1.
Unſre Univerſitaͤten ſind nicht Kunſt-, ſondern wiſſenſchaft-
liche Anſtalten, und ſelbſt wenn ſie uͤber Kunſt handeln, ſo
verbreiten ſie das Wiſſen uͤber die Kunſt, die Theorie, nicht
das Koͤnnen. Darum ſchließe ich die Kunſt von ihrer prakti-
ſchen Seite von den Zwecken einer Univerſitaͤt aus, und be-
zeichne ihren erſten, wenn auch nicht hoͤchſten, Zweck durch
das Wort: Wiſſenſchaftlichkeit, hier einerlei mit Gruͤndlichkeit
des Lehrens und Lernens. Der Zuſatz „aͤchte“, deutet ſo-
wohl auf den Mißbrauch des Wortes Wiſſenſchaftlich-
keit, als auch auf die falſche Richtung, in welcher die
Gruͤndlichkeit faͤlſchlich geſucht worden iſt und geſucht wird,
hin. Ich muß mich daher naͤher uͤber dieſen Gegenſtand er-
klaͤren. Zuerſt ſage ich in negativer Hinſicht:
1) Der wiſſenſchaftliche Geiſt, das wahre Wiſſen, die
Gruͤndlichkeit der Erforſchung des Lehrens und Lernens
iſt nicht zu ſuchen in der Maſſe des Wiſſens,
nicht in hiſtoriſcher Erſchoͤpfung, nicht in ſo-
genannter Gelehrſamkeit.
Zur eigentlichen Gelehrſamkeit gehoͤrt nicht bloß die Wiſ-
ſenſchaft, ſondern auch eine gruͤndliche Kenntniß der geſchicht-
lichen Entwicklung derſelben; je genauer und tiefer, deſto
gelehrter. Je weniger einem Gelehrten irgend eine Notiz, ir-
gend eine literariſche Erſcheinung der Geſchichte ſeiner Wiſſen-
ſchaft entgangen iſt, deſto mehr gebuͤhrt ihm in herkoͤmmlicher
Bezeichnung der Name eines Gelehrten. Ein Solcher muß
nach einem moͤglichſt erſchoͤpfenden Wiſſen ſtreben, im guten
Sinne des Wortes ein Viel-, wo moͤglich (auf ſeinem Ge-
biete) ein Alleswiſſer ſein.
Den Zweck, ſolche Gelehrte zu bilden, haben die Univer-
ſitaͤten vorzugsweiſe nicht. Schon darum nicht, weil
er ſich nicht mit Sicherheit erreichen laͤßt. Zu einem Gelehr-
ten wird man nicht gebildet, ſondern man bildet ſich ſelbſt
dazu. Die Beſtimmung zum Gelehrten muß man ſich ſelbſt
geben. Auch hat der Staat oder die Geſellſchaft kein unmit-
telbares Intereſſe daran, ob ſich unter den Staatsangehoͤrigen
viele große Gelehrte befinden. Als Solche gehoͤren ſie auch
nicht eigentlich dem Staate an, ſondern der Menſchheit.
Eigentliche Gelehrte leben nicht dem Leben, ſondern der Wiſ-
ſenſchaft, und ſie bilden die europaͤiſche oder allgemein menſch-
liche (cosmopolitiſche) Gelehrten-Republik. Ein Gelehrter iſt
kein Englaͤnder, Franzoſe, Deutſcher, ſondern ein Gelehrter,
kein Staatsdiener, ſondern ein Prieſter der Wiſſenſchaft. Wohl
macht es der Intelligenz eines auf Bildung Anſpruch machen-
den Staates Ehre, wenn er auch die Gelehrſamkeit, die Er-
forſchung der Wiſſenſchaft foͤrdert und Opfer dafuͤr bringt;
auch fungiren unſre heutigen (großen) UuiverſitaͤtenUniverſitaͤten fuͤr dieſen
Zweck; aber ihr Hauptzweck iſt es nicht. Von 100 Studen-
ten widmen ſich in der Regel kaum 5, oft nicht Einer der
eigentlichen Gelehrſamkeit. Aber alle ſollen zu gruͤndlich wiſ-
ſenſchaftlicher Bildung gelangen. Wenn dieſe nun nicht in
hiſtoriſcher Erſchoͤpfung ihrer Wiſſenſchaft, nicht in gelehrtem
Kram oder Wuſte, nicht in der Unendlichkeit des Wiſſens,
deſſen Unfruchtbarkeit faſt zum Sprichworte geworden, beſteht,
ſo ſage ich poſitiv:
2) Die aͤchte Wiſſenſchaftlichkeit beſteht in der (von
den Akademikern) errungenen Selbſtthaͤtigkeit des
Denkens.
Natuͤrlich iſt ſie ohne Wiſſen, ohne Gruͤndlichkeit des
Wiſſens gar nicht moͤglich; aber dennoch thut es noth, daran
zu erinnern, daß die Gruͤndlichkeit nicht objectiv in der hiſto-
riſchen Erſchoͤpfung, ſondern ſubjectiv in der Hoͤhe und
Energie der entwickelten Denkkraft beſteht. In dem Maße
und Grade, als die Univerſitaͤten dieſen Zweck erreichen, in
demſelben Grade erreichen ſie ihre Beſtimmung; und je nach-
dem ein akademiſcher Lehrer dazu die akademiſche Jugend er-
regt und veranlaßt, je nachdem erfuͤllt er die Zwecke ſeines
hohen Berufes. Er ſoll nicht die Gelehrſamkeit verbreiten,
ſondern wiſſenſchaftlichen Geiſt.
Dieſe beiden Bedingungen, jene negative und dieſe poſi-
tive, muͤſſen in ihrer Zuſammengehoͤrigkeit betrachtet werden;
ſonſt geraͤth man auf Irrwege.
Ich ſage daher: der akademiſche Lehrer braucht als ſolcher
kein Forſcher, aber er muß ein Lehrer ſein. Vereinigt
ſich Beides in derſelben Perſon, deſto beſſer; aber es iſt nicht
noͤthig, ſo wie es auch ſehr ſelten iſt. In den meiſten Faͤllen
ſchließen beide Richtungen einander aus. Der gelehrte For-
ſcher liebt die Einſamkeit des Denkens, die ſtille Betrachtung,
indem er die Graͤnzen des menſchlichen Erkennens zu erweitern
ſtrebt. Er hat es mit der Sache, nicht mit der Form, nicht
mit der Art der Entwicklung des Geiſtes zu thun, er denkt
nicht an die Methode.
Der Lehrer dagegen richtet ſein Hauptaugenmerk auf die
Geſetze der Entfaltung des jugendlichen Geiſtes, auf die Art
und Weiſe, wie derſelbe erregt und gerichtet werden muß,
damit er zur ſelbſtſtaͤndigen, freien Entwickelung gelange. Er
liebt daher das laute Denken, und er ſucht die Gemeinſchaft
mit ſtrebenden Juͤnglingen, die das Beduͤrfniß der Entwick-
lung lebendig in ſich empfinden. Die Umgebung, in welcher
das Geſchaͤft des Forſchens allein gedeiht, iſt die abgeſchiedene
Stille, ein einſames Landhaus oder eine Buͤcherburg; das
Geſchaͤft des Lehrens dagegen gedeiht nur in dem Lehr- und
Hoͤrſaale bei der lauten, moͤglichſt lebendigen Rede und Ge-
genrede. Zur Erweiterung der Wiſſenſchaften wird eine Samm-
lung des Geiſtes und eine Muße erfordert, wie ſie dem in
lebendigem Verkehr mit heiteren Juͤnglingen ſtehenden Lehrer
nicht zu Theil wird. Darum ziehen ſich alle eigentlichen ge-
lehrten Forſcher gern vom Leben zuruͤck, und darum ſind die
tuͤchtigſten akademiſchen Lehrer ſelten oder nie in demſelben
Maße, als ſie Lehrer ſind, zugleich wiſſenſchaftliche Forſcher.
Offenbar hat man dieſe meiſt entgegengeſetzten Beſtimmun-
gen nicht immer gehoͤrig von einander geſchieden. Man hat
die Gelehrſamkeit mit der Lehrkunſt verwechſelt, und den
Mann fuͤr den beſten akademiſchen Lehrer gehalten, der der
gelehrteſte war. Ich wiederhole es, es giebt keinen guten
Lehrer ohne gruͤndliches Wiſſen; aber dieſes allein ſtempelt
keinen zum Lehrer. In der Regel fuͤhrt es allein von der
Lehrkunſt ab. Denn ſie iſt ein Koͤnnen, zu dem ſich der Ge-
lehrte bei ſeiner ausſchließlich theoretiſchen, unpraktiſchen und
abſtrakten Richtung nicht gern herablaͤßt. Die groͤßten Ge-
lehrten ſind darum meiſt unwillige, ungeſchickte, ungewiſſen-
hafte d. h. ſchlechte Lehrer, und die tuͤchtigſten Lehrer darum
meiſt keine Forſcher. Das Erforſchen des Neuen erfordert
Genie, das Lehren Talent. Der akademiſche Lehrer braucht
daher kein Genie zu ſein, aber er darf des (Lehr-) Talents
nicht entbehren.
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Zur Befeſtigung dieſes hoͤchſt wichtigen Unterſchiedes hat,
wenn ich nicht irre, Jemand den Vorſchlag gethan, die Aka-
demien von den Univerſitaͤten zu ſcheiden, jenen die
eigentlichen gelehrten Forſcher, dieſen die eigentlichen Leh-
rer der Wiſſenſchaften zuzuweiſen. Ein Vorſchlag, welcher
im hoͤchſten Grade der weiteren Ueberlegung wuͤrdig iſt. Vie-
len großen Uebeln der heutigen Univerſitaͤten wuͤrde dadurch
vorgebeugt werden. Ich mache nur auf folgende aufmerkſam:
1) Es wuͤrden nicht Maͤnner zum akademiſchen
Lehramte berufen werden, die weder inneren
Beruf, noch aͤußeres Talent zum Lehren be-
ſitzen.
Welche Marter iſt es fuͤr die Studenten, tagtaͤglich zu
den Fuͤßen eines Mannes zu ſitzen, der die Gabe des Lehrens
nicht beſitzt, ſelbſt wenn er der ausgezeichneteſte, beruͤhmteſte
Gelehrte ſein ſollte. Sie ſitzen da mit lernbegierigen Ohren,
ſie ſchreiben die Worte nach, die ſie hoͤren, aber ſie verſtehen
den Mann nicht. Leider gilt dieß in Deutſchland noch fuͤr
den Beweis der Meiſterſchaft, fuͤr einen untruͤglichen Beweis
der Gruͤndlichkeit und der Tiefe. Von Hegel hat man ge-
ſagt, daß ihn Einer verſtanden habe. Doch wir wollen hof-
fen, daß ihn in jedem Semeſter zehn verſtanden haben. Aber
ſtets hoͤrten ihn Hunderte! Was iſt nun aus dieſen gewor-
den? Welchen Gewinn haben ſie gezogen von den Stunden,
die ſie aufopferten, von der Geiſtesqual, die ſie empfunden?
Oder wird man etwa dadurch fuͤr die Wiſſenſchaften, fuͤr die
Wiſſenſchaft der Wiſſenſchaften, die Philoſophie, oder fuͤr phi-
loſophiſche Behandlung gewonnen, wenn man nichts verſteht?
So viel iſt gewiß, Hegel mag ein tiefer Forſcher geweſen ſein,
er war einer der ſchlechteſten Lehrer, die es jemals gegeben
hat. Jenes kann ich nicht beurtheilen, denn ich gehoͤre auch
zu denen, die ihn nicht verſtanden haben, und ich verſtehe
auch die nicht, die ihn verſtanden zu haben behaupten; aber
dieſes weiß ich aus Erfahrung. Im Jahre 1825 hospitirte
ich bei ihm einige Stunden. Er quaͤlte ſich damit ab, den
Unterſchied des Discurſiven und Intuitiven deutlich zu ma-
chen. Aber von ihm konnte man dieſen Unterſchied, den man
einem Secundaner leicht deutlich machen kann, nicht lernen.
Wer ihn vorher nicht kannte, lernte ihn gewiß durch ihn nicht
kennen. Hegel gehoͤrte daher in die Akademie, d. h. in die
ſtille Kammer, nicht auf den Lehrſtuhl. Denn die Deutlich-
keit iſt die erſte Eigenſchaft jedes Lehrers. Ohne ſie giebt
es keine Lehrergroͤße. Wer ein Lehrer Anderer ſein will und
fuͤr Andere berufen iſt, hat ſich zu dieſen hinabzulaſſen und
ſie von ihrem Standpunkte aus zu ſeiner Hoͤhe hinaufzuziehen.
Dieſes iſt ſeine Pflicht, und darin beſteht ſein Ruhm. Mag
er ſich fuͤr ſeine neuen Begriffe einen neuen Sprachgebrauch
waͤhlen, er hat dieſen an die Begriffe und den allgemeinen
Sprachgebrauch, die er ohne Unbilligkeit bei den ihm uͤber-
wieſenen Schuͤlern vorausſetzen kann, anzuſchließen. Kann
er dieſes nicht, ſo paßt er nicht zum Lehrer, und will er es
nicht, ſo handelt er gewiſſenlos.
Es giebt einen falſchen und einen wahren Scharfſinn.
Der wahre iſt gerichtet auf die Erforſchung des Wahren; dem
falſchen iſt es nicht um die Wahrheit, ſondern um die Aufſpuͤ-
rung bisher uͤberſehener Verhaͤltniſſe und Beziehungen und um
den Schein der Conſequenz zu thun. Nicht das (ſcheinbar)
ſcharfſinnigſte Syſtem verdient den Vorzug, ſondern das
wahrſte. Der Scharfſinn, geuͤbt und angewandt auf falſche
Vorderſaͤtze, und im Beſitz blendender Conſequenzmacherei iſt
fuͤr Juͤnglinge, die nicht pruͤfen koͤnnen, wahrhaft gefaͤhrlich.
Dieſer falſche Scharfſinn liebt das Gewand der Dunkelheit;
2*
er huͤllt ſich in Unverſtaͤndlichkeit ein, dem Wahne huldigend,
daß ſie ein Merkmal der Tiefe der Forſchung ſei. Aber die
wahre Tiefe iſt klar und, weil ſie klar iſt, verſtaͤndlich und
dem aufmerkſamen Bewußtſein Gebildeter zugaͤnglich. Die
Unklarheit iſt entweder ein Mangel tiefer Forſchung, oder der
Methode, oder der Verſchrobenheit der Sprache, alſo jederzeit
ein Fehler. Wohin iſt nicht unſre Philoſophie gerathen, die
Philoſophie, von der es bis zum heutigen Tage ungewiß iſt,
ob ein Menſch ſie verſtanden, ja die vielleicht der Erfinder
ſelbſt nicht ganz verſtand! Geſtand doch ſchon Fichte ſpaͤter
in ſeiner Offenheit ſelbſt, daß er manchen Satz ſeiner Wiſſen-
ſchaftslehre nicht mehr verſtehe, und der mit der Sprachwiſ-
ſenſchaft vertraute, wiſſenſchaftliche Bernhardi, daß er,
ungeachtet ſiebenmaligen Hoͤrens und Studirens der Fichte’-
ſchen Wiſſenſchaftslehre, ſie nicht verſtanden habe. Und
dieſe Philoſophie, der ſogar ein Schelling, der Schoͤpfer
der Naturphiloſophie, dem man das Praͤdicat der durchſichti-
gen, lichten Verſtaͤndlichkeit, wie Leſſing und Kant ſie be-
ſaßen, nicht beilegen kann, den Vorwurf der Unverſtaͤndlich-
keit macht, traͤgt man unſern unphiloſophiſchen Juͤnglingen
vor! Wohin ſind wir in dieſer Beziehung gerathen, wohin
werden wir noch gerathen, wenn es ſo fortgeht in die Unklar-
heit, Unverſtaͤndlichkeit, Myſtik hinein!
2) Man wuͤrde es nicht erleben, daß akademi-
ſche Lehrer ungepruͤfte Neuerungen ihren
Schuͤlern als ewige Wahrheit vorlegten.
Es iſt eine ſehr merkwuͤrdige Erſcheinung, daß man Dinge
duldet, wie ſie alle Tage auf unſeren Univerſitaͤten paſſiren.
Es ſind Staatsanſtalten unſre Univerſitaͤten, ihre Lehrer
vom Staate berufen, reifenden Juͤnglingen die Wahrheit der
Wiſſenſchaft vorzutragen und ihren Geiſt durch die Erforſchung
dieſer Wahrheit zu bilden. Was iſt Wahrheit? fragen wir
heute noch wie vor Jahrtauſenden. Das iſt ganz richtig.
Aber daraus kann doch nur die hoͤchſte Sophiſtik oder die
ſtumpfeſte Gleichguͤltigkeit gegen das durch Jahrhunderte hin-
durch erbeutete Gemeingut der Wahrheit den Schluß ziehen,
daß es recht und billig oder auch nur erlaubt oder wohl gar
zweckmaͤßig ſei, unſern akademiſchen Juͤnglingen, d. h. Leuten,
denen man in der Regel die Gabe tieferer Pruͤfung nicht zu-
trauen kann, funkelnagelneue Wahrheiten, wie ſie vielleicht
in der vorhergehenden Nacht in einem, wenn auch noch ſo
begeiſterten Hirne entſprungen ſind, vorzutragen und vorzule-
gen — als ewige Wahrheit. Unſre akademiſchen Juͤnglinge
ſind in den Wiſſenſchaften Neulinge, die wenigſten ſind zur
freien Forſchung befaͤhigt, ihre Lehrer, beſonders die mit Ruhm
umgebenen, gefeierten, ſind fuͤr ſie Autoritaͤten. Sie nehmen
an, was man ihnen ſagt, ſie ſprechen nach, was ſie hoͤren,
ſie lernen, was man ſie lehrt. Die natuͤrlichſte Forderung
waͤre daher doch wohl die, daß man ſie zuerſt mit dem bishe-
rigen Ertrage der Wiſſenſchaft, mit dem, was in ihr als all-
gemein guͤltig angeſehen wird, bekannt mache, nicht aber ihren
Kopf mit Saͤtzen anfuͤlle, die vielleicht unmittelbar nachher
als grundlos und falſch nachgewieſen werden. Wohl, auch
von Jenem bleibt ihnen der formale Gewinn, wenn nur
die Lehrmethode geiſtweckend geweſen; aber wie ſelten iſt dieß!
Und wenn es iſt, iſt es dann nicht viel beſſer, daß die bil-
dende Methode ſich mit feſtem, bleibenden Inhalt beſchaͤftige?
Nein, es iſt ein unverzeihlicher, in der That faſt unbegreifli-
cher Mißgriff, daß man jungen Leuten von 18—20 Jahren
Dinge vortraͤgt, welche noch gar keine Pruͤfung beſtanden, oft
nur in der Einbildung ihres Urhebers Grund haben, aber in
dem Nebel der Einkleidung oder in der Unverſtaͤndlichkeit der
Darſtellung den Schein der Wahrheit gewinnen. Das Neue
gehoͤrt vor das Forum urtheilsfaͤhiger, ruhig erwaͤgender Maͤn-
ner, nicht vor die Ohren unreifer Juͤnglinge, in die Akademie,
nicht in den Hoͤrſaal der Studenten.
Darum muß ich den Begriff der Lehrfreiheit in
der Ausdehnung, die man ihm gegeben hat, bekaͤmpfen. Ver-
ſteht man darunter die Freiheit, jedes Ergebniß wiſſenſchaftli-
cher Forſchung vor das Publikum uͤberhaupt bringen zu
duͤrfen, ich ſtimme bei. Denn den Geiſt ſoll man nicht ban-
nen. Daſſelbe gilt, wenn man verlangt, daß der akademiſche
Lehrer nicht ſclaviſch an die bisherige Ausbeute fruͤherer For-
ſchungen gebunden ſei. Daß ein Solcher aber vor Juͤnglingen
lehren duͤrfe, was er fuͤr wahr haͤlt, im Widerſpruche mit
Allem, was bisher fuͤr allgemein guͤltig angeſehen wurde, das
iſt offenbar recht eigentlich ein Extrem. Nur bis dahin darf
der Begriff der akademiſchen Lehrfreiheit ausgedehnt werden,
daß der Lehrer, beſonders der einer poſitiven Wiſſenſchaft, die
Einwendungen gegen dieſelbe, die Andere zu machen haben
oder er ſelbſt, auch mittheile, mit den tieferen Gruͤnden pro
und contra. Eine Verpflichtung auf ſymboliſche Buͤcher kann
kein die freie Entwickelung Liebender wollen; aber eine unbe-
ſchraͤnkte Ausdehnung des vagen Begriffs der Lehrfreiheit
kann auch eine Willkuͤr erzeugen, welche eine Erſcheinung her-
beifuͤhrt, von der wir heut zu Tage in der Philoſophie nicht
ſehr fern ſind, die, daß junge Philoſophen wohl die aller-
neueſte Philoſophie kennen oder zu kennen glauben, aber mit
dem Inhalte des philoſophiſchen Bewußtſeins aus allen fruͤ-
heren Jahrhunderten faſt durchweg unbekannt ſind. Zuerſt
muß man den Lernenden auf den Standpunkt zu ſtellen ſu-
chen, auf dem man in Betreff einer Wiſſenſchaft im Allge-
meinen ſteht. Dann iſt er fuͤr ſeine Zeit gebildet. Iſt
dann noch ein Ueberfluß von Zeit und Kraft vorhanden, dann
ſtrebe er weiter. Aber nur bei ſehr Wenigen wird dieſe Be-
dingung eintreten.
Man wird gegen dieſen Vorſchlag den Einwand erheben,
daß eben der Ertrag der bisherigen Erforſchung der Wiſſen-
ſchaften nicht feſt ſtehe, und derſelbe zu den beſtrittenen Din-
gen gehoͤre. Aber daruͤber iſt eine Vereinigung im Allge-
meinen moͤglich. Ich erinnere nur, um ein Beiſpiel aus
dem ſchwankendſten Gebiete, der Philoſophie, zu waͤhlen, an
die platoniſch-ariſtoteliſche Philoſophie und ihre Fortbildung
durch Kant. Dieſe iſt zur Kenntniß jeder Philoſophie unent-
behrlich; ſie muͤßte daher auch zuerſt, als allgemeine Baſis,
dem Philoſophie Studirenden zur Kenntniß gebracht werden.
Endlich darf die Lehrfreiheit auch nicht bis dahin, wie
es auf mancher Univerſitaͤt der Fall iſt, ausgedehnt werden,
daß die Herren Profeſſoren leſen duͤrfen, woruͤber ſie wollen,
in dem ganzen Umfange ihrer Facultaͤt. Dieſe freie Wahl
pflegt natuͤrlich nicht immer nach dem Beduͤrfniß der Schuͤler
zu geſchehen, ſondern aus andern, oft ſehr unreinen Beweg-
gruͤnden. Dabei kommen denn die Studenten ſchlecht weg.
Drei, vier, und mehr Docenten leſen uͤber denſelben Gegen-
ſtand, und andere, vielleicht an und fuͤr ſich viel wichtigere
Vorleſungen bleiben unangekuͤndigt, weil ein falſcher Zeitge-
ſchmack nicht eine Maſſe von Zuhoͤrern hineintreibt. So iſt
auf einer norddeutſchen Univerſitaͤt die philoſophiſche Moral
faſt ganz aus den Lectionscatalogen verſchwunden, eins der
wichtigſten, einflußreichſten Collegien, weil die Myſtik in der
Philoſophie und in der Naturkunde die Moral mit dem Ver-
ſtand und der ganzen Reflexion in (ſicherlich voruͤbergehenden)
Mißkredit gebracht hat. Darum darf man den Profeſſoren
allein es nicht uͤberlaſſen, was ſie zu leſen Luſt haben. Das
iſt nicht Freiheit, das iſt Willkuͤr. Wahre Freiheit richtet ſich
nach hoͤheren Geſetzen.
So iſt demnach der falſch verſtandene Begriff der Lehr-
freiheit ſowohl in Betreff des Gegenſtandes als in Betreff des
Inhaltes aus dem Geſichtspunkte der wahren Bildung der
Schuͤler in angemeſſener Weiſe zu beſchraͤnken.
Der Lehrfreiheit ſteht die Lernfreiheit gegenuͤber, die
Befugniß der Studenten, die Vorleſungen, die ſie beſuchen,
die Lehrer, die ſie hoͤren wollen, ſich auszuwaͤhlen.
Mit Grund laͤßt ſich nach meinem Ermeſſen gegen dieſe
Freiheit nichts ſagen. Sind ſaͤmmtliche Lehrer tuͤchtige Maͤn-
ner, nun ſo laſſe man in der Auswahl das Geſetz der Sym-
pathie walten. Es wird den Lehrer noͤthigen, ſich um die
Zuneigung der Herren Commilitonen zu bewerben und ein in
mancher Beziehung heilſamer Wettſtreit entſtehen. Freilich
hat es auch ſeine Bedenklichkeiten. Aber der Vortheil, daß
der Student ſich frei fuͤhlt und reine Zuneigung zu dem Leh-
rer die Schritte leitet, erſcheint als uͤberwiegend. Nur wird
eine wohlwollende Staatsbehoͤrde oder jede Facultaͤt die Rei-
henfolge der Vorleſungen fuͤr die 6 oder 8 auf einander fol-
genden Semeſter, zwar nicht als eine unabaͤnderliche Norm,
aber als wohlzuuͤberlegenden Rathſchlag und Fuͤhrer oͤffentlich
bekannt machen, damit der Juͤngling oder deſſen Vater nicht
in Gefahr gerathe, ganz zu irren. In gewiſſen Facultaͤten
giebt es auch Collegia, die Jeder, der ſich zum Staatsexamen
meldet, gehoͤrt haben muß. Ein Zeugniß vom Profeſſor iſt
daruͤber nachzuweiſen. Dergleichen Beſtimmungen koͤnnen ſehr
heilſam ſein; nur muß man dann auch darauf halten, daß
die vorgeſchriebenen Collegien nicht bloß teſtirt, ſondern auch
wirklich beſucht worden ſeien, d. h. nicht ein oder einige Mal,
ſondern anhaltend. Denn nichts iſt ſchaͤdlicher, verderblicher
fuͤr den Charakter in’s Leben tretender, ihrer Selbſtſtaͤndigkeit
ſich bewußt werdender junger Maͤnner, als wenn ſie erfahren
und lernen, daß zwar Geſetze beſtehen, dieſelben aber nicht
gehalten werden, weder von den Lehrern noch von den Schuͤ-
lern. Dieſe Erfahrung und die Meiſterſchaft, die Einige oder
Viele darin erlangen, wirkt auf die Geſinnung und den Cha-
rakter junger Leute wie ein Gift. Die, welche dergleichen
dulden, laden eine ſchwere Verantwortung auf ſich. Sie un-
tergraben das Fundament der Achtung gegen die geſetzgebenden
Behoͤrden und den Staat.
2.
Paͤdagogiſche Bildung oder Erziehung.
Ich komme nun zum zweiten Requiſit an eine Anſtalt,
welche die Bluͤthe der Nation zu erziehen die Aufgabe hat.
Ich ſage zu erziehen. Eine Univerſitaͤt iſt eine paͤdago-
giſche Anſtalt, und alle ihre Maßregeln muͤſſen von dem
paͤdagogiſchen, nicht von dem polizeilichen, juridiſchen, finan-
ziellen oder anderm Standpunkte aus beurtheilt werden. Wir
verlangen daher von der Hochſchule nicht bloß Entwickelung
der Intelligenz in den ihr Uebergebenen, Wiſſenſchaftlichkeit
und Ausbildung der Selbſtthaͤtigkeit im Denken, ſondern in
hoͤherem und umfaſſenderem Sinne Vollendung der Erziehung
der zu Maͤnnern heranreifenden Juͤnglinge. Dieſe Anforde-
rung wird Jedermann gerecht und nothwendig finden. Sie iſt
die hoͤchſte, umfaſſendſte, und die Foͤrderung der Wiſſenſchaft-
lichkeit iſt nur ein Zweig derſelben, nur in dem Maße ſchaͤtz-
bar, als ſie die allgemeine Aufgabe der Hochſchule, Vollen-
dung der Erziehung der kuͤnftigen erſten Maͤnner des Staats,
einleitet und beguͤnſtigt.
Welche Anforderungen ſind in dieſer Beziehung an eine
Hochſchule zu machen? Wir nennen die weſentlichſten Stuͤcke.
1) Zuerſt negativ: Wegraͤumung aller die Sitt-
lichkeit junger Maͤnner gefaͤhrdenden Dinge,
Perſonen, Einrichtungen, Sitten u. ſ. w.
Im guten Verlauf der fruͤheren Erziehung, der hier vor-
ausgeſetzt werden muß, iſt der zur Univerſitaͤt abgehende Juͤng-
ling von ſeinen Eltern und auf dem Gymnaſien behuͤtet und
bewacht worden. Als ein reiner Juͤngling wird er von allen
Seiten mit Segenswuͤnſchen entlaſſen. Hoch ſchlaͤgt beim Ab-
ſchiede dem Vater, der Mutter das Herz und Thraͤnen fuͤllen
das Auge. Wird der behuͤtete, reine, edle Menſch aus dem
verſuchungsvollen Leben eben ſo rein und lauter zuruͤckkommen?
Oder — oder? Gewiß, es iſt erklaͤrlich, treue Eltern entlaſ-
ſen mit Zittern und Zagen den Liebling des Herzens. Acht-
zehn und mehr Jahre der treuen Sorgfalt und unendlicher
Muͤhen, die ſchoͤne Ausſicht fuͤr den Mittag oder Abend ihres
Lebens — vielleicht ſehen ſie Alles verſinken, und was bis
dahin ihnen roth und gruͤn erſchien, verwandelt ſich in Nacht
und Graus. Schwarz ſteht die Moͤglichkeit vor den Augen
der Eltern: unſer Sohn kann ein Wuͤſtling werden. Die
Leidenſchaften werden ihn ergreifen, boͤſes Beiſpiel ihn ver-
locken, die graſſirenden Vorurtheile von Ehre ſich ſeiner be-
meiſtern, ſein Koͤrper wird durch wildes Leben verwuͤſtet, ſeine
Seele vergiftet werden. Es iſt entſetzlich, aber es iſt wahr!
Denken wir uns nur den kraftvollen Juͤngling! Mark
und Saft in den Knochen, Lebhaftigkeit der Phantaſie, gluͤ-
hend erwachende, fruͤher ungekannte Triebe, aufſtrebender
Sinn, der Beſitz aͤußerer Mittel aller Art, die goldene Frei-
heit, und dieſen gegenuͤber — luſtige Kameraden, bemooſte
Burſche, heiteres Wirthshausleben und Kneipen, Duellwuth
und liederliche Dirnen — nein, wenn dieſe Verhaͤltniſſe die
Aufmerkſamkeit der Staatsbehoͤrden nicht ſchaͤrfen, ſie nicht
bis zur Gewiſſenhaftigkeit und Wachſamkeit ſteigern, es waͤre
nicht zu verantworten. Nur die Gleichguͤltigkeit gegen alles
Reine und Edle kann hier von den ſtrengſten Forderungen ab-
gehen. Der ungepruͤfte Juͤngling kommt an den Scheideweg,
er muß ihn betreten und ſich entſcheiden, ſonſt wird er kein
Mann; aber die Verſuchungen des Lebens ſteigern durch ver-
ſuchende Haͤuſer und Menſchen, durch mittelalterliche Vorur-
theile von Ehre und Tuͤchtigkeit, durch eine Freiheit, wie ſie
kein Mann genießet — das iſt vor Gott und Menſchen nicht
zu verantworten. Der Staat richtet die Univerſitaͤten ein,
und es giebt keinen andern Weg, ſich zum hoͤheren geiſtigen
Leben emporzuſchwingen — dieß legt ihm die große Pflicht
auf, dafuͤr zu ſorgen, daß als Regel angenommen werden
muß: der ſeiner Anſtalt vertrauensvoll uͤbergebene Juͤngling
werde nicht an Leib und Seele verdorben, ſondern veredelt
zuruͤckkehren. Darum iſt die ſtrenge Forderung, daß verlok-
kende und verfuͤhreriſche Dinge auf der Univerſitaͤt nicht ge-
duldet werden, das Minimum, was im Namen der Menſch-
heit gefordert werden muß.
Dieſes iſt ſchon ſehr viel, aber es reicht nicht hin. Denn
auf dem Acker waͤchſt noch kein Weizen, wenn man nichts
weiter thut, als daß man ihn von boͤſem Unkraut reinigt und
Suͤmpfe und Kloaken entfernt. Poſitive Einrichtungen muͤſſen
hinzukommen. Nicht von ſelbſt macht ſich eine tuͤchtige Er-
ziehung. Es gehoͤren Potenzen dazu, machtvoll erregende,
energiſch ergreifende. Welches ſind ſie?
Fuͤrchte man nicht, wir werden die Strenge der Schul-
disciplin fordern. Nur in der Freiheit reift man zur Freiheit.
Und es iſt beſſer, daß Einer zu Grund gehe, als daß alle
unter kleinlicher Bewachung klein bleiben. Aber man unter-
ſcheide auch zwiſchen vernuͤnftiger Freiheit, die man leiden-
ſchaftlichen Juͤnglingen geſtattet, und Libertinage. Darum
poſitive Hebel und Kraͤfte. Von ihnen nennen wir zuerſt:
2) Entwicklung der Selbſtthaͤtigkeit des Den-
kens.
Oben iſt dieſe ſchon namhaft gemacht worden; hier muß
ſie wieder auftreten, weil der Wille, der Charakter durch das
Denken bemeiſtert und geleitet werden ſoll bei intelligenten
Weſen. Weg darum mit aller Paſſivitaͤt im Lernen und Den-
ken, mit blind todtem Annehmen gegebener Stoffe des Wiſſens!
Nicht das Wiſſen kraͤftigt, ſondern das Verſtehen; nicht die
Aufſammlung im Gedaͤchtniß, ſondern das Verarbeiten mit
dem Verſtande; nicht das Aufſpeichern der Maſſen, ſondern
das Aſſimiliren; nicht das Betrachten, ſondern das Suchen;
nicht das Glauben, ſondern das Pruͤfen; nicht das Lernen,
ſondern das Ueben; nicht das Fertige, ſondern das Zuberei-
ten; nicht das Vorkauen, ſondern das Zergliedern; nicht das
Nehmen, ſondern das Machen. Die darin liegende Wahrheit
iſt laͤngſt von den Elementarlehrern eingeſehen und angenom-
men worden; ſie muß nun auch mit Strenge und Unbedingt-
heit unſern Hochſchullehrern gepredigt werden. Veraͤchtlich
blicken ſie meiſt auf das Wiſſen und die Kuͤnſte der Schul-
meiſter hinab; aber, beim Jupiter, ſehr viele koͤnnen von die-
ſen verachteten, oft hungernden Schulmeiſtern Etwas lernen,
die große Wahrheit: daß es bei der Geiſtes- und Charakter-
bildung weit mehr ankommt auf das Wie als das Was,
weit mehr auf die Form als den Inhalt, Alles auf die Me-
thode.
Darum verlangen wir eine geiſtweckende, geiſtbildende
Lehrmethode.
3) Die zweite Forderung in dem Gebiete der poſitiven
Veranſtaltungen der akademiſchen Jugend verlangt als
hoͤchſten Inhalt der Vortraͤge belebende Ideen —
Hochbilder, Hochgedanken, Ideale.
Mit der Gruͤndlichkeit des Unterrichts, mit einer geiſt-
ſtaͤhlenden Methode iſt es nicht genug. Die Form muß er-
fuͤllt werden von dem rechten Gehalt. Der reifende Juͤngling
ſtrebt nach dem Realen, das ſich in ſeiner Phantaſie zum
Idealen, Hoͤchſten, Vollendeteſten verklaͤrt. Das eigentliche,
innere Gluͤck dieſer Zeit beſteht in dem Ergriffenſein von Ideen,
darin, daß dem Juͤngling die hoͤchſten Gedanken in ihrer Er-
habenheit erſcheinen, und daß er ſo von ihnen gefaßt wird,
daß er nicht nur auf Augenblicke, ſondern fuͤr immer von
dem großen Entſchluſſe, der Verwirklichung derſelben ſein Le-
ben zu widmen, ſich beſeelt und begeiſtert fuͤhlt. Wohl, das
Leben ſtreift von dieſen Hochgedanken und Hochgefuͤhlen Man-
ches ab; aber in dem wahrhaft durch das akademiſche Leben
Verklaͤrten halten ſie das Leben hindurch vor, nimmer ver-
ſchwindend. Die Hochſchule hat die Beſtimmung, dieſe Hoch-
gedanken, dieſes hoͤhere Leben in ihren Zoͤglingen zu begruͤn-
den, den Geiſt der Juͤnglinge fuͤr die Ideale reif zu machen.
Die wichtigſten ſind: wiſſenſchaftliche Ausbildung,
Foͤrderung geiſtiger Intereſſen der Nation, die
erhabenen Gedanken der Tugend- und Pflicht-
uͤbung in geiſtigem Berufsleben, Entwicklung der
Nationalitaͤt in Aufopferungsfaͤhigkeit, Ehre
und Freiheit. Dem aͤchten Juͤngling brauchen dieſe Worte
nur um’s Ohr zu klingen, und ſeine Bruſt fuͤhlt ſich gehoben
und ſeine Pulſe ſchlagen raſcher. Wehr dem tageloͤhnernden
Heftſchreiber, der nur lernt, um ſein jaͤmmerliches Leben zu
friſten, und durch das Amt eine verſorgende Milchkuh ſich zu
verſchaffen. Unwerth, aus der Quelle der Wiſſenſchaften zu
trinken, ſchoͤpft er aus abgeleiteten Brunnen, und anſtatt
frei zu werden durch die Forſchung nach Wahrheit, ſchleppt
er die Ketten des Geiſtes muͤhſam durch das Leben.
Sehet, werthe Leſer, das iſt das Ziel, der Preis und der
Ruhm einer Hochſchule und ihrer Lehrer, wenn ſie es ver-
ſtehen, in den Juͤnglingen die Funken des Geiſtes zu wecken,
in ihnen eine Reihe von Alles belebenden und begeiſternden
Ideen aufſteigen zu laſſen und ſie fuͤr Alles, was die Vor-
und Mitwelt Großes hervorgebracht hat in Religion, Wiſſen-
ſchaft und Leben, fuͤr alle kuͤnftigen Tage des Wirkens nach-
haltigſt zu begeiſtern. Ein Lehrer, der Solches verſteht, nicht
weil er ſich in kuͤnſtliche, ekſtatiſche Begeiſterung auf Augen-
blicke zu verſetzen weiß, ſondern weil er ſelbſt in Ideen lebt,
und Alles, was er ſagt oder verſchweigt, die Juͤnglinge mit
belebendem Hauche anweht, ein Solcher iſt wahrhaft ein Leh-
rer der hohen Schule. Jeder Andere aber iſt ein banauſiſcher
Sacktraͤger, unwuͤrdig der hohen Wuͤrde, ein Prieſter der
Ideen zu ſein.
4) Aber der Menſch iſt nicht bloß Geiſt, er iſt auch Leib,
und als Sinnenweſen iſt ſeine Entwickelung und ſeine
Wirkſamkeit an irdiſche Bedingungen geknuͤpft. Wir
verlangen darum von der Hochſchule nicht bloß Pflege
des Geiſtes, ſondern auch Pflege des Leibes, nicht
bloß Erhaltung der Geſundheit, ſondern Entwick-
lung und Ausbildung des Leibes zum freien
Dienſt fuͤr den Geiſt.
Scheuen wir uns nicht, mißdeutete Woͤrter zu gebrau-
chen, deren Bedeutung aber einen guten Klang hat, wir mei-
nen Gymnaſtik und Turnkunſt.
Nicht bloß in die Reitbahn, ſondern auch auf die Renn-
bahn gehoͤrt der Juͤngling. Seinen Leib ſoll er nach altgrie-
chiſchem Ideale tuͤchtig machen in allerhand Kuͤnſten und
Uebungen. Es iſt nicht genug, daß er fechten, hauen oder
ſtechen lerne, oft nur um eitler Ehre willen, ſondern er ſoll
ſeinen Leib uͤberhaupt gewandt und ſtark machen. Auch der
einjaͤhrige Kriegsdienſt bringt nicht, was wir verlangen: freie
geſellig-gymnaſtiſche Uebungen und Spiele.
Wie, Ihr glaubt, das ſei geſunde, allſeitige Bildung,
wenn Ihr den Juͤngling taͤglich vier, ſechs, acht Stunden auf
die Bank in dem Hoͤrſaale feſſelt, wenn er keine andre Waffe
ergreift als die Feder, und ſeine Kraft nur uͤbt in dem Tra-
gen der Mappe?
Unſelig ſind die Folgen koͤrperlicher Verwahrloſung in den
Jahren, in welchen der Leib ſeiner Vollendung entgegen reift,
ſtrotzend von gaͤhrenden Saͤften. Einen Ausweg, eine An-
wendung verlangen, ſuchen und finden ſie. Sollen ſie ſich
auf’s Gehirn, in den Unterleib werfen, dort Ueberreizung und
Nervenſchwaͤche, hier Entmannung bewirken? Tretet Ihr
nicht mit Euch ſelbſt in Widerſpruch, wenn Ihr in den Bil-
dungsanſtalten der Jugend fuͤr die Entwickelung der Leiber in
keiner Art Sorge traget? Denn wir ſagen es Euch, eine
Hochſchule, die nicht fuͤr die Koͤrperbildung vollkommene Ver-
anſtaltungen trifft, leidet und ſiecht an einem unverzeihlichen
Mangel. Nicht um ihrer ſelbſt willen verlangen wir Gym-
naſtik, Turnkunſt und heitere maͤnnliche Spiele, ſondern um
der Allſeitigkeit der Bildung willen. Wahre Geiſtesbildung,
d. h. Mannhaftigkeit der Geſinnung und des Charakters ge-
deiht und reift nur in gekraͤftigten Leibern.
5) Wir verlangen ferner Anſtalten zur geſell-
ſchaftlichen Entwicklung und Bildung unſe-
rer Juͤnglinge.
Ueberall, wo junge Leute auf ſich ſelbſt beſchraͤnkt ſind,
nur mit einander umgehen, reißt ein Geiſt der Rohheit ein,
rohe Sitten, Verachtung aͤußerlicher, feiner Sitte und Erſchei-
nung. Solches kann man ſogar in den Schullehrer- und
Prieſter-Seminarien lernen. Natuͤrlich. Der junge, kraͤftige,
frei ſich fuͤhlende Menſch durchſchaut bald die Leere aͤußerer
Ceremonien und geſellſchaftlicher Uebertreibungen. Indem ſein
Sinn auf das Weſen gerichtet iſt, verwirft er, was ihm ein
hohler Schemen zu ſein duͤnkt, und gerade der Tuͤchtigſte ge-
faͤllt ſich leicht in der Verachtung aͤußerer Freiheit und ſchoͤ-
ner Sitte. Um ſolcher rohen Erſcheinungsweiſe vorzubeugen,
hat man in manche Schullehrer- und Prieſter-Seminarien die
Myſtik, den Pietismus eingefuͤhrt. Gewiß, ein herrliches
Mittel fuͤr dieſen Zweck! Denn aller Orten auf dem weiten
Erdenrund gleichen die Froͤmmler ſich in aͤußerer Ehrbarkeit
und ſtiller Geſittung. Der Schein ſoll das Weſen erſetzen.
Aber unſre Leſer werden es uns nicht zutrauen, daß wir die-
ſes Mittel geiſtiger Entmannung anempfehlen. Den wildeſten,
wuͤſteſten Burſchencomment ziehen wir dem Heuchler- und
Froͤmmlerweſen vor. Aber wir wuͤnſchen daneben, daß den
Juͤnglingen feine Sitten und Geſittung angebildet werde. Denn
auch ſie gehoͤren zur Bildung, und mancher Juͤngling hat in
ſeinem fruͤheren Leben keine Gelegenheit gehabt, ſie von ihrer
ſchoͤnen und edlen Seite kennen zu lernen.
Unmoͤglich iſt die Erreichung dieſes Zweckes, wenn man
die Juͤnglinge ſich ſelbſt uͤberlaͤßt. Auch erzielen die Thee-
kraͤnzchen einzelner Profeſſoren mit ihren Disputationen uͤber
ſcholaſtiſche Spitzfindigkeiten nicht, was wir meinen. Fuͤr
Einzelne iſt geſorgt, die ſo gluͤcklich ſind, in der Univerſitaͤts-
ſtadt Eintritt in gebildete Familien zu finden. Aber dieſer
gluͤcklichen ſind wenige. Die meiſten ſind beſchraͤnkt auf das
Beſuchen der Hoͤrſaͤle, der Stubenburſchen, der Reſtauratio-
nen und Kneipen.
Nur in geſelligen Kreiſen gemiſchter Geſellſchaft, d. h.
von Maͤnnern und Frauen, lernt ſich feine, zarte Sitte und
liebliche Erſcheinung. Von Courtoiſie und Schmeichelkuͤnſten
iſt nicht die Rede. Die Turnkunſt wird unſre Juͤnglinge da-
von fern halten. Aber Gewandtheit im Umgange und Liebe
zu edler Geſelligkeit in erheiternden Geſpraͤchen, in Spielen
des Witzes und der Laune, wie in den Bewegungen des Tan-
zes ſollen unſre Juͤnglinge lieben und uͤben lernen. Wahrlich
mancher edle Juͤngling iſt dadurch allein zu Grund gegangen,
daß es ihm an dem Hebel, der in dem Umgange und in der
Achtung edler Frauen liegt, fehlte. Sein Herz verlangte
mehr, als der Fechtſaal oder der Commerſch ihm brachte,
und er fiel, oder — was noch ſchlimmer iſt — er ſank.
Wie dieſes zu veranſtalten, ſolches anzugeben, iſt nicht
unſre Aufgabe. Wir nennen die Bedingungen, unter welchen
die Bildung auf der Univerſitaͤt eine allſeitige werden kann.
Die Ausfuͤhrung liegt denen ob, die zu Leitern und Lehrern
der Hochſchulen beſtellt ſind. Einzelnes iſt auf einzelnen in
ſchoͤner Weiſe ſchon geleiſtet. So in Heidelberg, dieſer be-
3
geiſternden, in mancher Hinſicht einzigen Univerſitaͤtsſtadt,
durch das dortige Muſeum. Es geht Alles, wenn man nur
will. Nur auf das deutſche Theater weiſe man nicht hin als
auf eine Schule der Hoͤflichkeit und der Geſittung. Ja da-
mals, als man noch den großen Gedanken eines deutſchen
Nationaltheaters verfolgte, damals hoffte man, es wuͤrde
werden und es haͤtte werden koͤnnen. Bei der jetzigen Entar-
tung der Buͤhne aber muß man eher den Wunſch ausſprechen,
daß die Juͤnglinge es nicht kennen lernen. Oder ſollte wirklich
in den gewoͤhnlichen Luſtſpielen, in den Opern und Balleten
eine geheim bildende Kraft liegen? Ja wohl, wir vermuthen
und — fuͤrchten es. Denn es bedarf des Beweiſes nicht,
daß das Theater geſunken iſt. Dieſe Wahrheit liegt klar vor
Jedermanns Augen da. Verloren gegangen iſt ſeine hohe
Beſtimmung, darin beſtehend, den Sinn fuͤr ideale Schoͤnheit
und Kunſt in den Zuhoͤrern zu wecken, und die ideale Groͤße
menſchlicher Charactere mit lebendigeren Farben in die Einbil-
dungskraft hinein zu legen, als die Geſchichte es vermag.
Dieſes fuͤr aͤchte, hoͤhere Cultur unendlich wichtige Inſtitut
iſt zu einer Anſtalt fuͤr Unterhaltung und Amuͤſement hinab-
geſunken, und nicht bloß den Puritanern, ſondern ſelbſt frei-
ſinnigen Menſchen draͤngt ſich die Frage auf, ob das heutige
Theater nicht mehr ſchade als nuͤtze, und ob es nicht an der
Zeit ſei, ein ſo zweideutiges Inſtitut ganz aufzuheben. Je-
denfalls aber wird der haͤufige Beſuch des Theaters einem
Studenten kein guͤnſtiges Vorurtheil erwecken.
Wie jeder Menſch in der Achtung von Perſonen, die ihm
achtungswuͤrdig erſcheinen, einen Talisman beſitzt, der ihn
von dem Schlechten und Gemeinen abhaͤlt, ſo zumal der
Juͤngling, der ja noch nicht, wie der gereifte Mann, auf der
feſten Baſis thatenreich zuruͤckgelegter Jahre oder oͤffentlichen
Ruhmes ſteht, darum vor Allen der Stuͤtzen durch ſo edle
Hebel, als Achtung und Vertrauen ſind, bedarf. In dieſer
Hinſicht iſt das Leben der Studenten in großen Staͤdten nicht
zu loben. Man bedenke ſich daher wohl, ehe man die Uni-
verſitaͤten aus kleinen in große Staͤdte verlegt. Hier ver-
ſchwindet der Einzelne, in kleinen iſt Jeder gekannt. Freilich,
in großen Staͤdten gelangt der Corporationsgeiſt der Studen-
ten zu keiner Macht, und wenn er der Uebel groͤßtes iſt, ſo
darf man ſich nicht beſinnen; aber es bedarf dieſes einer ern-
ſten Unterſuchung. So viel bleibt gewiß, in kleinen Staͤdten
geht der Einzelne nicht ſo leicht zu Grund, als in großen,
wo er mit ſeinen Schandthaten verſchwindet. Wir gehen wei-
ter. Das Wort Corporationsgeiſt weckt den naͤchſten Gedanken.
6) Zur Erziehung und Bildung der akademiſchen
Jugend gehoͤren Genoſſenſchaften, Corpo-
rationen.
Der regierende Geiſt der juͤngſten Vergangenheit und Ge-
genwart und ſeine abſolute Unfaͤhigkeit zum Zeugen und Ge-
baͤren zeigt ſich auch in der Aufhebung und Vernichtung aller
geſchloſſenen Gemeinſchaften und Verbruͤderungen unter den
Studenten.
Wir wollen zugeben, Ungehoͤrigkeiten mancherlei Art hat-
ten ſich in ſie eingeſchlichen, man mußte einſchreiten. Aber
daß Alles dieſer Art aufgehoͤrt hat, bleibt im hoͤchſten Grade
zu bedauern. Man wird nicht einmal dadurch den Zweck er-
reichen, den man anſtrebte. Das Schlechte vertilgt man nicht
dadurch, daß man es verbietet, ſondern dadurch, daß man
das Beſſere hervorruft. Mit einer reinen Negation und einer
tabula rasa iſt es nicht gethan. Es entſteht gleich, wo Le-
ben und Bewegung iſt, ein Anderes, oft ein Schlimmeres.
3*
Zuſammenſchaarung und Vereinigung des Gleichartigen
iftiſt ein allgemeines Geſetz der lebenden Natur, in dem Thier-
reiche wie unter den Menſchen. Ohne ſie iſt eine Organiſation
undenkbar. Sie verlangt nicht Aufhebung des Differenten und
Ununterſcheidbarmachung deſſelben. — Das waͤre die heilloſe
Maxime der Gleichmacherei — ſondern ſie verlangt Vereini-
gung des Gleichartigen zur Verrichtung einer Function in dem
organiſch zu gliedernden Koͤrper und Ergaͤnzung derſelben durch
alle uͤbrigen. Man hat alle Corporationsverhaͤltniſſe und da-
mit alle Staͤnde der buͤrgerlichen Geſellſchaft aufgehoben, ſo
weit ſolches von Menſchen abhing — zu wahrem Unſegen fuͤr
das Ganze v. Raumer, England 1856, I. S. 550:
„Die Wichtigkeit und Nothwendigkeit des Corporativen
macht ſich in einer Zeit wieder geltend, welche demſelben viel zu
uͤbereilt einen allgemeinen Krieg erklaͤrt hatte Mißbraͤuche der
Zuͤnfte, der geſchloſſenen Buͤrgerſchaften, der monopoliſirenden
Univerſitaͤten ꝛc. liegen ſo deutlich zu Tage, daß kein Unbefan-
gener ſie leugnen kann; hieraus folgt aber auf keine Weiſe, ein
Staat beſtehe lediglich aus einer hoͤchſten, centraliſirten Regie-
rung, und dann aus lauter Einzelheiten, welche man, zuſam-
men addirt, Volk zu nennen beliebe. Es folgt eben ſo wenig,
daß alle zahlreichen Vereine der Einzelnen zu einem groͤßeren
Ganzen ſchaͤdliche Staaten im Staate waͤren. Umgekehrt; jeder
hoͤher entwickelte Staat bedarf mannigfaltiger, groͤßerer Organe:
alſo Genoſſenſchaften der Handwerker, Kuͤnſtler, Gelehrten, Geiſt-
lichen, Doͤrfer, Staͤdte, Landſchaften ꝛc. Und wie ſich auch die
Zeit, wie ſich auch die Geſtaltung und der Zweck aͤndern moͤgen:
es wird das Corporative, dieſe Wahlverwandtſchaft und Wech-
ſelwirkung immer wieder hervortreten, und wie ein Phoͤnix aus
der Aſche des Fruͤheren wieder hervorwachſen.“, zur Verzweiflung fuͤr die Einzelnen, in denen
ein organiſirender Geiſt lebt; wenn man in gleicher Richtung
auch die landsmannſchaftlichen Genoſſenſchaften der Studen-
ten aufgehoben hat, ſo moͤchte der augenblickliche Vortheil fuͤr
die aͤußere Ruhe auf den Univerſitaͤten leicht durch den dauern-
den Nachtheil fuͤr das innere Lebensprincip in den gebildeten
Staͤnden der buͤrgerlichen Geſellſchaft uͤberwogen werden. Was
iſt natuͤrlicher, als daß ſich in fremder Stadt die Heimaths-
genoſſen zuſammenſchaaren, die ſich durch daſſelbe Gefuͤhl,
dieſelbe Sitte, dieſelben Erinnerungen angezogen fuͤhlen? Man
will nicht einmal die Verbindung der Commilitonen derſelben
Facultaͤt. Man will ein reines Nichts, Iſolirung des Ein-
zelnen von allen Andern. Die Feindſchaft gegen das Cor-
porative erſtreckt ſich ſogar auf die Kleidung und die Farben.
Alles ſei eine Maſſe, Jeder gleiche dem Andern, Nichts ſteche
hervor. So wird das Leben eine Wuͤſte, die Langweiligkeit
fuͤhrt das Scepter. Denn was iſt langweiliger als die Unter-
ſchiedsloſigkeit!
Ehemals kannte man an der Kleidung und den Manieren
den Handarbeiter, den Handwerker, den Kaufmann, den Ge-
lehrten, den Studenten. Und warum ſoll der Student ſich
nicht anders tragen, geberden als der Philiſter? Oder ſoll er
auch nur ein Philiſter ſein? — Liebt man ja bei den Solda-
ten die Verſchiedenheit der Jacken und Treſſen. Die Solda-
ten ſind aber die Menſchenwelt nicht allein. Auch wir ſind
Menſchen, auch wir haben Launen, auch in uns leben Eigen-
thuͤmlichkeiten. Der hollaͤndiſche Geſchmack der Gartenkunſt,
der allen Gewaͤchſen unter der Scheere dieſelbe Geſtalt gab,
iſt laͤngſt in ſeiner Unnatur anerkannt. In der Erziehung der
Menſchen iſt man ſo weit noch nicht vorgeruͤckt. Wenn die
Burſchenſchaft die Burſchenſchaft iſt, ſo iſt und bleibt auch
der Student ein Student. Man laſſe ihm ſeine unſchaͤdlichen
Eigenthuͤmlichkeiten, man leite und regle ſie. Nur der Schlechte
ſondert ſich ab; der Gute ſchaart ſich mit Gleichgeſinnten zu-
ſammen. Ohne dieß keine Freude, kein Gluͤck.
Es giebt zwei Principien, nach denen man die Studen-
ten vereinigen kann: das fachmaͤßige und das lands-
mannſchaftliche. Beide muͤſſen in Anwendung gebracht
werden. Jeder tuͤchtige Student lebt in zwei Richtungen und
Strebungen: die eine geht nach dem Wiſſen, die andere nach
dem Leben. Jene zieht ihn zu Juͤnglingen deſſelben Fachs,
dieſes vereinigt ihn mit ſeinen Landsleuten. Von beiden Trie-
ben iſt der von lebendigen Kraͤften Erregte influencirt. In
rechter Weiſe benutzt fuͤhren ſie, wie alle Triebe der Menſchen-
natur, zum Guten. Der wiſſenſchaftliche Trieb findet ſeine
Befriedigung durch geiſtige Beruͤhrung des Theologen mit den
Theologen, des Juriſten mit den Juriſten u. ſ. w. Der ge-
ſellige ſchaart zuſammen: die Schleſier, die Pommern, die
Sachſen, die Wuͤrtemberger, die Baiern u. ſ. w.
Der ſtudirende Juͤngling iſt kein Kind mehr, das Geſetz
behandelt ihn wie einen Muͤndigen, Freien, und der Lehrer
nennt ihn einen Herrn. Darum iſt ihm der Staat eine oͤffent-
liche Stellung im Leben ſchuldig, ſie gebuͤhrt ihm, und zu
allen Zeiten ſtrebt der Student, dieſelbe zu gewinnen. Er
fuͤhlt ſich einen Andern, als die uͤbrigen, die er Philiſter be-
namſet, er will auch aͤußerlich ein Anderer erſcheinen. Dieſe
Beſtrebungen ſind natuͤrlich, folglich heilſam und gut. Man
befriedige ſie! Darum Vereinigung der Strebenden nach dem
Princip des Faches, der Lebenden nach dem Eintheilungsgrund
der Heimath! Soll das geiſtige Princip erſcheinen, ſo treten
die Theologen, die Juriſten, die Mediciner, die Philoſophen
zuſammen auf, die erſten etwa in ſchwarzer, die zweiten in
rother, die dritten in gruͤner, die vierten in blauer Farbe. Soll
das Leben des Gefuͤhls und der Geſinnung zur Erſcheinung
kommen, ſo ſieht man zuſammen die derben Pommern, die
gutmuͤthigen Sachſen, die breitſchulterigen Weſtphalen, die hei-
teren Rheinlaͤnder, die ſchweren Baiern.
So verlangt es das Leben, das auf den Hochſchulen
herrſchen ſoll, nicht der Tod, der durch die Iſolirung entſteht.
Dieß fuͤhrt uns zur folgenden Bedingung, die wir zu ſtellen
haben:
7) Bewegung und Erregung durch den Geiſt des
oͤffentlichen Lebens und lebendige Theil-
nahme an demſelben.
Wo oͤffentliches Leben iſt und ein Geiſt deſſelben, da wird
von ſelbſt jeder Einzelne von ihm erregt und ergriffen. Es
wirkt wie der Odem Gottes, der alle Kreatur durchdringt.
Fuͤr dieſe Erregung bedarf es keiner beſonderen Veranſtaltung.
Das oͤffentliche Leben bedarf beſtimmter Organe und Ver-
richtungen, hervorgerufen durch die Organiſation der Maſſen,
wie ich ſie im „zweiten Beitrag zur Lebensfrage“ verlangt
habe. Die Organiſation geſchieht nach doppeltem Princip,
weil Jeder von zwiefachem Intereſſe beſtimmt wird. Die In-
tereſſen naͤmlich ſind zu vertreten. Das erſte iſt das Stan-
desintereſſe, das zweite iſt das der Heimath, des Wohnortes,
des Viertels, der Straße u. ſ. w.
Die Beſchaͤftigung des Mannes beſtimmt den Stand,
dem er angehoͤrt, nichts Anderes. Er gehoͤrt zu den Genoſſen
deſſelben Standes, zur Erreichung der Zwecke deſſelben und
zur Vertretung ſeiner Intereſſen gegen die uͤbrigen Staͤnde.
So wie in der Natur die Pappeln zuſammengehoͤren und die
Eichen, ſo die Handwerker, die Kaufleute und die Gelehrten
u. ſ. w. Und ſo wie die Arten der Pappeln und der Eichen
eine Unterabtheilung unter ſich bilden, ſo die Arten der Hand-
werker, der Kaufleute, der Gelehrten. Dadurch entſteht der
compacte Corporationsgeiſt der Staͤnde, der ohnedieß da iſt,
aber auch ſeine Anerkennung, ſeine Conſtitution verlangt. Noth-
wendig iſt er ein einſeitiger. Seine Ergaͤnzung, Verallgemei-
nerung und Beſchraͤnkung findet er durch das zweite Princip
der Gliederung, durch die Zuſammenſchaarung aller Maͤnner,
die denſelben Wohnort haben, oder in großen Staͤdten daſſelbe
Viertel bewohnen. Hier wird jeder Einzelne durch die allge-
meinen Intereſſen Aller influencirt, und die Einſeitigkeit wird
durch die Allſeitigkeit, der moͤgliche Standesegoismus durch
die univerſelle patriotiſche Geſinnung Aller verklaͤrt. Natuͤr-
lich entſtehen zur Durchfuͤhrung dieſer Organiſation Verſamm-
lungen der Genoſſen deſſelben Standes und derſelben Heimath.
Die Glieder ſollen durch perſoͤnliche Gemeinſchaft, durch Rede
und That in Wechſelwirkung treten, und alle bewegt werden
von dem Geiſte der Gemeinſchaft des oͤffentlichen Lebens.
Den Studenten gebuͤhrt, ſagte ich oben, eine beſtimmte
Stellung im Leben. Sie bilden den Stand der Studenten,
und man gewaͤhrt ihnen, in weiſer Abmeſſung ihrer Beduͤrf-
niſſe und Zwecke, beſtimmte Rechte. Auf die Freiheit der
uͤbrigen Staͤnde haben ſie keinen Anſpruch, denn ſie produci-
ren noch nicht, ſondern ſie lernen. Aber damit ſie lernen,
muß man ſie ſich ausleben und ſich uͤben laſſen. Darum
fuͤgt man den Stand der Studenten zu dem der Gelehrten
als einem Appendix, die Theologen in abgeſonderter Gliede-
rung zu der Kategorie der Profeſſoren der theologiſchen Facul-
taͤt u. ſ. w. Auch ſollen die Einzelnen Zutritt haben zu den
allgemeinen Vereinen derer, mit welchen ſie zuſammenwohnen.
Der Juͤngling muß von dem Geiſt des oͤffentlichen Lebens er-
regt und ergriffen werden. Denn nur dadurch entſteht fuͤr
die in ihm erregten Hochgedanken eine Staͤtte praktiſcher Wirk-
ſamkeit. Ohne dieſe Beziehung der Ideen auf das Leben glei-
chen jene — hohlen Schemen, oder ſie ſpuken gleich Geſpen-
ſtern in dem Gehirne der Menſchen.
Die Glanzpunkte des Lebens ſind die vaterlaͤndiſchen
Feſte, großen geſchichtlichen Begebenheiten, Epochen und
Ideen, und der erhabenen Natur und ihrem Schoͤpfer geweiht.
Ohne großartige Nationalfeſte iſt kein erregtes, kein gehobenes
Volksleben denkbar. Wir beſitzen kaum noch einen Schatten
von ihnen. Ein ſicheres Zeichen, daß das Volk als Volk
oder lebendige Nation zu exiſtiren aufgehoͤrt hat. Es vegetirt,
oder der Einzelne ſpinnt ſein Netz in ſeiner ſtillen Behauſung,
gleich der Spinne in ihrem Fangwinkel. Aber Geduld, die
Furcht vor dem Mißbrauche wird verſchwinden, die deutſche
Nation wird wieder erwachen und die Regierungen werden
dieſes Erwachen gern befoͤrdern, wenn aus der gaͤhrenden
Maſſe der verderbliche Stoff ausgeſchieden ſein wird. Die
deutſche Nation in voller Reinheit der Geſinnung iſt nicht
zur Leiche erſtarrt; der Puls geht zwar langſam, aber das
Herz ſchlaͤgt noch, und wenn friſche Lebensluft ſie anhaucht,
wird ſie ihren vegetirenden Zuſtand verlaſſen und aus dem
Winterſchlafe zu neuem Leben erſtehen. Dieſe Entwicklungs-
zeit wird vor Allen der Jugend zu gut kommen, der Hoff-
nung fuͤr kuͤnftige beſſere Zeiten. Man wird dann mit Freu-
den die friſche Kraft in ihren Armen und den Glanz ihrer
funkelnden Augen wahrnehmen, und ihr die Stelle im oͤffent-
lichen Leben anweiſen, die ihr gebuͤhrt. Und bei den Feſten
wird ſie in ihrer Einheit und ihrer bunten Mannigfaltigkeit
erſcheinen, und je nachdem das Feſt vorzugsweiſe eine geiſtige
oder eine national-geſchichtliche Bedeutung hat, je nachdem
wird ſie in den Farben der Facultaͤten oder in den landsmann-
ſchaftlichen erſcheinen. Ein goldener Morgen fuͤr die Univer-
ſitaͤten und fuͤr die ganze Nation!
8) Ich komme zur letzten Bedingung, an welche das Heil
der Erziehung der hoͤheren Jugend geknuͤpft iſt: die
Tuͤchtigkeit der akademiſchen Lehrer in gei-
ſtiger, ſittlicher und patriotiſcher Hinſicht.
Von einem Lehrer der Hochſchule, der eins der erſten
Ehrenaͤmter des Staats bekleidet, daher ſeine Loͤhnung auch
nicht Biergeld, ſondern mit Recht Ehrenſold (Honorar)
genannt wird, verlange ich drei Eigenſchaften: Geiſt (Lehr-
talent), ethiſche Geſinnung und Patriotismus, da-
mit er als Lehrer, als Menſch, als Glied der Nation den
Juͤnglingen, die ihn umgeben, als ſtrahlendes Muſter vor-
leuchte. Denn das lebendige Beiſpiel wirkt maͤchtiger als
Lehre und Unterricht.
Die erſte Eigenſchaft des akademiſchen Lehrers iſt das
Lehrtalent, welches in einem durchgebildeten Verſtand, in hel-
len Einſichten, in der Kenntniß der menſchlichen Natur und
ihrer Entwicklungsgeſetze und in der Faͤhigkeit, Andere zu
geiſtiger Thaͤtigkeit machtvoll und energiſch anzuregen, beſteht.
Das eigentliche Lehrgeſchaͤft iſt ein ſtilles, innerliches, unhoͤr-
bares und unſichtbares Geſchaͤft. Die Worte ſind es nicht,
die geſprochen werden, die Saͤtze nicht, die mitgetheilt wer-
den, die Mienen und Geberden auch nicht; es iſt vergleichbar
dem Lichte des Himmels und dem Thau der Erde, und das
Lernen iſt das Wurzeln der Pflanze in die Tiefe und ihr ſtilles
Wachsthum. Wie der Odem Gottes weht uͤber den Waſſern,
ſo haucht der Geiſt eines wahren Lehrers die ſchlummernden
Geiſter der Schuͤler an, und ſie erwachen und freuen ſich.
Es iſt belebend und erheiternd, wenn zuweilen von des Leh-
rers Geiſt Raketen in die Luft ſteigen und Leuchtkugeln die
ſchwarze Nacht recht ſichtbar machen; aber noͤthig iſt es nicht;
wenn er nur, gleich dem Diamanten, mit eignem Lichte leuch-
tet. In geheimer Anziehung beruͤhren ſich die Geiſter, und
es ſind ſelige, geheimnißvolle Augenblicke, wo die Fluͤgelſchlaͤge
und Schwingen des Geiſtes des Lehrers und der Schuͤler ſich
beruͤhren. Solch Lehren iſt ein ſtilles, heiliges Geſchaͤft der
Zeugung und Befruchtung, und die Nachkommen erfreuen
ſich, wenn der lehrende Geiſt laͤngſt heimgegangen, der un-
endlichen Erndte.
Solche tiefe Innerlichkeit beſteht nicht ohne Tugendgeſin-
nung, ohne die geheime Freude an dem Edeln und Rechten.
Sie iſt ſelbſt eine der groͤßten Tugenden. Aber uͤberhaupt ſei
jeder Lehrer, zumal der der Hochſchule, ein ſittlich ernſter,
tugendhafter Mann, der das Gleiche wirkt in ſeiner Umge-
bung, ohne daß er ſpricht und ohne daß er es will, bloß
weil er iſt. „Worte ſind gut, aber ſie ſind nicht das Beſte;
das Beſte wird nicht klar durch Worte.“ (Goͤthe.)
Und dann verlangen wir vom Lehrer, daß er ſich eng im
Herzen anſchließe an das Vaterland, das ihn geboren, ſein
Weh mitfuͤhlend in des Herzens Geiſt und Empfindung und
fuͤr ſein Theil mitwirkend zu ſeiner Erneuerung und friſchen
Bluͤthe. Wie ſind unſere Juͤnglinge — darum die Hoffnung
des Vaterlandes — empfaͤnglich fuͤr die Selbſtſtaͤndigkeit und
Ehre des Vaterlandes, wie hell erklingen ihre patriotiſchen
Geſaͤnge und mit welcher Begeiſterung ſingen ſie den „Lan-
desvater“. Ja, wuͤßtet ihr dieſe Keime zu befruchten, und
truͤget ihr, Hochſchullehrer! den Geiſt des Vaterlandes und
die Ehre der Nation in eurem Charakter, wahrlich wir wuͤr-
den bald die Fruͤchte davon aͤrndten, und eine Zeit entſtehen,
von der man nur mit Schmerz ſcheiden wuͤrde. Gott hat das
deutſche Land auch dadurch geſegnet, daß er ſeine Juͤnglinge
mit tiefen Grundanlagen und mit dem Keime heiliger Liebe
zum Vaterlande begabte.
Dieß ſind die Bedingungen, an welche die Bluͤthe deut-
ſcher Univerſitaͤten nach meinem Ermeſſen geknuͤpft iſt; dieſes
die Forderungen, die ich an ſie mache; dieß der Maßſtab,
mit dem ich ſie meſſe. Nicht engherzigen Schuͤlergeiſt will ich
in die Juͤnglinge gepflanzt wiſſen, nicht ſpaͤhende, auflauernde
Bewachung, ſondern freie, heitere Entwicklung und weite
Rennbahn zur Entwicklung aller Kraͤfte. Darum aber noch
nicht Nichtsthun, Vernichtung aller poſitiv wirkenden Inſti-
tute, ſondern Anlegung machtvoller Hebel und Kraͤfte, deren
Einfluß ſich zu entziehen Jedem ſchwer werden wird. Fallen
und ſinken muß auch der akademiſchen Jugend moͤglich ſein,
aber man muß es ihr erſchweren, nicht durch Befehle, Macht-
gebote und Strafen, die ſich uͤberall in ihrer Ohnmaͤchtigkeit
erweiſen, ſondern durch innere Factoren und Kraͤfte.
Darum — um zuſammenzufaſſen — Entfernung aller
gefaͤhrlichen Verlockungen und Reize von dem Sitze der Uni-
verſitaͤt; denn da Gott Niemand verſuchet, ſo ſollen auch die
Menſchen einander nicht verſuchen, und wir wiſſen es, wer
die Jugend verfuͤhrt, oder zugiebt, daß ſie verfuͤhrt werde,
dem waͤre es beſſer, daß man ihn mit einem Muͤhlſteine im
Meere erſaͤufe; und neben dieſer negativen Wirkſamkeit ener-
giſche Potenzen zur Entwicklung des poſitiv Guten, darum:
Entwicklung der ſelbſtthaͤtigen Kraft im Denken, Belebung
des Geiſtes durch erhabene Ideen, koͤrperliche Gewandtheit
und Staͤrke, Ausbildung zu feiner Geſelligkeit und edler Sitte,
ſichere Gliederung und Organiſation, wie des ganzen Volkes,
ſo der akademiſchen Jugend zur Entwicklung eines charakte-
riſtiſch beſtimmten Corporationsgeiſtes, Gemeingeiſt und Kraft
des oͤffentlichen Lebens und Lehrer voll Geiſt, Tugendgeſin-
nung und Patriotismus.