .
Überall , wo die Ammenkultur blüht , magſt du auf ähn¬
liche Bräuche im Hintergrunde ſchließen . Das Wirtſchaftsleben
hat bloß ſich der Sache bemächtigt . Aus dem Zuſtande des vor¬
ehelich geſchwängerten Mädchens iſt ein Erwerbszweig geworden ,
der die Ehe weit noch über die Geburt des erſten Kindes hinaus
verzettelt . Aber dieſes Kind iſt in der Mehrzahl der Fälle
deshalb kein uneheliches im groben Sinne . Die Amme kehrt
in ihre Heimat zurück und heiratet ihren Probemann . Verläßt
er ſie doch noch , ſo iſt er ein ehrloſer Kerl , der die „ Treue “
gebrochen hat !
N och immer , auch in all dieſen wechſelnden Arabesken
des menſchlichen Liebeslebens , haſt du dich kaum entfernt von
der großen Linie , wie ſie im Tierreich ſchon vorgezeichnet war .
Es bleibt dir eine Stufe noch übrig , die auch dort ſchon
war : die zerſetzende Wirkung des Sozialen gegenüber der Ehe
überhaupt . Und auch dieſer Zug iſt fühlbar im Liebesroman
der Menſchheit , wenn auch nirgendwo eigentlich ausgebaut .
Man merkt , daß er , bisher wenigſtens in der geſchichtlich
gegebenen Kapitelreihe , nicht ankonnte gegen die immer wachſende
Wucht der Ehe . Aber als Unterſtrömung gewühlt hat er doch
und es iſt wichtig , gerade ihn ſcharf ins Auge zu faſſen , da
er leicht ein Quell wunderlichſter Mißverſtändniſſe werden kann .
Was wäre freilich auf dieſem Gebiete nicht mißverſtändlich , ſo¬
bald wir den einfachen Kompaß tieriſcher Verhältniſſe über
Bord werfen ! Es hilft nichts , das Schifflein der Menſchheit
direkt auf die Sonne losſteuern zu wollen . Es kann nur zur
Sonne , weil es an der Erde hängt . Auf den Pol dieſer Erde
gilt es wieder zunächſt die Fahrt einſtellen , — im großen
Zuſammenhang iſt 's ja doch Sonnenfahrt .
Bei den Bakaïri-Indianern hatteſt du den Fall , daß junge
Mädchen nicht nur Beziehungen zum Junggeſellenhauſe unter¬
hielten , der Liebeswahl zur Ehe wegen , ſondern daß eine gewiſſe
Zahl dauernd ihr Liebesleben dieſem Junggeſellenhauſe anpaßte .
Hier entſteht ein Hetärenſtand , bei dem die Ehe ausgeſchaltet
iſt . Die Exiſtenz dieſer ledigen Junggeſellenmädchen bringt
aber wieder die Möglichkeit , daß das „ Flötenhaus “ nicht blos
ein Klub bleibe von Männern , die noch nicht verheiratet ſind ,
ſondern daß es ein echter Hageſtolzenklub werde , der auf die
Ehe pfeift . Das Flötenhausmädchen erſetzt die Frau hinſicht¬
lich der erotiſchen Bedürfniſſe des Mannes . Das Klubhaus
erſetzt ihm die Annehmlichkeiten eines Familienheims . Die
Kinderfrage läßt ſich auch ſozial regeln . „ Für etwaige Kinder
des Mädchens gelten ſämtliche Männer , mit denen ſie verkehrt
hat , als Väter “ ſagt Steinen . Der Klub , ſchließlich der Stamm
haften da ſolidariſch wie bei den Pinguinen . Wenn man ſieht ,
wie ſpät durchweg die jungen Männer dieſer Indianer heiraten ,
ſo empfindet man , daß etwas derart wirklich dort ſchon ein¬
getreten iſt . Die Dinge ſtehen ſchon faſt auf der Balance .
Ehe iſt da und gilt . Aber es geht auch ohne ſie durch ein
liebesfrohes Menſchenleben .
Annäherungen an dieſe Sachlage haſt du nun überall , die
ganze Völkerſchlange lang . Geh doch gleich zu uns . Auch bei
uns haſt du Männerklubs , die eine Macht gegen die Ehe bilden .
Das einfache Wirtshaus iſt ein Anfang . Das ganze ſtudentiſche
Leben hat eine Spitze hierher . Wer nun etwas vom „ ewigen
Studenten “ ſich wahrt ! Die Stelle des Flötenhausmädchens
erſetzen uns reichlich das Verhältnis , die Proſtituierte in ihren
vielen Abſtufungen . Der Mann braucht ſich nicht mit Eiferſucht
zu plagen . Er hat keine Verantwortung für die Frau . Er
kann verfügen , ob er zum Tort auf alle herrſchenden Ehebräuche
ſeiner Kultur Monogamiſt oder Polygamiſt ſein will . Na ja ,
die Kinder . Aber erſtens brauchen keine da zu ſein . Und wenn ,
ſo mögen ſie ins Findelhaus . Man zahlt in den Steuern ,
dieſem großen Geſellſchaftsſchlauch , aus dem es überall hinfließt ,
eine Prozentſumme für ihre öffentliche Pflege mit , wie man
es für die ehelichen Waiſenkinder ja auch thut , wie man es
für die Volksſchule allgemein thut , und ſo weiter . Wer kennt
dieſe Rede pro domo des eingefleiſchten Kultur-Hageſtolzen , der
keineswegs dabei Asket ſein will , nicht ? Auch ſie iſt aber
eine Melodie der Menſchheits-Jahrtauſende .
Es iſt allerdings ein Punkt darin , der einen tiefen Wider¬
ſpruch gleich ganz ſchreiend enthält . Kinder brauchen nicht da
zu ſein ! Wo das Parole würde , höbe das Soziale ſich ſelbſt
auf , anſtatt bloß die Ehe zu bedrohen .
Hier miſcht ſich wieder eine ſpezifiſch menſchliche Separat¬
ſache ein , die für das Tier ſo noch nicht in Betracht kam .
Sehr früh zweifellos iſt der Naturmenſch ſchon auf etwas geraten ,
was in alle dieſe Dinge , Flötenhausleben , Jugend-Ungebunden¬
heit , Probeehen u. ſ. w. , wichtig eingreifen mußte . Er hat gewiſſe
Mittel und Wege entdeckt , die Befruchtung zu verhindern ,
auch wenn der Miſchakt in weitgehendem Maße vollzogen wird .
Von der höchſten Warte beſehen , greift der Menſch auch
hier etwas mit ſeinem Bewußtſein , Willen und Werkzeug auf ,
was in der Natur längſt ein großes Organprinzip war , das
den höchſten Zwecken wie alle anderen diente . Im Pflanzen¬
reiche findeſt du die kunſtvollſten Einrichtungen , um eine Be¬
fruchtung zu verhindern , wenn ſie aus irgend einem Grunde
nicht eintreten ſoll . Staubgefäße und Weibesgriffel ſtehen ſich
vielfältig in der gleichen Blüte ſo nahe , daß die Exiſtenz dieſer
Blüte eigentlich ſchon den äußeren Bedingungen nach einen per¬
manenten Geſchlechtsakt darſtellt . Und doch ſoll ſich keine Blüte
der Inzuchtsgefahren wegen ſelbſt befruchten . Alſo werden be¬
ſondere Raffinements angewendet , das zu hemmen , die wahre
Konzeption zu hemmen inmitten des räumlich ſozuſagen be¬
ſtändig vollzogenen Aktes . Wir haben davon ſchon früher
geſprochen . Du erinnerſt dich auch , wie es ähnlich bei Tieren
war , die Zwitterorgane hatten . Auch da eine Fülle , bildlich
geſprochen , von Gummiartikeln der Natur , um trotz des förm¬
lichen Zwanges zu Miſchakten um die Konzeption herumzukommen .
Doch das alles iſt eben dort wieder als Organ , als unmittel¬
bare Körperanlage entwickelt . Du kannſt Säugetierſamen auf
Fiſcheier gießen , ſo viel du willſt : es entſteht kein Fiſchmenſch ,
denn die Keimſubſtanz hat eben ſelber ihr Geſetz in ſich , das
trotz aller äußerlichen Berührung die wahre , innerlichſte Miſchung ,
die echte Konzeption , verhindert .
Wie nun der Menſch ſonſt alles Naturkönnen in ſeinem
Geiſte zu einen beginnt , um es fortan von höherer Baſis aus
mit ſeinen Mitteln bewußt fortzuſetzen zum großen Weltenziel ,
ſo iſt es an und für ſich gewiß eine reine und notwendige
Sache , daß er auch dieſes Reſervemittel für mögliche Mißver¬
ſtändniſſe bewußt in ſeine Hand bekomme . Wenn er der Stärke
der erotiſchen Triebe gegenüber ( die als ſolche ſo nötig ſind ,
wie etwa in der Blüte der Zwitterbau aus anderen Gründen
für ſich nötig war ) unter Umſtänden den Miſchakt nicht hemmen
kann in ſeinem äußerlichen Verlaufe , — ſo iſt es von enormſter
Wichtigkeit , daß er in ganz beſtimmten Fällen doch die wahre
Einigung der Eizelle mit der Samenzelle , aus der der neue
Menſch erſprießt , hemme .
Ich meine , an dieſem Gedanken iſt gerade vom hohen
Geſichtspunkt aus nicht zu rütteln . Je mehr wir die furcht¬
baren Schäden einzuſehen beginnen , die ein planloſes Weiter¬
vererben krankhafter Körperveranlagungen anrichtet , — je mehr
wir begreifen , daß wir mit einem Vererbungsgeſetz wirtſchaften
müſſen , daß alle Sünden unrettbar bis ins ſiebenmal ſiebente
Glied an unſeren Nachkommen heimſucht , — deſto ſtärker muß
uns die Pflicht faſſen , hier gegenzuſteuern , ſoviel jeder kann .
Der einzelne Menſch muß ja nicht notwendig ſich durch
leibliche Kinder in Kontakt mit der Menſchheit , mit der Zukunft
halten . Er iſt doch Menſch , und der Menſch hat noch andere
Wege . Ich kann auch Liebe ſäen , aufopfernde Menſchenliebe , die
fortwirkt . Ich kann Bücher ſchreiben , die unendlich weiter
zitternde Kreiſe werfen . Der Menſch hat geiſtige Kindermöglich¬
keiten . Wenn ſein Gehirn geſund , ſeine Lunge aber krank iſt , ſo
ſoll er mit dem Gehirn zeugen und die Nachwelt wird es ihm
danken , aber er ſoll nicht körperliche Krüppel zu ihrer eigenen
Qual erzeugen , die ſeine Lunge erben . Für dieſe Fälle hat
die Konzeptionsverhütung einen heiligen Sinn als Willensthat
des Menſchen genau ſo wie ihn die Schutzmittel in der Blüte
gegen Selbſtbefruchtung hatten .
Aber es zeigt ſich auch hier ſofort wieder , wohin die Ent¬
ſcheidung über den Gebrauch dieſes zweiſchneidigen Schwertes
gehört : in die Hand des Arztes . Es gehört in die Hand des
reifen Menſchen , der die große innere Erleuchtung gehabt hat ,
da der Begriff der Menſchheit ihm als ein religiöſes Moment
aufgegangen iſt . Dieſer Menſch wird neben der negativen
Pflicht ſtets auch die andere , poſitive ſehen : nämlich daß es
Pflicht jedes geſunden Mannes , jedes geſunden Weibes iſt ,
den ganzen Liebesweg der Natur mitzugehen bis zum wirklichen
Kinderzeugen , genau ſo große , genau ſo heilige , genau ſo un¬
umgängliche Pflicht . In die Hand dieſes Menſchen kannſt du ge¬
troſt das Arkanum legen , das unſere Wiſſenſchaft heute noch gar
nicht beſitzt : nämlich ein abſolut ſicheres Konzeptionshemmungs¬
mittel für alle Fälle , und du haſt die Sicherheit , daß er es
nicht mißbrauchen wird .
Das von der hohen Warte aus . Aber dieſe Warte iſt
ein Schluß der Menſchheit , nicht ein Anfang . Der Anfang
mußte auch hier ein mehr oder minder wüſtes Experimentieren
ſein , mit allerhand Möglichkeiten und Gefahren .
Die eine Seite menſchlichen Spintiſierens war dabei ziem¬
lich harmlos . Sie hatte etwas vom Suchen nach dem Stein
der Weiſen an ſich . Man forſchte nach irgend einem Medika¬
ment , das abſolut konzeptionsſicher machen ſollte , wie man
anderswo ein Geheimmittel erſtrebte , das kugelfeſt in der
Schlacht machen könnte . Dieſe Verſuche , unendlich variiert , ſind
doch alle reſultatlos verlaufen . Die Philoſophie miſchte ſich
17
ein . Der Samen unfruchtbarer Bäume , Weiden oder Pappeln ,
in Theeaufguß , ſollte Unfruchtbarkeit erzeugen , Gleiches durch
Gleiches . Der Volksaberglaube läßt ſich noch heute den Weiden¬
thee , von dem die alten Griechen und Römer ſchon ſchrieben ,
nicht ausreden . Eine andere Volkstheorie glaubte an die Un¬
fehlbarkeit von Birnen und Miſpeln , die auf Hagedornſtämme
okuliert waren . Alles umſonſt . Zimmttinktur und engliſcher
Balſam , milder Honig und die ſchärfſten Draſtika wie Aloe
und Myrrhen halfen nichts . Eine ganze ſchwarze Hexenküche iſt
eingetrichtert worden . Die Natur aber ſchlug ihr Schnippchen .
So leicht ließ ſie ſich nicht dreinreden .
Gefährlich wurde der Feldzug erſt , wo eine Grundthat¬
ſache des ganzen Liebeslebens glücklich begriffen war : nämlich
die Rolle des männlichen Samens als eine auf alle Fälle
unumgänglich notwendige Vorausſetzung .
Die Methoden , die auf einfaches Abdämmen des Lebens¬
quells von der Empfängnisſtätte zielten , gelangten im Prinzip
alle wirklich ans Ziel , ſo wenig man auch eigentlich noch
ahnte , was da abgedämmt wurde . Jahrtauſende , ehe das
Mikroſkop das erſte wirkliche Samentierchen , das Lebensfiſchlein
im heiligen Quell , wies , iſt das durch kühnes Darauflosexperi¬
mentieren gefunden worden . Im alten Teſtament haſt du
ſchon eine offizielle Sagengeſtalt dafür , den Onan . Dieſer
Onan hat allerdings das weltgeſchichtliche Verhängnis erfahren ,
daß ſein Name über ein ganz falſches Kapitel des menſchlichen
Liebesbuches geraten iſt : es wurde nach ihm die Onanie be¬
nannt . In Wahrheit verewigt er die Erinnerung an den
Brauch des Zurückziehens als eine uralte negative Möglichkeit
der Menſchheit .
Dieſer Brauch iſt keineswegs eine raffinierte Kulturerfindung :
die Neger und andere Naturvölker üben ihn gelegentlich genau
ſo wie der Kulturmenſch . Bei einzelnen Stämmen , beſonders
in Indien und auf Java , wird auch durch künſtliche Eingriffe
wohl die Gebärmutter verſchoben , ſo daß die innere Pforte
ſich zeitweiſe geſchloſſen findet . Soll ein endgültiges Hemmnis
geſchaffen werden , ſo weiß die Auſtralierin ſchon Mittel , die
Eierſtöcke zu zerſtören , etwas gröber , aber faſt ſo gut , als es
leichtſinnige Pariſer Ärzte heute willigen Patientinnen beſorgen .
Von der grauſigen Mikaoperation , die gar das Mannesglied
ſeitwärts anbohrt , um die Leitung zu ſtören , haben wir ſchon
geſprochen .
Summa Summarum iſt klar , daß dieſe „ Möglichkeit “ in
alle zuletzt geſchilderten Prozeſſe ſtark eingreifen mußte . Sie
muß von früh an ihre Rolle geſpielt haben bei den Probe¬
verſuchen der Jugend . Immerhin war ſie hier ungefährlicher ,
da ja doch die Ehe ſtets als Ziel dieſer Verſuche hoch auf¬
recht ragte . Sie beſchränkte die Zahl der vorehelichen Kinder
auch bei weiteſtem Spielraum für die Probewahl , ohne die
Ehe ſelbſt zu berühren . Wo aber das „ Flötenhaus “ die Ehe
zu bedrohen begann , da war plötzlich die wirkliche Gefahr da .
Es iſt ein hochintereſſantes Schauſpiel immer wieder ,
wie in der Naturentwickelung allem Raum gegeben wird , ſich
zunächſt einmal zu entfalten . Erſt in der Praxis werden die
tollen Linien dann allmählich ad absurdum geführt , um end¬
lich ſo zu ſagen an ihrer eigenen widerlogiſchen Lächerlichkeit
zu Grunde zu gehen . Dieſe Praxis mag ihre grauſame Seite
haben vom Standpunkte der armen Verſuchsopfer . Aber es
macht durchaus den Eindruck , daß ſie nötig war , wie die
Dinge einmal lagen . Das Abſurde durfte nicht verſchwiegen ,
unterdrückt werden , es mußte frei ans Tageslicht , mußte ſich
offen zu Grunde leben . Nur ſo konnte es für immer heraus¬
gepaukt werden . Wer Gelegenheit gehabt hat , auch nur im
kleinen mit Menſchen zu wirtſchaften — ſei es ſelbſt nur in
einem winzigen Verein , einer geringfügigen politiſchen oder
17*
ſonſtigen Parteiecke : er wird , ſeltſam genug , aber wahr , die
gleiche Erfahrung gemacht haben . Es gilt , die Dummen nicht
mit Autorität zu unterdrücken , ſondern ſie wirtſchaften zu laſſen ;
an ſich ſelbſt müſſen ſie ſich erleben , ihre Dummheit . Wahr
bleibt , daß damit manches Unheil angerichtet wird gegen An¬
dere , Unſchuldige , und grauſam iſt's , als Sehender Blinde ins
Verderben rennen zu laſſen . Aber man kommt ſchließlich auch
zum Schluß , daß es nicht anders geht , wenn das Ganze vor¬
wärts ſoll , auch in den einzelnen Dummen ſelber ſoll ; es iſt ihre
einzige Rettung , am eigenen Kreuz endlich klug zu werden , —
wobei freilich zum vollen Troſt noch etwas tiefere Gedanken
über Individualität und ihre Schickſalserziehung gehörten .
Genug : auch in unſerer Linie hat ſich viel ausgewirt¬
ſchaftet , aber auch abgewirtſchaftet . Aus dem Flötenhaus¬
mädchen , deſſen Kinder der Stamm übernahm , iſt die Proſti¬
tuierte erwachſen , die im Artbilde des Menſchentiers wieder
etwas darſtellt wie eine geſchlechtsverkümmerte Ameiſe . Die
Idee des Kindes iſt bei ihr ausgeſchaltet . Die Ehe iſt in
jeder Form mit gefallen . Damit iſt aber auch die Liebeswahl
als ſolche illuſoriſch geworden , das ganze individuelle Wahl¬
prinzip iſt ſchließlich ebenfalls ausgeſchaltet : es ſteht der Proſti¬
tuierten nichts im Wege , mit jedem Manne zu verkehren , wenn
es nur ſonſt irgend einen kleinen Vorteil bringt . Bei dieſem
kleinen Vorteil ſetzte aber eine Linie ein , die wieder Soziales
und Wirtſchaftliches auf einem neuen Wege berührte . Die Proſti¬
tuierte verſucht , in eine Schutzgemeinſchaft mit allen Männern zu
treten , heiſcht von jedem eine kleine Unterſtützung : ſie verſucht ,
ſich als einen Geſellſchaftsbeſitz wieder ins Soziale einzuordnen .
So weit läßt ſich die Linie wirklich ganz hübſch durch¬
ziehen und es iſt in der Menſchheitsentwickelung thatſächlich
immerfort verſucht worden , ſie zu ziehen und logiſch zu halten .
Die Züchtung dieſer ſterilen Amüſements-Ameiſe , die das Recht
hatte , eine Art ſozialer Steuer in jedem Gebrauchsfalle zu er¬
heben , ſchien ſo und ſo oft geradezu gelungen bis auf eine
Höhe , wo die logiſche Sanktionierung einſetzen konnte . Und
doch iſt inſtinktiv immer wieder durchſchlagend begriffen worden ,
daß die Rechnung einen abſoluten Fehler , eine nicht aus¬
zumerzende Abſurdität enthalte .
Die Proſtituierte , als ſoziale Inſtitution geſchaffen , negiert
mit ihrem Ausſchalten des Begriffes „ Kind “ dieſes Soziale , ſie
iſt eine immerwährende Gefahr gerade für den Sozialbegriff
Menſch , der eine Folge der Geſchlechter , eine „ unſterbliche
Menſchheit “ über das Individuum hinaus braucht . Das Soziale
hebt ſich hier ſelbſt auf wie die Wurſt auf dem Bilderbogen ,
die in der Luft ſich ſelbſt verſchlingt . Die Proſtituierte als
ſoziale Inſtitution löſt ferner die individuelle Liebeswahl wirk¬
lich auf und ſchneidet damit eine Wurzel ab der beſtändigen
Weiterentwickelung in der Geſamtheit . Für ſie bleibt keinerlei
Ausweg mehr für individuelle Bevorzugung , wenn ſie nicht
gerade das wirtſchaftliche Verhältnis zerſtören will , in dem ſie
zu der Geſamtheit ſteht . Jeder , der ſie benutzen will , iſt ver¬
pflichtet , ſein Teil abzutragen an ihren Unterhaltungskoſten , er
muß gewiſſermaßen die Steuer erlegen , für die das Daſein
einer ſolchen ſterilen Luſtameiſe in der Geſellſchaft ermöglicht
wird . Aber mit Erlegung dieſer Steuer tritt der Betreffende
auch in das volle Beſitzrecht zum Liebesakt ein und die Proſti¬
tuierte hat logiſch keine Macht , ſich dieſem Beſitzrecht individuell
zu entziehen . Was ſelbſt beim gröbſten Ehekauf nur ſcheinbar
oder erſt in ſchon degenerierender Abirrung möglich war , das
tritt hier als abſoluter logiſcher Zwang auf : die Vernichtung des
ganzen individuellen Wahlprinzips , alſo der ganzen rieſigen
Linie , die vom Paradiesvogel zu uns heraufkommt .
An dieſem doppelten Mißſinn iſt das Prinzip der Proſti¬
tuierten immer wieder geſcheitert und wird immer wieder
ſcheitern als echter Menſchheitsfaktor .
In ſeiner Unlogik liegt der wahre Grund , warum die
Proſtituierte in wachſendem Maße einer ſo vernichtenden mora¬
liſchen Verachtung verfallen iſt .
Wir ſind uns einig , nicht wahr , daß niemals in der
Weltgeſchichte eine „ Moral “ von einem übernatürlichen Himmel
heruntergeregnet iſt . Auch in allen Moralanſchauungen walten
die einfachen natürlichen Geſetze , die auch deine Arme und
Beine geſchaffen haben . Jedem Moralgeſetz liegt zu Grunde
das inſtinktive , ahnende Taſten nach einer Logik im poſitiven ,
einer Unlogik im negativen Sinne . Je ſicherer der Inſtinkt
ging , deſto größer iſt die weltgeſchichtliche Kraft eines ſolchen
Moralgeſetzes , — wobei natürlich der Entwickelung freier
Raum bleibt ; eine zeitliche Unlogik braucht nicht ewige Dauer
zu behalten und damit muß der logiſche Inſtinkt ſich modeln
und in ſeiner Folge wieder die Moral ſich ändern ; im all¬
gemeinen aber iſt die Geſchichte der Menſchheit in ihren paar
hellen Jahrtauſenden noch ſo außerordentlich kurz , daß ein
ſtarkes Wechſeln der Linien an den Hauptpunkten nicht wahr¬
ſcheinlich iſt : daher die Thatſache der relativen Zähigkeit , der
Altehrwürdigkeit in unſeren wichtigſten Moralſätzen , die doch
nur der ganz Oberflächliche , der um jeden Preis neuern möchte ,
überſehen kann .
Uns , die wir in die Sache automatiſch eingedrillt ſind ,
erſcheint es ſelbſtverſtändlich , daß die Proſtituierte eine „ un¬
moraliſche “ Rolle ſpiele . Ohne jene Unlogik wäre aber ur¬
ſprünglich gar kein Anlaß zu ſolchem Werturteil geweſen .
Es war für die ſich entwickelnde Menſchheit an ſich nichts
Unmoraliſches , daß ein Weib mit mehreren Männern verkehrte .
Es widerſprach das der Dauerehe , aber wir haben geſehen ,
daß dieſe Dauerehe ſich erſt langſam aus der Zeitehe heraus¬
kryſtalliſiert hat , und wir reden eben ja gerade von Möglich¬
keiten , wo das Soziale bei den Menſchen die Ehe überhaupt
wieder durchkreuzte . Es war auch nichts Unmoraliſches , daß
ein Weib auf ſeinen materiellen Wert taxiert wurde und daß
der Werber eine Herde Ochſen zahlte , um es zu gewinnen ;
dieſes Prinzip beherrſcht gerade die Ehe in ihren ganzen
menſchlichen Anfängen , es iſt keineswegs von der Proſtitution
ausgeheckt worden . Es war endlich auch an ſich nicht un¬
moraliſch , unter Umſtänden die Lebenswelle zwecklos zu ver¬
ſchleudern , den Trieb auszuleben , ohne ſeinen tiefſten Sinn
zu erfüllen . Wo ſollte die Kritik der Ehe hin , wenn ſie
rigoros dieſe Forderung durchdrücken wollte , daß der erotiſche
Akt nur vollführt werden dürfe ausgeſprochen zum Zeugungs¬
zweck und nach dieſer Erfüllung jedesmal ſo und ſo lange
überhaupt nicht mehr . Hier kommen ſtärkere Naturdinge in
Betracht , als wir ſind . Der Menſch iſt uns von Anfang an
gegeben mit dieſen ſeltſamen Thatſachen ſo langer Trag- und
Nährzeit beim Weibe — und andererſeits ſo faſt permanenter
Brunſtmöglichkeit viele Jahre lang . Das ſind Thatſachen , an
denen einſtweilen nichts rüttelte , mit ihnen mußte die Menſch¬
heit als oberſter Reallogik ſich auseinanderſetzen , ſo gut es
ging . Vergiß auch nicht , daß gerade die ſtreng monogamiſche
Dauerehe nur möglich war mit dieſer Vorausſetzung zahl¬
loſer Akte , von denen feſtſtand , daß ſie im Sinne wirklicher
Zeugung ſinnlos waren , beiſpielsweiſe während der Schwanger¬
ſchaft der Frau . In der Polygamie konnte der Mann , deſſen
Liebesbereitſchaft ohne größere ſelbſtgeſetzte Pauſen viele Jahre
fortdauerte , die Frauen je nachdem wechſeln , theoretiſch , wenn es
not gethan hätte , 365 mal im Jahr , und theoretiſch jedesmal
zu echtem Zeugungsakt . Mit einer Frau dauernd leben , er¬
forderte aber auf dieſe Ziffer ungezählte Kompromiſſe . Von
den Wünſchen der Frau ſelbſt ganz zu ſchweigen , deren ero¬
tiſcher Trieb ihr ebenfalls durchaus nicht ſo überkommen iſt ,
daß er etwa auf zwei Jahre Schwangerſchaft und Nähren
mit einem einzigen Konzeptionsakt , zufrieden wäre . Womit ſich
dann noch jene ärztlichen Geſichtspunkte einten , die unter
beſtimmten geſundheitlichen Vorausſetzungen überhaupt die Kon¬
zeption individuell lieber ausſchloſſen , ohne doch in dieſen
Individuen den erotiſchen Trieb ſelber mit einer Fiſchblaſe
oder einem Peſſarium abſperren zu können .
Eine ganze Kette widerwärtiger Erſcheinungen des Proſti¬
tutionslebens von heute , die uns ohne weiteres in den Begriff des
Unmoraliſchen mit eingehen , ja ihn wohl am ſtärkſten vordrängen :
die individuelle Verrohung und geiſtige Verwahrloſung der Mädels ,
die alle Degenerations- und Anachronismuserſcheinungen unſerer
Kultur in ſcheußlichſter Fratze zu vereinigen pflegt , das Zuhälter¬
weſen und anderes ſind auch nicht Grund der Moralverachtung ,
ſondern eine Folge dieſer Verachtung , wie ſie lange Jahr¬
hunderte geübt worden . Sie ſind die Giftblüte eines fort¬
geſetzten Lebens in der öffentlichen Verachtung , in ihnen ſteckt
die furchtbare menſchliſche menſchliche Tragödie des Proſtitutionsweſens . Es
berührt das ein Kapitel , wo jenes oben erwähnte Martyrium
der Unlogik den ſchon feiner organiſierten Geiſt aufs ſchmerz¬
hafteſte immer wieder verletzt . Jeder Verbrecher iſt der Mär¬
tyrer ſeiner Unlogik . Auch ſein Kampf hat einen tiefſten Sinn :
den Sinn des Adabſurdumführens eines falſchen Prinzips .
Aber es iſt doch individuell ſtets eine Tragödie , gerade ein
ſolches negatives Fortſchrittsmoment durchfechten und mit ſeinem
Kopf zahlen zu müſſen . Mit einer Grauſamkeit ohne Erbarmen
hat die Kultur auch die Proſtituierte gefoltert , ſie zur Wilden
und zur Verbrecherin hinabgeſtoßen . Die Folgen ſind vor aller
Welt Augen , aber als Folgen . Die Moral ſelbſt iſt älter als
ſie und keineswegs erſt ihr Produkt . Im Urbilde der Proſti¬
tuierten liegt an ſich noch keineswegs , daß ſie halb idiotiſch ,
beſoffen , roh und die Genoſſin eines Banditen ſei , dem ſie
ſich in der Not ihres rechtloſen Daſeins angeſchloſſen hat .
Aber es liegt ſchon in ihm , daß ſie ein unlogiſches Prinzip
vertritt . Ein Prinzip , das das Liebesleben der Menſchheit
innerlich auflöſt . Und das hat der moraliſch bildende Inſtinkt
allerdings von früh an erfaßt .
Aber löſen wir die Proſtituierte wieder aus unſerm Bilde .
Laß die arme ſterile Luſtameiſe mit ihrem verpfuſchten Lauf
durch die Menſchheit ruhig fallen . Wirf auch alles nach , was
bloß daran anklingt . Es iſt deſſen auch in unſerer Kultur
ja mehr , als man gemeiniglich Wort haben will . Ich denke
an Proſtitutionszüge mitten in unſeren Ehen . Frauen , die aus
offen erklärtem Leichtſinn , aus den Bequemlichkeiten der Welt¬
dame heraus auch in der Ehe überhaupt keine Kinder mehr
haben wollen und in dieſem Punkt mitten in der ſchirmenden
Geſellſchaftsform der Ehe ein mehr oder minder verblümtes
Kokottendaſein führen , dem es meiſtens auch an ſonſtigen Ähn¬
lichkeiten nicht fehlt . Dann Verſchiebungen und Hemmungen
der natürlichen Liebeswahl durch Irrwege der Erziehung ,
die das junge Mädchen vielfach garnicht fähig machen , eine
echte individuelle Liebeswahl zu treffen , die es dann plötzlich
in die Ehe werfen , wobei ihm nachher erſt die Augen auf¬
gehen , wie es ſeiner Natur nach hätte wählen ſollen . Wer
in unſer Leben ernſt hineinſchaut , ohne ſich durch Worte täuſchen
zu laſſen , der ſieht ſolche und verwandte Züge die Menge , die
das Wort Ehe nur ſehr ſchlecht übertüncht , auf denen allen
aber der Fluch des Proſtitutionsweſens tauſendfach ruht .
Doch es giebt da noch eine zweite und viel intereſſantere
Linie , die auch bei jenen freien Flötenhausmädchen im Urwalde
anknüpft .
Jene ſoziale Liebesform , die über die Ehe hinweg ſpringt ,
braucht ja die Schäden der Proſtitution nicht zu umſchließen .
Das Flötenhausmädchen könnte ſo gut ſeine Kinder kriegen wie
die Ehefrau , — wie das denn bei den Bakaïris auch wirklich
der Fall zu ſein ſcheint . Auch das Flötenhausmädchen brauchte
ſich nicht wahllos und zwangsweiſe jedem Manne hinzugeben ,
der es haben will , es könnte eine gewiſſe Wahlfreiheit ſich
wahren trotz der größten Liberalität im Verſtreuen ſeiner Liebes¬
gaben an viele verſchiedene Männer . Und es brauchte , an
dieſen Stellen logiſch geſchützt , keineswegs der allgemeinen
moraliſchen Verachtung zu unterliegen , — wieder ein Punkt ,
der ſchon bei den Bakairis wirklich erfüllt ſcheint .
An dieſer Stelle tauchen in dem großen , jahrtauſendalten
Traum der Menſchheitsſeele nicht die Fratzen und geſchminkten
Totenmasken armer Proſtitutionsopfer auf , ſondern es ſchieben
ſich im Gegenteil Phantasmagorien von berückender Pracht ein ,
wunderbare Sehnſuchtsbilder des ekſtatiſchen Schauens in ein
höchſtes Weltenglück .
Da wird paradieſiſche Himmelsſeligkeit gemalt , in die der
Brave nach ſeinem irdiſchen Tode eingehen ſoll . Der Mohamme¬
daner denkt ſich ein Erwachen auf blumiger Wieſe , wo ihn
ſchöne Mädchen umringen , die Mädchen des Paradieſes , die
nicht als Ehefrau zu einem Einzelnen gehören und doch alle
ſüßeſte Harmonie und Seligkeit höchſter Liebe ihn endlich ganz
auskoſten laſſen . Der Orient hat das in glühenden Sinnen¬
farben ausgemalt . Aber auch Goethe träumte von der Houri ,
in deren Armen er aufwachen würde und die zu ihrem Dichter
ſpräche : „ Sing mir die Lieder an Suleika vor , denn weiter
wirſt du 's doch im Paradies nicht bringen . “ Und wieder
ſolche ins höchſte idealiſierten Flötenhausmädchen ſind es , die
im Traum des alten Germanen als Walküren den tapfer ver¬
bluteten Krieger empfangen zu ewiger freier Sonnenliebe in
der ewigen Methalle von Walhall .
In unſern Tagen projiziert man ſolche Sehnſuchtsbilder
nicht mehr gern in die Metaphyſik . Man wirft ihr leuchtendes
Farbenband in die reale Zukunft der Menſchheit , in die große
Artunſterblichkeit und ihren Fortſchritt . Auch da aber erſcheint
das Houri- , das Walkürenideal . Das Weib , befreit von aller
Trübe des Proſtitutionshaften , aber auch befreit von den
Schranken der Ehe , ganz Houri , ganz Walküre , das ins
Koloſſaliſche des Ideals geſteigerte Flötenhausmädchen . Es
gehört jedem , dem es ſeine Liebe ſchenken will , und ſo lange
wie es will . Seine freien Liebeskinder aber wachſen auf in
der unendlich ausgegoſſenen Sonne der menſchlichen Gemein¬
ſchaft , glücklicher als heute die ſo ungleich bedachten Ehekinder .
Erſt in ſolchen Bildern wird die Frage glatt , ob nicht
auch beim Menſchen ein beſtändiges Anwachſen , eine unabläſſige
Vervollkommnung des Sozialen im großen Stil den kleinen
Sozialverſuch der Ehe wieder aufſaugen und überflüſſig machen
müſſe als eine Zwiſchenſtufe der Entwickelung , die ihre Schuldig¬
keit gethan hat und nun gehen kann ?
Wenn irgend etwas dabei ſicher iſt , ſo iſt es der unauf¬
haltſame Fortſchritt ſozialer Ordnung in der Menſchheit . Hier
waltet eine ſo ſchlichte Logik , wie zwiſchen den Glasteilchen
eines Kaleidoſkops , die eine Weile durcheinander rollen mögen ,
dann aber unerbittlich in ein beſtimmtes Harmoniemuſter ein¬
fallen müſſen . Noch ſteht die Menſchheit in ungezählten Fällen
auf ihrem Planeten im Stadium dieſes Rollens , und aus den
rohen Zuſammenſtößen quillt Blut und klagt die Stimme der
Unterdrückung und der Not . Aber ſchon ſchweben die großen
Linien des harmoniſchen Muſters über uns wie ein ungeheures
mathematiſches Netz , die Runen einer mathematiſchen Ethik , nur
dem Eingeweihten bereits lesbar .
Die bunten Steine werden ſich ſchon einordnen .
Die Höhle im Kalkfels , wo die Schar Mammutjäger ſich
zuſammenthat , war ein Stoß im menſchlichen Kaleidoſkop hierher .
Chriſtus war einer . Auch was wir heute ſoziale Frage nennen ,
iſt nur wieder einer . Und ſo werden die Jahrtauſende nach
uns noch mehr Worte für große Stationen finden . Am Reſultat
aber , meine ich , iſt kein Zweifel . Auch hier ſchreitet ein Natur¬
geſetz ſeine Bahn . Und was Milchſtraßen harmoniſch gebaut hat ,
das wird auch ein paar hundert Millionen Menſchen auf einem
winzigen Stern ſchließlich in ſoziale Harmonie bringen können .
Aber iſt es das Horoſkop des Untergangs nun zugleich für
die Ehe , was in dieſen ſchönen Sternen glänzt ? Muß ſie unter¬
gehen , dieſes uralte flammende Geſtirn des Liebeslebens , wenn
jenes Sternbild einer friedlich geeinten Menſchheit , in der Not
und Vergewaltigung geſtorben ſind , an der anderen Himmels¬
ſeite langſam hoch und höher ſteigt ?
Die Frage berührt intereſſanterweiſe noch eine zweite .
E s geht ein alter Zug durch die denkende Menſchheits¬
ſeele , ihre Zukunftsideale zugleich auch zu projizieren in die
geſchichtliche Vergangenheit .
Das Paradies , das nur das Ergebnis eines raſtloſen
Ringens um ein ganz fernes Lichtideal der Zukunft ſein könnte ,
wird an den Anfang der Erdendinge und Menſchendinge ſchon
einmal hingeträumt . So ſchaut Rouſſeau das Zauberland ſeiner
fleckenloſen „ Natur “ nicht am Ende der Tage , in einer vom
Hochgeiſt der menſchlichen Liebe bezwungenen und geläuterten
Natur , ſondern er ſucht es an der Baſis unterhalb aller Kultur ,
Jahrtauſende jenſeits noch der Menſchenliebe bei nackten Wilden .
In unſeren Tagen war es jene Idee von der Auflöſung der
Ehe in einem ſozialen Ideal , die wieder einmal zu der Zukunft
ſich auch die älteſte Vergangenheit erobern wollte .
Die Zukunft lag ſo blau . Eine realiſtiſchere Epoche wollte
ſich lieber auf den feſten Grund greifbarer Vergangenheitsthat¬
ſachen ſtützen . Jene ſoziale Auflöſung der Ehe , hieß es , iſt
als Zukunftswert im Grunde bloß eine große Heimkehr zu
Anfangsdingen den Menſchheit . Als die Menſchheit ſich aus
dem Tier herauskryſtalliſiert hatte , kannte ſie keine Ehe . Was
ſie mitbrachte , war eine mehr oder minder ausgedehnte Sozial¬
gliederung : größere und kleinere Genoſſenſchaften hielten zu¬
ſammen . In dieſen Genoſſenſchaften aber herrſchte bereits
abſolut freier Geſchlechtsverkehr . Jedes Weib durfte ſo viel
es wollte mit jedem Manne verkehren ; die Kinder aber gehörten
gemeinſam dem ganzen Stamm . Wohl bemerkt : es fehlte in
dieſer eheloſen Ungeſellſchaft völlig der Begriff der Proſtitution .
Die Freiheit des Geſchlechtsverkehrs umſchloß weder einen
Zwang für die Frau , der die Liebeswahl ertötet hätte , noch
hemmte ſie die natürliche Kinderproduktion .
Nichts konnte alſo unglücklicher gewählt ſein als das Wort ,
das ein erſter Beobachter in dieſe Dinge hineinbringen wollte :
die Bezeichnung dieſes Urzuſtandes nämlich als „ Hetärismus “ ,
— als ſei er eine Stufe allgemeiner Proſtitution geweſen . Es
war freilich nicht leicht , überhaupt ein treffendes Wort zu prägen .
„ Gemeinſchaftsehe “ , das vielfach aufkam , iſt auch ſchlecht , denn
wenigſtens im reinen Anfangsbilde kennt dieſe Theorie ja über¬
haupt keine Ehe und gerade darin liegt ihr eigenartigſter Beſitz ,
den das Wort auch nur wieder trüben würde .
Doch laſſen wir das Wort . Aus dieſem freien Urboden
wäre erſt innerhalb der Geſchichte das Pflänzlein der menſch¬
lichen Ehe aufgeſproßt , beſonnt und begoſſen nur durch Dinge ,
die lediglich eine vorübergehende Bedeutung im großen Menſch¬
heitsheraufgang beſitzen konnten . Die anſchaulichſte Fortſetzung
der Theorie lautet hier etwa folgendermaßen .
Von der reinen Allvermiſchung als Urzuſtand aus kann
man zunächſt gar nicht auf die Ehe geraten , wenn nicht etwas
ganz Neues hinzutritt . Laß den ſtrengen Totemismus ſich
ausbilden . Erſt wird innerhalb jeder Totemſippe frei geliebt .
Das ſoll aber zu Inzuchtsgefahren führen und ſo wechſeln die
Sippen ihre Weiber übers Kreuz . Aber es entſteht noch
immer keine Ehe , ſelbſt wenn das Geſetz aufkäme : innerhalb
des eigenen Totem darf nicht mehr geliebt werden . Stamm
zu Stamm ſtände dann einfach im Stadium des Genoſſen¬
ſchaftsbeſitzes in der Liebe : allen Stammesbrüdern gehörten
alle Stammesſchweſtern von drüben gemeinſam , allen Büffeln
etwa alle Bärinnen . Und doch ſoll die Ehe in dieſer
Gegend in das Spiel hineingeraten ſein . Sie kam durch
den Frauenraub !
Alle Weiber im Stamm gehörten allen Männern , hier
gab es kein eheliches Monopol , keine Anfänge von Privatbeſitz .
Jede Frau machte , was ſie wollte , und verkehrte , mit wem ſie
wollte , ohne daß irgend ein Einzelmann ein Recht gehabt hätte ,
ihre Liebe für ſich zu beſitzen . Aber die Männer zogen hinaus ,
ſie zogen in den Kampf mit fremden Stämmen . Wild ging
es da her . Beute wurde gemacht , Schätze und Waffen — und
auch Frauen . Die Beute wurde verteilt . Da erhielt jeder
Tapfere auch ſeine Frau oder ſeine Frauen zuerkannt , wie man
ihm ein Schwert , einen Goldſchmuck zuerkannte . Sie „ beſaß “
er fortan wirklich , ſie waren zugleich ſeine Sklavinnen und ſeine
Frauen . Wer ſie ihm anrührte , brach den Rechtsvertrag der
Kampfgenoſſen . Wie jeder früher ſein Stück Fleiſch vom gemein¬
ſam erlegten Mammut erhalten hatte , ſo hatte er jetzt ſein
Stück lebendiges Menſchenfleiſch rechtlich erhalten und da durfte
ihm kein anderer daran . Dieſe Frau aus der Kriegsbeute
aber , ſo ſchließt die Theorie , war die erſte „ Ehefrau “ . Privat¬
beſitz , Inventarſtück , Sklavin des Mannes , des Einzelmannes .
Je mehr die ſchrankenloſe Liebesvermiſchung aller mit allen im
Stamme zurücktrat , der Inzuchtsgefahr wegen , deſto mehr ver¬
legte jeder Mann ſeine erotiſchen Wünſche auf dieſe eroberten
Weiber , die ihm folgen mußten und zwar ihm allein . Erſt
jetzt , mit der Eheſklavin , der Frau in der Allgewalt des Mannes ,
kam der Begriff des Ehebruchs auf , des Rechtsbruchs , deſſen
ſich der Verführer am fremden Gut , der Auflehnung , deren
ſich die Ehebrecherin als Sklavin ſchuldig machte .
So endete mit der Ehe die Freiheit der Frau . Jahr¬
tauſende der wehrloſen Verſklavung zogen für ſie herauf . Bis
endlich das ſoziale Leben wieder die Kraft gewinnt , wie all¬
gemein , ſo auch hier die Kette des Privatbeſitzes zu ſprengen .
Die alten Spuren des Raubes ſchwinden . Indem alles in die
Geſellſchaft , die ſoziale Einheit ſich auf höherer Stufe wieder
auflöſt , kehrt auch die Frau dorthin zurück . Sie wird wieder das
freie Weſen , das nur ſich und die Geſellſchaft anerkennt , aber
nicht den Privatbeſitzer , der ſich vergewaltigend dazwiſchen geſtellt .
Und ſo rauſchen die Blütenzweige des Zukunftsparadieſes wieder
über den alten Quell und finden ihr Spiegelbild da unten wieder .
Es war ſo viel , was in dieſe moderne Schöpfungs¬
geſchichte der Ehe bedeutſam einklang . Das ſtolze Vertrauen
auf den endlich erwachenden allbeglückenden Sozialgeiſt über¬
haupt . Und dann die Stimme der Sehnſucht der Frau von
heute , die ebenbürtig neben dem Manne ſtehen will inmitten
dieſes knoſpenden Sozialfrühlings . Alles Erringen ſchien da
leichter , wenn man ſich ſagen durfte , daß man nur die goldenen
Kugeln zurückeroberte , mit denen die Menſchheit als unſchuldiges
Kind ſchon einmal geſpielt hatte .
Theorien , in denen in dieſer Weiſe Herzblut einer tiefen ,
großen , heilig ringenden Zeit ſteckt , ſind ſchwer mit kühlem
kritiſchen Wort des Forſchers abzuthun . Ob die Form fällt :
es ſteht ein Geiſt in ihnen immer wieder auf .
Wenn du die Linie der Theorie , wie ſie hier im loſeſten
Aufriß gegeben iſt , vergleichſt mit dem breiten Unterbau , wie
ich ihn dir aus dem höheren Tierreich für Ehe wie Soziales
aufgemauert habe , ſo wird dir der Kern klar werden , um den es
ſich bei der Wirklichkeitsfrage der Theorie allein handeln kann .
Die Ehe war vor dem Menſchen ſchon da , — dieſer Satz
ſteht feſt und wer ihn leugnen will , der muß die ganze Tier¬
kunde über Bord werfen , alſo das große Geneſisbuch unſerer
modernen Menſchenbibel . Neben der Ehe war freilich auch
das Soziale ſchon gegeben , im Tier unterhalb des Menſchen
ſchon gegeben .
Und jene erſte Theſe der Theorie läuft auf Grund dieſer
Urſätze alſo hinaus auf die einzig diskutierbare Frage : ſollen
wir uns denken , daß der Menſch bei ſeinem Auftreten bereits
ein ſo ſoziales Tier war , daß das Soziale bei ihm die Ehe
bereits vollſtändig wiederaufgelöſt hatte ?
Der Urmenſch jener Theorie hätte ſich in einem Stadium
befunden , wie es bei den Pinguinen etwa bereits ſich nähert ,
bloß noch ein Stück weiter vorgeſchritten .
In dieſer Faſſung iſt die Sache , wie geſagt , überhaupt erſt
diskuſſionsfähig , wenn man nicht der Zoologie , in deren Lehr¬
buch der Menſch doch einmal hineingehört , ins Geſicht ſchlagen
will . Jetzt fragt ſich aber , was für die Vermutung an Be¬
weiſen beigebracht werden kann , denn ohne weiteres klar iſt
nach ſonſtiger Tieranalogie ein ſolcher ſozial ſchon aufs Höchſte
geſteigerter Uranfang des Menſchentiers durchaus nicht .
Die Beweiſe ſind nun durchweg ſchwach .
Sie hatten , als ſie zuerſt kamen , allerdies etwas Ver¬
blüffendes , weil eine ganze Menge intereſſanter Dinge , die
wir ſchon beſprochen haben , als da ſind Mutterrecht , Frauen¬
raub , Totemismus mit Kreuzehen und ſo weiter , bei Ge¬
legenheit dieſer Beweisführung zum erſtenmal als Thatſachen
recht ans Licht traten . Aber es fragt ſich , ob gerade dieſe
Thatſachen richtig hineingedeutet ſind in die Theorie .
Eine Zeit lang hieß es , die Erde ſei heute noch aller¬
enden voll von Völkern , die außerhalb jeder Ehe in regelloſem
Geſchlechtsverkehr lebten , alſo den Urzuſtand lebend vor Augen
führten . Davon iſt es aber wieder ſtill geworden .
In verhängnisvoller Weiſe hatte ſich hier beſonders die
Verwechslung eingedrängt mit jener ſo weit verbreiteten freien
Liebelei der noch Unverheirateten . Du haſt geſehen , wie ſie
eine Konzeſſion an die möglichſt intenſive Liebeswahl darſtellt ,
die gemacht wird , gerade weil die Ehe beſteht und in möglichſt
feſter Form beſtehen ſoll .
Anderswo ſind Phaſen mit der Ur-Phaſe verwechſelt worden ,
die eben nach jener Theorie ganz ſpäte , nacheheliche ſein
müßten : Fälle von großer Geringſchätzung des Weibes , wie
ſie die auflöſende Wirkung der Polygamie und des Weiberüber¬
fluſſes mit ſich bringt . In ſolchen Fällen liegt den Männern
nichts daran , Weiber auszutauſchen , ſie fühlen ſich wie ein Be¬
ſitzer rieſiger Viehheerden , denen es nicht auf ein Schaf ankommt .
Gerade hier aber iſt das Weib ausgeſprochen „ Beſitz “ , es fehlt
ihm jede eigene freie Verfügung . Wir ſehen in ganz abgezweigte
Arabeskengewinde anſtatt auf den einfachen Urgrund .
Wiederum hat das Umgekehrte verwirrend gewirkt : Ver¬
hältniſſe wilder Völker , bei denen die „ Seltenheit “ der Frau
entſcheidend war . Wenn es in Auſtralien Bräuche giebt , die
einen verheirateten Mann ſeine Frau auch ſeinen ledigen
Brüdern zur Verfügung ſtellen laſſen , ſo ſollte das ein bedeut¬
ſamer Abendrotſtreifen einer Sitte ſein , da Brüder ihre Frauen
gemeinſam hatten , und das wieder ging zurück auf Genoſſen¬
ſchaftsbeſitz an allen Stammesfrauen oder auch auf zwei Stämme ,
von denen alle Stammesbrüder des einen alle Stammesſchweſtern
des andern in freier Liebe beſuchten . Aber wo immer ſolche
Spuren aufgetaucht ſind , da ſind ſie — abgeſehen von der
großen Unklarheit der Überlieferung an ſich , die gewichtige
Beweisſtücke raſch wieder zum Unkenntlichen verflüchtigt hat —
immer und immer wieder erklärbar durch den Verdacht der
Seltenheit . Das Weib iſt in dieſem Falle eine Koſtbarkeit ,
zu koſtbar für einen Mann . Mehrere müſſen ſich teilen darein ,
und am naheliegendſten iſt da , daß es Brüder thun . Eine
zwangsweiſe Vielmännerei ( Polyandrie ) ſtatt Polygamie iſt
hier in die Ehe geraten , aber die Ehe ſelbſt bleibt unberührt ,
ſie iſt das ältere , das nur auf einen Kompromiß auch hier
eingegangen iſt .
Endlich ſind ins Feld geführt worden ſonderbare Dinge , die
da und dort in der Naturgeſchichte des Menſchentiers ſpuken
und in denen in der That ziemlich deutlich gewiſſe Auflöſungen ,
18
Anätzungen der Ehe durch das Soziale merkbar werden im
Sinne deſſen , was ich dir früher erzählt habe . Aber immer
fehlt der Beweis , daß es ſich auch dabei um Reſte eines
ſchon einmal in Urtagen voll erfochtenen Sieges und nicht viel
mehr um kleine Anſätze und gelegentliche Verſuche bloß zu
ſolchem Siege handle .
Da iſt das berühmte jus primae noctis . Es iſt mit ſo
viel Sagen und Fabeln umgeben , daß ſeine wahre Geſchichte
zur Zeit noch gar nicht erzählt werden kann . Nur der Ideen¬
kern ſei dargelegt .
Gehen wir an die Sache mit einem modernen Bilde , ſtatt
ein Kapitel aus alten Ritterromanen zu erzählen . In einem
großen Warenhauſe einer modernen Weltſtadt befinden ſich
ein Chef und ſo und ſo viele Verkäuferinnen , ſorgſam zuſammen¬
geſuchte hübſche Mädchen . Dieſe Mädchen mögen ihre privaten
Liebſchaften haben . Aber es iſt hergebracht , ein ungeſchriebenes
Gewohnheitsrecht , daß der Chef ſie vorher einmal verführt ,
einmal beſeſſen hat . Es iſt ſein Chefrecht , das auch hier ge¬
wahrt bleibt . Der Fall iſt leider nicht aus der Luft gegriffen .
In dieſer loſen Form iſt das „ Recht auf die erſte Nacht “
( jus primae noctis ) zweifellos in der Menſchheit immer wieder
aufgetaucht und geübt worden , ſo lange es „ Chefs “ giebt , —
ſetze dir an Stelle des Warenhauswortes nur ein Dutzend
nahe liegende andere .
Inwieweit dieſes ungeſchriebene Gewaltrecht in näheren
oder ganz grauen Tagen ein faktiſches „ Recht “ geweſen ſei ,
alſo etwa der Gutsherr oder Ritter von ſeinen Bauern amt¬
lich fordern konnte , daß man ihm die Blüte der Braut opfere ,
wenn er nicht dem untergebenen Paare einfach den Heirats¬
konſens verſagen ſollte — das iſt eine hiſtoriſche Streit¬
frage , deren dickes Aktenbündel wir hier nicht aufblättern
wollen .
Sicher aber iſt , daß beim Menſchen auch hier nur etwas
durchbricht , das beim Tier ſchon ganz klar gezeichnet iſt . Du
haſt den Affenhäuptling geſehen , dem über die Köpfe aller
Ehepaare in der Herde hinweg als „ Chef “ noch einmal alle
Äffinnen kollektiv angehören , ſo oft er ſie haben will . Hier
kreuzt das ſoziale Recht des Stammesanführers in der That
die Einzelehe . Ich habe dir auch betont , daß da eine „ Mög¬
lichkeit “ lag , in fortgeſetzter ſozialer Ausbildung die Ehe wirk¬
lich im Grunde zu erſchüttern . Wenn die Menſchheit ſchon
vom Affen vererbt Bräuche nach Art des jus primae noctis
mitbrachte , ſo hatte ſie dieſe „ Möglichkeit “ alſo auch mit
„in ſich “ .
Aber die ganze beſtehende „ Thatſächlichkeit “ des menſch¬
lichen Liebeslebens iſt ein eklatanter Beweis , daß es bei dieſer
„ Möglichkeit “ ohne beſonderen Fortſchritt des Prinzips auch ge¬
blieben iſt .
Die echte Ehe hat triumphiert und das jus primae noctis
iſt bis auf den heutigen Tag in allen ſeinen Formen als ein
äußerſt fataler Zwang empfunden worden . Es iſt ja auch
erklärlich , was da entgegenarbeitete . Das „ Recht “ warf einen
ſozialen Zwang zwiſchen die individuelle Liebeswahl , brachte alſo
etwas von dem einen großen Schaden der Proſtitution in die
Sache . Das Weib wurde aus einer freiwilligen ſozialen Mit¬
helferin wieder einmal ſtärker darin zur „ Sklavin des Sozialen “ .
Das ſoziale Verdienſt des Führers ſollte ſie büßen durch eine
Einbuße an ihrem freien erotiſchen Wahlrecht : ſie mußte ihm
zu Willen ſein , wenn er kam . So iſt das jus primae noctis
mit aller Wucht von der Morallogik zurückgedämmt worden ,
anſtatt ein Keim echter ſozialer Eheauflöſung zu werden . Wie
anders klingt das aber , als das Wort der Theorie : das jus
primae noctis ſei als der Reſt eines urſprünglichen Beſitzrechtes
18*
aller Männer des Stammes auf alle Weiber anzuſehen , das
ſich ſymboliſch endlich in dem Stammeschef konzentriert hätte :
indem ſie ſich von ihm entjungfern ließ , ſoll die Braut ſich
ſymboliſch noch einmal von dem großen Stammesbeſitz für die
Privatehe losgekauft haben . Was wird wohl jener Chef des
erwähnten modernen Warenhauſes von ſolcher ſymboliſchen
Rettung prähiſtoriſcher Geſellſchaftszuſtände wiſſen ! Er probiert
einfach das alte Pavianprinzip aus eigener Machtmöglichkeit
heraus neu , wie es millionenfach ſo probiert worden iſt . Ge¬
legentlich , wo die Macht lange unbeirrt ſo beſtand , mag ſich
das zu einem „ Recht “ wirklich geformt haben . Aber jene
Gegenſtrömung hat es ebenſo oft wieder ausgemerzt und ſie
wird es heute an allen ſolchen „ Machtſtellen “ immer wieder
ſchließlich ausmerzen . Um fort und fort noch lebendige Mög¬
lichkeiten der Menſchen handelt es ſich hier wie in ſo vielen
Fällen , — nicht um Symbole und Reliquien . Die Möglich¬
keit ſpinnt ſich vom Pavian des Urwalds bis zu uns im blauen
elektriſchen Licht der Großſtadt . Daß ſie ſchon einmal inner¬
halb dieſer Linie abſolut erfüllt und dann erſt wieder zurück¬
gedrängt wäre , iſt pure Konſtruktion ohne jeden Grund .
Als eine Variante dieſes jus primae noctis des Gewalt¬
herrn iſt das religiöſe Jungfrauenopfer dann ausgeſpielt
worden .
Das gangbare Beiſpiel ſtammt aus dem alten Babylon .
Ehe das Mädchen heiraten darf , muß es in den Tempel der
Venus Melytta gehen und ſich dort einem unbekannten Manne
preisgeben . In dieſer Grundform ſollte auch ein uralter Ge¬
ſellſchaftsbeweis liegen . Die Frau kaufte ſich auch durch dieſen
Tempelakt gleichſam noch einmal vom Urzuſtande los , in dem
ſie allen Männern gehört hatte . Und das klingt ja wieder ſo
plauſibel . Aber es iſt die Erklärung , wie ſie eine Zeit in die
Dinge hineininterpretiert , die von der Wucht des Religiöſen
in der Menſchheit keine Ahnung hat .
In Wahrheit handelt es ſich hier um etwas unvergleich¬
lich viel komplizierteres als es das einfache Herrenrecht und
Pavianrecht des jus primae noctis darſtellt .
Der Akt im Tempel der Liebesgöttin zu Babylon iſt ein
Gottesopfer . Den Göttern wird unter Umſtänden alles dar¬
gebracht : heute die erſte Frucht des Feldes , die ihnen lieblich
als Brandopfer duftet , morgen ein Widder , dann gar ein
Menſch , der auf dem Altar verblutet , dem das rauchende Herz
mit ſcharfer Steinklinge aus der Bruſt geſchnitten wird wie im
alten Mexiko , der im hohlen Bauche des ehernen Molochbildes
gebraten wird . In dieſe Steigerung gehört auch die weibliche
Unſchuld , die Jungfrauſchaft . Wohl liegt ein geſteigerter Sozial¬
gedanke ganz tief auch hier darunter : der Gott iſt der aller¬
oberſte , abſolute Herrſcher , dem alles zuſammen mitgehört und
zuerſt gehört , was der Einzelne hat . Aber das hat ſich dann
durchgewühlt durch das ganze Labyrinth menſchlicher Phantaſie ,
hat die ganzen unendlichen Komplikationen des Religiöſen er¬
fahren .
Die Götter ſind keine bloß ins Rieſige vergrößerten Sym¬
bole ſozialer , wirtſchaftlicher Dinge . Es ſind wilde Traum¬
geſtalten , Halluzinationen , leibhaftig die erregte Phantaſie durch¬
wandelnde Geſpenſter . Wie das Waldgeſpenſt wirklich mit
Steinen wirft oder den Bauern Milch forttrinkt , ſo kommt
der Alp , der Nachtmar , nachts zu der Jungfrau ins Bett und
raubt ihr die Jungfrauſchaft . In ſolche ganz realiſtiſchen
Bilder der religiöſen Phantaſie muß man ſich zuerſt eindenken .
Der Alptraum , das Fieber , der Wahnſinn , die unberechenbar
aus dem Innern heraus ſchaffende Phantaſie , die ganze Grenze ,
wo die Welt ſchwankt zwiſchen etwas von außen mir Gegebenem
und meiner ſelber weltſchaffenden Vorſtellung , — dieſes un¬
geheuere Gebiet des Überwältigenden , das aus dem Menſchen
ſelbſt quoll , ob er auch die Augen geſchloſſen hielt , ob er wie
tot da lag und von allem ſonſt Sichtbaren nichts ſah , — —
das iſt die eine tiefe Urwurzel religiöſen Grübelns , die mit
Sozialem , mit Wirtſchaftlichem , mit Ehe , mit alledem zunächſt
gar nichts zu thun hatte . Was hierher ſtammt , will auch ganz
beſonders verrechnet werden .
Verfolgt man auf die rein religiöſe Linie hin , ſo erhält
man viel deutlichere Bilder als das alte ſagenhaft ausgeſchminkte
aus Babylon als Grundphänomen . In Indien iſt es noch
heute der Gott ſelber , der die Jungfrauſchaft raubt , freilich
der Gott im Sinne ſchon der Verkörperung , der Bannung gleich¬
ſam des Unberechenbaren , Geſpenſtiſchen in ein greifbares
Götzenbild . Das Götzenbild iſt ſchon eine Stufe des Aus¬
wegs . Das ganz Inkommenſurable des Geſpenſtes iſt ein¬
gefangen in ein äußeres Bild , die Phantaſie hat ſich befreit ,
hat geboren , geſchaffen . Mit dieſem Götzenbild läßt ſich jetzt
ſchon erträglicher leben . Der Kultus umgiebt es , der Prieſter
ſetzt ſich als Wächter , als Sprecher daneben . Das Unberechen¬
bare wird etwa ſo berechenbar !
Nun denn : das Götzenbild entjungfert alſo auch auf Ver¬
langen . Im indiſchen Lingamdienſt ſetzt ſich die Braut auf das
Götzenbild , das mit einem männlichen Gliede in Nachahmung
verſehen iſt , und wird ſo entblättert , ehe ſie in die Ehe tritt .
Je mehr dann , auf noch weiterer religiöſer Stufe , aber
der Prieſter als Menſch von Fleiſch und Bein wieder das
ſtarre Götzenbild erſetzt , zum Vollſtrecker des Gottes , zum
Geſpenſteraustreiber , zum Medium zwiſchen dem Menſchen und
dem Dämoniſchen wird , deſto näher tritt , daß auch er über¬
nimmt , was urſprünglich der Dämon ſelbſt und dann das
Götzenbild leiſteten . Wie der Prieſter ſchließlich das Opfer¬
fleiſch ruhig ißt , das zur Verſöhnung der Gottheit in den
Tempel gebracht wird , ſo pflückt er die Mädchenblüte , mit der
die Braut ſich vom Dämon loskauft . In Nikaragua entjungferte
der Oberprieſter pflichtmäßig die Braut , und Ähnliches findet noch
jetzt bei indiſchen Brahminen ſtatt .
Wieder von hier iſt aber noch nur ein kleiner Schritt zu
einem weiteren Brauch menſchlicher Nachhilfe , — Nachhilfe durch
den dämoniſierten Menſchen ſchlechthin . Zu den Momenten ,
in denen das Dämoniſche ſich ſelbſtthätig aus der Menſchenſeele
gebar , gehört ſeit alters auch der Rauſch . Ungeheuer iſt ſeine
Rolle in allen Phaſen des niederen , gröberen religiöſen Lebens ,
als heilige Orgie , dämoniſche Trunkenheit . Die Gemeinde der
Frommen berauſcht ſich : jetzt iſt jeder des Dämons voll , er
iſt für eine Stunde aufgelöſt in der Gottheit , der Gott handelt
durch ihn . Das Mädchen , das von ihm in dieſer Orgie des
Dämoniſchen entjungfert wird , verfällt nicht ihm , in der
Schranke menſchlicher Sozial- und Eheſatzungen : es iſt Gottes
geworden durch ihn , hat ſein Gottesopfer gebracht , nach dem es
geläutert , dämonologiſch gerettet zu dem Erwählten ſeines
Herzens zurückkehren kann , ohne daß der Gott es dort mehr
abverlangen wird .
Erſt von hier gerätſt du im wahren Sinne auf die baby¬
loniſche Sachlage , wo ein Beliebiger die Braut im Tempel
entblättern kann , — wenn es nur eben innerhalb der heiligen
Orgie von einem dämoniſch Berauſchten geſchieht . Durch die
Geſchichte aller Religionsſyſteme zieht ſich der zähe Glaube ,
oft verketzert , aber ebenſo oft auferſtanden , daß ſolche Momente
der heiligen Verzückung , die die verſammelte Gemeinde über¬
kommen , alle Moralſchranken brechen und für eine Weiheſtunde
im Reich freier Liebe herſtellen dürften , deſſen Handlungen
keiner folgenden Moralkritik unterlägen . Die erotiſchen Orgien
zahlloſer Sekten zeugen davon , bei wilden wie zahmen Völkern .
Nüchtern phyſiſch geſprochen liegt zweierlei darin : die dumpfe
Anerkennung des Dämoniſchen im Rauſch , des plötzlichen Auf¬
wachens der unberechenbaren Phantaſiegewalten unter dem Ein¬
fluß der Narkotika — und die Erfahrung des plötzlichen , ebenſo
unberechenbaren Erwachens ſtürmiſcher erotiſcher Wünſche durch
den gleichen narkotiſchen Reiz . Iſt der Rauſch vorbei , ſo be¬
greifen alle nicht , wie ſie das thun konnten . So muß es der
Dämon geweſen ſein . Er heiligt alles , auch den erotiſchen
Exzeß , der ſonſt die bitterſten geſellſchaftlichen Strafen forderte .
Von hier verſteht man , daß nicht bloß das Jungfrauenopfer
an die Gottheit in dieſe Orgie verlegt wurde , ſondern auch ,
daß periodiſch wiederkehrende Orgien kleine Zwiſchenreiche freier
Trunkenheitsliebe , wo jeder jedem gehörte ohne Unterſchied ,
im ſonſt ganz feſten Eheleben bilden konnten . Erinnere dich
der antiken Aphrodite-Feſte , der Saturnalien und des ganzen
dem Kultus eng nachſchleifenden Kometenſchwanzes karneva¬
liſtiſcher „ Freizeiten “ bis auf den heutigen Tag .
Es genügt , dieſe für ſich ſo unendlich verwickelte religiöſe
Linie ſo weit aufzurollen , — mehr führte aus dem Rahmen
unſeres Geſpräches zu weit hinaus . Aber du ſiehſt , denke ich ,
dabei wieder das gleiche : nichts in dieſen Dingen weiſt auf
ein ſchon einmal errungenes Urreich ſozialer Freiliebe mit
Ausſchaltung der Ehe . Auch dieſer Liebeskompromiß mit den
Göttern läßt die Ehe als das Urſprüngliche erſcheinen , das auf
Kompromiſſe einging , nichts weiter . Wo die Exiſtenz der Jung¬
frauſchaft für die Ehe eine ſittliche Vorausſetzung war , da
haben alle dieſe religiöſen Dinge offenbar ſogar nicht einmal
die Macht beſeſſen , jene Konzeſſionen zu erzwingen .
Wie mit dieſen Stützen der Theorie , ſo geht 's auch mit
den andern . Das Mutterrecht ſollte unmittelbar auf eine Zeit
deuten , wo für das Kind nur die Mutter genau nachweisbar
war , während der Vater unklar blieb , ſintemalen die Mutter
mit beliebigen Männern des Stammes frei verkehrte . Wie
dort die religiöſe , ſo wird aber hier die mediziniſche , die
embryologiſche Seite überſehen . Du haſt ſelbſt mit verfolgt ,
wie leicht und reſtlos das ganze Mutterrecht auch in einen
Gedankengang ſich einfügt , der einen Urſtand der freien Ge¬
ſchlechtsvermiſchung ohne Ehe weder braucht noch findet .
Verwickelte Verwandtſchaftsbeziehungen bei Indianern ,
Auſtraliern , Polyneſiern , ſeltſame Bezeichnungen da , die uns
unbegreiflich dünken , mußten herhalten als Foſſilien , als
Winkelreſte einer Urverwandtſchaft , die ſich auf Allbeſitz aller
Männer an allen Weibern des eigenen oder eines zweiten
Stammes beziehen ſollten . Aber umſonſt iſt es , in dieſes
Labyrinth mit irgend einer feſten Theorie eindringen zu wollen .
Ein Dutzend Theorien der verſchiedenſten Art laſſen ſich alle
darauf gründen , alle mit Spitzfindigkeiten , alle ohne Gewähr ,
daß ihrer nachträglichen Logik zwar nicht die freie Liebe , wohl
aber die freie Phantaſie und Rechtsklügelei der Wilden ein
Schnippchen ſchlägt .
Dieſe unendlich ſpintiſierende Völkerphantaſie , die ſich in
den tollſten Sittenarabesken manifeſtiert , hat ja unſere Zeit ,
die das Religiöſe überall in ſeiner Wurzelwucht unterſchätzt ,
ebenſo willig vernachläſſigt , — die Theorien dieſer Zeit büßen
aber auch dafür . Sie haben nur zu oft etwas an ſich von
dem Mathematiker , der feſtgeſtellt hat , daß die gerade Linie
die kürzeſte Verbindung zwiſchen zwei Punkten ſei , und der
nun für abſolut ſelbſtverſtändlich hält , daß jeder Wanderer , der
vom einen Punkt kommt und bei dem zweiten anlangt , dieſe
gerade Linie gegangen ſei . Ach , die Menſchheit hat Zeit gehabt .
Sie war verliebt , verträumt , verſpielt , beſoffen , tauſenderlei ,
und alles Auf und Ab dieſer Stimmungen lag auf ihrem
Wege . Ein Röſſelſprung der Phantaſie war dieſer Weg , keine
mathematiſche Linie !
Fällt aber die eheloſe Urliebe im Ganzen dahin , ſo wird
auch die Hilfstheorie ziemlich gleichgültig , die allen menſch¬
lichen Eheanfang aus dem Frauenraub herausdeſtillieren möchte .
Ich gebe gern zu , daß der Frauenraub und Frauenkauf
die Ehe , die vom Sozialen ſtets leiſe angegriffen worden iſt
und das ſicher in Urtagen ſchon ebenſo , immer wieder hat
feſtigen helfen . Er machte das Weib „ ſeltener “ , „ koſtbarer “ ,
indem es aus fremdem Stamm durch Arbeit des Mannes er¬
worben werden mußte , anſtatt ſich ihm im eigenen bequem
darzubieten .
Ganz einſeitig aber wäre es , ſcheint mir , das „ Beſitzrecht “
des Mannes an der Frau im böſen Sinne , das Sklavinnen¬
recht , um das ſchärfſte Wort zu gebrauchen , einfach ſchon aus
dieſem Raubverhältnis oder Kaufverhältnis abzuleiten . Es
brauchte keineswegs daraus zu reſultieren . Brunhild iſt nicht
Siegfrieds Sklavin , weil er ſie erobert hat . Sie iſt es nur ,
wenn eben noch eine beſondere wirtſchaftliche und ſonſtige Dauer¬
lage in der Ehe dazukommt .
Die menſchlichen Verhältniſſe haben maſſenhaft auf ſolche
Lage geführt und dann iſt die Frau innerhalb der Ehe aller¬
dings dem Manne gegenüber verſklavt . Dieſe Linien gehen
bis auf den heutigen Tag .
Daß das Weib im Stadium des Weiberraubes an Wert
ſtieg , kann aber nicht in dieſe Linie gehören . Je koſtbarer ein
Beſitz , deſto geringer das Mitfüßentreten , deſto höher die Ach¬
tung . Das kannſt du ſchon an einem Beſitzer feiner Renn¬
pferde ſehen , wie der mit ſeinen Tieren umgeht . Man könnte
ſich faſt ſtreiten , wer da der Sklave iſt . Erſt innerhalb der
ziemlich überſchaubaren Menſchheitsgeſchichte iſt das Beſitzrecht
des Ehemanns am Eheweibe im gefährlichen Sinne periodiſch
ſtärker geworden , ja es iſt vielfach bis heute zu einer Bedrohung
der weiblichen Individualität ausgeartet .
Dahin wirkte , wie ich ſchon beim Tier erwähnt habe , in
erſter Linie das ungeheure Übergewicht , das der Mann als
ſozialer Führer erlangte . Die Ehe hatte Mann und Frau .
Die Herde hatte aber beim Tier ſchon in der Mehrzahl der
Fälle über dieſen Ehen noch einmal einen Geſamtanführer
und der war — ein Mann . Mit dieſem Schema haſt du
das ganze Ubergewicht auch des Menſchenmannes durch das
Soziale und ſeine Führerrolle darin . Das ſiehſt du noch
heute in unſerem geſamten öffentlichen Leben verkörpert : der
Mann ſitzt faſt ausſchließlich überall im Präſidium , ſobald
mehr als zwei Menſchen beiſammen ſind , er iſt der „ Beamte “ ,
das Staatstier , das die ſozialen Centra beſetzt hält , der ſoziale
Dirigent . Dieſe Machtſtellung verdankte der Mann ſchon als
Lamahengſt oder Pavian zunächſt ſeiner größeren phyſiſchen
Kraft , — dieſer Kraft , von der ich dir ſagte , daß das Weib
ſie ihm urſprünglich ſelber erſt angezüchtet hat . Aus dieſem
ungleichen Verhältnis phyſiſcher Stärke im Bunde mit dem
Sozialen und ſeinem Anführerprinzip ergaben ſich dann aber
wieder wachſende Ungleichheiten , die das Weib auch in der
Ehe „ ſchwächer “ in jedem Betracht machten . Und „ Schwach¬
ſein “ in jedem Sinne umſchließt allerdings ſtets eine wachſende
Wahrſcheinlichkeit der „ Verſklavung “ .
Immerhin wollen wir aber nicht vergeſſen , daß auch die
Gegenſtrömung hier gewaltet hat , die Strömung zur Rettung
der Individualität der Frau in der Ehe .
Ich habe dir früher ſchon wiederholt betont , daß jede
Liebesform den Keim des Todes in ſich trägt , die dauernd zu
einer Vergewaltigung des einen Liebespartners führt . Wäre der
Menſch dauernd auf eine Verſklavung des Weibes eingegangen
und hätte ſeine Entwickelung hierher wachſend eingeſtellt , ſo
wäre er an ſeinem kritiſchſten Fleck unrettbar in der Degenera¬
tionslinie geweſen . Er hat es aber nicht gethan . Überall
neben drohenden Konſtellationen im Menſchheitsſyſtem , die eine
Verſklavung der Frau fürchten laſſen , ſtehen auch die Regu¬
lierungen mit einer feſten Naturgeſetzlichkeit , wie droben im
Planetenſyſtem , wenn Jupiter und Saturn ſich zu nahe kommen .
Eine ſolche Selbſtregulierung war das langſame Wieder¬
zurücktreten der Polygamie . Ein Rieſenruck ſolcher Selbſt¬
regulierung war das Auftreten des Chriſtentums mit ſeiner
Idee der Gleichheit von Mann und Frau vor der oberſten
Welteinheit , mit ſeiner flammenden Beleuchtung des „ Menſch¬
lichen “ über Mann wie Frau und in Mann wie Frau , mit
ſeiner Idealerfüllung der Ehe nicht bloß als einer wirtſchaft¬
lichen Arbeitsteilung , ſondern als einer ſeeliſchen Schutzgenoſſen¬
ſchaft zweier Individuen auf dem großen Wege zur Welt¬
harmonie . Eine neue Regulierungsſtufe endlich ſteckt in dem
guten und berechtigten Teile des heutigen Freiheitskampfes der
Frau , deſſen Vorboten übrigens auch ſchon auf eine weite Zeit¬
ſpanne zurückgehen .
Für dieſe Kampfesphaſe von heute ſind beſonders zwei
Punkte wichtig , die allerdings noch keineswegs von allen Be¬
teiligten geſehen zu werden pflegen .
Das Vorrecht der ſozialen Anführerſchaft verdankte der
Mann , wie geſagt , zunächſt und noch in der Tierwelt ſeiner
phyſiſchen Stärke . Das iſt beim Menſchen lange Zeit nur
weiter unterſtrichen worden : der Mann war der „ Krieger “
im Gegenſatz zum phyſiſch hilfloſen Weibe , noch ganz anders
einſeitig als je beim Tier . Aber noch wieder allmählich hat
ſich an Stelle dieſer phyſiſchen Stärke eine intellektuelle , eine
geiſtige geſetzt . Heute tritt in unſerem ganzen Sozialleben
die phyſiſche Stärke ſchon weit zurück gegen die intellektuelle .
Damit iſt aber ein neues Verhältnis geſchaffen für Mann
und Frau . Zunächſt hat der Mann auch mit dieſem In¬
tellekt das Erbe des alten , phyſiſch erworbenen Beſitzes der
Führerſchaft ruhig weiter angetreten . Aber es fragt ſich , ob
das ſo bleiben kann . Es fragt ſich , ob auf dieſem Intellekt¬
boden die Frau ihm jetzt nicht plötzlich wieder gleich „ ſtark “
gegenüber ſteht , ſo daß auch da , wo der reine Konkurrenz¬
kampf grob waltete , die Parteien wieder ebenbürtig wären und
ſich fortan reinlich in die Führerſchaft teilen müßten .
Die beliebte Antwort iſt , daß gerade der Intellekt der
Frau erſt recht ſchwächer ſei als der des Mannes . Urteiler ,
die einer Mode ſchmeicheln und die Wahrheit dafür in Kauf
geben , haben das zum Überdruß „ nachzuweiſen “ verſucht . Es
giebt Einzelfrauen genug , die jede einzeln genügen würden ,
dieſe ganze Spintiſiererei in usum des Herrn-Mannes als
abſoluten Wert unrettbar ad absurdum zu führen . Trotz¬
dem muß man auf eine Entſchuldigung für jene Anſicht
hinweiſen , die ihr einen Schein heute von Recht , nicht vor
Einzelfällen des Genies , wohl aber vor der Allgemeinheit , zu
geben pflegt .
Zwiſchen Intellekt und phyſiſcher Kraft beſteht eine ge¬
heime Beziehung , die zweifellos im Kern bis in die Urthat¬
ſache reicht , daß Körper und Geiſt innerlich eigentlich ein und
dasſelbe Phänomen ſind .
Die große Maſſe unſerer heutigen Kulturfrauen ( bleiben
wir bloß bei denen jetzt ! ) iſt nun körperlich in einer leichten
Weiſe degeneriert .
Es iſt das der Fluch der Nichtbenutzung der phyſiſchen
Kraft bis in Zeiten hinein , wo für dieſe Nichtbenutzung ab¬
ſolut kein Sinn und Grund beſteht .
Die gangbare Meinung iſt ja , das Weib müſſe phyſiſch
ſchwächer ſein als der Mann . Früher ſagte man , das ſei von
Gott ſo geſetzt , ſie ſei halt nur eine Rippe , er das Ganze .
Heute wird uns naturwiſſenſchaftlich bewieſen , daß aus ſo und
ſo viel anatomiſchen und phyſiologiſchen Gründen ein Mi߬
verhältnis beſtehen müſſe .
Mindeſtens ſoll dem Weibe beſtändig ein rieſiger , nicht
einzuholender Kraftverluſt aufgebürdet ſein durch ſeine Ge¬
ſchlechtsarbeit von der Menſtruation bis zum Gebären und
Säugen . Doch auch außerhalb dieſer Dinge wird der weib¬
liche Körper in der Regel heute für weichlicher , leiſtungs¬
unfähiger erklärt .
Ich halte es nun für mehr als ein blendendes Paradoxon ,
wenn ich ſage : das urſprüngliche Verhältnis iſt das umge¬
kehrte . Im Tierreich iſt urſprünglich die Mutter , wie wir
ſchon einmal beſprochen haben , der phyſiſch leiſtungsfähigere
Teil . Sie trägt in ungezählten Fällen die ganze Laſt des
Exiſtenzkampfes genau wie das Männchen , und ſie trägt als
Zuthat obendrein noch ihre ganzen Mutterpflichten . Soll ich
von hier einen allgemeinen Satz bilden , ſo könnte er nur
heißen : die Natur hat , um die Mutterpflichten durchzudrücken ,
das Weib mindeſtens mit anderthalber Kraft ausgerüſtet .
Höher hinauf haſt du dann in der Ehe allerdings die
Arbeitsteilung , die die Sachen etwas verſchiebt . Das Ver¬
hältnis wird eine Weile wieder normal zwiſchen den Ge¬
ſchlechtern : das Männchen nimmt dem Weibchen ſo viel an
Exiſtenzkampf ab , wie das in ſeiner Mutterſchaft an Kraft zu¬
ſetzt . Aber wie ſtark bleibt doch auch da noch das Weib !
Man muß eine Henne beobachten , die ihre Küchlein verteidigt !
Und es kann viel Kraft bleiben , denn im Grunde iſt die
Mutterſchaft überall bis zum höchſten Tier keine aufnutzende ,
ſondern immer eine kraftſtählende , kraftentwickelnde Sache , ihre
Hauptſtationen vollziehen ſich geſund und raſch und die ur¬
ſprüngliche mächtige Kraftnatur ſchlägt immer wieder durch ,
jeden Moment bereit , das alte Plus , wo es not thut , doch
auch noch wieder aus der Reſerve zu ziehen und zur ganzen
Mutterkraft auch noch eine ganze Vaterkraft zu bewähren .
Das geht nun noch ſtark in den Naturmenſchen ein . Wie
leicht werden der Wilden einerſeits noch die weiblichen Pflichten :
erinnere dich nur an die erzählten Fälle vom einſamen Ge¬
bären und vom harten Arbeiten noch am gleichen Tag . Ander¬
ſeits aber : wie enorm pflegt noch die phyſiſche Arbeitslaſt für
den Exiſtenzkampf zu ſein , die trotz aller Ehe und Arbeits¬
teilung auf dem wilden Weibe laſtet .
Aber wiederum höher hinauf verſchiebt ſich das Bild nun
mehr und mehr wirklich . Faſſe ich es im Reſultat zuſammen ,
wie es unſere höhere Kultur dir zeigt , ſo ſind zwei Punkte
darin bezeichnend .
Auf der einen Seite wird das Weib immer mehr von
aller phyſiſchen Arbeit entlaſtet . Es erſcheint uns auf gewiſſer
Kulturſtufe nachgerade wie etwas Verrücktes , daß ein Weib
etwa in der Armee dienen ſollte . Auf der anderen Seite aber
werden die Mutterfunktionen dieſem Weibe immer ſchwerer
und ſchwerer , jede Menſtruation macht ſie zu einer Kranken ,
jede Geburt iſt ein Akt auf Leben und Tod , dem erſt wieder
eine lange Rekonvaleszenz folgen muß , zum Säugen wird ſie
vielfach überhaupt ſchon zu ſchwach , ſo daß die Kraft nicht ein¬
mal mehr ordentlich langt , auch nur dieſen einen Pflichtenkreis
auszufüllen .
Ich kann mir nicht helfen : ich meine , der eine Punkt
erklärt den anderen , im Ganzen aber ſteckt eine gewiſſe Degene¬
rationserſcheinung , die mit dem urſprünglichen Kraftſtande des
Weibes gar nichts zu thun hat . Die Menſchheit hat ihn erſt
aufkommen laſſen , und an ihr iſt es jetzt , ihn auch allmählich
wieder auszumerzen .
Mehr und mehr haben wir das Weib ferngehalten von
der wirklich körperlich ſtählenden , geſund erhaltenden phyſiſchen
Arbeit . Ich erinnere nur an das alte Schreckenswort : der
Ofen und die Frau gehören ins Haus . Ja hinter den Ofen ,
verpäppelt und verzärtelt bis über die Ohren , — ſo hat man
lange genug das Mädchen gehabt , als Käfigvogel , deſſen Kräfte
mit wahrem Raffinement nicht entwickelt wurden . Nun kam
die Zeit der Mutterpflichten — und die unterdrückte , unentwickelte
Kraft verſagte ſelbſt da . Wenn aber das Kulturweib ſich bei
der ſchlichten Mutterfunktion windet und dreht , als gehe
ihm eine fremde Teufelsmacht an den Kragen , ſtatt daß es
hier gerade es ſelbſt in der Blüte ſeiner Kraft iſt , — dann
kommt der neunmal Weiſe und redet vom „ ſchwachen “ Weibe ,
das Schonung und immer wieder Schonung verlangt , das
„ hinter den Ofen “ gehört , damit die geſunde Luft des Lebens
es nicht erkälte . Ich muß an die Tiere des Zoologiſchen
Gartens denken die in manchen Arten von dem Tage , da ſie im
Käfig ſitzen , trotz alles behaglichſten Schlaraffenlebens keine
Jungen oder doch nur Mißgeburten bringen .
Die zunehmende Unkraft des Kulturweibes in ſeinen ge¬
ſchlechtlichen Naturfunktionen ſollte uns das brennendſte Mene
Tekel ſein , daß wir mit unſerer Auffaſſung von der Schwach¬
heit des Weibes völlig auf dem Irrwege ſind . Das Weib
iſt nicht ſchwach wegen Menſtruation , Schwangerſchaft , Gebären
und Säugen : ſondern es iſt in unſerer Kultur ſchwach durch
lange Verrottung und Nichtſtählung ſeiner phyſiſchen Geſamt¬
kraft , und weil es von hierher ſchwach iſt , greifen jene
ſchlichten Aufgaben ſeiner Natur , die urſprünglich auf ein Plus
an Kraft , einen phyſiſchen Reſervefonds berechnet waren , ſein
ganzes Kapital an , ja werden mit dieſem nicht einmal mehr
ordentlich ausgezahlt .
Erſt wenn es uns wieder gelingt , durch Turnen und
alle Sorten geſunder Leibesübung Mädchengenerationen zu
erziehen , deren geſamtes phyſiſches Kraftniveau wieder der
guten Menſchenhöhe ſich nähert , werden auch dieſe ſpezifiſch weib¬
lichen Geſchlechtsleiſtungen wieder ins „ geſunde “ Niveau
kommen .
Den treuen Eckarden , die da meinen , die echte natur¬
beſtimmte „ Weiblichkeit “ des Weibes möchte leiden durch Aus¬
bildung der Körperſtärke in angeblich „ männlicher “ Muskel¬
ſtählung und phyſiſcher Durcharbeitung und Ausarbeitung des
ganzen körperlichen Kraftapparats , — ihnen rufe ich zu , daß
erſt dieſe Stählung uns das Weib wieder zur echten Mutter ,
zum echten „ Weibe “ machen wird .
Von hier aber finde ich nun auch die Anſatzſtelle für jene
intellektuelle Frage . Sie iſt , wie ſchon geſagt , im Urgrunde
ſelbſt nichts anderes als eine phyſiſche Frage . Gewiß : wenn
man den Heraufgang der Dinge bei uns anſieht , ſo tritt ein
groß Teil grober Phyſis als überflüſſig zurück in unſerm
Kulturleben , und es wird noch mehr zurücktreten . Studenten
werden ſich in abſehbarer Folge keine blutigen Ehrenkerbe
mehr in die Backen hauen , und Kulturnationen werden nicht
mehr mit Pulver und Blei eine umgekehrte „ Ausleſe der
Paſſenden “ durch Aufopfern ihrer geſundeſten Kräfte in bar¬
bariſch-anachroniſtiſchen Kriegen üben . Ungezählte ſchlechte ,
phyſiſch abnutzende , aber nicht ſtählende Körperarbeit unſeres
Wirtſchaftslebens wird in gleicher Friſt wieder verſchwinden .
Aber erſt recht wird darum der „ geſunde Körper “ wichtig und
immer wichtiger werden als Baſis der intellektuellen Leiſtung :
— der Kulturmenſch wird mehr und immer mehr ſeinen
ganzen Leib als eine Energiemaſchine für die Arbeit ſeines
Gehirns ſchätzen und Pflegen lernen , und ſo wird die höchſte
Stufe intellektueller , vergeiſtigter Kultur auch die höchſte Stufe
raffinierteſter Sorgfalt in der beſtändigen Stählung und Ge¬
ſunderhaltung des Körpers ſein . Es iſt der Geiſt , den wir
ſtählen und geſund erhalten mit dieſem Körper .
Das wieder ergiebt aber für den Kampf der Frau die
große Folgerung , daß jeder Schritt zur körperlichen Beſſerung
der Frau ihr auch die Bahn zugleich aufſchlägt zur wachſenden
Teilnahme an der immer zunehmenden Vergeiſtigung der Kultur .
Die gleiche Frau , die durch Wiederherſtellung ihrer vollen ,
urſprünglichen menſchlichen Körperkraft wieder ihren Mutter¬
pflichten ſich in geſundem , harmoniſchem Sinne gewachſen zeigt ,
wird jenſeits dieſer Pflichten einen neuen Frühling ihres
Intellekts erleben , vor dem alle Ofenweisheit auch von der
geiſtig ſchwachen Frau verſtummen muß .
In der Frau wird nichts Größeres , aber auch nichts
Geringeres erſcheinen , als — der Menſch . Dieſer Menſch
aber in ſeiner Vollkraft , in ſeiner Kraft , die ſtark iſt , heute
in den Sternen zu leſen und morgen ein Kind zu gebären ,
ohne daß eines das andere ſtört .
19
Auch das Tier , das arme , kämpfende , niedrige Tier , hat
ſeine Jungen zur Welt gebracht und aufgezogen — und hat
daneben und trotzdem etwas noch ſo viel Größeres getragen ,
genährt und endlich geboren aus ſich : nämlich den Menſchen .
Auch das Menſchenweib wird beides können , wenn es
ſich auf ſeine ganze Kraft beſinnt : den Menſchen als Kind ,
als das ewige natürliche Evakindlein zu gebären kraft ſeines
Schoßes , — und den Menſchen zugleich als Geiſtmenſchen , als
das ewige Jeſuskindlein , das Geiſtgotteskind , fortzupflanzen
kraft ſeines Gehirns .
A ber dieſe geſchichtlichen Dinge können in Wahrheit
ruhig dahinfallen .
Das Reich der Liebe als Ideal der Menſchheit ſteht und
fällt keineswegs mit der moſaiſchen Kosmogonie , in der das
Paradies ſchon einmal am Anfang der Tage duftet . So
wenig wird der ſoziale Traum mit ſeiner Auflöſung der Ehe
innerlich berührt von der Wahrheit oder Nichtwahrheit irgend
einer Theorie über die ſozialen und ehelichen Anfänge des
Urmenſchen .
Nur ein bisher immer erneutes , aber im Grunde doch
kindliches Streben ſteckt in dieſer ewigen Suche nach einem
Wiederaufleben der höchſten Zukunft in der tiefſten Vergangen¬
heit , als wäre die Weltentwickelung wirklich nur das alte
Symbol der Schlange , die ſich in den Schwanz beißt , und
nichts weiter . Es iſt der gleiche Denkweg , der am Anfang
der Dinge ſich eine ſinnloſe Materie konſtruiert und dann nicht
raſten mag , bis er alle Herrlichkeit der Milchſtraßen und
Menſchenhirne wieder aufgelöſt hat in dieſes Chaos hinein .
Die wahren Beiſpiele der Entwickelung , die wir in der Natur
ſehen , mit ihren geheimnisvollen Phänomenen der Zeugung ,
der Verwandlung , der Überbietung , ſie lauten nirgendwo ſo
einfach . Auch der Baum , der ein Jahrhundert lang gegrünt
19 *
hat , ſtürzt keineswegs ſpurlos wieder in die indifferente Materie
ab , ſondern ſeine Wirkungen als Baum in dieſem Jahrhundert
rinnen individualiſiert durch den folgenden Weltgang in alle
Äonen hinein . Es wird uns endlich allen klar werden , daß
die einzig erſprießliche Projektionsſeite unſerer Ideale die
Ferne vor uns iſt , und daß kein Ideal dadurch beſſer wird ,
daß es ſchon einmal hinter uns erfüllt geweſen ſein ſoll . Vor¬
wärts geht unſer Weg , nicht rückwärts . Und kein Ideal wird
heute mehr dadurch geſchaffen , daß ein vergilbtes Pergament
uns vorgelegt wird mit dem Siegel irgend eines verſchollenen
Jahrtauſends . Gerade darin ſind wir heute neue Menſchen ,
die ſich von ſo unendlich vielen ſtarren , erſtarrten Mächten
der Vergangenheit , von ſo viel Mottenſtaub mit blutendem
Herzen , aber im Banne unentwegter Sehnſucht losgeriſſen
haben auf allen Gebieten des Lebens . Wir haben die Ver¬
gangenheit hingegeben um der Zukunft willen . Jetzt , meine
ich , ſoll es uns auch mehr und mehr gleichgültig ſein , ob
dieſe Zukunft doch nur eine verkappte Vergangenheit , ob das
neue Teſtament unſerer Ideale nur ein wieder erobertes
altes ſei .
Wenn die Menſchheit auch nicht ihre Bahn begonnen
hat ſchon bei einer vollkommenen Auflöſung der Ehe ins
Soziale , ſo bleiben doch die fort und fort zu uns heran¬
ſteigenden Symptome ſolcher Löſung und die große Frage
bleibt , eben als Zukunftsfrage , ob es nicht doch alſo die ideale
Schlußlöſung der Dinge ſein werde : abſolute Zerſetzung der
Ehe durch die ſoziale Organiſation der Menſchheit im folge¬
richtigen Entwickelungsgang der Menſchheit .
Erſt das iſt die Stelle , wo alle jene Fäden , die wir bis
heran aufgeſponnen , ſich zuſammenweben zu der tiefſten ,
ſchwerſten , aktuell für uns beweglichſten Frage : nämlich der
Frage nach dem Dauerwert der menſchlichen Ehe .
Aus der Zeitehe wurde einſt die Dauerehe . Aus dem
Tier wurde der Menſch . Aber nun wandert dieſer Menſch in
ſich aufwärts . Der Menſch von heute iſt ſchon nicht mehr
der vor tauſend , vor zweitauſend Jahren . Unendlich erweitert
iſt der Lichtkreis ſeines Schauens . Was wird er von der
Ehe als Dauerwert darin ſchauen ?
Geben wir uns nach der einen Seite keinen Täuſchungen hin .
Wir haben die Ehe geſchichtlich heraufkommen ſehen auf
allen möglichen praktiſchen Schutzgründen . Sie ſelber ſchien
nur ein kleiner Sozialverſuch . Eine Schutzgenoſſenſchaft baute
ſich in ihr wie ein kleines Bretterhäuslein über dem Quell
der Liebe im großen wilden Erdenurwald . Die Linien dieſer
alten praktiſchen Begründung haben wir nun auch heute noch
allenthalben in unſerem praktiſchen Alltagsehebilde handgreif¬
lich deutlich . Auch wir ſehen noch im Vater den notwendigen
Ernährer der Familie , wir ſehen in der Ehe einen Schutz der
Frau , der Kinder , einen wirtſchaftlichen Kriſtalliſationspunkt
und Schwerpunkt , ohne den die Menſchheit nicht erhalten bleiben
könnte . Täuſchen wir uns aber nicht darüber , daß dieſe
groben wirtſchaftlichen Schutzdinge ſich wirklich eines Tages
bei uns auflöſen müſſen in eine höhere Sozialordnung hinein .
Der wilde Urwald , um in jenem Bilde zu bleiben , mit
ſeinem Dorndickicht , ſeinen Schlangen und Tigern wird eines
Tages zum lichten , ſonnenerhellten Kulturwald ohne Raub¬
gezeug und mit müheloſen Parkpfaden werden . Du magſt dir
das fern oder nah denken , denken mußt du es , wenn du über¬
haupt an einen Fortſchritt der Kultur glaubſt , wenn du in
ihr eine Weltbeſtimmung ſiehſt und nicht bloß ein ſinnloſes
Gaukelſpiel , — von Zukunftswerten aber reden wir ja hier .
Nun denn : in dieſem Kulturwalde wird der Quell der
Liebe kein Schutzdeckelchen von einem Dutzend Tannenbrettern
der Nützlichkeit im groben Sinne mehr brauchen , — er wird
frei ſprudeln dürfen überall , wo er aus ſich heraus die Kraft
zum Sprudeln hat . Wenn die Ehe für ihn nichts weiter
bedeutet , als jenes Bretterhäuschen , ſo wird ſie eines Tages
dahinfallen wie dieſes , muß ſie dahinfallen . Die Sonne des
Parkwaldes will ſich frei ſpiegeln im Quell und darf es fortan .
Der ſoziale Organismus der Menſchheit , aus einfachen An¬
fängen aufwachſend zu einem neuen , höheren Leibe dieſer
Menſchheit , verlegt allen Einzelſchutz in die Geſamtheit der
harmoniſch organiſierten Geſellſchaft . Und dieſe Geſellſchaft
wird die Möglichkeit geben , Kinder zu erziehen und Suppe zu
kochen auch ohne Ehe .
Wenn die Ehe bloß hier auch bei uns verankert liegen
ſoll , ſo wird ſie fallen , denn ſie weicht gerade hier einfach
einer höheren , einer vollkommeneren Anpaſſung der Menſch¬
heit , ſie geht dahin wie die Fiſchkieme oder der Affenſchwanz
in unſerem einzelnen Menſchenleibe dahingegangen ſind .
Geſchichtliche Gründe werden ihr dabei gar nichts nützen ,
denn Alter allein macht nicht heilig , ſonſt könnten auch Mord
und Raub und geiſtige Vergewaltigung heilig gelten . Alle
Geſchichtswerte ohne Gegenwartszweck ſind galvaniſierte Leichen ,
deren Moderhauch hinter noch ſo viel Weihrauch ſchließlich
doch jeden belehrt , wie es um ſie ſteht .
Nach dieſer ganzen Seite dürfen wir uns ſchlechterdings
keine Illuſionen machen . Die ſozialen Siege der Zukunft
werden nichts Halbes ſein , ſie faſſen die Wirtſchaftslinien , die
äußeren Schutzlinien der Menſchheit entweder ganz oder gar
nicht . In dem „ ganz “ aber liegen in jenem Sinne dann in
der That auch die ganzen Wurzeln der Ehe mit : die Ehe
verwebt ſich in den großen Stamm bis zur Unſichtbarkeit , ſie
wird im wirklichen Umfang dann aufgeſaugt vom Sozialen ,
ſie iſt nur noch eine Erinnerung , keine fortzeugende Idee mehr
in der Menſchheitsſeele .
In dieſem Sinne ja !
Die große andere Frage aber iſt , ob die Ehe nicht wäh¬
rend ihrer Exiſtenz doch noch eine zweite und viel tiefere
Wurzel in das tiefſte Erdreich der Menſchheit an einer Stelle
getrieben hat , an die alle Sozialentwickelung nach unabänder¬
lichem Ratſchluß der Weltentwickelung niemals heran kann .
Es fragt ſich , ob in jenem Bilde die Ehe nicht außer
ihrer vergänglichen Rolle als Schutzhäuschen über dem Liebes¬
quell noch eine unlösbare Beziehung hat zu dieſem Quell
ſelber , — ob ſie nicht auch die Leitung iſt , in der dieſer Quell
aus geheimnisvollen Urtiefen der Erde in den grünen Wald
heraufſprudelt , — die Leitung , die auch der große ſoziale
Kulturgärtner dieſes Waldes niemals verſtopfen , ſondern im
Gegenteil mit allem Fleiße heilig und unverſehrt erhalten wird .
Das Einzige , was die Ehe in dieſem Sinne halten
ann , iſt ihr Verhältnis zum Individuellen .
Das klingt ja trivial . Gewiß , wenn alles vom Sozialen
verſchlungen wird , wie von einer großen Sintflut , und es ſoll
doch noch eine Arche gerettet ſein , ſo kann ſie nur durch das
andere Extrem , den Individualismus , oben ſchwimmen . Die
Sache muß enger geſagt werden .
Im Getriebe der Dinge , wie wir ſie überſchauen , giebt
es zwei große feſte Einſchläge .
Der eine iſt vorläufig überſchaubar , berechenbar , durch¬
ſchaubar , iſt greifbar , bewältigbar für unſeren Verſtand . Der
andere iſt , vorerſt wenigſtens , dunkel , unberechenbar , er hat
etwas vom Walten von Imponderabilien ; ich meine damit
nicht eine myſtiſche Unfaßbarkeit , aber einſtweilen eine Schranke
unſeres objektiven Durchdringens .
Der erſte hat ſein Reich im Sozialen , der zweite im
Individuellen .
Aus dem Individuellen ergießen ſich geheimnisvolle
Quellen , fort und fort . Ihren Grund ſehen wir nicht . Dieſe
Quellen bilden aber , ans Licht getreten , alsbald ein ungeheures
Stromnetz , das Soziale . Ungeheuer , wie es iſt , liegt es doch
ganz oben auf der Fläche , und wenn wir nur die nötige Höhe
des Beobachterſtandpunktes gewinnen , ſo können wir hoffen , es
durchaus mit dem Verſtande aufzulöſen . Wir ſehen es zuerſt
in Geſtalt feindlich aufeinander loseilender Wellen . Wilde
Kämpfe toben . Aber aus dieſen Kämpfen geſtaltet ſich endlich
ein feineres harmoniſches Netz mit geregelten Kreisläufen . Der
ſoziale Kampf geht über in ſoziale Ordnung , immer höhere
Ordnung , bis die Harmonie jedes feinſte Äderchen umſpannt ,
das Netz eine wundervolle rhythmiſche Figur bildet .
Inzwiſchen bleibt aber als Vorausſetzung die Thätigkeit
der Quellen von unten herauf . Sobald ſie erlahmte , verſiegte
der ganze Strom , die ſchöne Figur verblaßte . Es verſagte
das Leben in der Netzfigur , das unabläſſige Strömen : aus
dem Ganzen würde zunächſt eine ſtagnierende tote Pfütze , deren
übler Geruch leichenhaft zum Himmel dränge . Es verſagte
die ewige fortſchreitende Neuregulierung der Harmonie des
Netzes , die nötig wird durch das ſtille Sichwandeln des
Planetenbodens unter ihm , durch den Umſchwung der großen
kosmiſchen Verhältniſſe , denn es flöſſe kein neues unberechen¬
bares Material aus den Quellen , mit dem neue Rechnungen
ſich einſtellen können .
Die Arbeit dieſer beiden großen Faktoren haſt du in der
ganzen Entwickelung , von der wir bisher geſprochen haben .
Immer haſt du einen mehr oder minder durchſichtigen Teil ,
den ſozialen , und ein Geheimbuch , das Individuelle . Denke
an die Entwickelung etwa von Tier- und Pflanzenarten . Hier
die großen , hellen Geſetze der Ausleſe im Daſeinskampfe , der
Anpaſſung , der Bildung dauernd harmoniſcher Arten ; dort als
Grundmaterial die immer neuen individuellen Varianten , das
ewige Geborenwerden individuell etwas verſchiedener , vom
Gegebenen abweichender Einzelweſen , mit denen dann jene
große helle Arbeit wirtſchaften kann .
Wie geſagt : ich will hier durchaus keine Wunder haben .
Auch das Individuelle wird im tieferen Weltzuſammenhange
keines ſein . Bloß ein Stockwerk tiefer liegt es . Und die ſicht¬
bare Welt iſt das Produkt beider Stockwerke .
Aus jener Artentwickelung im Tierreich erwuchs — der
Menſch . Auch in ihm walten beide Räder fort , das große
Stromrad oben , und das feine Quellrad in der Tiefe . Auch
er dehnt ſeine Welt zum Sozialen , dieſes Soziale ſpannt ſich
als Menſchheit über die Erde und es bleibt darin die große
Verſtandesklarheit offen waltender Geſetze und Vorgänge , —
fort und fort in dieſen ſozialen Körper mit ſeinen meßbaren
Gewichten aber miſchen ſich die wunderſamen Imponderabilien
des Indiviuduellen Individuellen . Nicht nur wird der Menſch überhaupt immer
neu als Einzelzelle der Menſchheit hier geboren , ſondern es geht
auch in jede dieſer Geburten ein das Geheimnis individueller
Beſonderheit . Es waltet im Körper , es waltet im Geiſt . Es
baut das winzigſte Fältchen deiner Hand , die kleinſte Linie
deiner Naſe . . Aber es baut auch jede Regung deines Geiſtes .
Wohl ſpringſt du alsbald mit deinem geiſtigen Erwachen ein
in das große ſoziale Stromnetz . Es giebt dir einen unend¬
lichen Schutzanhalt , es giebt dir die „ Menſchheit “ als Hilfe ,
als Hintergrund . Aber auch du giebſt dieſem Netz etwas un¬
ſchätzbar Köſtliches : den Quellwert deiner neuen Perſönlichkeit .
In dieſem Quellwert kann der Umſchwung zu einer neuen Welt
liegen , der Umſchwung zu einer ganzen neuen Harmonieſtufe
des Netzes . Aus ſolchen Quellwerten ſteigen die Genies , die
unſchätzbaren Plusvarianten , die die fortſchreitende Anpaſſungs¬
ausleſe in der Menſchheit ſo gut braucht wie ſie in Tier und
Pflanze die ſpontan auftauchenden zweckmäßigeren Körpervari¬
anten unumgänglich brauchte .
Niemals iſt eine Unterdrückung dieſer Individualwerte
durch das Soziale denkbar ohne Vernichtung des geſamten
Spiels .
Und wenn alſo jetzt die Ehe irgend einen Punkt hat , wo
ſie auch beim Menſchen doch dauernd verankert liegt auch in
dieſen Individual-Imponderabilien , ſo kann auch ſie niemals
ernſtlich vom Sozialen verſchlungen werden .
Sie hat aber meines Erachtens dieſen Punkt .
Die Ehe als Ideal hat zwei Idealmomente in ſich , die
das Individuelle im Innerſten berühren .
Das Eine liegt in der individualiſierten Liebeswahl ; das
andere in der individualiſierten Kindererziehung . Halte den
Gedankenfaden hier einmal ganz ſcharf durch , damit kein Mi߬
verſtändnis entſteht .
Zwei beliebige Weſen finden ſich und zeugen miteinander
ein Kind . Das iſt die einfache Grundlage , wie bei dem Sozi¬
alen erſtes Arbeitsmaterial überhaupt geſchaffen wird . Damit
die Sache glatt verlaufe in einer böſen Welt der Gefahren ,
bilden die Eltern über die Zeugung hinaus eine Schutzgeſell¬
ſchaft , ſchützen ſich gegenſeitig und ſchützen ihre Kinder . Das
bleibt ganz in jener Linie . Nachdem es aber eine Weile ſo
hergegangen , iſt das Soziale allgemein erſtarkt , die Enkel und
Urenkel haben große Genoſſenſchaften gebildet , die fortan alle
Zeuger und Erzeugten als Geſellſchaftsglieder tragen und
ſchützen , ohne daß die kleinen Schutzgeſellſchaften der Familie
noch not thäten . Das iſt die Geſchichte der Ehe , wo du gar
nicht auf das Individuelle höheren Sinnes , wie ich es jetzt
meine , kommſt . Folgerichtig muß ſich bei dieſer Definition
die Ehe ins Soziale reſtlos auflöſen .
Nun aber eine andere Einſtellung bei der Erzählung , und
es erſcheint eine völlig neue Sachlage .
Ich gehe nicht von „ zwei beliebigen “ Weſen aus , ſondern
zunächſt nur von einem . Dieſes eine aber iſt ein ganz be¬
ſtimmtes Individuum mit jenem tiefen Wurzelwert des Perſön¬
lichen . Dieſes Individuum ſucht jetzt ein zweites Individuum .
Es ſucht nicht ein beliebiges Weſen bloß vom anderen Ge¬
ſchlecht . Es ſucht innerhalb des anderen Geſchlechts ein
Individuum , das ergänzend zu ſeinem tiefſten perſönlichen
Wurzelwerte ſteht . Dieſe Ergänzung kann in mancherlei Rich¬
tungen ſich ergehen . Sie kann auf beſtimmten Contraſtgründen
beruhen , die doch gerade ein vielſeitiges Ganzes ergeben . Sie
kann auf einfacher Ähnlichkeit beruhen , ſo daß die Vermiſchung
von Gleich mit Gleich ein einfaches Plus des Wurzelwertes ,
der individuellen Wucht ergiebt . Vorausſetzung iſt aber auf
alle Fälle eine ganz beſtimmte Beziehung der individuellen
Kernpunkte beider aufeinander .
Nun kommt das Kind aus dieſer Verbindung . Es iſt
nicht bloß einfaches ſoziales Material als neue Menſchen¬
nummer . Es iſt auch nicht bloß ein neuer Wurzelwert an
ſich aus dem Unbekannten heraus . Es iſt aller Wahrſchein¬
lichkeit nach , ſo viel wir vom Geheimnis der Vererbung wiſſen ,
gleichzeitig eine Steigerung jener beiden elterlichen ſchon ſo
verwandten Individualpunkte , es drückt eine ganz beſtimmte
Individualkonſtellation weiter durch .
Und das muß von einer eminenten Bedeutung ſein für
die geſamte Rolle und Wirkungskraft des Individuellen im Ent¬
wickelungsſpiel . Dieſes auf beſtimmte individuelle Richtung hin
gezeugte „ Wahlkind “ iſt ein ganz anderes Ding als das be¬
liebige einfache „ Zeugungskind “ . Mit Schutzgenoſſenſchaft und
ſo weiter im wirtſchaftlichen Sinne aber hat dieſe ganze Sache
abſolut nichts zu thun , ſie wird alſo auch von allen ſozialen
Fortſchritten nicht berührt . Höchſtens daß du ſagen kannſt :
je weniger Rückſicht auf Schutzgenoſſenſchaft bei den Eltern
nötig wird , je mehr das ſoziale Dach ſich ſchützend auch über
ſie breitet , deſto leichter wird die höchſte Verfeinerung der
individuellen Sympathiewahl werden . Das iſt wichtig und iſt
für Zukunftsbetrachtungen ſogar ſehr wichtig . Aber bleiben
wir jetzt ganz in der individuellen Linie .
Es liegt auf der Hand , daß dieſe feine Individualwahl
auf Grund tiefſter Sympathien der beiden elterlichen Individuen
beim Menſchen mit zunehmender Kultur unausgeſetzt zunehmen
und an Bedeutung gewinnen muß . Denke bloß an die un¬
ſagbar verfeinerten Mittel , mit denen wir unſere tiefſte Indivi¬
dualität geiſtig zum Ausdruck bringen können , je entwickelter
unſere Bildungshöhe iſt . Denke , was allein die menſchliche
Sprache hier geboten hat , was der unendliche Komplex von
Möglichkeiten ethiſcher Handlungen , was die Bewährung von
Wiſſen , von ausübenden Talenten , von feinem Lebenstakt .
Und nun denke , wie gerade bei uns die feinſten vergeiſtigtſten
Züge der Individualilität die wichtigſten als Wurzelwerte ge¬
worden ſind . Nicht matter , ſondern immer raffinierter muß
dieſes Spiel der individuellen Wahl werden . Je raffinierter
es aber wird , deſto ſtärker wächſt die Wahrſcheinlichkeit , daß
zwei Individuen , die ſich als echt ergänzend erkannt haben ,
auch dauernd zuſammen bleiben wollen für ein Menſchenleben .
Dahinein miſcht ſich aber ſogleich noch ein zweiter , erſt
recht ſpezifiſch menſchlicher Grund .
Das Vogelmännchen und Vogelweibchen hielten über die
Zeugung hinaus zuſammen , um ihre Kinder zu ſchützen . Denken
wir uns dieſe Sorte groben Schutzes beim Menſchen ſozial
abgelöſt und alſo gleichgültig . Bleibt nun im Sinne jener
individuellen Linie keine Notwendigkeit mehr , die Eltern und
Kinder trotzdem zuſammenhielte ? Es bleibt in Wahrheit eine
ganz außerordentlich große , eine ſchlechterdings unſchätzbare .
Jene Ubertragung des Individuellen von den Eltern aufs
Kind , jene Fortleitung der elterlichen Wurzelkonſtellation geht
nicht bloß durch die Zeugung , alſo durch Samenzelle und
Eizelle . Deine Individualität als Kulturmenſch umfaßt ganz
andere Dinge noch als das , was deine Geſchlechtsorgane in
deinem Leibe produzieren . Mit deinem Zeugungsapparat
kannſt du nicht Goethes Fauſt übertragen . Du kannſt ein Kind
damit machen , aber dieſes Kind bleibt ein Tier , wenn du ihm
nicht noch nach der Geburt Geiſtesblut beſtändig weiter
zuführſt .
Nun wirfſt du wohl ein , gerade das könne aber ja das
Soziale auch . Eine Gemeinſchaftserziehung könnte die Kinder
ſämtlich leſen lehren und ihnen Goethes Fauſt zur rechten Stunde
in die Hand geben . Was braucht's da gerade der indivi¬
duellen Eltern !
Und doch behaupte ich , daß auch an dieſer Stelle eine
Lücke iſt . Der eigentümliche Zauber individueller Impondera¬
bilien , der in die Zeugung hineinarbeitet , waltet beim Menſchen
auch noch darüber weit hinaus , wenn Eltern und Kinder bei¬
ſammenbleiben . Der Zeugungsakt erſchöpft unſere rieſenhaft
erweiterte menſchliche Individualität in keiner Weiſe , kann ſie
nicht erſchöpfen . Erſt die Erziehung , mindeſtens in einer erſten
Reihe von Jahren , kann mit ihren Mitteln der Sprache , mit
ihrem ganzen bewußten Anblick den vollen ſeeliſchen Strom
jener Imponderabilien vollſtändig machen : ſie gehört not¬
wendig dazu , die eigentliche „ individuelle Ariſtokratie “ ( wenn
das mißverſtändliche Wort erlaubt ſein ſoll ) jedesmal in ganzer
Wucht zu begründen . Was wüßte ich , was beſäße ich von
meinem Vater , wenn ich bloß durch die Samenzelle mit ihm
verknüpft ſein ſollte und nicht durch die Jahre , wo mein er¬
wachendes Weltbewußtſein ſein ſchwaches Flämmchen fort und
fort an ſeiner alten , großen , durch und durch individualiſierten
Flamme nährte und ſteigerte ? Dieſe individuellen Impon¬
derabilien , alle laufend in der gleichen Richtung der Grund¬
anlage , hätte eine ſoziale Erziehung ohne individuellen Richt¬
punkt niemals geben können , ja ſie würde ſogar verhängnisvoll
im umgekehrten Sinne gewirkt haben . Dabei iſt das Wort
„ Erziehung “ vielleicht ſchon zu grob , ſieht noch zu ſehr nach
der alten Schutzſache für des Lebens Not aus . „ Zuſammen¬
leben “ entſpricht viel eher dem feinen Weg des Überſtrömens
individueller Geiſteswerte noch jenſeits der Zeugung , — Zu¬
ſammenleben in ſeinem tiefſten Sinne .
Was ergiebt ſich aber auch da wieder anderes , als eine
neue Wurzel der Ehe ?
Und wiederum iſt es eine Wurzel , die nur ſtärker werden
kann , je mehr die groben Schutzdinge im Verfolg einer großen
Sozialordnung überflüſſig werden . Je mehr Freiheit , je mehr
ſtille Möglichkeit für alle Quellen , im grünen Kulturwalde
ohne Trübungsgefahr zu ſprudeln , — deſto lebhafter und
ausſichtsvoller der Wunſch , das Beſte und Vergeiſtigtſte unſerer
Perſönlichkeit unſeren Kindern nicht bloß durch die Minute
einer Weibesumarmung , ſondern durch lange Jahre freien
Bewußtſeinsverkehrs zu übermitteln . In dieſem Zeugungs¬
augenblick iſt es , als falle eine Wolke auf unſer Bewußtſein .
Laß ſie , es iſt die Wolke , in der Jahrmillionen vorüberziehen ,
in der das ganze Beſitztum deiner Ahnen im Extrakt eines
winzigen Tröpfchens heiligen Weltenſtoffes von dir vorüber¬
geht . Aber wenn aus dieſer Wolke ſich dann das wirkliche
Kind erhebt , ſo beginnt der andere , ungeheure Apparat deines
Bewußtſeins um ſo mächtiger zu arbeiten , auf den Flügeln
der Sprache entläßt er ſeine Engel zu dieſem Kinde . Dein
Gehirn iſt es jetzt , das dort das Zeugungswerk fortſetzt . Willſt
du dieſe ganze Rieſenſeite der Individualarbeit einfach über
Bord werfen , weil eine verbeſſerte Sozialordnung dein Kind
auch nährt und kleidet und auf die nötigen Schutzſignale des
Lebens eindrillt , auch wenn du dich nicht um es bekümmerſt ?
Ich meine , daß von dieſen höchſten individuellen Impon¬
derabilien der Erziehung im großen und ganzen genau das
gleiche gilt , wie von der körperlichen Zeugung : ſie wird nie auf
den Markt in die Maſſe gehören , wie auch die Welt und ihre
Moral ſich wandle , ſondern ins enge Kämmerlein , wo zwei
Menſchen nach nichts anderem Verlangen tragen als nur nach
ſich , weil ſie in ſich die Welt fühlen , die mit den Schauern
des ewigen Geheimniſſes über ſie rauſcht .
Seien wir ehrlich , ſo müſſen wir bekennen , daß im
dumpfen Empfinden dieſes wahren unvergänglichen Wurzel¬
grundes der Ehe immer ja auch ihre ſtärkſte Verteidigung — wenn
auch oft unbeholfen — gelegen hat . Wenn es hieß , die Ehe
ſei in den Sternen der Zukunft ſchon ausgelöſcht , ſo regten
ſich dieſe ganz kriſtallhaft einfachen Gemütserinnerungen : Eltern
im Kreiſe ihrer Kinder , unter dem Weihnachtsbaume , alles in
ſich durchdrungen und zugleich nach außen abgeſchloſſen von
dem großen Lichtbade individueller Imponderabilien , das wie
ein ſchirmender Heiligenſchein die „ Familie “ umfing . Gegen
dieſes Bild iſt keine noch ſo herbe Kritik , kein noch ſo wilder
Aufſchrei aus zerſtörten , verwirrten , zerſprengten Sonderverhält¬
niſſen aufgekommen . War es nicht im ganzen erfüllt , ſo war's
ein Ideal . Auch die ſoziale Harmonie iſt ja nur ein Ideal ,
ein Zukunftsideal . Warum ſollten die beiden Ideale ſich tot¬
ſchlagen ?
Ich glaube alſo nicht an dieſen Totſchlag . Ich ſehe wohl
im Sozialen der Menſchheit die endliche Ablöſung dieſer Menſch¬
heit von ihrer Tierheit im Sinne kleinlicher Schutzbedürfniſſe .
Aber wo immer das Materielle , das Grobe einmal wieder ab¬
ſinkt , da zeigt ſich darunter wie das glashelle Elfenflügelchen
unter der harten Deckſchale des Käfers das Feinere , das Ver¬
geiſtigte , das Höher-Menſchliche in einer verklärten Geſtalt als
das nächſt höhere Bedürfnis . So ſehe ich den groben Schutz¬
zweck der Ehe , wie ihn das Tier hat und der Menſch that¬
ſächlich heute auch noch hat , ſtill abgelöſt zu Gunſten eines viel
höheren Schutzzweckes : zu Gunſten der individuellen Quell¬
bildung im großen Stromnetz der ſozialen Kultur .
Und auf den Flügeln dieſes neuen Sinnes ſehe ich eine
Ehe der Zukunft aus der Puppe unſerer „ Ehe “ ſteigen , die
ſich wohl zu dieſer wie ein Ideal verhalten mag , aber im
Grunde iſt dieſes Ideal ſchon heute und längſt in unſerer
Menſchenſehnſucht geweſen , wenn wir von Ehe geſprochen
haben .
Und damit ſei dieſe Seite der Liebesbibel endgültig auch
umgeſchlagen .
Kurz nur iſt der Weg jetzt , den wir noch zu gehen
haben , um vom Waldſchratt des Kongowaldes dort zu ſein ,
wo wir hinwollten : — bei der lieblichen Menſchenmutter des
Fidus — oder , noch heller ſtrahlend darüber , der ſixtiniſchen
Madonna .
D raußen rauſcht der Sturm .
Das Licht in der roten Ampel zuckt bisweilen leiſe auf .
Dann bewegen ſich ſpuckhaft die Schatten an der Wand , als
wollten ſie lebendige Weſen werden , vorkriechen , ſich mit dem
Doktor Fauſtus zu verbünden zu dunklem Werk . Die alten
Möbel bekommen glühende Augen und lange Naſen . Aber
die Flamme wird wieder ſtät und jäh ſind die Kobolde fort .
Das ſtille Gemach liegt wieder da , in der guten Heiterkeit
ſeiner Bücheraugen , ſeiner Sternenaugen .
Jede Entwickelung hat auch ihr Geſpenſt .
Es läuft nach , wie dem Wanderer in der Sonne ſein
Schatten . Geht die Sonne der Entwickelung abwärts , ſo wird
es rieſengroß , ein Vorbote der Dunkelheit , die endlich dieſen
verfehlten Punkt ganz wieder verſchlingen wird . Wenn aber
die Sonne des aufſteigenden Lebens auf den Zenit loswandert ,
ſo ſchmilzt das Geſpenſt immer mehr vor ihr dahin , bis im
ſcheitelrechten Stande endlich das letzte Stäubchen des ſchwarzen
Doppelgängers geſchwunden iſt : die Entwickelung hat triumphiert
über ihr Geſpenſt .
Überall , wo immer du die tauſend und tauſend Verſuchs¬
formen des Lebens anſchauſt auf dieſer Erde , gewahrſt du auch
dieſen Geſpenſterſchatten . Er lauert hinter jeder noch ſo ſchönen
Einzelanpaſſung .
20
Vielfältig wie die Entwickelungsbahnen ſelbſt , ſind auch
ſeine proteiſch wechſelnden Formen , immer aber bezeichnet er
den Sonnenſtand der Art : ob ſie noch aufſteigt oder ſchon
ſinkt . Einſeitigkeit , Übertreibung , Degeneration , Erſtarrung ,
das alles ſind nur Geſichter des einen Dämons . Hekatomben
ausgeſtorbener Arten liegen bereits als ſeine Opfer in den
Geſteinsſchichten des Erdenſchoßes , gefreſſen eines Tages von
ihrer Nacht , weil die Sonne der Fortentwickelung für ſie unter¬
ging . Wohin du heute ſiehſt im Tier- und Pflanzenleben , ſiehſt
du die Gezeichneten ſchon , die nachſtürzen werden . Die zu eng
Angepaßten , die lebendig Verſteinten , die wandelnden Automaten ,
die keiner Umbildung mehr fähig ſind , die paradoxen Phantaſten ,
die ſich in ein Extrem verſtiegen haben , — Todgeweihte ſie alle .
Nur eine Lebensform dieſes Planeten giebt es , die bis¬
heran ihren Schatten immer mehr beſiegt hat , — du ſelbſt ,
der Menſch . Er iſt der große Zenitwanderer hier unten .
Dieſe wachſende Überwindung , ſo deutlich vor Augen im
ganzen Gang der Kulturgeſchichte , in jeder neuen Erfindung ,
jeder wiſſenſchaftlichen , äſthetiſchen und ethiſchen That , iſt das
Tröſtliche im Labyrint auch dieſer Menſchengänge . Im übrigen
haſt du hinter dir und neben dir thatſächlich des Schattens
noch genug . Vom erſten Tage an ein Rieſe , hat der Menſch
auch einen Rieſenſchatten von ſich geſtreckt . Er ſtreift auch
durch ſein Liebesleben . Schon haben wir ihn ein paar mal
auf unſern Wegen jetzt durchkreuzt . Aber ihm gebührt noch
ein beſonderer feſter Blick .
Du kennſt die Geſchichte des Phaethon . Sie iſt nicht
bloß ein luſtiges ovidiſches Märchen . Wie alle dieſe alten
Völkerſagen , die Extrakt tiefſten Erlebens ſind , enthält ſie ein
wunderbares Symbol .
Phaethon iſt der erſte Menſch , der mit Menſchenkraft
die Natur meiſtern will . Seit Äonen rollen die Geſtirne ihre
Bahn , im Bann von Geſetzen , die eine Weltſchicht tiefer liegen
als der Menſch . Aber eines Tages ſteht dieſer junge Menſch
da . Er ſieht der Sonne in ihr Werk und er fragt ſich , ob
er das nicht auch kann , ob er es nicht gar beſſer kann . Und
er ſchwingt ſich auf den Sonnenwagen . Das Ende iſt bekannt :
er zündet den Himmel an und ſtürzt ſelber in Tod und Ver¬
derben . Er war zu ſchwach .
Es giebt einen Weg wo er nicht zu ſchwach wäre . Phaethon
wird ein weiſer Chaldäer , der tauſend und tauſend Nächte ſtill
in den Sternen lieſt . Phaethon wird Ariſtarch und Ptolemäus ,
er wird Kopernikus und Newton ; er weiß endlich nach welchem
Geſetz die Weltkörper laufen . Phaethon wird Faraday und
Ediſon und er bringt die Kräfte der Natur , die vom fallenden
Stein und Blitz bis zu Monden und Sonnen walten , eine um
die andere in ſeine Gewalt . Wenn Phaethon noch einmal
hunderttauſend Jahre nach dem gelebt haben wird , ſo wird er
ſich fragen , ob er ſeinen Planeten nicht verlaſſen kann , ob er
nicht wandern kann mit dem Licht , das vierzigtauſend Meilen
in der Sekunde ſauſt , ob er nicht die Gravitation in ſeine
Macht bringen kann wie ein Kind an einem Uhrzeiger dreht .
Das iſt Phaethon , der langſam , aber in unveränderlicher Stäte
aus dem Schatten geht , der wahren Scheitelſonne zu . Wenn
ſie einſt über ihm iſt , wird ſie zugleich er ſelbſt ſein : die
Entwickelung liegt dann in ſeiner Hand , nicht mehr in un¬
berechenbar fremden Gewalten ; in jenen Tagen fährt Phaethon
ſelber als Sonnengott im goldenen Wagen , er iſt die Natur ,
die ſehend aufgewachte Natur .
Aber dieſer Phaethon der Jahrtauſende iſt es nicht , den
die Sage meint . Sie ſtarrt in das Dunkel der werdenden
Menſchheit erſt und ſie ſieht den Phaethon der Gefahr , der
mit der Sehnſucht allein ſchon fahren will ohne die Kraft .
Auch durch das Liebesleben rauſcht dieſer Phaethon der
Gefahr . Der Menſch , ſehend zum erſtenmal , denkend — und
nun ſogleich der Menſch , der die Hand ausſtrecken möchte , Herr
der Liebe zu werden .
Es iſt ja ſo wunderbar , dieſes Erwachen des Menſchen .
20*
Er denkt ! Das iſt im erſten Anklang wirklich der allgewaltige
Phaethonzauber , mit dem er am Ende die Welt beſitzen wird .
Aber wie unendlich viel liegt zwiſchen hier und dort , zwiſchen
dieſem erſten roten Sonnenblitz , der alle Schatten erſt heraus¬
arbeitet , und der Zenitſtunde da es dem Sieger keinen Schatten
mehr giebt und er ganz einfließt in die große Sonne über ſich ,
in den Lichtgedanken des Alls ... .
Da iſt noch einmal die Höhle im Kalkſteingebirge , vor
der die Sterne brennen und der Eisgletſcher blinkt . Und da
ſteht dieſes Rätſelweſen , das aus der Puppe des Tieres ent¬
ſchlüpft iſt , — und denkt .
Vor ihm vollzieht ſich zum erſtemmal das Dämoniſche ,
das heute noch durch all unſere Philoſophie ſpuckt : die „ Welt “
reißt auseinander in zwei Stücke : hier das „ Ich “ und dort
die „ Natur “ . Im gleichen Augenblick aber erhebt ſich im Einen
auch die unendliche Sehnſucht , das Andere zurückzuerobern , zu
meiſtern , wieder für ſich zu bekommen als Glied , als Organ .
Es iſt der eigentliche Menſchenkampf , er , der die Wurzel bildet
aller Technik mit ihren praktiſchen objektiven Verſuchen , aller
Naturforſchung , — und aller Gottesſehnſucht , alles Ringens
der Seele , im tiefſten Weltgedanken auch geiſtig , als Ich ſelber
wieder heimzukehren in die Natur als unſer tieferes Selbſt .
Von Beginn an ſah der Menſch in dem Komplex wilder
und milder Dinge , die als „ Natur “ auf ihn eindrangen , ſich
vor zwei Möglichkeiten , zwei Wegen .
Als er zum erſtenmal aus dem Feuerſtein einen Funken
zu locken lernte , zum erſtenmal merkte , daß man auf einem
gehölten Urwaldſtamme einen Strom überqueren könne , —
da ſah er den einen Weg . Eine Natur , die ſich bewältigen ,
die ſich reiten ließ wie eines der Wildpferde in der Blumenſteppe
der Nacheiszeit da draußen . Eine Natur , unterthan als Technik .
Es war die Linie , wo der erſte Glaube an die eigene echte Phaethon¬
ſchaft erwachſen durfte und erwuchs . Die berechenbare Natur !
Aber daneben ſtand ein anderer Teil . Auch Natur , aber
ſtarr , rieſig , unberechenbar . Die Sonne . Der Winter . Der
Tod . Und Ähnliches . Das kam , kam einfach ; keine Technik
griff daran . Kein Seil zog die Sonne heran , kein Balken
bannte den Winter zurück , kein Werkzeugbeſitz wahrte vor Alter ,
vor Tod . So ſchien es wenigſtens . Wie ſollte Phaethon damit
fahren ? Dumpf ahnte er auch hier ein Geſetz . Aber wo dieſes
Geſetz erfaſſen , daß es die Dinge auch hier zum gefügigen
Werkzeug machte ? Du weißt , was da verſucht worden iſt . Was
der Wilde verſucht . Spuk , Dämonen , Wunder ſucht er hinter
dieſen Dingen . Er betet , er beſchwört , er ſucht mit Gewalt
ein ſeeliſches Verhältnis . Er opfert , kaſteit ſich , blutet , flucht ,
winſelt , — alles in der Hoffnung , es möchte auch dieſer un¬
berechenbare , unfaßbare Teil ſeiner Natur ſich doch zum Feuer¬
ſtein , zum Schiff noch umwandeln laſſen . Phaethon , der wild
losfährt , ohne Überſicht , ohne Halt , blind experimentierend .
Und Phaethon , der immer wieder in die Flammen ſtürzt . An
dieſer Stelle iſt der Menſch eine Gefahr für ſich ſelbſt , für die
Entwickelung geweſen . In der Sehnſucht , den Himmel zu be¬
zwingen , lief er beſtändig Gefahr , ihn anzuzünden und elendig¬
lich mit ihm zu verbrennen .
Und nun dieſer Menſch vor ſeinen eigenen Liebesthatſachen .
Zum erſtemmal mit denkenden Augen vor Erektion , Men¬
ſtruation , Zeugung , Schwangerſchaft , Niederkunft ! Wohin ge¬
hörte das ? In die Technik , den Naturteil , den man eroberte
mit Feuerſteinfunken , hölzernen Kähnen , Angeln und Pfeilen ?
Oder in jenen anderen , myſteriöſen , wo Sonne und Mond auf¬
ſtiegen , ſich plötzlich verdunkelten und ſo weiter ? Den Teil der
Natur , den man durch Beten , Beſchreien , Tamtamſchlagen zu
beeinfluſſen ſuchte ?
Auf einmal ſchleift der Schatten , der gefährliche Ent¬
wickelungsſchatten , dir daher , — rieſengroß . Sieh feſt hinein
und du ſiehſt in ſeinem fahlen Halbdunkel einen geſpenſtiſchen
Zug . Die Liebe , ausgeliefert dem wilden Phantaſieren des
Menſchen . Phantasia , non homo , heißt ein altes Wort bei
Petronius . „ Eine Phantaſie , kein Menſch . “ Über dem ganzen
Zuge ragt ein rieſenhaftes graues Kreuz , an dem ein ſchönes
Weib hängt . Die Liebe , gekreuzigt an der wild durchgehenden
Phantaſie des Menſchen . Das hatte kein Tier gewagt . Der
Maulwurf hatte geliebt , geliebt in alt eingeprägten Formen .
Aber kein Moment war in ſeinem Leben , da er nach eigenem
Klügeln losfahren wollte mit dieſer Liebe wie Phaethon mit
dem Sonnenwagen . Da er ſich fragte , was hinter dieſer
Liebe vielleicht noch ſtecken könnte , als Myſterium , das man
irgendwie nötigen könnte , wenn man die Liebe mit tauſend
tollen Dingen durchſetzte , ſelber ins Abſtruſeſte nötigte ... .
Da kommt das menſtruierende Mädchen , — eine Märtyrerin
des Phantaſieſchattens . Es kommt als Auſtralierin . Blut rinnt
ihm aus dem Munde . Denn zur Feier ſeiner erſten Geſchlechts¬
blutung hat man mit ihm die Operation Tſchirrintſchirri vor¬
genommen : ihm auch noch zwei Zähne ausgeſchlagen . Es
dreht und wendet ſich wunderlich und das nicht bloß vor
Schmerzen . Ihm iſt heilig eingeſchärft , daß es drei Tage lang
keines Mitmenſchen Rücken ſehen darf . Sonſt ſchließt ſich ihm
der Mund , daß es Hungers ſtirbt . Die beiden Zähne aber
bleiben ein Jahr lang in einem Futteral aus Straußfedern ,
ſonſt wachſen dem Mädchen zwei ſo rieſige nach und in den
Kopf hinein , daß es davon doch noch den Tod hat .
Dahinten der kleine Käfig , nur 6–8 Fuß hoch , mit dem
vergitterten Lichtloch wie ein Apparat zum Gänſemäſten , ſtammt
von der Beringſtraße : in ihm ſteckt ein armes Koljuſchen¬
mädchen mit geſchwärztem Geſicht . Ein Jahr lang ſteckt es
jetzt ſchon darin . Seine Sünde war die erſte Menſtruation .
Die Neubritannierin muß es ähnlich fünf Jahre und mehr in
einer einſamen Waldhütte aushalten .
Der vage ſchweifenden Phantaſie iſt die Menſtruation
nämlich nicht das erſte hoffnungsfrohe Sichentfalten der weib¬
lichen Liebesblüte . Sie iſt ein Schrecken , ein Vampyr , ein
Ungeheuer . Da ſchreitet im Zuge der dicke Plinius , Allerwelts¬
apotheker der ganzen antiken Realweisheit von der Natur .
Er belehrt dich , daß von der Berührung mit der Menſtruierenden
das blankeſte Raſiermeſſer augenblicklich roſtet . Das trächtige
Vieh kalbt vor der Zeit ſchon bei ihrem Anblick . Der Hund ,
der von dem Blute leckt , wird toll . Setzt die Unſelige ſich
unter einen Baum , ſo fallen die Früchte welk herab und die
Pfropfreiſer dorren . Aber auch dort der kraftloſe , ſieche Indianer ,
von dem Plinius noch nichts gewußt hat , iſt ſo , weil er auf ,
Menſtrualblut getreten hat . Am Orinoko breitet ſich Wüſte ,
wo eine Menſtruierende ein Bedürfnis verrichtet hat . Im
heutigen Italien , wo die Volksphantaſie noch üppig blüt , be¬
rührt die Verfehmte die Wieſe und alles Gras iſt welk wohin
ſie tritt , ja es ſproßt auf dieſer Brandſtätte niemals wieder .
Ein Hebammenbüchlein des 18. Jahrhunderts kündet dir , daß
dieſes Geblüt nicht anders wirkt denn Scheidewaſſer . Der
Spiegel dort mit ſeinen zwei unheimlichen runden Flecken , die
ſich tief durch Glas und Queckſilber gefreſſen haben , iſt ſo ge¬
zeichnet vom Dreinſchauen einer Blutjungfrau : ihre Augen
haben die Löcher gebrannt . Die Schlange , die dort heran¬
kriecht , iſt in der Brutwärme eines Miſthaufens aus dem Haar
einer Menſtruierenden entſtanden . Der Menſch , der ſich dort
in Krämpfen zu Tode windet , iſt nicht von einem tollen Hunde
gebiſſen , ſondern von einem blutenden Weibe .
Der Leibarzt des großen Kurfürſten , Baldaſar Timäus
von Güldenklee , unterrichtet dich im Jahre 1704 , daß das
Monatsblut unter den Medikamenten einfach als ſchweres Gift
zu rechnen ſei , „ denn dieſes , ſo es in den Leib genommen
wird , machet den Menſchen vergeſſen , ſtumpfſinnig , melancholiſch ,
unterweilen gar raſend und unſinnig oder ausſätzig und dieſem
armen Heinrich iſt dawider nur noch zu helfen durch einen
anderen Höllentrank aus Meliſſenwaſſer , Viperngift , Bezoar
und Theriak . “
Freilich auch einige gute Wunder verrichtet die Blutende .
Dort das Boot aus den Tagen des Plinius hat ſich aus dem
wilden Sturm gerettet , weil eine ſolche Frau an Bord war :
da weigerte der Meergott ſich , dieſes unreine Fahrzeug zu ver¬
ſchlingen . Drüben die Kappadozierin derſelben Tage kommt
von einem Frühgang durchs Feld , ihr Gift iſt in den Dienſt
der Oekonomie geſtellt worden , denn ſie hat dabei ihr Gewand
bis zu den Lenden gerafft und alsbald ſind wie ein praſſelnder
Hagelſchauer alle böſen Inſekten von den Bäumen gefallen .
Hätte die Sonne ſie freilich überraſcht , ſo wäre bei dem An¬
blick die ganze Saat verdorrt . Ein beflecktes Stücklein des
Gewandes bringt nach jenem Hebammenbüchlein , wenn es auf
dem bloßen Leibe getragen wird , Glück im Spiel und im
Kampfe Sieg , heilt Krankheit und löſcht Feuer , kurz es iſt ein
Stein der Weiſen , dieſes rote Tröpflein in der Leinewand .
Weiter rollt der Geſpenſterzug . Immer toller werden die
Schatten .
Dort der blutende Knabe iſt ein kleiner Hottentotte . Ihm
iſt wie allen ſeinesgleichen am Tage , da er in die Reihen der
Männer tritt , die linke Hode ausgeſchnitten worden , — er ſoll
davor bewahrt werden , Zwillinge zu erzeugen . Denn Zwillinge
ſind wieder ein Alp für die Schattenphantaſie .
Dort das Elternpaar aus Nord-Transvaal iſt wie von
der Tarantel geſtochen . Die eheliche Treue iſt bewahrt . Trotz¬
dem hat die Frau Zwillinge zur Welt gebracht . Die armen
Dinger ſelbſt ſind allſofort umgebracht , in einem Topf am
Flußufer verſcharrt worden . Dann iſt der Medizinmann , der
Zauberkönig , geholt worden . Einen dicken Batzen hat man
ihm in die Hand gedrückt : nun ſoll er das Haus vor Wieder¬
kehr ſolchen Schreckens ſchützen . Er hat alſo alle Kleider kon¬
fisziert als käme er von Koch und Paſteur zu einem Cholera¬
kranken : ein myſtiſcher Antiſeptiker , der den Geſpenſterbazillus
zu bannen hofft . Als probateſtes Generalmittel aber hat er
angeordnet , daß keiner das Haus durch die Thür verlaſſen
dürfe , eine Gewaltöffnung iſt zu brechen an der Hinterwand .
Hinterdrein humpelt aber auch noch eine alte Bauersfrau mitten
aus unſerm lieben Deutſchland und verſichert dir , die Frau ,
die Zwillinge bringt , ſei es ſelber ſchuld , denn ſie habe im
ſchwangeren Zuſtande zuſammengewachſene Rüben gegeſſen .
Jetzt wieder die Ägypterin hier iſt runde viertauſend
Jahre alt . Sie will wiſſen , ob die Hand der Gottheit ſie
berührt hat , ihr Geſchlecht zu mehren . Sie trägt zwei Säcke
in ihren Händen , mit Weizen und mit Gerſte . Die hat ſie
in ihrem Urin geweicht . Wenn ſie keimten , war ihr Wunſch
erfüllt . That es nur der Weizen , ſo giebts einen Knaben ,
die Gerſte aber bedeutet ein Mädchen . Die Zigeunerin aus
Siebenbürgen , die folgt , trägt einen Napf mit Waſſer , in den
ſie ein rohes Ei ausgegoſſen hat . Sie hat außerdem hinein¬
geſpuckt und nun wird ſich am anderen Morgen für ſie die
Schwangerſchaftsprobe entſcheiden : ſchwimmt das Ei an der
Oberfläche , ſo iſt ſie ſo weit , — hat ſich der Dotter vom
Eiweiß getrennt , ſo iſt's ein Sohn , haben die Teile des Eies
ſich vermählt , ſo wird es eine Tochter . Jetzt geht ſie in den
Abend hinaus und lugt , ob ſie Gänſe fliegen ſieht : das giebt
ihr auch noch die Zeit , ſie wird am Morgen gebären .
Die arme Wöchnerin , die dort ſchwankt , iſt eine Negerin .
Bei ihrer Niederkunft umſtanden ſie die weiſen Frauen des
Stammes. Kam das Kind mit den Füßen ſtatt mit dem Kopf
zuerſt , ſo wurde es von ihnen ſofort getötet . Gleiches Los
traf natürlich Zwillinge . Auch ſpäter drohte dem Kinde noch
der Tod , wenn nämlich die Oberzähne zuerſt bei ihm durch¬
brachen . Das Fruchtwaſſer wurde ſorgſam aufgefangen , denn
der Häuptling beanſpruchte das als Gott weiß was für
wunderſame Medizin für ſein Zauberhorn . Die Wöchnerin
aber muß recht ſchlecht ausſehen , es geht nicht anders , denn
ſie hat drei Tage lang nur ihren eigenen Urin zu trinken
bekommen . Erſt am dritten Tage ließ man das Kind , das
bis dahin Brei bekommen hatte , an ihr ſäugen , nachdem ihre
Brüſte erſt angeſchlitzt und mit Wurzelmedizin eingeſeift worden
waren .
Was jetzt heranflattert , iſt nicht etwa eine Fledermaus .
Es iſt der Geiſt Aſuang , geboren in der Phantaſie der Be¬
wohner der Philippinen . Unten den Achſeln hat er myſtiſche
Öldrüſen , die geben ihm die Kraft des Fliegens . Krallen
hat er außerdem und eine lange Zunge wie von ſchwarzem
Leder . Er iſt der Vampyr der Schwangeren . Er frißt ihnen
das Kind aus dem Leibe , wobei ſie ſelber ſterben müſſen .
Wie der Teufel in der deutſchen Sage hat er ſeinen Küſter ,
einen Nachtvogel , — wenn der ſingt , ſo erſchauert alles , denn
man weiß , der Aſuang geht um . Aber auch die ſchwangere
Eſthin dort wirft ihre Schuhe fort : ſie macht das jede Woche
einmal , denn es bringt den Teufel , der bei ihr Aſuang ſpielen
möchte , von ihrer Spur ab ; er iſt doch immer mächtig dumm ,
dieſer Volksteufel ! Da die arme Zigeunerin iſt freilich trotz
aller Schliche dem Verfolger erlegen : ſie hat nämlich ein
einziges Mal — recht verzeihlich — in ihrem Zuſtande ge¬
gähnt , hat aber vergeſſen , die Hand vorzuhalten und alsbald
iſt ihr ſo ein böſer Geiſt in den Leib geflitzt .
Die Kirgiſin daneben iſt nur mit einem ganzen Arſenal
vor dem „ böſen Geiſt der Nachwehen “ verteidigt worden .
Schon während der Geburt iſt beſtändig Fett ins Zeltfeuer
geworfen worden . Dann haben ſie aus dem Geſtüte das Pferd
geholt , das die größten Augen hat ; es mußte den Buſen der
Frau berühren . Nach dieſem holte man eine Eule ins Zelt ,
die ſo lange geärgert wurde , bis ſie ſchrie : das alles kann
der böſe Geiſt nicht leiden . Ein anderer Raubvogel wurde
der Armen direkt auf die Bruſt geſetzt , mit Stachelbeeren
wurde ſie beworfen , damit der Böſe daran kleben bleibe . Neben
ihrem Kopfkiſſen lag ein Schwert mit der Schneide nach oben
begraben . Zuletzt , wenn die Nachgeburt immer noch nicht
kommen will , vom Geiſte geſperrt , ſo tritt — nicht der Arzt ,
ſondern der Sänger des Stammes ins Zelt , wirft ſich auf
die Leidende und verprügelt ſie gelinde mit ſeinem Stabe .
Dieſe Rolle des „ Sängers “ kennt übrigens auch die voigt¬
länder Bäuerin dort : zu ihr kam der Nachtwächter , als die
Geburt ſich hinzog , und ſang ihr ein geiſtliches Lied . Sie
ſelber mußte dazu geweihten Kümmel nehmen , der in der
Johannisnacht um Zwölfe gepflückt war , im ganzen Hauſe
wurde mit Zwiebeln geräuchert und alle Schlöſſer wurden
aufgeſperrt . Die Steiermärkerin daneben hat ſich Heiligen¬
bilder dabei auf die Haut geklebt , ſie hält die getrocknete Knie¬
drüſe des brünſtigen Gemsbocks in der Hand und trägt eine
Natternhaut um den Leib . Die Pfälzerin riecht , während ſie
ſich in Schmerzen windet , an einer im Waſſer entfalteten Roſe
von Jericho .
Hörſt du das wahnſinnige Getrommel und Gepfeife ? Es
ſind die Freundinnen der nackten Niam-Niam-Frau in Afrika ,
die ſo lange fanatiſch muſizieren , bis die Kreißende in ihrer
Mitte beim Ziel iſt . Der ernſte Mann aber wieder daneben
mit den glühenden Phantaſieaugen des Mittelalters iſt Franz
von Piemont , der Meiſter von Neapel um 1340 . Auch er
hat eben eine Wöchnerin in Behandlung . In ihrer linken
Hand muß ſie Magneſia , vermiſcht mit der Aſche von Eſels¬
klauen und Pferdeklauen , halten . Das Getränk aber der armen
lechzenden Kehle iſt nach des Arztes ſtrenger Vorſchrift Waſſer
mit Tinte . Doch iſt es nicht gemeine Tinte , ſondern Tinte ,
die bereits einen Vergeiſtigungsprozeß durchgemacht hat . Mit
ihr iſt nämlich auf ein Pergamentblatt der Pſalm „ Miserere
mei Domine “ bis zu den Worten „ Domine labia mea aperis “
geſchrieben worden , dann iſt die Tintenſchrift mit Waſſer
wieder abgewaſchen worden und das jetzt trinkt die Leidende ,
das Pſalmwort ſymboliſch mitverſchluckend . In ihr rechtes
Ohr wird zugleich „ Memor esto Domine “ mit drei Pater¬
noſtern geſprochen und um ihren Hals hängt das „ Dixit Do¬
minus Domino meo “ auf einem Blatte , durch das eine reine
Jungfrau einen wollenen Faden gezogen hat .
Auch der alte Plinius erhebt noch einmal ſeine Stimme
dazu : er empfiehlt einen Adlerſtein , im Neſte des Vogelkönigs
gefunden , als Talisman zur Niederkunft herbeizubringen . Über
die Schulter des alten Cäſarenfreundes , der in Pompeji mit¬
verunglückt iſt , aber lächelt dich verſchmitzt ein ganz modernes
Geſicht an : ein Bauerndoktor von Reichenhall in Bayern . Er
beſaß und verwertete in unſeren Tagen noch den gleichen
uralt berühmten Adlerſtein . Ein braungelber Thoneiſenſtein
mit lockerem Kern , ein ſogenannter Klapperſtein , iſt es nach
der Analyſe unſerer unheiligen Chemie . Er iſt in Meſſing
gefaßt , mit einer Öſe zum Anhängen um die linke Hüfte der
Gebärenden nach dem gleichen Rezept , das ſchon der brave
Jakob Rueff von Zürich im Jahre 1554 in ſeinem „ ſchön
luſtig Troſtbüchle von den Empfangknuſſen und Geburten der
Menſchen “ giebt . Einige Stellen ſind ausgeſchabt : da haben
wohl der Wunderdoktor oder ſeine Vorfahren gelegentlich ein¬
mal einer ganz beſonders gut zahlenden hohen Patientin
etwas Thoneiſenſtein auch innerlich vergeben . Der Stein liegt
übrigens jetzt , ſeinem myſtiſchen Werk ins Profanſte entrückt ,
im Berliner Muſeum für deutſche Volkstrachten .
Das nächſte Paar , das im Zuge ſchreitet , ſtammt von
der Inſel Nias . Die Frau iſt geſegnet , aber für das wilde
Paar bedeutet das eine harte Zeit . Denn vom Tage an
liegen ſie im Netz der Phantaſie ihres Volkes . Eine ganz
neue Lebensweiſe hat für ſie begonnen , jede Kleinigkeit wird
abgewogen auf eine geheimnisvolle Beziehung zwiſchen den
Alltagsthaten der Eltern und dem kommenden Kind . Wo ein
Menſch einmal totgeſchlagen , ein Kerabauochſe geſchlachtet oder
ein Hund nach Landesbrauch verbrannt worden iſt , da dürfen
ſie nicht vorbeigehen , da ſonſt das Kind gekrümmt ſein wird
wie ein Sterbender . Kein Haus dürfen ſie zimmern , kein
Dach decken , keinen Nagel einſchlagen , ſich in keine Thür und
auf keine Leiter ſtellen , kein Tabakblatt dürfen ſie im Betel¬
ſack brechen , — am Kinde geſchähe das alles in verhängnis¬
voller Weiſe mit . Der Nagel nagelt das Kind im Mutterleibe
feſt und erſt wenn der Vater ihn wieder auszieht , wird die
Geburt frei . Wenn ſie in den Spiegel ſchauen , wird das
Kind ſcheel , wenn ſie eine Krähe eſſen , ſo wird es krächzen ,
wenn ſie einen Affen greifen , ſo wird es einen Affenkopf
haben , wenn ſie ein Schwein vom Leichenſchmauſe eſſen helfen ,
fliegt ihm die Krätze an , wenn ſie einen Piſangbaum pflanzen ,
wächſt er in ihm zum Geſchwür , wenn ſie eine Bockkäferlarve ,
den Leckerbiſſen des Landes , eſſen , ſo ſchlägt es ihm auf die
Bruſt , wenn ſie eine Schlange ſchlagen , ſo ſchlagen ſie ihm
die Lunge wund , wenn ſie Öl keltern , ſo preſſen ſie ihm den
Kopf . Gehen ſie an einem Ort vorbei , wo der Blitz einmal
eingeſchlagen hat , ſo brennt ihnen das Kind kohlſchwarz , wenn
ſie eine Eule eſſen , ſo ſchreit es eulengleich . Wenn ſie ein
dürres Feld anzünden und es verbrennen die Mäuſe darin
mit , ſo iſt's , als ſei auch das Kind in der Flamme . Wehe
wenn einer über die ausgeſtreckten Beine des anderen tritt : er
flicht einen Knoten in das Kind , der die Geburt hemmt . Der
Ambon-Inſulaner , der ſonſt harmlos am Abend vor die
Hütte trat , ſeine Notdurft zu verrichten , muß , wenn die Frau
ſchwanger iſt , ſelbſt bei dieſem unſchuldigen Akte Vorſichts¬
maßregeln treffen : entblößt er leichtſinnig vor der blanken
Mondſcheibe ſein Mannesglied , ſo ſehen es die Mondfrauen
und fühlen ſich beleidigt ; an ihnen aber hängt Wohl und
Wehe der Geburt .
Sie ſitzen überall , dieſe Geiſter . Dort die ruſſiſche He¬
bamme trägt etwas eilfertig fort und murmelt dazu . Es iſt
die Nachgeburt , ſie muß in beſonderem Topf im Hofraum bei¬
geſetzt werden , ſonſt fällt das Kind in ſchwere Krankheit , und
bei dieſem Begräbnis muß die Hebamme beten : „ Geh zu
Grunde , geh zu Grunde . “ Es iſt ein böſer Kobold , den ſie
verſcharrt . Auf Ambon macht man 's poetiſcher . Da kommt
der Mutterkuchen in weißes Linnen und das in eine Frucht¬
hülſe mit drei Löchern . Dieſes Särglein wird feierlich begraben ,
mit ſieben lodernden Fackeln auf dem Hügel , die ſieben Nächte
brennen müſſen . Ein beſonderer Wächter wird dabei angeſtellt ,
der den Fleck zugleich beſtändig mit friſchen Blumen beſtreut .
In die ſieben Tropenflämmchen hinein leuchtet dir aber ein
wilderes Licht . Aus Norwegen glüht es und ein kleiner
Scheiterhaufen iſt's . Hier hat die Hebamme zuerſt die böſe
Nachgeburt regelrecht wie ein lebendiges wildes Tier mit dem
Meſſer abgeſtochen und nun verbrennt ſie ſie , denn ſonſt kriecht
doch noch der Unhold Utbor heraus , der ſich klein machen kann
wie eine Maus und doch brüllen kann wie ein Stier und die
Mutter freſſen will . Nun aber kommt gar ein Bratgeruch der
Küche herüber : braſilianiſche Indianerinnen ſitzen beiſammen
und verzehren die Nachgeburt . Auf Java wird ſie ausgeloſt ,
damit die glückliche Gewinnerin ſie eſſe und damit ſelber die
Gewißheit erhalte , bald ſchwanger zu werden . Ein lieblicheres
Bild iſt wieder das Schifflein , das dort , ebenfalls auf Java ,
treibt : die Nachgeburt iſt hier auf ein kleines Bambusfloß ge¬
bettet , Blumen und Früchte ſind darum gruppiert und das
Ganze iſt mit brennenden Kerzen umſteckt wie ein Geburtstags¬
kuchen . So treibt das Moſesſchifflein den Strom hinab .
Schließlich werden die Krokodile es freſſen . Aber in denen
wohnen ja die Seelen der Vorfahren , ſo kommt 's an den
rechten Ort .
Die Kerzchen verglimmen , doch nun kommt ein Heiligen¬
ſchein . Wenn die Nachgeburt erſcheint , ſo iſt es nicht bloß
der Atmungsapparat des Kindes , die Plazenta oder der Mutter¬
kuchen , ſondern auch noch das glaſige Hüllkleid , in dem das
werdende Menſchlein innerhalb der Gebärmutter wie ein Fiſch¬
lein im Aquarium ſchwamm . Amnion nennt man es : die
Eihäute ſind es eigentlich . Nun denn dieſes Amnion iſt es ,
das die Phantaſie mit dem Heiligenſchein goldig umleuchtet hat .
Wenn das Kind noch bei der Geburt ausnahmsweiſe ſelber
mit ihm behelmt iſt , anſtatt daß es nachkomme , ſo gilt das
als die „ Glückshaube “ . In Modena heißt's heute noch das
Muttergotteshemdlein . Es iſt ein heiliges Amulet , das das
Kind dauernd am Halſe tragen ſoll . Dem Täufling wird es
beigelegt , damit es ſelber die Taufe erhalte . Hebammen ſtehlen
es oft und ſtecken es andern Kindern zu , daß ſie Glückskinder
werden . Aber in die Heiligkeit hinein tönt eine Marktſchreier¬
ſtimme . Zum erſten , zum dritten , zum letzten Mal ! Im Eng¬
land des neunzehnten Jahrhunderts iſt der Glaube an ſolche
Zeichen und Mirakel noch ſo groß , daß eine feſte Taxe für
ein Glücksamnion beſteht . In der „ Times “ ſtanden Annoncen ,
in denen eins zu kaufen geſucht wurde . 1779 galt der Markt¬
preis noch 20 Guineen , 1848 hatte die Aufklärung ihn bis
auf 6 Guineen gedrückt , — Börſenwert der Aufklärung ! Dabei
ſind die Käufer nicht bloß Hebammen . Dort der Juriſt hat
ſich heimlich ſo ein Ding als Glückshörnchen angehängt : denn
es ſoll dem Advokaten Glück im Amt ſchaffen . In Island
wohnt Fylgia , der Schutzgeiſt des Kindes , in dem Häubchen ,
es bleibt in Kontakt mit der Kindesſeele . In Süd-Rußland
rührt das Mädchen mit dieſem treu bewahrten Amulet an eine
nackte Körperſtelle des Burſchen und alsbald muß er ſie lieben .
Siehſt du aber jetzt die ungeheure Prozeſſion , die endlos
wie eine Midgardſchlange von Weltenlänge da hinten durch den
Nebel wallt ? Dämoniſche Geſtalten von Übermenſchengröße ,
Männer und Weiber , dazwiſchen Kobolde wie kleine Kinder .
Die Götter ſind es , die hinter der Geburt ſtehen . Unzählige ,
wie ſollten ſie nicht . Erinnere dich , daß die Mexikaner in
ihrem iſolierten Erdenwinkel allein nach gelinder Schätzung
zweitauſend Götter hatten . Zweitauſend Götter für zweitauſend
menſchliche Bedürfniſſe . Wie gewaltig aber ſteht unter dieſen
Bedürfniſſen das ungeheure nach dem Menſchen ſelbſt : Liebe ,
Zeugung , Geburt . Wo es Götter regnet in der Phantaſie wie
weiße Kirſchblüten im Lenzwind , da häufen ſie ſich über dieſem
großen Centrum am dichteſten .
Da ſchreitet die uralte Iſtar aus dem Euphratthal , aus
der ſumeriſch-akkadiſchen Kultur , wo zuerſt Aſtronomie blüte ,
aber der ganze Sternenhimmel zugleich auch in Göttern auf
die Erde kam bis in jedes profane Alltagsgeſchäft herein .
Iſtar iſt das ſymboliſche All-Weib , das in jede Wöchnerin
fährt , wenn ſie gebären ſoll , das in ihr , durch ſie aus dem
All herausgebiert . Als die Sintflut brauſt — dort ſtammt
ja der Mythus her , von dort iſt er uns im Keilſchrift-Urtext
überliefert — da jammert Iſtar , daß ihre Menſchen , die
ſie alle geboren hat , wie Fiſche ins uferloſe Meer tauchen
ſollen . Aber Iſtar hat nicht nur Menſchen geboren . Mit dem
Phantaſiegott hat ſie weitere Wunderweſen aus ſich erzeugt .
Da wandelt Aſtarte , ihre babyloniſche Rieſentochter , auch ſie
„ Allgebärerin “ . Durch ſie als Mittlerin rinnt die myſtiſche
Zeugung , die hinter aller natürlichen gedacht wird , vom Mond ,
von den Sternen zur empfangenden Erde . Alles gehört ihr :
die Jungfrau wie die Mutter , die Unſchuld und das Kind .
Sie wird Mylitta und in ihrem Tempel zu Babylon
finden jene Weiheopfer der Weibesblüte ſtatt , von denen wir
geſprochen haben . Da ſitzen die Frauen zu langen Scharen
gereiht , das Hanpt Haupt mit Schnurkränzen umwunden , Spalier
bildend beiderſeits einer offenen Mittelgaſſe , die mit aus¬
geſpannten Stricken frei gehalten iſt . Die vornehmeren Damen
ſind in einem geſchloſſenen Wagen angekommen , von Sklavinnen
dicht umſchart . Alle aber harren des Gottesopfers . Nun nahen
fremde Männer in der Mittelallee . Sie wählen nach ihrem
Gutdünken . Ein Geldſtück klirrt in den Schoß der Erwählten
( es kommt in den Tempelſchatz ) , dazu der Ruf „ Mylitta “ .
Mylitta will , Mylitta hat gewählt . Schweigend folgt das
Weib dem Gottesboten und giebt ſich ihm hin . Es iſt der
myſtiſche Akt , der alle profanen überſchattet , Mylitta , die in ſie
einfährt , um ſie für immer zu beſitzen .
Hörſt du die wilde , berauſchende Bacchantenmuſik ? Länger
als ein Jahrtauſend lang rauſcht , pfeift , trommelt ſie ſo fort im
Tempelhain zu Hierapolis in Syrien . Aſtarte gilt ſie , dem ewigen
Mannweib und Weibmann zugleich , der zweigeſchlechtigen , die
jeder menſchliche Zeugungsakt erſt wieder ganz herſtellt . Es iſt
hier die Gebetsform , dieſer Zeugungsakt , der einzige Moment ,
wo der Menſch die Gottheit ganz erfaſſen kann . Weiber raſen
daher , in Männerkleider gehüllt , Männer im Frauengewand .
Sie vereinen ſich : — ſie beten . Prieſter regeln die Feier , die
Muſik iſt heilige Tempelmuſik . In unermeßlichen Scharen ſtrömt
das Volk herzu am Frühlingsfeſt . In prachtvoller Lage ſtrahlt
der Tempel vom Hügel über der Stadt herab . Joniſche Säulen
tragen ſein Dach , auf gewaltigen Terraſſen ruht ſein Fuß .
Und der ganze Tempelbezirk iſt eine einzige Schatzkammer
herrlichſter Weihgeſchenke . Wer nicht Gold ſchenkt , ſchenkt ver¬
ſchnittene Sklaven zum Tempeldienſt . An der Pforte ragen
zwei himmelhohe Obelisken , Symbole der männlichen Zeugungs¬
kraft in Geſtalt eines ſteinernen Gliedes . Alljährlich klettert
auf jeden ein Menſch im Geruch der Heiligkeit , um oben ſieben
Tage und ſchlafloſe Nächte zu beten ; unten häufen ſich die
Opfergaben der Gläubigen , die er in ſein Gebet einſchließt .
Und das raſt und raſt , während drüben allmählich jen¬
ſeits des blauen Meeres die ſchönen Marmortempel der
Griechen aufwachſen , zwiſchen deren Säulen Platon wandelt
und von der Himmelsliebe philoſophiert , — raſt , als die
Wölfin am Tiber ihre Senatoren und Cäſaren ſäugt , raſt
und trommelt , bis der Cäſar Conſtantin zum Chriſtentum
übertritt . Dann ebbt es im Großen ein , um im Kleinen
immer noch wie ein unzerſtörbares Geſpenſterlicht da , dort
aufzubrennen , ſobald die religiöſe Stimmung wieder Nah¬
rung giebt .
21
Süßer , geheimnisvoller iſt die Muſik , die etwas ferner
herüber klingt . Durch Indien ſtreift der Schattenſtreifen dort ,
Lotosblumen blühen darin , der heilige Strom rauſcht in der
Tiefe . Da ragen geſondert die Pagoden des Nara-Lingam
und der Nari-Nahamam . In ganz ſüßen Melodien hatte das
eingeſetzt . Urſprünglich war Nari die Liebe , die „ goldene
Welt-Gebärmutter “ , die ſich mit Nara , dem Geiſte , vermählte
und ſo die Welt erſchuf . In ſolchem lichten Bilde iſt es , als
breche die Phantaſie hellſeheriſch wirklich für einen Moment
die Schranken unſerer Menſchlichkeit ....
Aber ſo bleibt es nicht . Mit der Verweltlichung des
Brahmanismus iſt Nari nur noch die myſtiſche Vergottung der
weiblichen Liebespforte . Ihr Symbol iſt das Nahamam , das
weibliche Zeugungsorgan . Nara dagegen iſt der heilige Mann
als Mannesglied , als Lingam . Jede der beiden Gottheiten
hat ihre Pagode für ſich , in der ihr Symbol allerorten prangt ,
naiv wie andere heilige Zeichen in Gotteshäuſern . Zur ge¬
weihten Stunde aber ſtrömt es zu dieſen Heiligtümern von
Gläubigen . Die Männer zur Pagode des Nara , die Weiber
zur Pagode der Nari . Dort ſind Prieſterinnen , wild ſinnlich
koſtumiert , Blumen im Haar , in Wohlgerüchen halb erſtickt ,
hier die Prieſter ebenſo . Weihrauch dampft , es iſt Gottesdienſt
und dieſer Dienſt iſt regelloſe Zeugung . Neun Tage dauert in
der Frühlings- und Herbſt-Tagundnachtgleiche ſolches Liebesfeſt ,
eine einzige lodernde Orgie . Alle Einwohner des Ortes nehmen
daran teil . Jeder trägt am Halſe als Abzeichen ein männliches
Lingambild , verſchränkt mit einem weiblichen Nahamam . Und
alle kehren heim mit dem Glauben , eine fromme Zeit verlebt zu
haben , da ihre kleinen menſchlichen Sünden von ihnen fielen in der
Verklärung zum Gottesdienſt . Ungeheuerliche Kraft der Phantaſie !
Doch die Muſik ſchweigt vor Schrecken , denn jetzt kommt
ein lederner Pedant . Der Römer kommt , der alte Cato , der
alte Cicero . Hier iſt alles rechtlich feſt geregelt , — auch die
Phantaſie . Jede Geſchlechtsfunktion hat ihre Gottheit bis ins
Lächerliche hinein . Da kommt die Mena : die ſchützt die
Menſtruation . Lucina ſchützt die Schwangere , die in ihrem
esquiliniſchen Haine Blumen opfert , vor falſcher Niederkunft .
Noch wenn das Kind da iſt , ſetzt man ihr eine Woche lang
täglich eine Verſöhnungsmahlzeit hin . Bei der Geburt ſelbſt
helfen außer Lucina noch eine ganze Muſterkarte anderer
Göttinnen und Götter . Die Prorſa hilft bei normaler Lage
des Kindes als Göttin der Vorwärtslage , die Poſtverta , die
„ Verlagerte “ , bei verkehrter Stellung . Pilumnus , Intercidona
und Deverra ſchirmen Mutter und Kind vor dem Spukgott
Silvanus , Carna und Cunia hegen ſpeziell das Wiegenkind ,
Rumina iſt die Heilige des Säugens , Oſſipaga die des Knochen¬
wachstums , Vatikanus und Fabulinus des Lallens und Schreiens ,
Vitumnus weckt das Leben , Sentinus uud und Sentina das Gefühl ,
Vagitanus das Atmen und Schreien . Hier wird das Göttliche
zum abſolut reflektierenden Spiegel des Irdiſchen . Jeder Akt
erhält ſein Gottesſpiegelbild , der Blick zum Himmel wie die
erdwärts ſinkende Notdurft .
Doch der Schatten wallt und wallt . Da ſchreitet ein
ſchönes Mädchen , eine Inderin , hold wie Sakontala . Sie
kommt aus dem alten Bibelbuch der indiſchen Veden . Sie
liebt , aber ſie hat eine böſe Nebenbuhlerin . Ihre eigenen
Menſchenreize reichen noch nicht . So muß ein Myſterium
hinzu . Eine Zauberpflanze trägt ſie in der Hand . Als ſie
ſie ausgrub , hat ſie dazu geſprochen : „ Dieſe Pflanze grabe ich
aus , das kräftige Kraut , mit dem man die Rivalin verdrängt .
Du mit den ausgebreiteten Blättern , heilbringende , kraftreiche ,
von den Göttern geſpendete , blaſe weit weg meine Nebenbuhlerin ,
verſchaffe mir einen eigenen Gatten . Herrlicher bin ich , o
herrliches Gewächs , herrlicher als die Herrlichen , aber meine
Rivalin , die ſoll niedriger ſein als die Niedrigen . Dir legte
ich die ſiegreiche zur Seite , dich belegte ich mit der ſiegreichen ;
mir laufe dein Streben nach wie die Kuh dem Kalb , wie
Waſſer dem Wege entlang . “
21 *
Der antike Romantiker Apulejus folgt ( aus der ſpäteren
römiſchen Kaiſerzeit ) , er trägt einen Liebestrank für das Herz
einer reichen Erbin . Spargel ſchwimmen darin , Krebsſchwänze ,
Fiſchlaich , Traubenblut und die Zunge des Fabelvogels Iyop ,
eine wahre Schlemmerſchüſſel ! Der Grieche daneben hat im
Becher ein paar Tröpflein Blut ſeiner Liebſten , darin iſt das
Hippomanes gelöſt : — zu Pulver verbrannt eine geheimnisvolle
ſchwarze Haut von Feigengröße , die auf der Stirn eines neu¬
geborenen Füllens gewachſen iſt .
Eine endloſe ſattgrüne Buſch- und Wieſenlandſchaft , nur
von ungezählten blauen Kanälen durchzogen , auf denen die
Kähne lautlos gleiten : der Spreewald . Auch der junge Burſch
im ſchmalen Nachen dort ſinnt , während er die Ruderſtange
rhythmiſch einſtößt , wie er ſein Mädchen feſt gewinnen könne .
Er hat einen Froſch gefangen und in einen Ameiſenhaufen ein¬
gegraben . Nach ein paar Stunden hat er dann ein Beinlein
des Märtyrers wieder hervorgeholt . Nun ſucht er die ſpröde
Liebſte , um ihr das Froſchbein beim Händedruck plötzlich in die
Hand zu geben , — das hilft unfehlbar . Der junge ſchwäbiſche
Bauer dort mit ſeinem Topf in der Hand macht 's noch um¬
ſtändlicher . In dem Topf hat er den Froſch , einen Laubfroſch ,
und ſo wird das Ganze in einen Ameiſenhaufen eingegraben .
Denn heut iſt Georgitag . Übers Jahr wird er am gleichen
Tage wieder nachſehen . Die Ameiſen haben den Gefangenen
im Topf reinlich ſkelettiert . Von dieſem Skelett jetzt nimmt
er einen Schenkelknochen , mit dem beſtreicht er heimlich ſein
Mädchen in der Richtung auf ſich zu . Das hilft . Der Lieb¬
haber danach ſtammt aus dem Samlande . Er trägt als Jagd¬
beute eine Eule . In der Mitternachtsſtunde wird er ſie kochen .
Aus ihrem Kopf löſt er dann zwei Knöchlein , die einer Hacke
und Schaufel gleichen . Den Reſt des Eulenleibes begräbt er
unter der Traufe . Nun hat er ein Univerſalmittel : denn
jede Maid , die er mit der Hacke berührt , muß ihm folgen .
Will er ſie wieder los ſein , ſo berührt er ſie mit der Schaufel .
Aber auch das oſtpreußiſche Mädchen dort hat etwas in
der Hand : es iſt eine Fledermauskralle . Auch ſie krallt ihr
den Bräutigam als wehrloſes Opfer feſt . Die kleine nette
Italienerin dort aus Calabrien bannt die Liebe in die
Schnupftabaksdoſe . Aber der Schnupftabak beſteht in Wahrheit
aus dem zu Pulver zerſtoßenen Dörrleibe einer in Wein er¬
ſäuften Eidechſe , — eine Priſe , auf den Mann geworfen , macht
ihn ſterblich verliebt in die hübſche lebendige Lazerte .
Lies das Rezept auf der Flaſche dort , die gewackelt
kommt , — es iſt eine Liebesmedizin , die Sprödigkeit bricht ,
wie Chinarinde das Fieber : Lorbeerzweige , Sperlingshirn , die
Knochen der linken Seite einer Kröte , die die Ameiſen an¬
gefreſſen haben , Hoden vom Eſel , Pferd und Hahn , und weib¬
liches Regelblut . Die Frau dahinter iſt im Jahre 1859 in
Berlin verhaftet worden , weil ihr nachgewieſen wurde , daß
ſie täglich mit ähnlichen Liebestränken die lukrativſten Geſchäfte
gemacht hatte .
Die Kröte , — warum überall die Kröte in dieſem
Schattenſchweif der Liebesphantaſie ? Dort die tiroler Bäuerin
mag dich lehren . Sie wallfahrtet zu einem Mirakel wie der
arme Jüngling nach Kevlaar . Aber ſie trägt kein wächſernes
Herz als gelobtes Opfer dahin . In ihrer Hand ſiehſt du ein
kleines Monſtrum aus Wachs : ein leibhaftiges Krötenbild ,
fett , mit geſpreizten Beinen . Der Unhold trägt um den Hals
eine ſeidene Schnur , an der wird er neben dem Heiligtum ,
etwa dem Altarbild einer Kirche , aufgehängt werden . Schweres
Leid wälzt die Arme in ihrer Hoffnung ſo vom eigenen Leibe .
Denn dieſe Kröte da iſt nichts anderes , als das Sinnbild
einer Gebärmutter . Am Altar geweiht , wird ſie die furcht¬
baren Schmerzen lindern , die im Leibe der Bäuerin von der
wirklichen Gebärmutter ausgehen . Das Myſtiſche wird ſie
umfließen und von ihr eindringen in ihr reales Urbild , heilend
wie ein Arzt . Aber warum gerade das Krötenbild als Symbol ?
Die Phantaſie-Nixe hebt den Stab : ja wohl , ſie iſt nichts
anderes als ſelber eine geheimnisvolle Kröte , die im Weibes¬
innern lebt , die Gebärmutter . Wie das Kind als ein Fremdes
doch eine Weile im Mutterleibe wohnt ; wie der Bandwurm
als ſelbſtändiges , unerwünſchtes Weſen in unſerem Darm liegt ;
ſo iſt auch die Gebärmutter in der Völkerphantaſie eine Art
ſeparat lebenden paraſitiſchen Tieres im Weibe . Uralt iſt
dieſer Glaube . Die Gebärmutter will gefüttert ſein , ſonſt
wird ſie unruhig und beißt . Der weiſe Salomo hat für dich
ſchon den Spruch : „ Drei Dinge ſind nicht zu ſättigen und
das vierte ſpricht nicht : es iſt genug . Die Hölle , der Frauen
verſchloſſene Mutter , die Erde werden nicht Waſſer ſatt , und
das Feuer ſpricht nicht : es iſt genug . “ Plato lehrt dich , daß
der Uterus ein Tier iſt , das Befruchtung als Speiſe verlangt ;
muß es hungern , ſo fängt es an zu wandern und den Körper
zu quälen , in dem es wohnt . Aretäus , der weiſe kappa¬
doziſche Arzt , ſagt dir : „ In der Mitte zwiſchen beiden Flanken
liegt beim Weibe der Uterus , ein weibliches Eingeweide , das
vollſtändig einem Tiere gleicht , denn es bewegt ſich in den
Flanken hin und her . Die Gebärmutter ergötzt ſich an an¬
genehmen Gerüchen und nähert ſich denſelben , während ſie vor
üblen zurückweicht . Sie gleicht daher einem Tiere und iſt
auch ein ſolches . “ Und das geht nun bis heute . Der Malaye
dort weiß es dir noch immer nicht anders zu ſagen : der
Uterus lebt für ſich , er wohnt bloß in der Frau , und er muß
Sperma eſſen , um geſund zu bleiben . Er ſagt es malayiſch .
Die Bäuerin in unſerem Ennsthal ſpricht gut deutſch : „ Wenn
d' Muata aus 'n Häusl is , hilft nix beſſer als d' Muata
fuatern . “ Sie kennt aber nicht bloß das natürliche , ſondern
noch ein beſonderes phantaſtiſches Futter . Aus Roſeminze ,
Hirſchhorngeiſt , Honig , Muskatnuß und Katzenſchmalz formt
ſie eine Pille , die kommt in eine Nußſchale . Dann werden
auf ein Wachskränzchen drei Wachskerzlein aufrecht geklebt .
Inmitten dieſer Kerzen wird die Nußſchale auf den Nabel der
Kranken gelegt und nun werden die Lichter angezündet . Vor
ihrem lichten Schein kriecht die unruhige „ Muata “ in ihr
„Häusl “ zurück und die Leidende hat Ruh .
Aus ſolcher Idee denn wächſt auch die Wallfahrt mit der
Votivkröte . „ Hanſens Bibergers Tochter “ , heißt es in einem
Wunderbericht , „ hatte die Bärmutter die ganzen Tage ohne
Aufhören gebiſſen , bis ſie ſich mit einer wächſernen Bärmutter
allhier verlobt . “ Die Krötengeſtalt mag der Umriß des dicken
Organs mit ſeinen Hörnern veranlaßt haben , nachdem das
Tier einmal feſtſtand .
Geſpenſterzug . Raſcher und raſcher wirbeln die Schatten ,
daß die Übergänge verſchwimmen .
Dieſe berückend ſchöne Teufelin hier iſt Lilith . Eine
unendliche Folge wehklagender Mütter bezeichnet ihre Spur ,
jede ein totes Kind im Arm . Schaurig rauſcht die Hebräer-
Sage , aus Wolluſt und Tod gemiſcht . Mit Lilith , dem wilden
Waldgeiſt des Paradieſes , hatte Adam gelebt , ehe Gott ihm
die Eva gab . Eva war die erſte treue Ehefrau , Lilith ver¬
körpert noch die freie Geiſterliebe . Als ihr Adam eines Tages
nicht mehr gefiel , ging ſie ihm auf und davon , wohl ſich mit
anderen Weſen ihres Urwaldes zu ergötzen . Aber Jehovah
wollte nicht , daß ſein Adam allein ſei . Drei Engel ſauſen
hinter Lilith her und ſtellen ihr eine grauſige Wahl . Sie
ſoll zu Adam zurück — oder jeden Tag ihres Lebens ſoll
ſie hundert ihrer Kinder durch den Tod verlieren . Adam
muß dieſer Titania des Paradieſes wenig Freude gemacht
haben . Denn ſie wählt das letztere . Aber ſchauerlich iſt auch
ſo ihr Los . Wie dieſe Hekatomben um ſie ſinken , nimmt ſie
eine furchtbare Rache : ſie erwürgt kleine Menſchenkinder der
Linie Adam-Eva . So iſt ſie der böſe Geiſt der Wochenſtube
bis heute . Nur die Namen jener drei Engel , die Jehovah
ihr nachſandte , Senoi , Sanſenoi und Samangelof , retten vor
ihr , wenn der Jude ihre Namen auf einen Zettel ſchreibt und
ins Frauengemach hängt . Anderswo müſſen ſechs Männer
aus der Synagoge am Bett der Mutter beten . Ein Kreide¬
ſtrich wird um die Mutter gezogen und an die Thür wird
geſchrieben : „ Gott laſſe das Weib einen Sohn gebären und
dieſem ein Weib werden , das der Eva und nicht der Lilith
gleicht . “
Der Zauberin aus dem Paradieſe folgen unheimliche
Tiere . Tiere , die ſich mit Menſchen vermiſchen . Aber es ſind
gar keine echten Tiere . Götter ſtecken in ihnen . Da iſt der
heilige Bock von Mendes im Nil-Delta . Scharenweiſe geben
die berauſchten Weiber ſich ihm hin . Denn er iſt der Sonnen¬
gott , der Allherrliche , der Weltbezwinger , der ſeine Zeugungs¬
kraft über die Welt ſtrömt wie ſein goldenes Sonnenlicht .
In dem Stier dort ſteckt Zeus . Das bunte Gebilde , das da
fratzenhaft gewackelt kommt , halb Tier , halb Menſch , halb
bloß Arabeske und im Ganzen bloß Holz , hat doch über¬
natürliche Manneskraft auf Neu-Guinea : das Papuaweib wird
ſchwanger , das ſich in ſeiner Nähe dem Schlafe hingiebt .
Dann die Nachtmare , die Vampyre , der Alp , Inkubus ,
Sukkubus , — die Geiſter ſind es des erotiſch erregten Schlafes ,
der nächtlichen Pollutionen . Sie dringen zu Mann und Weib
aufs Lager , nötigen ſie , wecken ihnen Kinder , von denen im
Wachen niemand weiß , woher . Unentwirrbare Rechtskonflikte
dringen da ins geregelte Leben : der Elf nimmt die Geſtalt
des Ehemanns an , umarmt die Frau ſo , die nichts Böſes
ahnt : ihr Kind aber nachher iſt ein Alräunchen , ein Elfen¬
kind , ein verwunſchener Zwerg , der in der Wiege plötzlich
ruft , er ſei ſo alt wie der Weſterwald . Grinſend auf Ur¬
waldäſten reiten die Waldſchratte und Waldteufel , die das
Weib im Walde überfallen , in Deutſchland im Fichtenforſt ſo
gut wie unter den Schraubenpalmen Polyneſiens . Hinter
allem aber nickt zuletzt die Hahnenfeder am roten Hut : der
Satan lächelt dich an , der die Frauen verführt und ſie dafür
zu Hexen macht . Wechſelbälge und Kielkröpfe ſind die Frucht .
Eiſig kalt iſt die Welle der Teufel , denn ſie iſt bei Menſchen¬
männern geſtohlen . Unendliche Protokolle liegen darüber vor .
Scheiterhaufen flammen rot , auf denen überführte Teufelsliebchen
brennen . ...
Vorbei ! Vorbei ! Noch ein paar Bilder raſen dahin .
Da ſchleppt ſich eine Chippeway-Indianerin mit einem ſelt¬
ſamen Bündel . Ihr Mann iſt ihr geſtorben . Nun muß ſie
ein Jahr lang , wo ſie geht und ſteht , ein ſymboliſches „ Modell “
dieſes Gatten im Arm tragen . Ihr beſtes Kleid hat ſie dazu
genommen , wie eine Wickelpuppe iſt es eingerollt und mit des
Mannes Gürtel gebunden , mit ſeinen Schmuckſachen verziert .
Dort die Oſtjakin führt als Witwe ein Brett mit , roh in
menſchliche Form geſchnitzt . Auch das iſt für die Trauerzeit
ihr „ Gatte “ . Sie putzt es , ſie nimmt es mit in ihr verwaiſtes
Bett , ſie ſtellt ihm bei der Mahlzeit Speiſe und Trank hin .
Märtyrerinnen ſind ſie , dieſe armen Witwen , weit über den
einfachen Verluſt des Liebſten hinaus . Wenn die indiſche
Witwe ſich auf dem Scheiterhanfeu Scheiterhaufen mit der Leiche des Gemahls
verbrennt , ſo klingt noch etwas hinein von heroiſcher Liebe ,
die in den Tod folgt . Aber die Quälerei der Phantaſie weiß
ganz anders raffinierte Bußen für ſie . Ein myſtiſches Band
bleibt zwiſchen Gemahl und Witwe nach indiſchem Glauben ,
auch wenn die Witwe weiterlebt . Von ihrer Lebensart hängt
die Seligkeit des Toten ab . Für immer iſt ſie fortan eine
Gezeichnete , die eine heilige Diät halten muß . Nur einmal
am Tage ſoll ſie eſſen . Fleiſch , Fiſch und Nachtiſch giebt es
dabei nicht mehr für ſie , dafür um ſo häufiger Faſten und
Kaſteien . Ihr ſchönes Haar darf ſie nicht mehr pflegen , nie
mehr darf ſie in einen Spiegel ſchauen . Auf einer rauhen
Matte muß ſie ſchlafen , als Kiſſen ein hölzerner Klotz . Es
iſt , als ſitze der Verlorene ihr noch wie ein Geſpenſt zeitlebens
im Nacken .
Und was willſt du ? Dort keucht die Tolkotin-Indianerin
wirklich daher unter einer Laſt ſchlotternden Totengebeins , —
Gebeine ihres Mannes . Als der Gatte verbrannt worden
war , mußte die arme Witwe die größten Knochen in einen
Sack aus Birkenrinde ſammeln . Ein Jahr lang hat ſie den
beſtändig auf dem Rücken zu tragen . Auch danach aber iſt
ihre Pein noch nicht zu Ende . Noch jahrelang iſt ſie die
ärmſte Sklavin aller anderen Frauen im Stamm , vogelfrei
für Prügel . Furchtbar iſt ihre Strafe , wenn ſie nicht mit den
Fingern jedes Unkräutlein von der Stelle jätet , wo der Reſt
der Gattenaſche beſtattet liegt . Und erſt im vierten Jahr
ſchlägt ihre Befreiungsſtunde . Nun giebt's ein großes Feſt .
Zum letztenmal erſcheint ſie mit den Knochen huckepack . Man
nimmt ſie ihr , nagelt ſie in eine neue Kiſte und hängt ſie
auf einen hohen Pfoſten . Dann wird Gericht gehalten , ob die
Witwe treu war . Hat ſie auch das beſtanden , ſo ſalbt der
Häuptling ihr zum erſtenmal wieder das Haupt mit Öl und
ſchmückt ſie mit Vogelfedern : nun darf ſie wieder heiraten .
Auch dort die Andamanen-Inſulanerin ſchreitet daher , als
helfe ſie beim Umzug in einer Anatomie . Von ihrer linken
Schulter grinſt über ihren nackten Brüſten ein Totenſchädel ,
grellrot bemalt und mit Franzen aus Holzfaſern verziert .
Es iſt der Schädel ihres Mannes , den die Witwe ſo lange
auf der nackten Haut tragen muß , bis ſie ſich wieder vermählt .
Das nächſte Bild ſcheint luſtiger . Das Tamtam raſſelt ,
bunte Gewänder wehen , eine prächtige Hochzeitsſänfte naht .
Das iſt China . Aber auch hinter dieſer Hochzeit ſteht un¬
heimlich der Tod . Zwei Menſchen werden noch nach ihrem
Tode vermählt . Beide ſind früh geſtorben , als Kinder ſchon .
Da naht nach der rechten Reihe der Jahre die Zeit , da ſie
heiraten müßten . Und alsbald gehen die Eltern daran , als
ſei durch den Tod nichts geändert . Ein Heiratsvermittler
wird berufen , er macht zu jedem Knaben eine Reihe gleich¬
altriger , „ gleichtoter “ Mädchen ausfindig und umgekehrt . Die
engere Wahl beſtimmt das Horoſkop der Aſtrologen . Eine
„ Glücksnacht “ wird zur Hochzeit ausgeſucht . Am Abend jetzt
wird im Ceremonienſaale bei den Eltern des Bräutigams eine
Papierpuppe des Toten im Hochzeitskoſtüm auf einen Stuhl
geſetzt . Nun geht die Sänfte ab , die Braut einzuholen . Ein
Sprecher bittet im Brauthauſe , der Seele des Mädchens zu
geſtatten , ſich in die Sänfte zu ſetzen . Dieſe Seele ( oder nach
Chineſenglauben eine der drei Seelen jedes Menſchen ) ſitzt
gewohnheitsmäßig bei ihrer Ahnentafel im Elternhauſe , ſie
wohnt ſo zu ſagen im ſchriftlichen Stammbaum wie ein Haus¬
geiſtchen , das ſich in der Familienbibel etabliert hat . Da bleibt
nichts übrig , als die Ahnentafel vom Altar des Hauſes zu
nehmen und ſamt einem Papierbilde des Mädchens in die
Sänfte zu legen . So kommt der Zug daher , mit zwei Muſi¬
kanten voran , der eine ſpielt auf der Laute , der andere haut
wuchtig die große Trommel . Im Elternhauſe beim Bräutigam
werden die beiden Puppen auf Seſſeln zuſammengeſetzt . Eine
Tafel mit wirklichen leckeren Speiſen wird ihnen ſerviert und
nicht weniger als ſechs Prieſter ſegnen und beſchwören ihren
glücklichen Ehebund . Zuletzt kommt ein Brandgeruch : das
papierne Ehepaar wird ſamt einer Maſſe von papierner
Dienerſchaft , Sänften , Geldnachahmungen , Kleidern , Fächern
und Pfeifen verbrannt . Im Rauche eint es ſich den Toten ...
Laß die Rauchwolke ſich breiten . In ihr verdämmert das
ganze wilde Heer . Das letzte Bild war an der Grenze des
Humors . Und du darfſt ihn wiederfinden .
Du lächelſt zuletzt . So viel Thorheit . So unſagbar
groteskes Danebenhauen . So viel tolle Sprünge über die
einfache Wirklichkeit . Dieſes Lächeln iſt aber die Erlöſung
ſelbſt . Du , der vorgeſchrittene Kulturmenſch , biſt aus dieſem
Schatten ſchon heraus .
Noch iſt er dir ja nah genug . Um dich her haſt du
tauſende von Menſchen , die ſich auch Kulturmenſchen nennen
und die doch heute noch neben dir gegebenen Falles ſehr in
Zweifel ſein werden , ob die einfachen Regeln moderner Hygiene
wichtiger ſeien etwa für das Wohl einer Wöchnerin — oder
ein Fledermausknöchelchen , myſtiſch in ihr Kopfkiſſen vernäht .
Aber das iſt die Menſchheit , von der ich dir früher einmal
ſagte , daß es für ſie noch keine Frage giebt , ob der Menſch
vom Affen abſtammt , weil ſie noch gar nicht „ abſtammt “ ,
ſondern noch „ iſt “ . Dieſe Maſſe iſt nicht das entſcheidende .
Den Ausſchlag geben die paar Gerechten wie im Märchen von
Gomorra . Dieſe drei Gerechten haben eine Hygiene , eine
wiſſenſchaftliche Zeugungslehre und Embryologie geſchaffen , eine
Wiſſenſchaft an Stelle der Phantaſiezüge . Sie haben erkannt ,
daß auch der Sonnenwagen der Liebe auf den Rädern tiefer
Naturgeſetze fährt .
Gewiß ſtehen wir auch hier erſt bei den Anfängen einer
Wiſſenſchaft . Aber wir ſtehen bei dieſen Anfängen . Im
Moment , da der Blick zum erſtenmal eingetaucht iſt in dieſe
wahren Myſterien der Zellenlehre , des Verhältniſſes von
Samentierchen und Eizelle , da zum erſtenmal ein kleines Licht¬
band ſich ihm aufgehellt hat in das geſchichtliche Werden des
ganzen Liebesapparates auch in uns : in dem Moment hat der
Genius der Menſchheit thatſächlich ſein Entwickelungsgeſpenſt
nach dieſer Seite beſiegt .
Phaeton fährt noch nicht auf dem wirklichen Sonnen¬
wagen . Wir fahren ja auch noch nicht mit Orionſternen , weil
wir das erſte A-B-C des Gravitationsgeſetzes erkannt haben .
Wie ein ferner blauer Traum liegt es uns noch im Weiten :
daß unſere Wiſſenſchaft auch im Liebesleben aus einem Er¬
kennen einſt ein Meiſtern werde ; daß wir nicht mit Tamtam¬
ſchlagen , ſondern mit beſonnener Forſcherweisheit eingreifen
könnten in die wirkliche innere Sonnenbahn dieſer Dinge ; die
Zeugung losſteuern könnten in noch unendlich vervollkommnetere
Bahnen als die Natur unter uns es vermocht , zum Heil immer
geſünderer , kräftigerer , glücklicherer Generationen !
Ich glaube an dieſe Bahn , weil ich keinen Schnitt ſehe
zwiſchen ſchaffender Natur und bewußtem Menſchen . Der
Menſch iſt mir nur eine Stufe der Natur in ihrem eigenen
Heraufgang . Wenn die Natur die Liebe bisher gebaut hat
mit allen ihren Wundern , warum ſoll dieſer Höhenmenſch , der
ſich zur Wiſſenſchaft aufgerungen , nicht weiter daran bauen ?
Iſt dieſe Wiſſenſchaft doch erſt der Beginn unſeres wirklichen
tieferen Bewußtſeins , des wirklichen Bewußtwerdens der Natur .
Was iſt die ganze Geſchichte der Liebe , wie wir ſie hier ver¬
folgt haben , anders , als ein Bewußtwerden unſerer ſelbſt , der
tiefen Fäden , auf denen wir heraufkommen als Planet und
Tier und Urmenſch , — als Natur . Es iſt das große Natur¬
weſen , das in uns ( und gewiß gleichzeitig in ungezählten anderen
Sternenweſen ) ſich zurückbeſinnt auf ſein Werk bisher . Wozu
aber dieſes Zurückbeſinnen ? Was kann dieſe plötzliche unge¬
heure Rückſchau der Natur durch das Werkzeug des Menſchen¬
hirns anders bedeuten , als das Sichbeſinnen , das Sichſammeln
zu einem unerhörten noch höheren Entwickelungsruck ſelbſt ?
Immer , wenn ich dieſen Menſchen als Naturſtufe mir ver¬
gegenwärtige , kann ich mich der Anſicht nicht entſchlagen , es
ſei all das , was wir Wiſſenſchaft nennen , all dieſes raſtloſe
Sicheinbohren in das Hiſtoriſche , dieſe Titanenarbeit , das
Vergangene noch einmal wieder aufleben zu laſſen , nur eine
ſolche Vorbereitungsarbeit , ein ſolcher Sammelmoment der
Natur vor einer gewaltigſten Schlacht . Sie denkt noch ein¬
mal bis in die Nebelflecken , um mit dem nächſten Stoß eine
ganz neue Schicht durchzuſtoßen . An welcher Stelle aber
ſoll ſie weitergehen , als eben in den Weſen , die ſie bis
hierher gebracht hat ? Schon wir heute ſehen , wie ſich lang¬
ſam das Erkennen zum Beherrſchen formt , wie die erkannten
Vergangenheitswerte ſogleich Zukunftswerte werden , wie wir
das Werden zwingen , weil wir am Gewordenen gelernt haben .
In uns ſammelt ſich die Natur , — mit uns bricht ſie auch
weiter durch .
Wenn Phaeton einſt wirklich auf dem Sonnenwagen fährt ,
wird er der wirkliche Gott auch ſeiner Liebe , Zeugung , Geburt
ſein , — Gott in dem Sinne , wie der Menſch endlich durch
eigene Kraft im Schiff das Meer , im Ballon die Luft durch¬
queren lernte , nachdem er lange genug auf eine myſtiſche
Überwelt gelauert , die ihn auf ihren Nereidenfloſſen oder Engels¬
flügeln tragen ſollte .
„ Natürlich “ wird das letzte große Zauberwort , das durch¬
ſchlagende , mit dem die Natur ſehend ſich ſelber findet .
Ungeheures Wort !
Das Antäus-Wort iſt es , in dem der Menſch endlich wieder
die Erde berührt , nachdem ſein frei gegebener Intellekt auf
eine Ferienſtunde zwiſchen der großen Arbeit genügend herum¬
getollt iſt und Kobolz geſchlagen hat , daß die Köpfe bluteten .
Im Moment dieſes Anſchluſſes wird die Phantaſie aus
einer berauſchten nackten Wilden , die ſich die Brüſte abſchneidet
und Pflöcke durch die Naſe treibt , zur weiſen Seherin , die in
den Sternen der Liebe lieſt gleich jener anderen , die den Planeten
Neptun errechnete , als ihn noch kein Menſchenauge geſchaut hatte .
L iebe ! Forſche ! Lächle !
Das ſind die drei großen Imperative , die zu Gott führen , —
zur Einheit mit der Gott-Natur , zum Einklang in ihren großen
Weg , — die drei Verſöhnungsworte mit dem Leben .
Ja wie gut wäre mit dieſen drei Heilsworten wirklich
durch das ganze Leben zu kommen . Mit Liebe beherrſchten
wir die Zukunft , ſo viel uns an Arbeit zuerteilt iſt , mit
Forſche die Vergangenheit und nochmals die Zukunft in ihr
— und mit Lächle kämen wir über die kleinen Nüſſigkeiten
und Mückenſtiche des wunderlichen Kreuzweges Gegenwart hin¬
weg . Das letzte iſt aber doch das ſchwerſte , das immer wieder
faſt unmögliche . Wie glatt , wie ſchön leuchtet der Weltenlauf
überall heraus , wenn man ihn auf große Vergangenheitslinien
anſchaut , auf Millionenjahre-Züge , auf Weltperſpektive . Und
wie noch viel idealer , glatter , harmoniſcher fliegt die Sehn¬
ſucht mit ihren Goldflügeln über das blaue Zukunftsmeer .
Aber dazwiſchen ſteckt im Alltag etwas wie das Reich eines
Kobolds . Er ärgert als „ Objekt “ im kleinen , als das Ge¬
ſpenſt einer vollkommenen Sinnloſigkeit des Geſchicks im großen ,
komödienhaft und tragiſch . In Wahrheit ſteckt darin nur das
Gewirre ſich kreuzender Entwickelungsfäden , geſehen an einem
unglücklich kurzen Querſchnitt . Aber immer , wo du Welt¬
geſchichte aufrollſt , ſtößt du auch auf dieſen Kobold . Er iſt
die Gräte , an der ein Genius erſtickt , die ſchlüpfrige Stelle
einer Planke , auf der der Sieger im Triumphmoment aus¬
gleitet und in den Tod fällt .
Auch das Liebesleben des Menſchen hat ſeinen Kobold ,
der hinten im Faß ſaß . Eine von jenen Zugaben , die ab¬
ſolut unberechenbar ſeine reine Bahn aus einer unzuſammen¬
hängenden Ecke ſtreiften , wie es im alten Volksglauben der
Komet thut . Der Bauer treibt fröhlich ſein Vieh auf die
Weide . Da ſteht plötzlich der Komet am Himmel und wirft
Peſtilenz herab . Es iſt , als wenn aus der Welt da oben
jählings eine lange Naſe ſich vorſtreckte , zum Spott auf alle
Logik . Seinen Originalkobold hat es , dieſes menſchliche Liebes¬
leben , eigens erfunden , in ſeinen Blüten ſeinen Schabernack
zu treiben . Kein anderes Weſen der Erde beſitzt ihn . Dennoch
läßt ſich ſeine Vorausſetzung , ſeine ideelle Brutſtätte ſozuſagen ,
ſchon bei Tieren ſehr gut ſtudieren .
Du erinnerſt dich an den kleinen grünen Süßwaſſer-
Polypen , von dem wir früher mancherlei Amüſantes im Punkte
Liebesleben beſprochen haben . Dieſe grüne Hydra hat aber
noch eine ganz abſonderliche Eigenſchaft , die ein Kapitel für
ſich berührt . Ihre Leibkouleur Grün hat ſeit langem den
Naturforſchern viel Kopfzerbrechen gemacht . Der Hydra-Polyp
iſt ein echtes Tier , in der Verwandtſchaft nah den ſchönen
blauen Oſtſee-Quallen und den bunten Tierblüten der Korallen¬
riffe . Aber das Grün dieſes unzweifelhaft tieriſchen Weſens
kommt gleichwohl auf eine echt pflanzenhafte Methode zuſtande .
Es rührt her von ſogenanntem Chlorophyll . Chlorophyll
heißt zu deutſch Blattgrün , und es iſt in der That jener
charakteriſtiſche Farbſtoff , den die Pflanze bei der nötigen Be¬
lichtung und dem nötigen Eiſengehalt entwickelt und der in
ihrem ganzen Lebenshaushalt eine außerordentlich wichtige
Rolle ſpielt . Dieſes Chlorophyll giebt Malern und Dichtern
ſeit alters das Bild vom „ grünen Wald “ , der „ grünen Wieſe “ ,
dem „ grünen Blätterkranz “ . Im Farbenbilde der Erde ver¬
ſchmilzt es geradezu mit dem Begriff Pflanze . Und doch iſt
auch das Hydratier grün durch Einlagen ſolchen Pflanzen¬
grüns in ſeiner Körperhaut . Nachdem man ſich lange um
die Frage gemüht , unter welchen aparten Umſtänden auch ein¬
mal ein Tier , deſſen ganze Ernährungsart und chemiſche Lebens¬
grundlage doch ſo energiſch verſchieden von denen der Pflanze
iſt , Pflanzengrün chemiſch erzeugen könne , hat endlich die Löſung
doch noch etwas grundanderes , gewiſſermaßen drittes ergeben .
Weder iſt der Polyp eine Pflanze , noch ſchafft hier ein Tier
geſetzwidrig Pflanzenprodukte . Sondern die „ grüne Hydra “
iſt im Punkte ihres Grüns einfach ein Miſchprodukt : ſie iſt
an ſich ein nicht grünes Tier , in deſſen Haut ſich aber grüne
Pflanzen eingeniſtet haben . Denke dir , deine Haare würden
plötzlich grün und unter dem Mikroſkop würde feſtgeſtellt , daß
um jedes deiner Menſchenhaare ſich ein feſtes Geſpinſt grüner
Pflänzchen wuchernd gewickelt und dir ſo chlorophyll-grüne
Haare erzeugt hätte . Der Hydra-Polyp iſt ein ſchon nicht
mehr ſo ganz niedriges Tier , ſein Leib beſteht aus einer
ganzen Maſſe einzelner Zellen , die allerdings zunächſt genau
wie deine Haut- oder Darmzellen ſämtlich tieriſche Zellen mit
tieriſcher Ernährungsweiſe ſind . Da wo dieſe Zellen aber in
dem Polypenleibe grün erſcheinen , haben ſich in ſie hinein
fremde Zellen eingeſchmuggelt , die an ſich mit dem Polypen
und mit einem Tiere überhaupt gar nichts zu thun haben .
Jede dieſer Zellen ſtellt ein einzelnes winzig kleines , aber
ganz in ſich abgeſchloſſenes Pflänzchen dar , eine Alge aus
jener niedrigſten Gruppe , wo der ganze Körper noch gar nicht
zur Stufe einer Zuſammenſetzung aus vielen Zellen über¬
gegangen iſt , ſondern nur aus einer einzigen einzelnen Zelle
beſteht . Dieſe Einzelzelle iſt aber dabei doch ſchon regelrecht
„ Pflanze “ und weiß alſo in ihrer Leibesküche auch bereits
regelrechtes pflanzliches Blattgrün zu erzeugen . Wie die Roſe ,
die ſich ſelber ſchmückt und damit auch den Garten , färben
22
dieſe Pflänzlein aber , indem ſie ſich ſelber grün machen , durch
maſſenhaftes Einlagern in die innere Hautſchicht des Polypen
auch ihren Garten , nämlich eben den Polypen , grasgrün .
Man nennt dieſen Prozeß der lebendigen Einſchachtelung
eines Weſens in ein anderes „ Symbioſe “ , zu deutſch Zu¬
ſammenleben . Es iſt in dieſem Falle ſehr wahrſcheinlich , daß
das Verhältnis der beiden Geſchöpfe , Polyp und Alge , ein
mehr oder minder ganz behagliches iſt . Die Pflänzlein , die
in der Tierhaut ſchmarotzen , haben dadurch ein ſicheres Dach
über dem Kopf . Die Atmungsart der beiden Genoſſen iſt
eine konträre , alſo atmet jeder dem anderen das zu , was er
brauchen kann : die Alge ſpuckt Sauerſtoff als Atmungs¬
exkrement aus und gerade den kann der Polyp brauchen .
Ganz ſicher iſt auch die grüne Pflanzenfarbe dem Polypen
als Schutz- und Jagdfarbe nützlich , indem ſie ihn in Ver¬
bindung mit ſeiner Geſtalt an der Waſſerpflanze , auf die er
ſich feſtklammert , ſelber wie ein unſchuldiges Pflanzenknöſpchen
erſcheinen läßt . Jedenfalls aber und wie weit das nun gehe :
die Algen haben ihre Anlehnung an das Tier für ihr Teil
bis auf den Gipfel des Möglichen getrieben . Dieſe beſtimmte
Art Alge hat es völlig aufgegeben , noch außerhalb der Polypen¬
tiere ſelbſtändig vorzukommen . Seit undenklichen Zeiten wahr¬
ſcheinlich kennt ſie keinen anderen Wohnort auf dieſer ganzen
großen Erde , als eben die Leiber immer neuer Generationen
von Polypentieren . Ja Generationen ? Aber wie kommt ſie
immer wieder mit in dieſe neuen Generationen hinüber ? Die
früheren Beobachter , die noch meinten , der Polyp erzeuge
ſelber Chlorophyll , alſo die ganze Algen-Schmarotzerwirtſchaft
nicht ahnten , hatten als Waſſer auf ihre Mühle ſtets angeſehen ,
daß auch die jungen , aus Eiern friſch heranwachſenden Po¬
lypen allemal wieder grün würden . Die Grün-Erzeugung
ſollte einfach im Polypenvolk erblich ſein . Als man nun auf
die Algen kam , ſchien es in der That zunächſt eine harte Nuß ,
wie man über dieſen Punkt hinwegkommen ſollte . Man meinte
jetzt , die Algen müßten doch wohl jedesmal auf das ganz
kleine Polyplein ſich mit einem wahren Heißhunger ſofort
losſtürzen , um es mit ſich grün zu tapezieren . Aber woher ?
Vergebens ſuchte man im Waſſer , wo die Polypen ihre Wochen¬
ſtube hatten , nach den nötigen ringsum lauernden Algen . Zum
Überfluß ſetzte man Polypen in ein ſorgfältig rein gehaltenes ,
abſolut algenfreies Aquarium , und ſie heckten dennoch gras¬
grüne Junge . Des Rätſels Löſung iſt endlich geweſen , daß
die Algen ſchon im Mutterleibe des Polypen in ſeine Eier
kriechen und ſo mit übertragen werden . Für gewöhnlich ſitzt
das grüne Algenvolk ziemlich tief in der Leibeswand des Po¬
lypen . Der Polyp hat nun die Eigenſchaft , wenn er weib¬
liche Eier erzeugt , dieſe wie Warzen aus ſeiner äußerſten
Hautdecke herausſprießen zu laſſen . Sobald er damit aber
im Gange iſt und noch ehe die Eizelle richtig heraus iſt ,
haben ſchon grüne Algen ſich ebenfalls bis in dieſe Eier¬
gegend vorgebohrt , ſind in das Ei leibhaftig mithineingekrochen
und treiben nun , während das Ei befruchtet wird und einen
neuen Polypen aus ſich entwickelt , in dieſem Ei und werdenden
Polypen ſelber fleißig Liebesleben , maßen ſie ſich durch ein¬
fache Selbſtteilung nach Rumpelſtilzchens Urbrauch maſſenhaft
vermehren , bis ſie endlich den fertigen neuen Polypen aber¬
mals mit einem ganzen innerlichen Geheimhemde ihres Pflanzen¬
grüns überzogen haben . Bei ſolcher Kunſt konnte allerdings
dieſes Algenvolk ſein Sonderleben im Waſſer draußen ſchlie߬
lich ganz aufgeben und ſich auf ſeine Polypen beſchränken .
Nun kannſt du dir dieſe Geſchichte leicht aber noch ein
bißchen weiter ausdenken . Stelle dir vor , das Verhältnis
zwiſchen dem Polyp und ſeinen Algen wäre kein ſo behagliches ,
wie es zu ſein ſcheint . Etwa : die Algen da drinnen ex¬
krementierten nicht bloß angenehmen Sauerſtoff , den der Polyp
wie Champagner gern ſäuft , ſondern irgend welche Exkremente
von ekelhafterer , dem Polypen zuwiderer Natur . Der Polyp
bekäme alſo von ſeinen Grünfärbern die fatalſten Bauchſchmerzen ,
22*
die eventuell ihm das ganze Leben vergällten . Aber was
thun ? Im Bauche hätte er ſie nun mal . Jedes Kind , das
er zeugte , kriegte ſie vom Elternleibe an mit in den Bauch ,
unrettbar . Eine endloſe Schraube der Quälerei . Wohl hätte
die Algenfolge ein Ende , wenn die Polypenfolge aufhörte .
Alle Polypen tot , wären auch alle Quäl-Algen tot , da ſie ja
im freien Waſſer außerhalb der Polypen nicht mehr vor¬
kommen . Aber es wäre doch die Kur des Doktor Eiſenbart :
ein Schuß durch den Kopf als Mittel gegen Zahnſchmerzen .
Wenn ſo ein Polyp denken könnte wie wir und ſich aus¬
ſprechen : er würde den Tag verfluchen , der ſeinen Vätern
die erſte dieſer Schreckensalgen beſchert hat . Den Kobold
ſeines Lebens würde er dieſe Invaſion der grünen Satane
nennen . Welcher Höllenzufall mußte gerade eine ſolche un¬
wahrſcheinliche Kombination erzeugen : daß ein Weſen aus
ganz anderer Gruppe , eine einzellige Pflanze , in ihn , das
vielzellige Tier , ſich nachträglich hineinſchmuggelte . Und nicht
bloß in ihn als Individuum , ſondern in ſeine Unſterblichkeits¬
ſtelle auch noch : in ſein Liebesleben . Was hatte dieſes ſein
eigenes mühſam erworbenes Liebesleben mit dieſen ihm total
wurſchtigen Vermehrungsabſichten im Liebesleben der Algen zu
thun . Und doch maßten die ſich an , ihm über Kinder und
Enkel fort das Leben zu verekeln , indem ſie ihm beſtändig
gleichſam ins Heiligſte hinein exkrementierten , daß des Gräuels
und Geſtanks kein Ende wurde , bis er an den Rand kam ,
ſein eigenes Liebesleben zu verfluchen ... .
Ich erzähle dir die Geſchichte der Syphilis .
Dieſer denkende Polyp iſt der Menſch , dem ungefähr
dieſe Geſchichte wirklich ſo paſſiert iſt . Die Syphilis iſt der
dreimal vermaledeite Kobold ſeines Liebeslebens .
Die Syphilis iſt keine Größe , die ſich innerlich in das
Liebesleben der Menſchheit mit verrechnet . Dieſes Liebesleben
hatte alle möglichen Grenzen , Schatten , Entwickelungsmale .
Aber es lag in ihm keine Spur dieſer Möglichkeit : ein menſch¬
liches Liebespaar eint ſich ; es vollbringt den großen Natur¬
akt bis zum vollen Zweck ; ein Kind geht aus dieſem Akte
hervor ; aber gleichzeitig iſt der Akt ein verhängnisvoller Ver¬
giftungsprozeß ; ein zehrendes Gift , furchtbar wie das des
Philoktet in der griechiſchen Tragödie , iſt bei dem Akt über¬
geſprungen wie ein Blitz von Metall zu Metall ſpringt ; und
dieſes Gift ſpringt nicht nur von Körper zu Körper der
Liebenden ; es frißt ſich hinein in die mikroſkopiſch winzige
Samenzelle des Mannes , in die Eizelle des Weibes ; vergiftet
im Moment ſeiner Zeugung , wächſt das Kind in das Siechtum
hinein ; und ſo rollt das Gift weiter durch Generationen .
Kein Geringerer als unſer großer Goethe hat in der ſchönſten
Liebesdichtung deutſcher Sprache , ſeinen römiſchen Elegien ,
dem Abrupten , Dämoniſchen , Widerſinnigen dieſes ganz iſo¬
lierten menſchlichen Liebesphänomens eine klaſſiſche Charakteriſtik
gewidmet . ( Die Verſe ſind in den älteren Ausgaben unter¬
drückt ! )
„ Zwei gefährliche Schlangen , vom Chore der Dichter geſcholten ,
Grauſend kennt ſie die Welt Jahre die tauſende ſchon ,
Python dich und dich , Lernäiſcher Drache ! Doch ſeid ihr
Durch die rüſtige Hand thätiger Götter gefällt .
Ihr zerſtöret nicht mehr mit feurigem Atem und Geifer
Herde , Wieſen und Wald , goldene Saaten nicht mehr .
Doch welch ein feindlicher Gott hat uns im Zorne die neue
Ungeheure Geburt giftigen Schlammes geſandt ?
Überall ſchleicht er ſich ein und in den lieblichſten Gärtchen
Lauert tückiſch der Wurm , packt den Genießenden an .
Sei mir , heſperiſcher Drache , gegrüßt , du , du zeigteſt dich mutig ,
Du verteidigteſt kühn goldener Äpfel Beſitz !
Aber dieſer verteidiget nichts — und wo er ſich findet ,
Sind die Gärten , die Frucht keiner Verteidigung wert .
Heimlich krümmet er ſich im Buſche , beſudelt die Quellen ,
Geifert , wandelt in Gift Amors belebenden Tau . “
Erſt unſere allerneueſte Forſchung , ſeit wenigen Jahren ,
nähert ſich wenigſtens der Erkenntnis , um was es ſich hier
eigentlich handelt . Die Syphilis iſt eine Bazillen-Krankheit .
Noch iſt ihr Bazillus ſelbſt nicht gefunden , aber es beſteht
kaum noch irgend ein ernſthafter Zweifel , daß die Grund¬
deutung ſo ſtimmt . Damit aber iſt ein gewiſſes Licht zum
erſtenmal aufgeſteckt . Hinter dieſem Schreckgeſpenſt ſteht ein
Kampf des Lebens in unſerem Menſchenkörper ſelbſt . Es ſteckt
darin die unſelige Verhedderung zweier völlig voneinander un¬
abhängiger Liebeslinien des Lebens auf der Erde .
Hier der Menſch , wie jener Polyp ein vielzelliges Tier ,
bloß noch unvergleichlich viel höher entwickelt . Dort ein¬
zellige Urweſen von der unterſten Grenze des Lebens , winzig
vielleicht bis unter die Sehgrenze unſerer beſten Mikroſkope
von heute : die Syphilis-Bazillen . Dieſe Weſen begegnen ſich
eines Tages . Das große , hochſtehende nimmt keine Notiz von
den Winzigſten der Winzigen , er ſieht ſie ja gar nicht . Aber
ſie machen ſich an ihn . Sie niſten ſich ein in ſeinem Innern .
Sie erzeugen dort eine gräuliche Mißwirtſchaft , überſchwemmen
ihr Hotel mit ſolchen Rieſenfluten zerſtörenden Unrats , daß
ſchließlich der Rieſe doch ſich in die Sache hineingeriſſen ſieht
und mit Schrecken merkt , was in ihm waltet .
Aber inzwiſchen iſt wie bei jenem Polypen auch ſchon das
Raffinierteſte geſchehen . Dieſe Eindringlinge haben ſich ganz ab¬
gewöhnt , draußen , außerhalb des Menſchenleibes , noch ein Daſein
für ſich zu führen . Sie haben all ihre Sach im verwegenſten
Sinne auf dieſes entdeckte Menſchentier geſtellt . Ihr ganzes ,
bei ſolchen Einzellern ja höchſt ſimples Liebesleben haben ſie
in dieſen Menſchen verlegt . Dabei ſind ſie aber folgerichtig
auf das gleiche Problem gedrängt worden , wie dort im Po¬
lypen die grünen Algen . Es galt , von Menſch zu Menſch
mitzukommen , überzuſpringen in der Folge der Menſchen¬
generationen . Damit ihre Liebe Unſterblichkeit garantierte ,
mußte etwas derart geſchehen , denn der Tod ihres Wirtes
bedeutete individuell ſtets auch ihren Tod , ob ſie auch in
dieſem Einzelwirt liebend ſich mehrten , wie der Sand am
Meer . Hier nun war der Punkt , wo das Liebesleben auch
des Menſchen für ſie wichtig wurde .
In dieſem Liebesleben ihres Wirtes ſtießen ſie auf zwei
große Thatſachen . Erſtens die uralte geſchlechtliche Zeugungs¬
form , die ſchon der Polyp beſitzt : Ablöſung einer Samenzelle
und Eizelle von jeder Liebespartei und Miſchung dieſer beiden ,
wodurch ein neuer Menſch der folgenden Generation entſteht .
Zweitens jene verwickelte Methode , wie das beim höheren
Säugetier bewerkſtelligt wird : Aneinanderlegen der beiden
großen Zellſtaaten , Einführen des männlichen Liebesgliedes in
die weibliche Liebespforte unter Wolluſterregungen , — alle
jene Dinge , deren hiſtoriſches Werden bis zum Menſchen
herauf wir früher eingehend betrachtet haben . Beides wurde
benutzt im Kampfe des Syphilis-Bazillus um ſeine Unſterb¬
lichkeit .
Die Bazillenkolonien entſandten kleine Wanderabteilungen
genau wie die Algen im Polyp in die Eizellen und Samenzellen
beider Liebesmenſchen hinein , damit ſie in die nächſte Generation
mit einſchlüpften und ſich ſo ins Ewige der Zukunft als „ Ko¬
bold im Faß “ bei jedem Umzug retteten .
Die Bazillen konſtituierten ſich aber gleichzeitig in Vorpoſten-
Kolonnen direkt an den Geſchlechtsteilen der Liebesmenſchen als
den wahrſcheinlichſten Stellen , wo der Sprung von Menſch zu
Menſch auch ſo glücken konnte , — der einfache Salto Mortale
von Haut zu Haut . Es war wie die Beſetzung eines äußerſten
Poſtens einer Landungsbrücke zum Zweck , in ein Schiff zu
ſpringen . War auch dieſes Schiff hier noch gleichzeitige
Generation , ſo konnte es doch immer einen Vorſprung geben .
Räumliche Weiterverteilung war auch immer eine Chance zur
zeitlichen Unſterblichkeit .
Und nun , du Unglücksmenſch : in dieſen Kampf fällſt du
hinein , wenn du in einer fatalſten Stunde dich einem ſchon
von der Armee invaſierten Menſchenkinde in die Arme giebſt ,
— ſei es in der heiligſten , reinſten Liebesſtimmung , da du
nichts willſt , als deine Menſchheitsunſterblichkeit einmal wieder
retten , das Volk der Goethes , Rafaels , Darwins eine Generation
zeitlich weitertreiben ....
Inmitten aller deiner Liebe wirſt du plötzlich die Spring¬
ſtange einer ganz anderen Unſterblichkeits-Sehnſucht , dein Liebes¬
organ wird der Brückenpfeiler gänzlich indifferenter Ur-Kobolde
der Entwickelung , die für ſich Politik treiben , — Politik , die
aber durch eine heilloſe Verhedderung der Fäden quer durch
dich geht — !
Das iſt die Komödie , Tragödie , Tragikomödie der Sy¬
philis . Es giebt eine Höhenſchau , von der aus auch dieſes
Satyrſpiel ſich in eine große Linie einordnet . Wahrſcheinlich
ſteckt hinter dieſem ganzen Konflikt zwiſchen Menſch und Ba¬
zillus , der ja auch ſonſt in unſerem Leben eine ſo ungeheure
Rolle ſpielt , ein tiefer , überaus bedeutſamer Lebenskampf
unſeres Planeten .
Zuſammenprallen die höchſte und die niedrigſte Lebens¬
form noch einmal zu einer letzten Entſcheidungsſchlacht . Hier
der Menſch , der Gipfel der Entwickelung über das vielzellige
Weſen herauf , Herr ſchon jetzt all dieſer Vielzeller auf Erden .
Dort der Bazillus , die Urform , das Weſen aus nur einer
Zelle , die erſte Anpaſſungsform des Lebens auf dieſer Erde ,
in Myriaden von Individuen doch heute noch fortlebend , die
die Vielzeller , die höheren Individuen fort und fort überſchütten
mit ihrem Lebensſtaub bis zur Gefahr , alles , was über ihnen
ſich aufgethan , doch noch wieder herabzuziehen in ihre große
Nivellierungsfläche . Ich habe dieſen Gedanken an anderem
Orte ( in dem Buche „ Vom Bacillus zum Affenmenſchen “ )
ausführlich dargelegt . Er rückt den nüſſigen kleinen Objekt¬
konflikt doch in ein großes Licht . Ein letzter , ſchwerſter Kampf
des Menſchen um die Erdherrſchaft erſcheint dahinter .
Wenn die Menſchenleiber dahinſinken wie die Garben ,
gemäht von einer furchtbaren Bazillen-Epidemie , Peſt oder
Cholera , ſo erſcheint das Zünglein der Wage ſchwankend , wer
ſiegen wird . Aber ein einfacher Gedankengang weiter zeigt
dir doch den Ausgang : es ſind die Paar Intelligenzzellen der
Menſchengehirne , die ſchließlich doch dem Samum des Urlebens
mit ſeinen Zellmyriaden ſtandhalten , die ihn aufhalten , ihn
unſchädlich machen . Dieſe Intelligenzzellen gründen eine wiſſen¬
ſchaftliche Medizin , erfinden Mikroſkope , ſie entdecken bewußt
ihre Gegner und faſſen ſie mit den Mitteln der Hygiene .
Damit iſt ein Archimedespunkt gegeben , der auch dieſe Erde
bewegt . Die alten Göttermittel dieſer Kleinſten in Erde ,
Waſſer und Luft : Unſichtbarkeit , Allgegenwart , Todeskraft ge¬
heimer Giftpfeile ſcheinbar aus dem Blauen heraus : das alles
ſcheitert an der denn doch noch höheren Gotteskraft der In¬
telligenz , wie der alte Jupiter mit ſeinen Blitzen heute ſcheitern
würde an unſeren Blitzableitern .
Und im Prinzip liegt hier auch die Entſcheidung über
den „ ewigen “ Kobold unſeres Liebeslebens , die Syphilis .
Die Syphilis hat der Menſchheit von einer dunklen Ge¬
ſchichtsecke an unzweifelhaft ſehr ſchweren Schaden zugefügt .
Sie hat in das ganze Liebesleben bis heute eine Farbe hin¬
eingebracht , die verhängnisvoll war , um ſo verhängnisvoller ,
als ſie ihrem Weſen nach falſch war , innerlich nicht hinein¬
gehörte . Es iſt nicht nur der körperliche Schaden ſelbſt ge¬
weſen , der uns unſagbares Leid angethan hat : faſt ebenſo
ſchlimm ſind die rein geiſtigen Folgeſchäden geweſen , die Schäden ,
die ſich in unſere ganze Auffaſſung der Liebe von ihr aus
einfraßen .
Auf der einen Seite hat ſie ſich im allgemeinen Bilde
mit der Proſtitution eng verquickt .
Nichts lag näher , als daß ſie ſich hier feſtſetzte , hier , wo
der Geſchlechtsakt aller feineren Ausleſe entrückt war , wo in
einem wirren Taumel wahllos Akt auf Akt folgte , wo ein
krankes Individuum die Brücke der Bazillen-Invaſion zu un¬
gezählten geſunden ſchlagen konnte inmitten der Hatz dieſes
planloſen Wechſels . Einmal hier lokaliſiert , verlieh die Sy¬
philis dann aber der Proſtitution eine neue entſetzliche Macht
in ihrer alten Unheilsbahn , eine poſitive Macht da , wo ſie
früher wenigſtens nur negativ gewirkt hatte .
Es war die eine Gefahrlinie der Proſtitution , daß ſie
das Kind ausſchloß . Aber wie die Dinge lagen , ſetzte ſich die
Proſtitution ja eben doch damit nicht wirklich durch : neben ihr
blieb ſiegreich oben die echte Geſchlechtsliebe , die bis zum Ziel
des Kindes ging und die Menſchheit rettete : die Mutter
triumphierte immer wieder über die ſterile Luſtameiſe . Mit
der Syphilis änderte ſich das . Die Proſtituierte , indem ſie
eine Pflanzſtätte , eine Reinkultur der vergiftenden Bazillen-
Invaſion zu bilden begann , griff damit in jene bisher reinen
Kreiſe ſelbſtthätig über . Sie vergiftete in unzähligen Fällen
den Mann . Kehrte dieſer Mann ſo nach drüben zurück , ſo
verkehrte ſich gerade das Reine , Heilige des Liebeslebens ins
Sataniſche : er ruinierte die echte , zur Mutterſchaft bereite
Frau , warf den frühen Tod oder hunderterlei feines , zehrendes
Verderben in die dort erzeugte und geborene neue Generation .
Es iſt ja an ſich ſchon ein tragiſches Geſchick , daß der
junge Mann in unſerer Kultur , der in die Liebesjahre tritt ,
in der erdrückenden Mehrzahl der Fälle vor der echten Frau
die Proſtituierte kennen lernen muß . Ihr giebt er ſeinen erſten
erotiſchen Frühling hin . Unſere ſozialen Verhältniſſe drängen
immer nnd und immer wieder dahin , — wie heute die Dinge
liegen , kann es faſt nicht mehr anders ſein . Das iſt allein ſchon
eine harte Schule . Das Weib wird dir in ſeiner tiefſten Ver¬
kommenheit zuerſt ganz gezeigt , jedes Ideal zunächſt einmal in
den Koth getreten mit der furchtbarſten Brutalität . Frage um ,
wem es nicht ſo gegangen iſt . An die Edelſten , Beſten , Ge¬
ſundeſten trat die Forderung ihrer Lebensreife , das alte heilige
Ur-Geſetz : jetzt muß das Weib zu dir , dem Manne kommen .
Und nun ſoziale , durch tauſenderlei Erbſchaft aufgerichtete
eherne Schranken , die dich vom echten Weibe zurückwarfen —
in den Rinnſtein der Liebe hinab . Wie wenige nur haben dieſes
Blatt nicht in ihren Erinnerungen : die erſte Stunde der Hingabe
an ein Weib , an die andere Hälfte unſeres Menſchenlebens , an
dieſe großen , ewigen Unſterblichkeitsempfindungen , für die die
Natur Jahrmillionen lang gehäuft , geſammelt , ausgeſpart hat ,
für die ſie dich endlich auch reif gemacht hat — und nun das
Roheſte , Perverſeſte , Dreckigſte , was deine ganze Kultur über¬
haupt noch beſitzt , ein „ Weib “ , das im Kulturſinne überhaupt
noch nicht Menſch iſt — und darin lernſt du das „ Weib “
kennen .... .
Nun , das Leben iſt nicht vollkommen . Man fügt ſich .
Wenn Ideale Kraft haben , ſo müſſen ſie ſich auch aus dem
Staube immer wieder gebären können . Alſo du ringſt dich
eines Tages doch auf zu dem echten Weibe . Du ſelbſt fühlſt
dich mit Recht ſchuldlos , denn du haſt nur eine zeitliche Geſellſchafts-
Verworrenheit abgebüßt . In ſolchem Falle flennt der echte
Menſch nicht , er erlöſt ſich durch neue , beſſere That . „ Reue
iſt des Lebens einzige Schuld “ , ſagt Mackay einmal ſo ſchön .
Hier aber gerade ſetzt die verteufeltſte Steigerung ein . In
ſo und ſo viel Fällen hat die phyſiſche Berührung mit der
Proſtitution , die du geiſtig abſchüttelſt wie einen ekelhaften
Traum , aus dem du rein in dein waches Bewußtſein dich
erlöſt , dich phyſiſch vergiftet , indem jene Bazillen dich dabei
erobert haben für ihr Liebesleben auf Koſten deines eigenen .
Und das waltet mit unerbittlicher Folgerichtigkeit : du haſt die
grauſige Möglichkeit , jetzt in deine ideale echte Sinnenliebe Tod
und Verderben hinein zu tragen .
Eine Rückwirkung von hierher wieder war eine äußerſte
Verſtärkung des tragiſchen Loſes der Proſtituierten ſelbſt . Erſt
von hier aus hat ſich an ſie der volle Fluch gehängt einer
Giftpflanze . Um dieſer ſcheußlichen Möglichkeit willen , an der
ſie ſo wenig „ Schuld “ trug wie an ihrer ganzen Exiſtenz ,
wurde der letzte Reſt von Menſchenwürde in ihr rückſichtslos ,
in der Notwehr , zuſammengetrampelt . Es kam die mediziniſche
Kontrolle . Mit ihr wieder zuſammengehängt die Verteidigung
des Bordells gegenüber der Einzelproſtitution , — des Bordells ,
in dem mitten in unſerer Kultur eine Stätte der wüſteſten
Sklaverei fortbeſteht . Die Syphilis war es , die , um mit
Schiller zu ſprechen , „ den Pechkranz in das brennende Gebäude “
warf .
Das Fazit aus alledem aber war eine Wolke über der
ganzen Liebe , die bis in alle Ideale ſchattete .
Die aufgeſtörte Phantaſie hatte ja längſt alle Sorten
ſchreckhafter Dämonen im Liebesparadieſe geſucht . An dieſer
Stelle kroch wirklich eine reale Giftſchlange aus dem Blütenhain .
War die Liebe nicht thatſächlich Sünde , war des Teufels , war
verflucht ? Wenn ſolche Krankheit Hand in Hand mit ihr
gehen konnte ? Wenn die Liebenden unter ihrer Geißel hin¬
ſanken wie im Hagelſchauer , während der nie ſinnlich von einem
Weibe berührte Jüngling , die lebenslang reine Jungfrau in
unbefleckter Körperreine ragten — war nicht doch am Ende
auch alle „ echte “ Sinnenliebe eine Satansfalle , die von dem
tieferen Gottesgeſetz der Natur fortlockte , — war nicht der wahre
Sinn abſolute Enthaltung allen Körperwünſchen zum Trotz ?
Es iſt der ganze Begriff der „ Sünde “ , dieſer uralte Menſchheits¬
dämon , der hier Kraft geſogen hat wie aus dem Zauberkeſſel der
Medea : Geiſtesbazillen auszuſtreuen in die gequälten Gehirne ,
verheerender noch als die wandernden Einzeller der Syphilis .
Wenn die Not am größten , iſt Gottes Hilfe am nächſten .
Der Gott im Menſchen läßt ſich nur von ſich ſelber nieder¬
kriegen , nicht von einem koboldhaften „ Objekt “ .
Wenn irgend etwas heute ſchon für unſer Liebesleben in
den Sternen ſteht , ſo iſt es die Überwindung der Syphilis
durch unſere aufſteigende Wiſſenſchaft . Seit wir auch nur
annähernd wiſſen , um welche Art Feind es ſich überhaupt
handelt , iſt auch die Direktive dahin abſolut ſicher gegeben .
Die Syphilis werden nicht Philoſophie und Moral , auch
nicht direkt ſoziale Faktoren vernichten : ſie ſtirbt an den ein¬
fachſten Fortſchritten unſerer Medizin . Stirbt , wie die Lungen¬
ſchwindſucht , die Peſt , die Cholera , Diphtheritis , Malaria
ſterben werden .
Schon heute ſehen wir , wie ſie zu töten wäre durch einen
Zwangsakt zum Ausſterben ihrer Bazillusart . Wenn von allen
fünfzehnhundert Millionen der Menſchen alle Individuen unter¬
ſucht und alle geſchlechtlich Kranken eine Weile abgeſondert und
auskuriert würden , ſo wäre der Bazillus , auf den Menſchen
beſchränkt , wie er zu ſein ſcheint , als ſolcher tot . Er wäre
heimgeführt zu den foſſilen Tieren , den Dronten , Mammuten ,
Ichthyoſauriern . Zu ſolchen Sozialakten haben wir noch keine
Macht , aber die Zukunft muß ſie haben , wenn „ Menſchheit “
ein echtes Ideal iſt . Wahrſcheinlich wird aber die direktere
Heilmethode lange vorher gefunden ſein und wenn ſie da iſt ,
ſorgt das Leiden ſelbſt in jedem individuellen Falle dafür , daß
freiwillig die Heilung geſucht wird , ohne daß ein Menſchheits¬
geſetz dazu nötig wäre . Es iſt ja dieſe ſchlichte Logik gleich¬
artiger Wünſche , die auch am Tage , da es eine echte „ Menſch¬
heit “ als Einheit giebt , aller Wahrſcheinlichkeit nach jedes
„Geſetz “ überflüſſig gemacht haben wird .
Im Hauſe der Zukunft — nicht einer ganz illuſionär
fernen , ſondern der einfach logiſch aus unſern ſchon ſichtbaren
Anfängen entwickelten — wird es ſo grobe Kobolde hinten
im Faß , wie es dieſe Bazillen waren , nicht mehr geben .
Der Menſch Herr der Erde : dieſer Menſch auch Herr der
Syphilis .
„ Was kann der Menſch im Leben mehr gewinnen ,
Als daß ſich Gott-Natur ihm offenbare ... “
M itternachtsſtunde . Durch dein ganzes altes Kloſter
geht es wie ein dumpfes Rumoren . Alle verräucherten Wände
knacken , im morſchen Holzgetäfel ticken die Bohrwürmer , ein
Nachtvogel am Fenſter ruft .
Aber nun über allem ein fernes Summen von Melodie :
Glockengeläut . Das ſind die guten Liebesgeiſter , die ſingen
um das Haus . Sie ſingen durch die froſtkalte Sternennacht
noch einmal ihr Lied vom Menſchen .
„ Friede auf Erden . “
In ſolcher eiſigen Winternacht iſt er einſt geboren worden ,
wie ein armer Ausgeſtoßener , der auf einem Feldrain zur Welt
kommt . Sein ungeheurer Planet hatte die Feuertage der Jugend
hinter ſich , dunkel war er geworden , daß die fernen Welten als
Sterne über ihm ſichtbar wurden . Nun kam die Eiszeit über
ihn wie ein Fieberſchauer . Aber es war das Fieber des Ge¬
bärens . All ſeine alte Sonnenglut goß er in das eine Weſen ,
den Menſchen . Steh auf , Menſchlein , und ſieh die Sterne über
dir und denke nach über ſie und über dich ! Du ſollſt fortan
der Planetengeiſt ſein . Trage ſein Licht , trage ſein Trübſal .
Nackt und bloß lag das Menſchenkind auf der harten Erde ,
nicht im Paradieſe . Aber aus dieſer Bruſt der Erde trank es
alle die Urkräfte der Natur . Die ſchaffende Phantaſie , die
Macht hat , ihre Sehnſucht zu Realitäten zu feſtigen ; die eherne
Logik ; und die Wunderkraft der Liebe , der Zeugung , die ewig
einen anderen Menſchen neu gebiert und doch im Herzen den
gleichen , den einen immer wieder .
„ Friede auf Erden ! “
Die Mitternachtsglocken klingen und wenn ihr kurzes Lied
verhallt iſt , ſoll auch unſere Rede von der Liebe zu Ende ſein .
Ein letztes aber muß noch geſagt werden .
Es giebt noch einen letzten , äußerſten Kampf , den die Liebe
mit dem Menſchen gehabt hat , — den ſchwerſten von allen ,
ſchlimmer als der mit dem Phaethonſinn der Phantaſie , ſchlimmer
als der mit dem Kobold . Groß , wie ſie war , hat ſie auch
mit dem Größten in ihm noch ringen müſſen , ringen im alten
Bibelſinne bis zum „ du ſegneſt mich denn “ .
Das Höchſte , Eigenſte was dieſer Planetenſohn beſaß , war
ſein Verſtand , ſein Geiſt im tiefſten logiſchen Sinne . Mit dieſem
Geiſte hat die Liebe ihren letzten Konflikt gehabt auf Leben
und Tod .
Aus dem wogenden Meer der Menſchheit tauchen zwei
rieſenhafte Geſtalten . Ein nacktes Weib , wie die Venus von
Milo . Und ein Mann mit dunklem Auge und wallendem Bart ,
wie Michelangelo den Moſes geſchaut hat .
Das Weib ſpricht : „ Ich bin die Liebe . Ich bin das
Höchſte , denn ich erhalte die Menſchheit im wilden Hagel¬
ſchauer der Sandkörner , die durch das Stundenglas der Zeit
rinnen . “
Der Mann aber hebt den düſteren Blick und krallt die Hand
in den Bart und ſagt : „ Iſt ſie denn wert , erhalten zu ſein ? “
Das iſt kein Jugendübermut mehr , kein Tamtamſchlag in
der Hexenküche , kein Stein , den der Kobold wirft .
Das iſt die Schickſalsfrage der Liebe auf ihrer Stufe
Menſch .
„ Beſſer , er wäre nie geboren . “ Wenn das Wahrheit
iſt , die höchſte Wahrheit des grübelnden Verſtandes , — dann
iſt über der Liebe der Stab gebrochen , ſie iſt gerichtet und tot .
Ein altes Bild . Die Erde prangend in ihrer Schöne ,
ſtrotzend von Üppigkeit , glühend von Liebe , klingend von Muſik .
Blumen duften , Palmen wehen , ſilberne Quellen plätſchern .
Aber da hinten , draußen hinter dem Sonnenwald dehnt ſich
ein Streifen nackte Wüſte . Schakale heulen dort , ſandfarbige
Giftottern recken ihren dicken Kopf aus dem Boden , und der
Staub , der heiße Staub geht in roten Wolken geſpenſtiſch über
die Öde .
Da , in dieſer Wüſte taucht auf einmal der Menſch auf .
Es iſt der Menſch , der drüben geſchwelgt hat , noch hängt ihm
der letzte welke Zecherkranz im Haar , ſein Gewand haucht den
letzten jener wilden Düfte aus , in deren Bannkreis die Liebe
ſchöner Frauen dort ſich gab . Aber dieſe Kleider ſind zerriſſen ,
die Locke iſt zerrauft , verſtört das Geſicht . Es iſt ein Flücht¬
ling , der die Einſamkeit ſucht . Er ſtürzt ſich in die ägyptiſche
Wüſte wie ein Brennender in die Flut . Verflucht dieſe Welt
da drüben ! Nieder mit ihr , fort mit ihr ! Heraus aus allem ,
aus der Liebe , aus der Menſchheit , — ins Einſame , zwiſchen
nackte Felſen . Alles iſt eitel ! Rette dich , rette dich !
In ein gräuliches Felsverſteck wirft er ſich , das einſt
eine Falſchmünzerbande ſich auserſehen als das denkbar welt¬
verborgenſte Erdenloch . In ein uraltes verlaſſenes Grabgewölbe
kriecht er wie eine Hyäne . Die Schlangen züngeln um ihn
23
her , die Wölbung liegt ſo niedrig auf ſeinem Haupt , daß er
nicht aufſtehen kann . Aber das iſt es , was er will . Nichts
mehr ſehen als das Elendeſte und das Nichts ſelbſt .
Freilich : die Schauerwelt iſt zäh . Sie geht mit ihm in
ſeinen Gedanken . Nacht liegt über der Wüſte ; die Glutnacht ,
in der die Sterne rot ſchimmern . Da öffnen ſich die Wände
der Gruft , in der der Lebendige liegt . Dämonen kommen ,
Schlangen , Löwen , Stiere , Wölfe , Skorpione , Leoparden , Bären ,
eine brüllende Meute . Herkuliſche Menſchenbilder ſtürzen vor
und zerſchlagen den Einſiedler , dieſen verfluchten „ Lebendigen “ .
Draußen heult es , klagt es , jauchzt es immerzu : Kindergeſchrei ,
Geblök unendlich vorbeiwallender Schafherden , Gebrüll von
Ochſen , der Tritt langer Kolonnen einer Armee . Nun geht
der Mond geſpenſtiſch fahl auf : ein Wagen mit durchgehenden
Roſſen ſtürzt mit wahnſinnigem Gepolter grade auf den Ver¬
folgten zu : „ Jeſus “ , ringt ſich keuchend aus ſeiner Bruſt und
der Spuk verſinkt in der Erde . Aber indem er aufatmen will ,
gebiert dieſe Erde ſchon ein Neues : üppig beſetzte Tafeln ent¬
ſteigen der Wüſtendürre , Trauben ſchwellen , goldener Wein
fließt im Pokal . Von den Polſtern aber ſteigen ſchöne nackte
Frauen , mit entfeſſeltem Haar , mit feucht glühendem Auge ,
mit dem wilden Duft der Liebesſpezereien ... In Schweiß
gebadet flüchtet der Anachoret querfeldein in die Wüſte . Aber
auf ſeine Schulter preßt ſich ein hölliſcher Druck , ein Schatten
liegt über ihm : ein Geſpenſt ſitzt ihm auf dem Nacken , reitet
ihn wie der Löwe die Giraffe im „ Löwenritt “ . Triumphierend
hallt ſein gräßliches Lachen durch die Wüſtenſtille .
Sie iſt nicht tot zu bekommen , dieſe Welt . Sie haftet
an den Organen , die der Flüchtling mit gebracht hat . Am
ſchlimmſten iſt das Organ der Liebe . Und der Aſket greift
zum Meſſer , kaſtriert ſich , löſcht das Geſchlechtsindividuum in
ſich aus . Wenn das Organ tot von ihm abſinkt , wie ein
endlich erlegtes Gifttier , dann wird auch der Geiſt von da
drunten gemordet ſein . Dann kann der befreite Gedanke ſich
im Gebet endlich ganz verſenken in den neuen Sinn : Liebe iſt
Satan ; denn Liebe erhält den Menſchen ; der Menſch aber iſt
Weh und Elend ; der ewige Menſch durch die Sinnenliebe iſt
der ewige Verdammte ; nur wenn die Menſchen ſterben , ganz
ausſterben , hört der ungeheure Spuk endlich auf , verſinkt dieſe
Jammerwelt in ihren Wüſtenboden , wie der wilde Wagen dort
verſank ; nicht die Menſchheit iſt Gott ; unſeliger Glaube ; Gott
iſt , wo es keinen Menſchen mehr giebt ; Gott iſt in der Öde ,
nicht in der Welt ; Welt und Menſchheit ſind nur Satans¬
ſchleier vor Gott ; nur wer ſie zerreißt , kehrt endlich heim .
Das iſt ein altes Bild , aus den Tagen Conſtantins , der
Zeit der Paulus und Antonius und Hilarion , mehr als andert¬
halb Jahrtauſende hinter dir .
Aber nun ein moderner Denker . Er ſitzt in ſeinem
Arbeitszimmer und ſtützt die Stirn auf die Hand . Draußen
rauſcht die Weltſtadt . Hier drinnen iſt es friedlich . Helles
Sonnenlicht blinkt auf allerlei bunten Gaben der Kunſt und
Wiſſenſchaft , Gemälden , Büſten , guten Büchern . Er hat die
Welt nicht durchtollt in tollem Rauſch , mit wilden Weibern
und Becherklang . Er flüchtet auch nicht in die Wüſte . Denn
wo iſt „ Wüſte ? “ Da hängt die Weltkarte . Überall iſt das
uferloſe All , dieſe Raumkugelhöhlung ohne Oben und Unten .
Ob hier , ob dort , ob Schlemmer , ob Aſket : du biſt überall
unrettbar darin . Nicht einmal von dieſer kleinen Erde kannſt
du los . Ob du lebſt , ob du tot biſt , Erde biſt du . Alſo
bleibe ruhig hier , in der Weltſtadt im Norden , anſtatt nach
Ägypten zu pilgern .
Und doch : auch dieſer Weiſe eines neuen , jungen Tages
ſtarrt vor ſich hin . Recht hatteſt du doch im Innerſten , du
Eremit der Schlangengrube in der Wüſte . Dieſe Welt iſt eitel .
23*
Die Menſchheit iſt ein Fluch , ein Unſinn . Beſſer ſie ſtirbt ,
ſo raſch ſie kann . Muß ſie leben , ſo iſt's nur ewig erneute
Qual . Ich wenigſtens werde nichts dazu thun . Nicht im
Katzenjammer der Orgien ſage ich's . Nüchtern wie dieſes
graue Häuſermeer da draußen , das ſo viel Qual konzentriert .
Aber doch : Fluch der Liebe !
In beiden Fällen iſt es des Menſchen Tiefſtes , was die
Liebe verneint : ſeine Weltanſchauung . Die Liebe erſcheint in
ihrer äußerſten ideellen Zuſpitzung plötzlich geprägt in ein
Wort . Dieſes Wort heißt Weltbejahung . Aus jener Philo¬
ſophie aber klingt ihm das andere Wort entgegen : Welt¬
verneinung . Das iſt der letzte , aber auch der höchſte Gegenſatz .
Weltanſchauung iſt der höchſte Wert der Menſchheit . Mit
ihr löſt ſich endgültig der Menſch vom Tier . Dieſer Begriff
iſt die Mündigkeitserklärung des Menſchen . Mit ihm tritt er
in die Weltherrſchaft ein . Er wird aus einem Untergebenen
ein freier Bürger . Bisher hat er gelebt , weil es ſo über¬
kommen war . Fortan lebt er , weil er will . Der Menſch ,
der eine Weltanſchauung gewinnt und ſein Leben danach ein¬
richtet , ſteht da , als rauſchten die Paradiesbäume vor ihm
auseinander ; du willſt , — gut , ſo gehe ; da liegt das weite
Ackerfeld ; nimm ſelber deine Wegleitung in die Hand , ſei ein
freier Mann , ſuche ; es iſt nicht immer luſtig , frei und ein
Mann zu ſein , im Storchteich liegt ſichs behaglicher ; aber dafür
wirſt du die ungeheure Genugthuung haben , deine Siege fortan
dir zu verdanken , dir , dem Sehenden , Selbſtſuchenden .
Dieſer Menſch , aus dem Paradies entlaſſen , war aber erſt
ein kleines Stückchen durch die alten Dornen mit dem neuen
Geſicht gegangen , da ſtand er vor dem bedeutſamſten Kreuzweg .
Sollte er die Welt optimiſtiſch oder peſſimiſtiſch werten ?
Die ganze Größe des Menſchen erſcheint in dieſem Wahl¬
moment . Welche enorme Sachlage in dieſer Wahl ! Seit
Äonen der Zeit , ſo weit unſer Blick rückſchauend überhaupt
gehen kann , von den urſprünglichſten Nebelballungen der Welt¬
materie an , war dieſe Welt offenbar ſtets bejaht worden , in
nie abreißender kontinuierlicher Folge . Dem Menſchen aber
ſteht das plötzlich zur Diskuſſion . Gegen die Weltbejahung
ſtellt ſich ihm vollkommen ernſtlich die Möglichkeit der Welt¬
verneinung . Wenn die Welt anſchauung nun ergiebt , daß ſie
eine fatale Rechnung iſt , die in eitel Unheil führt : warum
mit unſerm Bewußtſein dieſes Teufelsexempel noch weiter
rechnen ?
In dieſer Betrachtungsweiſe muß aber ſofort die Liebe
heran . Was , zum Henker , Unſterblichkeit der Art ? Grade
hier muß vielmehr die ewige Rechnung ſyſtematiſch totgetreten ,
Zahl für Zahl wieder abgewiſcht werden .
Es iſt nicht zu leugnen , daß vor einer ſolchen Situation
die Liebe noch nie geſtanden hatte , — in allen Vorfahren¬
ketten des Menſchen nicht , nirgendwo unterhalb . Sie war ein
Produkt der Weltbejahung , vielleicht ihr ſinnreichſtes geradezu .
Aber nun ? Hier begann eine ganz neue Sache . Im Moment ,
da der erwachte Geiſt des Menſchen ihr Alliierter werden ſollte ,
dieſe unheimliche Möglichkeit : daß dieſer Menſch ſie ausſtrich
mit einem dicken Federſtrich ſeiner Weltanſchauung ...
Sehen wir uns mit der Unbefangenheit unſerer ganzen
Betrachtung aber auch dieſen ſchwarzen Federſtrich noch einen
Moment an .
Zunächſt eines . Wir haben in unſeren früheren Geſprächen
immer der Zukunftsentwickelung der Menſchheit einen gewiſſen
abſoluten Wert zugeſtanden , den Wert einer durchaus fort¬
gehenden Linie in ihren großen , ſchon jetzt ſichtbaren Idealen .
In dieſem Sinne mußt du auch hier folgerichtig das Größte
zugeben . Du mußt zugeben , daß alle Menſchen ſich allmählich
dazu entwickeln werden , eine Weltanſchauung wirklich zu haben ,
— alſo jenen Paradieſesſchritt wirklich zu thun . Du mußt
ferner zugeben , daß bei allen Menſchen dieſe Weltanſchauung
ſchließlich zu der Macht werde , die ſie bisher in den Beſten
doch ſchon geweſen iſt : nämlich zu einem abſoluten Imperativ
des Menſchen bis zur Entſcheidung über Leben und Tod . Damit
iſt gegeben , daß der Menſch , wenn nicht Weltherr , ſo doch
Herr ſeiner Menſchenexiſtenz einſt ſein werde , freier Ent¬
ſcheider . Und nun denn : wenn die dermaleinſt ſo herrſchende
Weltanſchauung nur eine Weltverneinung ſein könnte , ſo wäre
an dem Tage dieſer Herrſchaft der Menſch zweifellos ſtark
genug , ſich ſelber wenigſtens vom Weltenbaum abzuſägen . An
dem Tage wäre die Liebe des Menſchen , alſo die höchſte uns
bekannte Liebesblüte — tot . Unſer Liebesroman hätte einen
Schluß wie Werther .
Dieſe Kraft mußt du den Dingen ſchlechterdings zu¬
geſtehen , die Kraft der Idealerfüllung , falls es ſich um ein
echtes Ideal handelt , — auch im rein negativen Sinne .
Fragt ſich aber , ob eben die Weltverneinung Siegerin
innerhalb der Weltanſchauung werden muß oder nicht .
Der Peſſimismus als Weltanſchauung iſt in der Menſch¬
heit immer wieder wie eine wilde Normannenſchar auf ihrem
Wikingerſchiff vorgebrochen ſeit Jahrtauſenden . Aber er hat
dabei zwei Geſtalten angenommen , grundverſchieden noch einmal
ſie beide in ihm . Die eine iſt dualiſtiſch , die andere iſt moniſtiſch
in ihrer Grundlage . Die eine iſt nur ein bedingter Peſſimismus ,
die andere iſt abſolut .
Die erſte Form , die ältere , aber doch auch heute noch
lebendige , geht aus von einem Doppel-Ding : der Welt —
und einem Erlöſungsreiche hinter der Welt . Die Welt iſt
ein Jammerthal , ſei ſie nun ein Werk des Teufels , ein in
Sünden verſtrickter Abfall von Gott ; oder ſei ſie eine Prüfung ,
eingeſetzt von Gott ; oder ſei ſie außerhalb aller Gott- und
Teufelsvorſtellungen die Ausgeburt eines dunklen „ Willens “ ,
eines ungeheueren blinden Naturprinzips , das aber doch auf
alle Fälle ein böſes , zu lauter Wirrſal führendes Prinzip iſt .
Dieſer Welt gegenüber ſteht aber ein anderes , zweites . Auch
dafür giebt es verſchiedene Definitionen . Der eine nennt es
Gott , Himmel , Paradies , Seligkeit ; der andere Nirwana , das
„ Nichts “ im Gegenſatz zu jenem ſchlechten „ Sein “ . Jedenfalls
aber iſt dieſes andere ein Seliges ; auch wenn es als Nichts
definiert wird , ſo iſt es doch ein ſüßes Nichts . Nach dieſer
Seligkeit ringt unſer elendes Daſein , aber es kann ſie nur
erreichen durch vollkommene Aufhebung ſeiner ſelbſt . Welt¬
ertötung in uns iſt der Weg dahin . Laß ab von aller Sinnen¬
luſt , denn ſie iſt keine wahre Freude , ſie lockt nur immer wieder
jene ſchlechte Welt hervor . Thu ab vor allem die Liebe im
Sinne eines zeugenden , weltſchaffenden Prinzips , eines Un¬
ſterblichkeitsprinzips innerhalb dieſer Welt . Was ſoll dieſe
Unſterblichkeit , — ſie iſt nur Unſterblichkeit des Elends. Geh
in die Wüſte , bezwinge die Welt bis in deine Träume hinein ,
verſenke dich in jenes andere . So kehrſt du heim in die beſſere
Ordnung , wirſt erlöſt , verſinkſt ins ſelige Nirwana oder trittſt
über zu Gott und ſeinem Himmel .
Dieſe Lehre iſt , wie geſagt , nur ein bedingter Peſſimismus .
Sie kennt eine Erlöſung als Schluß . Eines Tages wird die
ganze Welt ſo klug werden , ſich zu verneinen , im ſüßen „ Anders “
wieder zu verſchwinden . So bleibt immer ein Lichtblick des
Optimismus , für den einzelnen wie für die Welt . Es bleibt
eine „ Entwickelung “ , wenn ſchon eine vom Weltſtandpunkt
rückwärtige .
Aber für unſeren Fall bleibt doch entſcheidend auch ſo die
Stellung zur Liebe . Sie iſt ein Todfeind jener Erlöſung .
In der ſchwarzen Welt bildet ſie den ſchwärzeſten Fleck , das
Gegenmittel zu aller Seligkeit . Sie iſt das größte Hemmnis
jener einzig wahren Entwickelung .
Die andere Form des Peſſimismus iſt unvergleichlich viel
radikaler . Erſt in ihr wird es ganz rabendunkel über dem
Daſein , für immer und überall .
Die Grundlage dieſer Anſchauung iſt durchaus moniſtiſch .
Es giebt nur eine Grundſache : nämlich dieſe Welt . Nichts
geht aus ihr heraus , niemals kann ſie nicht ſein . Auch in
ihr herrſcht ein blinder Naturwille , als Naturgeſetz im Stoff
waltend , aber vor ihm giebt es diesmal keine Erlöſung irgend¬
wohin . Sein Grundzug iſt die abſolute Sinnloſigkeit . Ein
ewiges Chaos iſt die Welt , das hin und her ſchaukelt , von
Ewigkeit zu Ewigkeit . In dieſem Chaos geſchieht es zwar ,
daß ſich zufällig , in der Unzählbarkeit der Zufälle , auch einmal
eine Anzahl glatt harmoniſch verlaufender Wellen bilden : ein
ſcheinbarer Anlauf zu ſinnvoller Harmonie erſcheint als Spezial¬
fall im unendlichen Geplätſcher des Chaos . Es entſteht der
„ Schein “ einer Empor-Entwickelung , wie gerade in unſerem
Sonnenſyſtem , auf unſerer Erde , wo eine ſolche Linie es bis
zu intelligenten Weſen gebracht hat . Aber ſchon dieſes kleine
Stückchen Weges wird erkauft mit unſagbarem Elend , mit
wahnſinnig geſteigerten Schmerzen , es iſt eine Geburt unter
Höllenqual . Und dabei iſt es unabänderlich doch im ganzen
auch nur eine Totgeburt . Wie die tote , indifferente Erde
jedes intelligente Einzelweſen nach kurzer Friſt wieder ver¬
ſchlingt , ſo geht nach einer gewiſſen Zeit die Menſchheit im
ganzen , das Leben überhaupt , ſelbſt die kurze Harmonie des
Sonnenſyſtems wieder ein , verſinkt durch Eiszeiten , Planeten¬
ſtürze , Sonnentod , allgemeine kosmiſche Vereiſung wieder in
die chaotiſche Urmaterie hinein , — „ es iſt ſo gut als wär
es nicht geweſen “ , ſagt Mephiſto .
Das höchſte , was an ſcheinbarer Stabilität , an Entwicke¬
lungsdauer in dieſer Welt erreicht werden könnte , wäre nur
etwa eine ( ebenfalls zufällige ) Konſtellation der Dinge an einer
Weltecke , die ſich in „ ewiger Wiederkehr des Gleichen “ äußerte .
Alſo etwa der Zuſammenſturz unſeres Sonnenſyſtems , der
Abſturz aller toten Planeten in die erkaltete Sonne könnte
dieſem toten Materiehaufen den Uranſtoß wieder geben , der
ihn neu zum Ur-Gasball werden ließe , der abermals eine
Glutſonne mit Planeten aus ſich gebiert . Das frühere Spiel
wiederholte ſich bis in jede Einzelheit , mit unabänderlich
gleichem Ausgang . Das ſcheinbare Spiel ſtändiger Fort¬
entwickelung löſte ſich auf in eine „ Rad-Theorie “ , bei der in
beſtimmten Zeiten alles ewig genau ſo wiederkehrt , mit aller
Qual des Werdens und des Sterbens — und das in alle
Ewigkeit fort , ohne irgend eine Möglichkeit wirklicher Steigerung .
Die Stellungnahme dieſes abſoluten Peſſimismus zur
zeugenden , weltſchaffenden Liebe iſt zunächſt eine ganz in¬
differente . Es fehlt der fanatiſche Haß gegen die Liebe , der
drüben waltete — denn es fehlt eben die letzte Hoffnung , an
den Dingen noch etwas ändern zu können ; Haß verlangt
immer Hoffnung als Hintergrund ; wo ſie völlig fehlt , tritt
Reſignation ein . Die erſte Stufe jenes Peſſimismus vor der
Liebe iſt denn auch Reſignation . Ob mit , ob ohne Liebe : es
führt doch alles in das gleiche ſinnloſe Spiel zurück . Wie
der alte Hauderer in Anzengrubers tiefernſtem Luſtſpiel ſagt ,
als ſie ihm melden , das Liebespaar habe ſich umgebracht :
„s' is a Dummheit “ ; und als er dann hört , ſie ſeien in
Wahrheit auf die Alm gefahren und hätten dort ganz alleine
Hochzeit gemacht , da ſagt er nach einigem Beſinnen : „s' is
auch a Dummheit . “
Aus dieſem reſignierten Indifferentismus ergiebt ſich aber
doch gerade bei denkenden , ſittlich ernſten Menſchen notwendig
eine noch weitere Folgerung . Es iſt auch von dieſem Peſſi¬
mismus aus doch ſchließlich kein ſittlicher Grund mehr ein¬
zuſehen für die Erzeugung eines neuen Menſchen . Individuum
wie Menſchheit führen in das gleiche graue Jammerthal , in
das ewige Chaos zurück . Der Menſch , den ich zeuge , wird
einzeln in Schmerzen hinleben , und als Menſchheitsfaktor wird
er nur mitweben an einem großen Schmerzgewebe ohne Sinn
und Erlöſung .
Gewiß , ich kann mich von der Liebe im Moment fort¬
reißen laſſen , kann zeugen um des bißchens Wolluſt willen ,
falls es notwendig denn eine Zeugung ſein muß , um zu der
zu kommen : das iſt ſo , wie wenn der Peſſimiſt jener andern
Sorte ſich doch einmal vom Teufel verführen läßt . Ich mache
mir ja über den Teufel keinen Skrupel . Aber wenn ich mit
der Sache fertig bin , werde ich doch alles eher haben , als eine
ſittlich große Stimmung . Gerade aber dieſe ſittliche Stimmung
iſt es , die die Liebe des echten , denkenden Menſchen im Sinne
unſeres ganzen Geſprächs auszeichnen ſollte . Es iſt das A und O
unſerer geſamten Betrachtung geweſen , daß auch die körperlichen
Liebesdinge zuletzt alle verklärt werden ſollten in etwas geiſtig
Reines , etwas durch und durch Sittliches . Das fällt nun hier
unabänderlich ab . Die Liebe bleibt eine Art Beſoffenheits-
Überrumpelung , wie wenn ich nach einer Flaſche Portwein
mir ein beliebiges dreckiges Straßenmädel ſuche , deſſen Namen
ich nicht einmal kenne . Es kommt die Stunde , wo einem das
doch über wird , — wenn es „ alles “ ſein ſoll . Auch dieſer Peſſi¬
mismus ſchlägt die Liebe innerlich tot , ohne Scheiterhaufen ,
aber nur deſto ſicherer . Er bedeutet eine geiſtige Kaſtration ,
die im Geiſtmenſchen ſchwerer wiegt als die That des armen
Asketen in der Wüſte , der ſich ſein Glied abſchneidet .
So ſpitzt ſich die große Liebesfrage endlich doch auf eine
Entſcheidung zu , vor der du wählen mußt .
Wenn der Glaube deines Lebens nach einer dieſer beiden
peſſimiſtiſchen Seiten geht , ſo klappe das Buch der Liebe hier
zu . Eine weltgeſchichtliche Giftblüte war dann dieſe ganze
Liebe ; oder ein ſinnloſer Spuck einer ſinnloſen Welt . Du
haſt ſo viel große , ernſte Geiſter als Genoſſen in beiden An¬
ſchauungen , daß du dich in guter Geſellſchaft beſcheiden magſt .
Mir aber geſtatte ein letztes , ein perſönlichſtes Wort .
Der Weg vom Waldſchratt zur Madonna , wie ich ihn
faſſe , ſteht dieſen beiden ſchwarzen Wegen vollkommen fern .
Wohl glaube auch ich , daß kein denkender Menſch auch
in unſeren Tagen auf die Welt um ſich her und das eigene
Leben ſchauen kann , ohne ſich der Wucht des Schmerzlichen ,
Unbefriedigten , Unvollendeten dort bewußt zu werden . Ich will
ganz gewiß nicht dem das Wort reden , was ein ſo hoher Geiſt
wie Schopenhauer „ verruchten “ Optimismus genannt hat : einem
ſeichten Schönreden vor den furchtbaren Schmerzquellen dieſes
Daſeins , das ſich mit Verhüllen hinweghilft und das da meint ,
mit einem Alltagswort vom „ liebenden Vater “ das andere
Weltantlitz „ aus Blut und Wunden “ beſeitigen zu können .
Dieſer Menſchengeiſt mit der Dornenkrone ſchaut dich an , du
magſt dich wenden , wohin du willſt . Und es iſt auch die Liebe ,
die dieſe Dornenkrone trägt . Jede Philoſophie muß mit
dieſem wehen Antlitz des Daſeins rechnen , muß es als eine
Grund-Weltthatſache mit verrechnen . Aber die Frage iſt , ob
es eine andere Kette von Erſcheinungen giebt , die ſtark iſt ,
dem das Gegengewicht zu halten .
Hier ſcheint mir nun zunächſt wichtig , daß jene ganze
erſte , ältere Form des Peſſimismus für unſere Tage und unſer
Naturdenken ſchon ſtark zurücktritt einfach durch ihre dualiſtiſche
Grundlage . Unſer ganzes neueres Naturerkennen , wie es auch
unſer ganzes Geſpräch hier trägt , drängt mit einer zwingenden
Gewalt auf eine Einheit dieſer Natur . Nichts iſt außer ihr
uns gegeben . Auch das „ Nichts “ ſelber nicht . Seit es uns
endlich gelungen iſt , auch den Menſchen ſeiner geſamten Her¬
kunft nach in die Kette der übrigen Natur einzuordnen , iſt der
Naturbegriff jetzt wirklich ein Univerſalbegriff geworden . Er
umſpannt das „ Ganze “ , von unſerer Kultur bis zum fernſten
Nebelfleck . Was iſt , iſt in ihm . Ein ſolcher Begriff leidet
kein „ Dahinter “ mehr . Es kann kein Gott , kein Himmel , kein
Nirwana mehr „ dahinter “ ſein als Zweites , als Gegenſatz .
Eine Aufhebung dieſer Natur , dieſes Natur-Willens , um das
Schopenhauerſche Wort zu gebrauchen , iſt im Begriff ſelber
einfach ausgeſchloſſen . Iſt dieſe Natur von Grund an ſchlecht ,
ſo müſſen wir jedenfalls ſo mit ihr leben .
Das hat denn auch die zweite Sorte Peſſimismus , die
überhaupt unſerem Denken in den Vorausſetzungen wenigſtens
viel näher ſteht , richtig eingeſehen . Sie ſperrte uns wenigſtens
reſolut in dieſe Welt ein als in das Unvermeidliche . Fragt
ſich bloß , ob dieſe Welt , dieſe Natur jetzt notwendig ſo auf¬
gefaßt werden muß , wie auch dieſer zweite Peſſimismus thut .
Das erſte , was ich von dieſem Peſſimismus verlange , iſt ,
daß er mir nicht einreden will , bereits alles zu wiſſen .
Ich bin ein Todfeind des albernen , gerade aus dem Dünkel
ſolcher Allwiſſenheit ſelber geborenen Ignorabimus . Ich ſehe
kein Ende intellektueller Entwickelung in der Welt und vermeſſe
mich alſo nicht , hier irgendeine Grenze zu ſtecken . Aber was
ich ſehe , das iſt das Fragmentariſche unſeres Wiſſens . Wir
ſind in der Natur , mit Goethes Wort , noch umgeben von
Geheimniſſen . Wirf einen Blick auf die Sterne dort und
denke , daß das ſo weiter geht , leuchtende Welten durch den
Raum , immer weiter . Schau dieſem Staubteilchen nach , das
vor der roten Ampel tanzt , und ſage dir , daß es keine räum¬
liche Grenze im Stoff nach Innen giebt , ſondern auch da nur
immer neue Welten , neue Geheimniſſe ins immer Kleinere
hinein . Ich verlange von jeder Weltanſchauung , die mit dem
wirklichen Begriff Natur arbeitet , Achtung vor dieſem überall
unendlichen Gebiet des Geheimnisvollen , das noch vor uns
hinausflutet .
Es iſt nicht unwichtig , das zu betonen , denn mit einer
Natur voller Geheimniſſe läßt ſich immer noch erträglich leben ,
wo es mit der ſchon völlig peſſimiſtiſch gedeuteten nicht mehr
möglich wäre . Auf das Geheimnis hin kann ich noch Kinder
zeugen , — auf die endgültig entdeckte Nacht hin nicht .
Nun wird der Peſſimiſt freilich ſagen , daß ihn das nichts
angeht , er ſchließe eben nach zuläſſigem Brauch vom Bekannten
aufs Unbekannte , und der bekannte Teil der Welt ſei eben
ſchlecht , alſo ....
Auch die Logik dieſes Schluſſes als ſolche gebe ich zu ,
aber ich verlange dann an zweiter Stelle , daß dieſes Schließen
auch im Engeren ordentlich erfolge und nicht willkürlich ſo und
ſo viel auslaſſe .
Wir kennen geſchichtlich nur ein einziges Stück Natur ,
nämlich annähernd und andeutungsweiſe ein Teil Geſchichte
unſeres Planeten , vielleicht ſogar ſeines Sonnenſyſtems , ſicher
ſeines Werdens und Wandels in den letzten tauſend Millionen
Jahren , insbeſondere ſeines Lebens , ſeiner Pflanzen , Tiere ,
Menſchen , ſeiner Menſchen auch noch durch ein paar tauſend
Jahre Kultur . In dieſer einzigen überſehbaren Spanne iſt
das Frappierende ein Heraufgang der Entwickelung der wunder¬
barſten Art , ein kontinuierlicher Heraufgang bis zu intelligenten
Weſen und bei denen von Barbarei zur Kultur . Wer dieſen
Heraufgang nicht ſieht : von einem rohen , erkaltenden Meteor¬
block wie die Erde war , bis zu Goethe , dem iſt nicht zu helfen ,
es fehlt ihm die Urthatſache alles Bekannten über die Natur .
In dieſer einzigen Linie findet eine fortgeſetzte Überbietung in
Harmonien ſtatt . Zuerſt entſteht die Harmonie des Planeten¬
ſyſtems . Dann die Harmonien der älteſten Lebensformen ,
Pflanze und Tier , Tier zu Pflanze . Dann die unendlichen ,
ſich immer überbietenden Anpaſſungsverſuche dieſer Lebeweſen .
Endlich die Univerſalanpaſſung Menſch ſie alle ablöſend . Im
Menſchen wieder die ungeheure Anpaſſungsthat der Menſchen¬
liebe , gleichzeitig mit der Überwindung der ganzen Erd¬
bedingungen durch den Intellekt und die von ihm geſchaffene
Technik .
Nun hören wir : dieſe wunderbare Linie einander über¬
bietender Harmonieverſuche ſoll eine Ausnahme ſein im völlig
regelloſen Chaos , die zufällige ſcheinbare Harmonie-Ausnahme .
Und das nennt man : ſchließen vom Gegebenen aufs Unbekannte .
Die einzige uns bekannte Geſchichtslinie eine Ausnahme !
Doch wir werden auf den Weg hingewieſen , den dieſe
Harmoniebildung offenbar gegangen ſei . Blind ſei ein Chaos
von Möglichkeiten jedesmal hingeworfen worden , und nur
zufällig habe ſich dann das „ Paſſende “ erhalten , ſo ein Ent¬
ſtehen von Harmonien vortäuſchend .
Gemach . Zunächſt ſind die Harmonien auf alle Fälle
da , nicht ſelber Täuſchung . Jenes Entſtehen durch „ zufälliges
Erhaltenwerden “ von Paſſendem aber lehrt eine neue , höchſt
wichtige Thatſache über die Natur .
Das Paſſende , Harmoniſchere erhält ſich alſo bei Kon¬
kurrenz mit dem Disharmoniſchen . Ja , warum denn ? Das
iſt doch logiſch , heißt es . Ja , was iſt denn Logik ? Eine
Natureigenſchaft offenbar . Die Natur hat ein urgegebenes
Geſetz in ſich , daß das Harmoniſche , das Gute ſiegt über das
Disharmoniſche , Schlechte , ſobald beide in Konkurrenz treten .
Ich frage , ob das ein peſſimiſtiſcher Grundzug iſt ?
Jedenfalls iſt es ein Zug , der dem Harmoniſchen , ſobald
es einmal da iſt , fort und fort ein Plus geben muß , es zum
Sieger machen muß über alle disharmoniſchen Gebilde . Wo
aber in der Welt empfunden wird ( und wir wiſſen ja nicht ,
wie weit das geht ; ob es nicht ſelber eine Ureigenſchaft aller
Naturdinge iſt ) , da wird dieſes Harmoniſchere als das Luſt¬
vollere empfunden werden ; eine Welt , die auf den zunehmenden
Sieg harmoniſcherer Syſteme durch ihre Ur-Logik gebaut iſt ,
muß eine Welt ſtändig anwachſender Luſtziffern ſein .
Der Übergang von einer Harmonie zu einer höheren
mag dabei , als Auflöſung zunächſt der niederen , fortgeſetzt mit
Unluſt verknüpft ſein , aber ſelbſt da ſehe ich im Emporgang
der ganzen Linie fortſchreitende Milderungen . Sie müſſen ent¬
ſpringen aus dem Intellekt , der anfängt , die Dinge zu be¬
herrſchen , der ſich bewußt müht , die Übergänge zu mildern ,
und der ( eben als überſchauende Welterkenntnis ) in den Schmerz
die Hoffnung pflanzt , alles Sterben beſtehenden Glücks ver¬
ſöhnt durch den Aufblick auf den Keim des noch beſſeren
Lebens in dieſem Tode . Wie durchſonnt ſich uns ſchon
Schmerz und Entſagung und ſelbſt die Hingabe des Lebens ,
wenn uns die Kraft des Ideals durchglüht , der Glaube an
das eigene Opfer um der Erfüllung unſerer Ideale willen .
Was ſind aber Ideale anders als bewußt bereits im Geiſte
vorgeſchaute Stufen ſolcher höheren Harmonie . In dieſer
Harmonieſehnſucht läßt ſich ein Chriſtus ans Kreuz ſchlagen ,
beſteigt ein Giordano Bruno getroſt den Scheiterhaufen . Ich
kann mir einen Standpunkt des Durchſchauens der Dinge
denken , wo jeder Schmerz bis in unſer Alltägliches hinein mit
Mut ſo getragen würde als das notwendige Opfer des Fort¬
ſchrittes . Zugleich aber nähme helfende Liebe unendlichen Stachel
fort noch von dieſem Schmerz , wie das auch heute in uns doch
ſchon ſo erkennbar angelegt iſt . Mit dieſen beiden , Idealhoff¬
nung und Liebe , möchte wohl auch dem Anwachſen des Über¬
gangsſchmerzes beim Anwachſen der Harmonien zu begegnen ſein .
Bei alledem iſt aber das Wörtchen „ zufällig “ ſelbſt ganz
belanglos , ſobald man mit dem Einheitsbegriff der Natur
ernſt macht .
Alles „ Zufällige “ ſpielt ſich doch innerhalb der Natur
ab , es iſt alſo auch ein Ausfluß einer Eigenſchaft in ihr .
Wenn die Natur etwas Großes uns vor Augen ſtellt und es
heißt jetzt : das iſt durch Zufall in ihr entſtanden , ſo iſt mir
das genau ſo viel wert , wie wenn einer mir ſagt : es war ein
Zufall in Goethes Dichterperſönlichkeit , daß ſich aus ihr der
„Fauſt “ entwickeln mußte . Gerade im Ganzen der Natur
verrechnet ſich jeder ſcheinbare Zufall als Notwendigkeit , als
Stück einer großen Fügung .
Wenn man von unten ins Getriebe der Dinge ſchaut , ſo
ſieht's ja wohl wüſt aus . Da fliegen die Fetzen von un¬
gezählten mißlungenen Verſuchen , ehe etwas zuſtande kommt ,
etwa eine tieriſche Anpaſſung oder ein geregelter Planetenlauf .
Man möchte wirklich denken , es ſei ein ganz wilder Zufall
bloß , daß endlich etwas glückt . Aber von oben beſehen ſind
das ja nur Experimente in der Natur ſelbſt . Ich könnte mir
einen Standpunkt denken , von dem die Entſtehungsgeſchichte
des Fauſt in Goethes Gehirn mit ihrem zweifellos unendlich
vielfältigen Abmühen , Experimentieren , Verwerfen , endlich
Treffen ganz ähnlich wie ſo ein wilder Zufallstanz im Würfel¬
becher ausſähe . Trotzdem bleibt der fertig daſtehende Fauſt ,
was er iſt , und wir ſagen mit vollem Recht : Goethes Größe
hat ihn geſchaffen . Das Wie bleibt dabei ſeine Sache .
Dabei ſoll das Gleichnis aber noch nicht einmal ganz
durchgeführt und durchführbar ſein . Goethes Fauſt ſetzt als
Dichterarbeit eines Menſchen auf dem Gipfel der uns be¬
kannten Menſchheit ſicherlich eine ganz andere Summe bewußten
Wollens und Zielſtrebens voraus als etwa die Entſtehung eines
grünen Laubfroſches . Aber hier vergeſſen wir doch ja nicht , daß
dieſer Goethe ja auch in der Natur iſt , ein Stück , ein Teil ,
eine That von ihr — Goethe mit allem , was in ihm ſteckt .
Ich weiß wohl , es giebt Naturdefinitionen , bei denen
„ die Natur “ immer ſo ein ſchreckhaftes Monſtrum aus „ Kraft
und Stoff “ iſt . Es liegt unter uns wie ein großer Schlund ,
der alles frißt , nichts weiter . Auf dieſem Wege ſchiefer
Definitionen , die in Wahrheit hohle Abſtraktionen der Studier¬
ſtube ſind , kommſt du natürlich nicht leicht mit optimiſtiſchen
Zügen vor dieſer Natur durch .
Aber es iſt ja gerade die große Errungenſchaft unſeres
modernen Denkens und Weltanſchauens , daß wir auch den
Menſchen in der Natur — als Natur — haben . Dieſe
Natur als Ganzes iſt nicht bloß Kraft und Stoff — ſie iſt
auch Menſchengeiſt . Sie iſt nicht bloß Planetenſyſtem : ſie iſt
auch Kepler , der die Geſetze dieſer Planetenbewegung erkennt .
Sie hat Goethes „ Fauſt “ geſchrieben und Beethovens Sym¬
phonien , ſie hat die „ Venus von Milo “ gemacht und das
„Jüngſte Gericht “ , ſie hat als Chriſtus die Menſchenliebe ge¬
predigt und den Armen und Beladenen verkündet , daß in der
Welt des Höhen-Menſchen nicht mehr gelten ſoll „ Auge um
Auge , Zahn um Zahn “ , ſondern daß die Liebe ſiebenmal
ſiebenmal alle Schuld vergeben ſoll .
Das ſieht recht trivial aus , wenn man es ſo ſagt , und
doch ſcheitert noch bei der Maſſe der Menſchen heute die große
und befreiende Auffaſſung von der Natur gerade daran , daß ſie
das Menſchliche doch immer wieder auslaſſen bei dem Wort .
Giebſt du es reſolut hinein , ſo kannſt du auch nicht umhin ,
es ſchon in den Grund der Dinge zu legen . Alles , was als
Geiſt , Bewußtſein , Ethik , Nächſtenliebe , was als Kunſt , als
Rhythmus , als Schönheit oben herausgekommen iſt , muß tief
unten ſchon in ihr als Ureigenſchaft grundſätzlich angelegt
geweſen ſein . Es lag im Schoße ihrer Eigenſchaften , ihres
„ Naturgeſetzten “ . Darum konnte es als einfaches Produkt der
ſogenannten Naturgeſetze „ mechaniſch “ entſtehen , ohne beſondere
Eingriffe von oben , ohne daß noch einmal ein beſonderes
metaphyſiſches Zielpferdchen im Pferde ſaß . Es konnte ent¬
ſtehen als einfach berechenbare Kauſalfolge ſo , wie Goethes
„ Fauſt “ wirklich auch als einfache Folge ſich „ mechaniſch “
berechnen ließe aus allen Faktoren von Goethes Perſönlichkeit .
Hier höre ich nun abermals die Stimme des Weltzweiflers .
Was hilft all dieſes Blütentreiben der Natur ? Goethe hat
doch auch eines Tages ſterben müſſen . Und auch der Fauſt
muß zuletzt wieder ſpurlos verſchwinden . Eines Tages „ ver¬
ging wie Hauch “ der Menſchen Geſchlecht . Die alte Erde ,
längſt wieder tot und vereiſt , ſtürzt in die Sonne ab . Und
24
dann hat eben doch Mephiſto recht : „ Es iſt ſo gut , als wär'
es nicht geweſen . “ Und um das zu erlangen als Schlu߬
reſultat , haben wir bei jeder Emporſtufe ſo lange die grä߬
lichſten Wehen mit in Kauf nehmen müſſen . Kein Weg noch
ſo hoch empor mildert ja an ſich je die unſagbare Ungerech¬
tigkeit des Vergangenen und wenn er ins ſtrahlendſte Licht
führte . Nun führt unſer Weg aber erſichtlich nicht einmal
ganz empor , ſondern auch er endet gar bald , in einer kleinen
Kette von Millionenjahresfolgen , wieder auch im Ganzen beim
Nichts , beim Untergang . Oder wenn ja etwas folgt , ſo kommt
das gleiche Rad wieder , die gleiche Welt ewig neu . Goethes
Fauſt äonenlang immer neu , wird aber doch auch eine lang¬
weilige Perſpektive . Zumal da der ganze Höllenſchmerz , der
die Entwickelung doch begleitet hat , wie du auch ehrlich zu¬
giebſt , ewig wieder mitkommt .
Aber nun vergegenwärtige dir , daß zunächſt die rein ſach¬
lichen , naturwiſſenſchaftlichen Ideen , die dem zu Grunde liegen
ſollen , ſämtlich noch ganz problematiſch ſind . Wir wiſſen viel
zu wenig vom Weſen des Lebens , um zu ſagen , ob dieſes Leben
nicht bei genügender Zeit auch jene Zukunftsdinge ( wie etwa
Erkalten der Sonne ) durch fortſchreitende Anpaſſung überwinden
könnte . Sehr gut kann der Menſch mit ſeiner Technik ſchon dieſe
Anpaſſung ſein . Was ſind vor dieſer Technik in Jahrmillionen
vielleicht Begriffe wie „ Kälte “ oder auch wie „ Planetenabſtände “ !
Es bleibt , daß wir poſitiv wenig über dieſe Dinge wiſſen .
Aber negativ können wir erſt recht nichts abſprechendes davon
behaupten . Vom indifferenten Nichts weiß gerade der Natur¬
forſcher nirgendwo etwas , alſo dahin kann auch kein Welten¬
ſturz gehen . Was die Naturforſchung vielmehr lehrt , iſt die
Ewigkeit aller Wirkungen . Kein Hauch einer Luft , kein Schlag
einer Welle kann in Wahrheit im All je vergehen : ſeine
Wirkungskreiſe gehen ins Unendliche in alle Ewigkeit . Ewig
iſt nicht bloß die Summe der Weltenkraft , die ſo erhalten
bleibt . Auch die Form aller Dinge , die einmal waren , bleibt
in alle Zeiten und Räume hinein erhalten in Geſtalt beſtimmter
Wirkungswellenkreiſe , die auf ein beſtimmtes , individualiſiertes
Zentrum , eine urſprüngliche Konſtellation in alle Ewigkeit ein¬
geſtellt bleiben . Es iſt das die Thatſache , auf der Fechner
ſeine großartige Unſterblichkeitslehre aufgebaut hat , die auf
kein Titelchen vom naturwiſſenſchaftlichen Material verzichtet .
Gerade von dieſer Grundthatſache aus wird aber wieder
jene Radtheorie mindeſtens ſo unwahrſcheinlich wie möglich .
Die auf alle Fälle nächſtliegende Vermutung müßte ſein , daß
ſelbſt aus dem Zuſammenſturz einer Welt eine andere ſtiege ,
die von Anfang an in ſich doch die alten Wirkungen nicht
völlig verleugnete , ſondern in ihrer Urveranlagung eine Stufe ,
ſei es auch nur gering , höher darſtellte , die raſcher zum alten
Ziel und alſo in ihrer Spanne noch darüber hinaus käme .
Gerade die Liebe iſt das wunderbarſte Beiſpiel , wie Generationen
in den Staub ſinken und andere aus ihnen entſtehen , die faſt
gleich ſind , aber doch nicht ganz gleich — und wie auf dieſer
kleinen Ungleichheit mit minimalem Plus die herrlichſte Ent¬
wickelungslinie , die wir kennen , von der Urzelle zum Menſchen ,
lückenlos heraufgekommen iſt . Meinetwegen möchte die Welt
im Ganzen auch ſolch eine Liebesleiter ſein , faſt Rad , aber
doch ſtets mit einem kleinen Entwickelungsplus . Ewig würde
auch ſo jeder von uns wiederkehren , aber nicht genau ſo zu
ſinnloſem Einerlei , ſondern ſtets ein minimales Stückchen herauf¬
gerückt , weil die ganze Phaſe der Welt um ſo viel herauf iſt .
Das lohnte ſich immerhin und ſo wäre die Radtheorie opti¬
miſtiſch noch nicht die übelſte .
Aber alle dieſe Zukunftskonturen verſchwimmen natur¬
gemäß ſehr loſe . Eigentlich beweiſen läßt ſich mit ihnen
nirgendwo , alſo , wie geſagt , auch nicht kontra .
Der Peſſimiſt ſagt : all das frühere Elend wird auch durch
noch ſo viel ſonnige Zukunft nicht wett gemacht . Ich ſage :
wenn wir ſchon Zukunftsbehauptungen überhaupt einmal auf¬
ſtellen wollen : weßhalb nicht ?
24*
In dem kleinen Stückchen Naturthat , das wir kennen ,
vom Nebelfleck zum Menſchen , iſt eine ganz deutliche Linie ,
die das alte ſtarre Geſetz „ Auge um Auge , Zahn um Zahn , “
das im Innern bloß das einfache Kauſalitätsgeſetz iſt , gleiche
Urſachen , gleiche Wirkungen , aufzuheben ſucht in das Höhere
hinein : Liebe , vergieb , merze alle ſchlechten Dinge aus nicht
wieder durch Schlechtes , ſondern durch das Gute . Auf ihrer
Ichthyoſaurusſtufe hat die Natur davon noch nichts gehabt .
Auf ihrer Chriſtusſtufe hat ſie es gepredigt . Warum ſoll ſie
es nicht in Äonen der Zukunft , mit Weſen , denen Sterne
vielleicht nur Wegſteine ſind , wirklich durchſetzen ?
Und es iſt richtig , daß dieſes ewige Liebesgeſetz nur ganz
Genüge fände , wenn es auch rückwirkende Kraft erhielte in die
Vergangenheit hinein . Aber ſoll dieſe Natur , die mit unſern
kleinen Menſchenaugen ſchon anfängt , in die Vergangenheit
über Jahrmillionen fort zu blicken , Geſtalten , Umriſſe dort
wieder zu erkennen , ſoll dieſe Natur nicht auf ſolchen Stufen
Macht haben , ſich ſelbſt da unten wieder zu erwecken , ſich rück¬
wärts von Kreatur zu Kreatur noch einmal aufzurollen —
und zu erlöſen ?
Wohlan , du haſt von mir verlangt , daß ich in die Zukunft
träume , — träume , hörſt du ? Aber ich wollte dir wenigſtens
beweiſen , daß ich das auch optimiſtiſch kann , wenn du dich ver¬
mißt , als Peſſimiſt bis ins graue Weltende hineinzuphantaſieren .
Es iſt nichts wahrlich in der Naturforſchung , das ſolchen
Möglichkeiten widerſpräche , — Idealerfüllungen , die ſich in
einer unbegrenzten Entwickelungslinie genau ſo gut einſtellen
könnten , wie ſich ſchon in den paar Jahrtauſenden menſchlichen
Heraufgangs kleine Ideale in Maſſe erfüllt haben .
Setze hinter den einfachen Gedanken der Liebe zum Nächſten ,
der nach ſo viel Sonnen , Urzellen , Ichthyoſaurieren plötzlich
bei ein paar Menſchen da iſt als innerſte Stimme der Natur ,
ſetze dahinter die Äonen der Zukunft , in denen die Naturkraft
nie ſtirbt , ſondern nur höher und höher die Dinge gipfelt , die
Äonen des Naturforſchers , der das Licht eines Sternes durch
den uferloſen Raum rinnen läßt , Billionen und Trillionen
Jahre lang , — und dich umſchauert das alte Wort in neuer
Prägung : „ Die Liebe höret nimmer auf . “ Auch ſie wandert
wie jenes Sternenlicht , in jenem „ Nimmer “ erobert ſie die
Raumtiefe wie die Zeitenfernen , rechts und links , vorwärts
und rückwärts . Der Peſſimiſt ſagt : alles iſt aus . Ich ſage
mit dem gleichen Recht : alles iſt Liebe .
In ſolchen Gedankengängen endlich verſöhnt ſich das Bild
des Waldſchratts , mit dem die wilde Sinnenliebe aus der Tier¬
heit bricht , mit der keuſchen Liebesmutter in ihrer Lotosblume
und mit der Lichtgeſtalt , die als Liebeskönigin hehr vergeiſtigt
über den Wolken ſchwebt .
Es iſt die Wallfahrt eines Ideals , dieſer ungeheure
Roman des Liebeslebens in der Natur , mit all ſeinem Wahn¬
ſinn , ſeinen Schmerzen , ſeinen Brutalitäten .
Und in dieſem höchſten Sinne tönt aus all ſeinen Melo¬
dien das eine größte Wort , das mehr iſt als Liebe — das
Schöpferwort , das Welten gebaut hat und aus Welten beſſere
Welten baut , das Triumphwort aller Erfüllung und das ſtille
Reſignationswort zugleich aller zeitlichen Beſchränkung im engen
Kämmerlein :
Sehnſucht