Ueber
Johann Sebastian Bachs
Leben , Kunst und Kunstwerke .
Für
patriotische Verehrer
echter musikalischer Kunst
Von
J. N. Forkel
Mit Bachs Bildniß und Kupfertafeln .
Leipzig ,
bey Hoffmeister und Kühnel .
( Bureau de Musique . )
1802 .
Haussmann pinx FW Nettling sc. 1802 .
Sebast ian Bach
Seiner Excellenz
dem Freyherrn van Swieten
ehrerbietigst gewidmet
von dem
Verfasser .
Vorrede .
S chon seit vielen Jahren habe ich die Absicht gehabt , über Johann Sebastian Bachs Leben , Kunst und Kunstwerke dem Publicum einige Nachrichten und Gedanken mitzutheilen , da der kleine von C. Ph. Eman . Bach und dem ehemahligen Preußischen Hof-Componisten Agricola herrührende Aufsatz , der sich im dritten Band der Mitzlerschen musikalischen Bibliothek befindet , den Verehrern jenes großen Mannes schwerlich Genüge leisten kann . Ich würde mein Vorhaben sicher auch bereits ausgeführt haben , wenn nicht die Ausarbeitung der allgemeinen Geschichte der Musik mich bisher zu sehr beschäftigt hätte . Da in der Geschichte dieser Kunst Bach mehr als irgend ein anderer Künstler Epoche gemacht hat , so beschloß ich , die zu seinem Leben gesammelten Materialien für den letzten Band des genannten Werks aufzusparen . Die rühmliche Unternehmung der Hoffmeister- und Kühnelschen Musikhandlung in Leipzig , eine vollständige und kritisch-correcte Ausgabe der Seb. Bachischen Werke zu veranstalten , veranlaßte mich , meinen Entschluß zu verändern .
Dieses Unternehmen ist nicht nur der Kunst selbst in jedem Betrachte äußerst vortheilhaft , sondern muß auch mehr als irgend eines der Art zur Ehre des deutschen Nahmens gereichen . Die Werke , die uns Joh. Seb. Bach hinterlassen hat , sind ein unschätzbares National-Erbgut , dem kein anderes Volk etwas ähnliches entgegen setzen kann . Wer sie der Gefahr entreißt , durch fehlerhafte Abschriften entstellt zu werden , und so allmählig der
Vergessenheit und dem Untergange entgegen zu gehen , errichtet dem Künstler ein unvergängliches Denkmahl , und erwirbt sich ein Verdienst um das Vaterland ; und jeder , dem die Ehre des deutschen Nahmens etwas gilt , ist verpflichtet , ein solches patriotisches Unternehmen zu unterstützen , und so viel an ihm ist , zu befördern . An diese Pflicht unser Publicum zu erinnern , diesen edlen Enthusiasmus in der Brust jedes deutschen Mannes zu wecken , achtete ich für meine Schuldigkeit , und dieß ist die Ursache , weßwegen diese Blätter früher erscheinen , als sonst geschehen seyn würde . Auch hoffe ich , daß es mir auf diesem Wege möglich seyn wird , zu einem größern Theil meiner deutschen Mitwelt zu sprechen ; was ich in meiner Geschichte der Musik von Bach zu sagen habe , möchte vielleicht bloß von dem kleinen Kreise der Kunstgelehrten gelesen werden , und doch ist die Erhaltung des Andenkens an diesen großen Mann – man erlaube mir , es noch Ein Mahl zu wiederhohlen – nicht bloß Kunst-Angelegenheit – sie ist National-Angelegenheit .
Das wirksamste Mittel zur lebendigen Erhaltung musikalischer Kunstwerke bleibt freylich immer die öffentliche Aufführung derselben vor einem zahlreichen Publicum . Durch dieses Mittel sind von je her eine Menge großer Werke verbreitet worden , und werden es noch . Das Publicum hört sie vorher im Concert-Saal , in der Kirche oder im Schauspielhause mit Wohlgefallen , erinnert sich nachher des angenehmen Eindrucks und kauft sodann das herausgekommene Werk , ohne vielleicht Gebrauch davon machen zu können . Aber wo , durch wen soll das Publicum Bachs Werke hören , da es von je her so wenige gegeben hat , die sie gehörig vortragen konnten ? Ganz anders würde es geworden seyn , wenn Bach selbst sie an mehrern Orten hätte hören lassen können . Aber dazu hatte er weder Zeit noch Lust . So oft dieß irgend einer seiner Schüler that , obgleich deren keiner sie in
der Vollkommenheit vortrug , wie der Meister , entstand doch stets Staunen und Verwunderung über die nie gehörte , so große und doch so faßliche Kunst . Wer es nur irgend vermochte , spielte sodann wenigstens eines oder einige von den Stücken , die gerade der Bachische Schüler am besten in der Hand hatte , die folglich auch am meisten gefielen . Diese Stücke wurden auch niemand schwer , weil man vorher gehört hatte , wie sie klingen mußten .
Soll der wahre Genuß großer musikalischer Kunstwerke allgemeiner werden , so müssen wir vor allen Dingen bessere Musiklehrer haben . Im Mangel guter Lehrer liegt eigentlich die Quelle alles musikalischen Uebels . Um sich bey Ehren zu erhalten , muß der ungeschickte , selbst nicht unterrichtete Lehrer seinen Schülern nothwendig eine schlechte Meynung von guten Kunstwerken beybringen , weil er sonst in Gefahr gerathen könnte , von dem Schüler aufgefordert zu werden , sie ihm vorzuspielen . Der Schüler wird also genöthigt , Zeit , Mühe und Geld an unnütze Klimpereyen zu verschwenden , und kommt vielleicht nach einem halben Dutzend von Jahren in eigentlich musikalischer Bildung keinen Schritt weiter , als er beym ersten Anfange war . Bey einem bessern Unterricht hätte er nicht die Hälfte von Zeit , Mühe und Geld bedurft , um auf einen Weg gebracht zu werden , auf welchem er bis ans Ende seines Lebens mit Sicherheit zu immer größerer Vollkommenheit hätte fortschreiten können . Wie viel sich gegen dieses Uebel dadurch ausrichten läßt , daß wenigstens in allen Musikhandlungen die Bachischen Werke zur Schau ausgestellt werden , und daß die Kenner und Verehrer echter musikalischer Kunst sich vereinigen , laut die Vortrefflichkeit dieser Werke zu predigen , und das Studium derselben zu empfehlen , das müssen wir von der Zeit erwarten .
Ausgemacht bleibt es , wenn die Kunst Kunst bleiben , und nicht immer mehr zu bloß zeitvertreibender Tändeley zurück sinken soll , so müssen überhaupt klassische Kunstwerke mehr benutzt werden , als sie seit einiger Zeit benutzt worden sind . Bach , als der erste Klassiker , der je gewesen ist , und vielleicht je seyn wird , kann hierin unstreitig die besten Dienste leisten . Wer seine Werke erst einige Zeit studirt hat , wird bloßen Klingklang von wahrer Musik unterscheiden , und jede Manier , die er in der Folge etwa wählen mag , als guter , unterrichteter Künstler bearbeiten . Auch vor Einseitigkeit , wohin nichts so leicht als der herrschende Zeitgeschmack führt , werden wir durch das Studium solcher Klassiker bewahrt , die den Umfang der Kunst so erschöpft haben , wie Bach . Kurz , es würde für die Kunst nicht weniger nachtheilig seyn , wenn wir unsere Klassiker auf die Seite werfen wollten , als es für den guten Geschmack in der Gelehrsamkeit nachtheilig werden würde , wenn das Studium der Griechen und Römer aus unsern Schulen verbannt werden sollte . Der Geist der Zeit , der mehr aufs Kleine und auf den augenblicklichen Genuß gerichtet ist , als auf das Große , das erst mit einiger Mühe und sogar Anstrengung errungen werden muß , hat wirklich wenigstens den Vorschlag zur Verbannung der Griechen und Römer aus unsern Schulen hier und da schon veranlaßt ; es ist nicht zu zweifeln , daß ihm auch unsere musikalischen Klassiker ungelegen sind ; denn recht beym Lichte besehen , muß er sich wirklich in seiner großen Armuth vor ihnen herzlich schämen , und am allermeisten vor unserm fast überreichen Bach .
Möchte ich nur im Stande seyn , die erhabene Kunst dieses Ersten aller deutschen und ausländischen Künstler recht nach Würden zu beschreiben ! Nächst der Ehre , selbst ein so großer , über alles hervorragender Künstler zu seyn , wie er es war , gibt es vielleicht
keine größere , als eine so ganz vollendete Kunst gehörig würdigen und mit Verstand davon reden zu können . Wer das Letztere vermag , muß mit dem Künstler selbst nicht ganz unähnlichen Geistes und Sinnes seyn , hat also gewissermaßen die schmeichelhafte Vermuthung für sich , daß er vielleicht auch das Erstere vermocht haben würde , wenn ähnliche äußere Veranlassungen ihn auf die dazu erforderliche Bahn geführt hätten . Aber ich bin nicht so unbescheiden zu glauben , daß ich je eine solche Ehre erringen könnte . Ich bin vielmehr innigst überzeugt , daß keine Sprache in der Welt reich genug ist , um alles damit auszudrücken , was von dem hohen Werth und von dem erstaunlichen Umfang einer solchen Kunst gesagt werden könnte und müßte . Je genauer man damit bekannt wird ; desto höher steigt unsere Bewunderung für sie . All unser Rühmen , Preisen und Bewundern derselben wird stets bloß gutgemeyntes Lallen und Stammeln seyn und bleiben . Wer Gelegenheit gehabt hat , Kunstwerke mehrerer Jahrhunderte mit einander zu vergleichen , wird diese Erklärung nicht übertrieben finden ; er wird vielmehr selbst der Meynung geworden seyn , daß man von Bachischen Werken , wenn man sie völlig kennt , nicht anders als mit Entzücken , und von einigen sogar nur mit einer Art von heiliger Anbetung reden könne . Seine Handhabung des innern Kunstmechanismus können wir allenfalls begreifen und erklären ; aber wie er es gemacht hat , diesem ebenfalls nur von ihm erreichten so hohen Grad der mechanischen Kunst zugleich den lebendigen Geist einzuhauchen , der uns auch im geringsten seiner Werke so deutlich anspricht , wird wohl stets nur gefühlt und angestaunt werden können .
Auf Vergleichungen Joh. Seb. Bachs mit einzelnen Componisten habe ich mich nicht einlassen wollen . Wer ihn mit Händel verglichen sehen will , findet eine von einem vollkommen Sachkundigen Manne verfaßte , sehr gerechte und billige Schätzung ihrer beyderseitigen
musikalischen Verdienste im ersten Stück des 81sten Bandes der allgem . deutsch . Bibl. S. 295–303 .
Meine Nachrichten , in so weit sie von dem vorerwähnten kleinen Aufsatz in Mitzlers Bibliothek abgehen , verdanke ich den beyden ältesten Söhnen Joh. Seb. Bachs . Beyde kannte ich nicht nur persönlich , sondern habe auch lange Jahre hindurch mit ihnen , am meisten aber mit C. Ph. Emanuel in beständigem Briefwechsel gestanden . Die Welt weiß , daß beyde selbst große Künstler waren ; aber sie weiß vielleicht nicht , daß sie von der Kunst ihres Vaters bis an ihr Ende nie anders als mit Begeisterung und Ehrfurcht sprachen . Da ich von früher Jugend an dieselbe Verehrung für die Kunst ihres Vaters hatte , so war sie im Gespräch so wohl als in Briefen sehr häufig der Gegenstand unserer Unterhaltung . Diese Unterhaltungen haben mich nach und nach mit allem , was Joh. Seb. Bachs Leben , Kunst und Kunstwerke betrifft , so bekannt gemacht , daß ich nun hoffen darf , dem Publicum nicht nur etwas Ausführliches , sondern auch zugleich etwas Nützliches davon sagen zu können .
Ich habe dabey durchaus keinen andern Zweck , als das Publicum auf ein Unternehmen aufmerksam zu machen , wobey es lediglich darauf abgesehen ist , deutscher Kunst ein würdiges Denkmal zu stiften , dem wahren Künstler eine Gallerie der lehrreichsten Muster zu errichten , und den Freunden der musikalischen Muse eine unerschöpfliche Quelle des erhabensten Genusses zu eröffnen .
I.
W enn es je eine Familie gegeben hat , in welcher eine ausgezeichnete Anlage zu einer und eben derselben Kunst gleichsam erblich zu seyn schien , so war es gewiß die Bachische . Durch sechs Generationen hindurch haben sich kaum zwey oder drey Glieder derselben gefunden , die nicht die Gabe eines vorzüglichen Talents zur Musik von der Natur erhalten hatten , und die Ausübung dieser Kunst zu der Hauptbeschäftigung ihres Lebens machten .
Der Stammvater dieser in musikalischer Hinsicht so merkwürdig gewordenen Familie hieß Veit Bach . Er war ein Bäcker zu Presburg in Ungarn . Beym Ausbruch der Religions-Unruhen im sechszehnten Jahrhundert wurde er aber genöthigt , sich einen andern Wohnort aufzusuchen . Er rettete von seinem Vermögen , was er konnte , und zog damit nach Thüringen , wo er Ruhe und Sicherheit zu finden hoffte . Der Ort , an welchem er sich in dieser Gegend niederließ , ist Wechmar , ein nahe bey Gotha liegendes Dorf . Er fing hier bald an , sich wieder mit seiner Bäcker-Profession zu beschäftigen , vergnügte sich aber nebenher bey müßigen Stunden sehr gerne mit der Cyther , die er sogar mit in die Mühle nahm , und während dem Mahlen unter allem Getöse und Geklapper der Mühle darauf spielte . Diese Neigung zur Musik pflanzte er auf seine beyden Söhne , diese wieder auf die ihrigen fort , bis nach und nach eine sehr ausgebreitete Familie entstand , die in allen ihren Zweigen nicht nur musikalisch war , sondern auch ihr Hauptgeschäft aus der Musik machte , und bald die meisten Cantor- , Organisten- und Stadtmusikanten-Stellen der Thüringischen Gegenden in ihrem Besitz hatte .
Alle diese Bache können unmöglich große Meister gewesen seyn ; jedoch zeichneten sich in jeder Generation wenigstens einige Glieder vorzüglich aus . Dieß thaten schon im ersten Viertel des siebenzehnten Jahrhunderts drey Enkel des Stammvaters so merklich ,
daß der damals regierende Graf von Schwarzburg-Arnstadt es der Mühe werth hielt , sie auf seine Kosten nach Italien , der damahligen hohen Schule der Musik , reisen zu lassen , um sich dort noch mehr zu vervollkommnen . In wie weit sie den Erwartungen ihres Gönners entsprochen haben mögen , kann nicht gesagt werden , da von ihren Werken nichts auf unsere Zeiten gekommen ist . Noch mehr zeichneten sich einige Glieder der vierten Generation aus , von deren Compositionen durch J. Seb. Bachs Sorgfalt mehrere Stücke erhalten worden sind . Die merkwürdigsten darunter waren :
1 ) Johann Christoph , Hof- und Stadt-Organist in Eisenach . Dieser war vorzüglich glücklich in Erfindung schöner Melodien und im Ausdruck der Texte . Im sogenannten Bachischen Archiv , welches C. Ph. Emanuel in Hamburg besaß , fand sich unter andern eine Motette von seiner Composition , worin er es gewagt hatte , von der übermäßigen Sexte Gebrauch zu machen , ein Wagestück , welches in seinem Zeitalter für ungeheuer groß gehalten wurde . Auch ist er der Vollstimmigkeit außerordentlich mächtig gewesen , wie ein von ihm komponirtes Kirchenstück aufs Michaelisfest über die Worte : Es erhub sich ein Streit etc. beweisen kann , welches 22 obligate Stimmen hat , und doch in Rücksicht auf Harmonie vollkommen rein ist . Ein zweyter Beweis seiner Stärke in der Vollstimmigkeit ist , daß er auf der Orgel und auf dem Clavier niemahls mit weniger als fünf nothwendigen Stimmen gespielt haben soll . C. Ph. Emanuel hielt vorzüglich viel auf ihn . Ich erinnere mich noch sehr lebhaft , wie freundlich der damahls schon alte Mann bey den merkwürdigsten und gewagtesten Stellen mich anlächelte , als er mir einst in Hamburg das Vergnügen machte , mich einige dieser alten Werke hören zu lassen .
2 ) Johann Michael , Organist und Stadtschreiber im Amte Gehren . Er war ein jüngerer Bruder des vorhergehenden , und gleich ihm ein vorzüglich guter Componist . Im Bachischen Archiv befinden sich von ihm einige Motetten , worunter auch eine doppelchörige für 8 Stimmen ist , nebst verschiedenen einzelnen Kirchenstücken .
3 ) Johann Bernhard , Kammermusikus und Organist zu Eisenach . Dieser soll vorzüglich schöne Ouvertüren nach französischer Art gemacht haben .
Nicht nur die angeführten , sondern auch noch verschiedene andere vorzügliche Componisten aus den frühern Generationen der Bachischen Familie hätten sich unstreitig weit
wichtigere musikalische Aemter , so wie einen ausgebreitetern Ruf ihrer Geschicklichkeit , und ein glänzenderes äußeres Glück verschaffen können , wenn sie geneigt gewesen wären , ihr Vaterland Thüringen zu verlassen , und sich anderwärts in und außerhalb Deutschland bekannt zu machen . Man findet aber nicht , daß irgend einem derselben die Lust zu einer solchen Auswanderung einmahl angekommen sey . Genügsam von Natur und durch Erziehung , bedurften sie nur wenig zum Leben , und der innere Genuß , den ihnen ihre Kunst gewährte , machte , daß sie die goldenen Ketten , welche damahls geachteten Künstlern von großen Herren als besondere Ehrenzeichen ertheilt wurden , nicht entbehrten , sondern ohne den mindesten Neid sie an andern sahen , die vielleicht ohne diese Ketten nicht glücklich gewesen seyn würden .
Außer dieser schönen , zum frohen Lebensgenuß unentbehrlichen Genügsamkeit , hatten auch die verschiedenen Glieder dieser Familie eine sehr große Anhänglichkeit an einander . Da sie unmöglich alle an einem einzigen Orte beysammen leben konnten , so wollten sie sich doch wenigstens einmahl im Jahre sehen , und bestimmten einen gewissen Tag , an welchem sie sich sämmtlich an einem dazu gewählten Orte einfinden mußten . Auch dann noch , als die Familie an Zahl ihrer Glieder schon sehr zugenommen , und sich außer Thüringen auch hin und wieder in Ober- und Niedersachsen , so wie in Franken hatte verbreiten müssen , setzte sie ihre jährlichen Zusammenkünfte fort . Der Versammlungsort war gewöhnlich Erfurt , Eisenach oder Arnstadt . Die Art und Weise , wie sie die Zeit während dieser Zusammenkunft hinbrachten , war ganz musikalisch . Da die Gesellschaft aus lauter Cantoren , Organisten und Stadtmusikanten bestand , die sämmtlich mit der Kirche zu thun hatten , und es überhaupt damahls noch eine Gewohnheit war , alle Dinge mit Religion anzufangen , so wurde , wenn sie versammelt waren , zuerst ein Choral angestimmt . Von diesem andächtigen Anfang gingen sie zu Scherzen über , die häufig sehr gegen denselben abstachen . Sie sangen nehmlich nun Volkslieder , theils von possierlichem , theils auch von schlüpfrigem Inhalt zugleich mit einander aus dem Stegreif so , daß zwar die verschiedenen extemporirten Stimmen eine Art von Harmonie ausmachten , die Texte aber in jeder Stimme andern Inhalts waren . Sie nannten diese Art von extemporirter Zusammenstimmung Quodlibet , und konnten nicht nur selbst recht von ganzem Herzen dabey lachen , sondern erregten auch ein eben so herzliches und
unwiderstehliches Lachen bey jedem , der sie hörte . Einige wollen diese Possenspiele als den Anfang der komischen Operette unter den Deutschen betrachten . Allein solche Quodlibete waren in Deutschland schon weit früher im Gebrauch . Ich besitze selbst eine gedruckte Sammlung derselben , die schon im Jahr 1542 zu Wien heraus gekommen ist .
So wohl die genannten fröhlichen Thüringer , als einige ihrer spätern Nachkommen , die schon einen ernsthaftern und würdigern Gebrauch von ihrer Kunst zu machen wußten , würden indessen doch der Vergessenheit der Nachwelt nicht entgangen seyn , wenn nicht endlich ein Mann aus ihnen hervor gegangen wäre , dessen Kunst und Kunstruhm so helle Strahlen warf , daß auch auf sie nun ein Abglanz dieses Lichtes zurück fiel . Dieser Mann war Johann Sebastian Bach , die Zierde seiner Familie , der Stolz seines Vaterlandes , und der vertrauteste Liebling der musikalischen Kunst .
II.
Johann Sebastian Bach wurde im Jahr 1685 am 21sten März zu Eisenach geboren , wo sein Vater Johann Ambrosius Hof- und Stadtmusikus war . Dieser hatte einen Zwillingsbruder , Johann Christoph , Hof- und Stadtmusikus zu Arnstadt , der ihm so ähnlich war , daß selbst ihre beyderseitigen Frauen sie nicht anders als durch die Kleidung von einander unterscheiden konnten . Diese Zwillinge sind vielleicht die einzigen ihrer Art und die merkwürdigsten , die man kennt . Sie liebten sich aufs zärtlichste ; Sprache , Gesinnung , der Styl ihrer Musik , ihre Art des Vortrags etc. alles war einander gleich . Wenn einer krank war , war es auch der andere . Auch starben sie bald nach einander . Sie waren ein Gegenstand der Bewunderung für jeden , der sie sah .
Im Jahr 1695 , als Joh. Sebastian noch nicht volle 10 Jahre alt war , starb sein Vater . Die Mutter war schon früher gestorben . Er sah sich daher nun so verwaiset , daß er seine Zuflucht zu einem ältern Bruder , Johann Christoph , welcher Organist in Ordruff war , nehmen mußte . Von diesem bekam er den ersten Unterricht im Clavierspielen . Seine Neigung und Fähigkeit zur Musik muß aber um diese Zeit schon sehr groß gewesen seyn , denn diejenigen Handstücke , die ihm sein Bruder zum
Lernen gab , waren so bald in seiner Gewalt , daß er mit großer Begierde sich nach schwerern Stücken umzusehen anfing . Die berühmtesten Clavierkomponisten jener Zeit waren Froberger , Fischer , Johann Casp . Kerl , Pachelbel , Buxtehude , Bruhns , Böhm etc . Er hatte gemerkt , daß sein Bruder ein Buch besaß , worin mehrere Stücke der genannten Meister gesammelt waren , und bat ihn herzlich , es ihm zu geben . Allein es wurde ihm stets verweigert . Die Begierde nach dem Besitz des Buchs wurde durch die Verweigerung immer größer , so daß er endlich desselben auf irgend eine Art heimlich habhaft zu werden suchte . Da es in einem bloß mit Gitterthüren verschlossenen Schranke aufbewahrt wurde , und seine Hände noch klein genug waren , um durchgreifen und das nur in Papier geheftete Buch zusammen rollen und heraus ziehen zu können , so bedachte er sich nicht lange , von so günstigen Umständen Gebrauch zu machen . Allein aus Mangel eines Lichtes konnte er nur bey Mondhellen Nächten daran schreiben , und bedurfte 6 volle Monathe , ehe er mit seiner so mühseligen Arbeit zu Ende kommen konnte . Als er endlich den Schatz sicher zu besitzen glaubte , und ihn nun heimlich recht benutzen wollte , wurde der Bruder die Sache gewahr , und nahm ihm die so schwer gewordene Abschrift ohne Gnade und Barmherzigkeit wieder ab , die er auch nicht eher als nach dem bald darauf erfolgten Tode dieses Bruders wieder erhielt .
Aufs neue verwaiset ging nun Joh. Sebastian in Gesellschaft eines seiner Mitschüler , mit Namen Erdmann , nachherigen Russisch-Kaiserl. Residenten in Danzig , nach Lüneburg , und ließ sich daselbst im Chor der Michaelisschule als Diskantist aufnehmen . Seine schöne Diskantstimme verschaffte ihm hier ein gutes Fortkommen ; allein er verlor sie bald , ohne sogleich eine andere gute Stimme dagegen zu erhalten .
Seine Neigung zum Clavier- und Orgelspielen war um diese Zeit noch eben so feurig , als in den frühern Jahren , und trieb ihn an , alles zu thun , zu sehen und zu hören , was ihn nach seinen damaligen Begriffen immer weiter darin bringen konnte . In dieser Absicht reisete er als Schüler von Lüneburg aus nicht nur mehrere Mahle nach Hamburg , um den damahls berühmten Organisten Johann Adam Reinken zu hören , sondern auch bisweilen nach Celle , um die dortige , meistens aus Franzosen bestehende Kapelle , und den französischen Geschmack , der damahls in diesen Gegenden noch etwas Neues war , kennen zu lernen .
Durch welche Verhältnisse er von Lüneburg nach Weimar kam , ist nicht bekannt ; aber es ist gewiß , daß er im Jahr 1703 , als er eben 18 Jahre alt war , Hofmusikus daselbst wurde . Er vertauschte aber diesen Platz schon im folgenden Jahr mit der Organisten-Stelle an der neuen Kirche zu Arnstadt , vermuthlich um seiner Neigung zum Orgelspielen mehr als in Weimar nachhängen zu können , wo er für die Violine angestellt war . Hier fing er an , die Werke der damahligen berühmten Organisten , so viele er ihrer in seiner Lage habhaft werden konnte , mit dem größten Eifer so wohl für die Composition als für die Orgelkunst zu nutzen und machte so gar zur Befriedigung seiner Wißbegierde eine Fußreise nach Lübeck , um den dortigen Organisten an der Marienkirche , Dieterich Buxtehude , dessen Compositionen für die Orgel er schon kannte , auch als Orgelspieler kennen zu lernen . Fast ein ganzes Vierteljahr blieb er ein heimlicher Zuhörer dieses zu seiner Zeit sehr berühmten und wirklich geschickten Organisten , und kehrte sodann mit vermehrten Kenntnissen nach Arnstadt zurück .
Die Wirkungen seines Eifers und so anhaltenden Fleißes müssen um diese Zeit schon große Aufmerksamkeit erregt haben , denn er bekam nun kurz nach einander den Ruf zu verschiedenen Organisten-Stellen . Von Mühlhausen wurde ihm im Jahr 1707 eine solche Stelle an der St. Blasiuskirche angetragen und übergeben . Als er aber ein Jahr nach dem Antritt derselben eine Reise nach Weimar machte , und sich dort vor dem damahls regierenden Herzog hören ließ , fand sein Orgelspielen so großen Beyfall , daß man ihm die Hof-Organistenstelle antrug , die er auch annahm . Der vergrößerte Wirkungskreis für seine Kunst , in welchem er hier lebte , trieb ihn nun an , alles mögliche darin zu versuchen , und dieß ist eigentlich die Zeitperiode , in welcher er sich nicht nur zu einem so starken Orgelspieler gebildet , sondern auch den Grund zu seiner so großen Orgelcomposition gelegt hat . Noch größere Veranlassung zur Ausbildung seiner Kunst erhielt er , als ihn sein Fürst im Jahr 1717 zum Concertmeister ernannte , in welchem Amte er nun auch Kirchenstücke componiren und aufführen mußte .
Händels Lehrer , der Organist und Musikdirector Zachau zu Halle , starb in dieser Zeit , und der nun schon berühmte Joh. Seb. Bach wurde zu seinem Nachfolger berufen . Er reisete auch wirklich nach Halle , um sein Probestück daselbst aufzuführen . Er nahm jedoch , man weiß nicht aus welcher Ursache , die Stelle nicht an , sondern
überließ sie einem geschickten und wohlgerathenen Zachauischen Schüler , mit Namen Kirchhof .
Joh. Seb. Bach war nun 32 Jahre alt geworden , hatte seine Zeit bis zu dieser Periode so genutzt , so viel studirt , gespielt und componirt , und durch diesen anhaltenden Fleiß und Eifer eine solche Gewalt über die ganze Kunst erhalten , daß er nun wie ein Riese da stand , und alles um sich her in den Staub treten konnte . Er war schon lange , nicht bloß von Liebhabern , sondern von Kennern bewundert und angestaunt worden , als im Jahr 1717 der ehemahls in Frankreich sehr berühmte Klavierspieler und Organist Marchand nach Dresden kam , sich vor dem Könige hören ließ , und so großen Beyfall erhielt , daß ihm eine ansehnliche Besoldung angeboten wurde , wenn er königliche Dienste nehmen wollte . Marchands Verdienste bestanden hauptsächlich in einem sehr feinen und zierlichen Vortrag . Seine Gedanken waren aber leer und unkräftig , fast nach Couperin’s Art , wie man wenigstens aus seinen Compositionen sehen kann . Aber Joh. Seb. Bach hatte den nehmlichen feinen und zierlichen Vortrag , und überdieß noch eine Gedankenfülle , die vielleicht Marchand hätte schwindeln machen können , wenn er sie gehört hätte . Dieß alles wußte Volumier , damahliger Concertmeister zu Dresden . Er kannte die Allgewalt des jungen rüstigen Deutschen über seine Gedanken und über sein Instrument , und wollte zwischen ihm und dem französischen Künstler einen Wettstreit veranlassen , um seinem Fürsten das Vergnügen zu verschaffen , ihren beyderseitigen Werth , aus eigener Vergleichung bestimmen zu können . Es wurde daher mit Vorwissen des Königs ungesäumt eine Botschaft an Joh. Seb. Bach nach Weimar gesandt , um ihn zu diesem musikalischen Wettstreit einzuladen . Die Einladung wurde angenommen , und die Reise unverzüglich angetreten . Nach der Ankunft Bachs in Dresden verschaffte ihm Volumier zuerst die Gelegenheit , Marchand heimlich zu hören . Bach verlor dadurch seinen Muth nicht , sondern lud nun durch ein höfliches Billet den französischen Künstler förmlich zu einem musikalischen Wettstreit ein , erbot sich , alles was Marchand ihm aufgeben würde , aus dem Stegreife auszuführen , erbat sich aber von ihm eine gleiche Bereitwilligkeit . Da Marchand die Ausforderung annahm , so wurde mit Vorwissen des Königs Zeit und Ort des Kampfs bestimmt . Eine große Gesellschaft beyderley Geschlechts und von hohem Range versammelte sich in dem zum Kampfplatz
gewählten Hause des Marschalls , Grafen von Flemming . Bach ließ nicht auf sich warten , aber Marchand erschien nicht . Nach langem Warten ließ man sich endlich in seiner Wohnung nach ihm erkundigen , und die ganze Erwartungsvolle Versammlung erfuhr nun zu ihrer größten Verwunderung , daß Marchand schon am Morgen dieses Tages von Dresden abgereiset sey , ohne von irgend jemand Abschied zu nehmen . Bach mußte sich nun allein hören lassen , und that es zur Bewunderung aller Anwesenden ; aber Volumiers Absicht , den Unterschied der deutschen und französischen Kunst recht fühlbar und auffallend gemacht zu sehen , war vereitelt . Beyfall erhielt Bach bey dieser Gelegenheit im Ueberfluß ; aber ein Geschenk von 100 Louisd'or , welches ihm der König bestimmt hatte , soll er nicht erhalten haben .
Er war noch nicht lange nach Weimar zurück gekommen , als er von dem damahligen Fürst Leopold von Anhalt-Cöthen , der ein vorzüglicher Kenner und Liebhaber der Musik war , zu seinem Capellmeister berufen wurde . Er nahm diese Stelle sogleich an , und verwaltete sie fast 6 Jahre , machte aber in dieser Zeit ( ungefähr im Jahr 1722 ) eine Reise nach Hamburg , um sich daselbst auf der Orgel hören zu lassen . Sein Orgelspielen erregte hier allgemeine Bewunderung . Der alte fast hundertjährige Reinken hörte ihm mit besonderm Vergnügen zu , und machte ihm besonders über den Choral : An Wasserflüssen Babylons etc. welchen er fast eine halbe Stunde lang nach ächter Orgel-Art variirte , das Compliment : Ich dachte , diese Kunst wäre ausgestorben ; ich sehe aber , daß sie in Ihnen noch lebt . Reinken hatte diesen Choral vor langen Jahren selbst so ausgearbeitet , und ihn als ein Werk , auf welches er viel hielt , in Kupfer stechen lassen . Sein Lob war also hier desto schmeichelhafter für Bach .
Nach Kuhnau’s Tode im Jahr 1723 wurde Bach zum Musikdirector und Cantor an der Thomasschule zu Leipzig ernannt . In dieser Stelle blieb er bis an sein Ende . Der Fürst Leopold von Anhalt-Cöthen liebte ihn sehr ; Bach verließ also seine Dienste ungern . Aber der bald nachher erfolgte Tod dieses Fürsten zeigte ihm doch , daß ihn die Vorsehung gut geführt hatte . Auf diesen ihm sehr schmerzhaften Todesfall verfertigte er eine Trauermusik mit vielen ganz vorzüglich schönen Doppelchören , und führte sie selbst in Cöthen auf . Daß er in seiner jetzigen Lage nun auch vom Herzog
von Weissenfels den Capellmeistertitel , und im Jahr 1736 den Titel eines Königl. Pohlnischen und Churfürstl. Sächsischen Hof-Compositeurs erhielt , sind eigentlich Nebendinge , nur ist dabey zu bemerken , daß der letztere Titel durch Verhältnisse veranlaßt wurde , in welche Bach durch sein Amt als Cantor an der Thomasschule gekommen war .
Sein zweyter Sohn , Carl Phil. Emanuel , kam im Jahr 1740 in die Dienste Friedrichs des Großen . Der Ruf von der alles übertreffenden Kunst Johann Sebastians war in dieser Zeit so verbreitet , daß auch der König sehr oft davon reden und rühmen hörte . Er wurde dadurch begierig , einen so großen Künstler selbst zu hören und kennen zu lernen . Anfänglich ließ er gegen den Sohn ganz leise den Wunsch merken , daß sein Vater doch einmahl nach Potsdam kommen möchte . Allein nach und nach fing er an , bestimmt zu fragen , warum denn sein Vater nicht einmahl komme ? Der Sohn konnte nicht umhin , diese Aeußerungen des Königs seinem Vater zu melden , der aber anfänglich nicht darauf achten konnte , weil er meistens mit zu vielen Geschäften überhäuft war . Als aber die Aeußerungen des Königs in mehrern Briefen des Sohns wiederholt wurden , machte er endlich im Jahr 1747 dennoch Anstalt , diese Reise in Gesellschaft seines ältesten Sohns , Wilh . Friedemann , zu unternehmen . Der König hatte um diese Zeit alle Abende ein Cammerconcert , worin er meistens selbst einige Concerte auf der Flöte bließ . Eines Abends wurde ihm , als er eben seine Flöte zurecht machte , und seine Musiker schon versammelt waren , durch einen Officier der geschriebene Rapport von angekommenen Fremden gebracht . Mit der Flöte in der Hand übersah er das Papier , drehte sich aber sogleich gegen die versammelten Capellisten und sagte mit einer Art von Unruhe : Meine Herren , der alte Bach ist gekommen ! Die Flöte wurde hierauf weggelegt , und der alte Bach , der in der Wohnung seines Sohns abgetreten war , sogleich auf das Schloß beordert . Wilh. Friedemann , der seinen Vater begleitete , hat mir diese Geschichte erzählt , und ich muß sagen , daß ich noch heute mit Vergnügen an die Art denke , wie er sie mir erzählt hat . Es wurden in jener Zeit noch etwas weitläuftige Complimente gemacht . Die erste Erscheinung Joh. Seb. Bachs vor einem so großen Könige , der ihm nicht einmahl Zeit ließ , sein Reisekleid mit einem schwarzen Cantor-Rock zu verwechseln , mußte also nothwendig mit vielen Entschuldigungen verknüpft seyn . Ich will die Art dieser Entschuldigungen hier nicht
anführen , sondern bloß bemerken , daß sie in Wilh. Friedemanns Munde ein förmlicher Dialog zwischen dem König und dem Entschuldiger waren .
Aber was wichtiger als dieß alles ist , der König gab für diesen Abend sein Flötenconcert auf , nöthigte aber den damahls schon sogenannten alten Bach , seine in mehrern Zimmern des Schlosses herumstehende Silbermannische Fortepiano zu probiren . Die Pianoforte’s des Freyberger Silbermann gefielen dem König so sehr , daß er sich vornahm , sie alle aufkaufen zu lassen . Er brachte ihrer 15 zusammen . Jetzt sollen sie alle als unbrauchbar in verschiedenen Winkeln des Königl. Schlosses umher stehen . Die Capellisten gingen von Zimmer zu Zimmer mit , und Bach mußte überall probiren und fantasiren . Nachdem er einige Zeit probirt und fantasirt hatte , bat er sich vom König ein Fugenthema aus , um es sogleich ohne alle Vorbereitung auszuführen . Der König bewunderte die gelehrte Art , mit welcher sein Thema so aus dem Stegreif durchgeführt wurde , und äußerte nun , vermuthlich um zu sehen , wie weit eine solche Kunst getrieben werden könne , den Wunsch , auch eine Fuge mit 6 obligaten Stimmen zu hören . Weil aber nicht jedes Thema zu einer solchen Vollstimmigkeit geeignet ist , so wählte sich Bach selbst eines dazu , und führte es sogleich zur größten Verwunderung aller Anwesenden auf eine eben so prachtvolle und gelehrte Art aus , wie er vorher mit dem Thema des Königs gethan hatte . Auch seine Orgelkunst wollte der König kennen lernen . Bach wurde daher an den folgenden Tagen von ihm eben so zu allen in Potsdam befindlichen Orgeln geführt , wie er vorher zu allen Silbermannischen Fortepiano geführt worden war . Nach seiner Zurückkunft nach Leipzig arbeitete er das vom König erhaltene Thema 3 und 6stimmig aus , fügte verschiedene kanonische Kunststücke darüber hinzu , ließ es unter dem Titel : Musikalisches Opfer , in Kupfer stechen , und dedicirte es dem Erfinder desselben .
Dieß war Bachs letzte Reise . Der anhaltende Fleiß , mit welchem er besonders in seinen jüngern Jahren oft Tag und Nacht ununterbrochen dem Studium der Kunst oblag , hatte sein Gesicht geschwächt . Diese Schwäche nahm in den letztern Jahren immer mehr zu , bis endlich eine sehr schmerzhafte Augenkrankheit daraus entstand . Auf Anrathen einiger Freunde , die auf die Geschicklichkeit eines aus England zu Leipzig angekommenen Augen-Arztes großes Vertrauen setzten , wagte er es , sich einer Operation
zu unterwerfen , die aber zweymahl verunglückte . Nun war nicht nur sein Gesicht ganz verloren , sondern auch seine übrige bisher so dauerhafte Gesundheit war durch den mit der Operation verbundenen Gebrauch vielleicht schädlicher Arzeneymittel völlig zerrüttet . Er kränkelte hierauf noch ein ganzes halbes Jahr hindurch , bis er am Abend des 30sten Julius 1750 im 66sten Jahre seines Lebens dieser Welt entschlummerte . Am Morgen des zehnten Tages vor seinem Ende konnte er auf einmahl wieder sehen und Licht ertragen . Aber wenige Stunden nachher überfiel ihn ein Schlagfluß , und dieser zog ein hitziges Fieber nach sich , dem sein abgematteter Körper , ungeachtet aller möglichen ärztlichen Hülfe , nicht mehr zu widerstehen vermochte .
So weit die Lebensgeschichte dieses merkwürdigen Mannes . Ich füge bloß noch hinzu , daß er zweymahl verheyrathet gewesen ist , und daß ihm in der ersten Ehe 7 und in der zweyten 13 Kinder geboren worden sind , nehmlich 11 Söhne und 9 Töchter . Die Söhne hatten sämmtlich vortreffliche musikalische Anlagen ; sie wurden aber nur bey einigen der ältern völlig ausgebildet .
III .
Joh. Seb. Bachs Art das Clavier zu behandeln , ist von jedem , der das Glück gehabt hat , ihn zu hören , bewundert , und von allen , die selbst Ansprüche machen konnten , für gute Spieler gehalten zu werden , beneidet worden . Daß dieses so allgemein bewunderte und beneidete Clavierspielen von der Art , wie das Clavier von Bachs Zeitgenossen und Vorgängern behandelt wurde , sehr verschieden gewesen seyn müsse , ist leicht zu begreifen ; aber bis jetzt ist noch von Niemand genau angegeben worden , worin diese Verschiedenheit eigentlich bestanden habe .
Wenn man von zehen gleich fertigen und geübten Spielern ein und eben dasselbe Stück spielen läßt , so wird es sich unter der Hand eines jeden anders ausnehmen . Jeder wird eine verschiedene Art des Tons aus dem Instrument ziehen , und sodann diese Töne mit einem größern oder geringern Grad von Deutlichkeit vortragen . Wovon kann diese verschiedene Ausnahme entstehen , wenn übrigens alle zehen Spieler hinlängliche Uebung und Fertigkeit haben ? Bloß von der Art des Anschlags , der beym Clavier eben das ist ,
was in der Rede die Aussprache ist . Es kommt nehmlich , wenn der Vortrag so wohl im Spielen als im Reden oder Declamiren vollkommen seyn soll , auf den höchsten Grad von Deutlichkeit im Anschlag der Töne , und in der Aussprache der Wörter an . Diese Deutlichkeit hat aber gar mancherley Grade . Schon in den untersten Graden kann man verstehen , was gespielt oder gesagt wird ; es erregt aber kein Wohlgefallen beym Zuhörer , weil ihn dieser Grad von Deutlichkeit zu einiger Anstrengung seiner Aufmerksamkeit nöthigt . Die Aufmerksamkeit auf einzelne Töne oder Wörter muß aber um deswillen unnöthig gemacht werden , damit der Zuhörer sie auf die Gedanken und deren Zusammenhang verwenden kann , und dazu bedürfen wir des höchsten Grades von Deutlichkeit im Anschlag einzelner Töne , so wie in der Aussprache einzelner Wörter .
Ich habe mich oft gewundert , daß C. Ph. Emanuel in seinem Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen , diesen höchsten Grad von Deutlichkeit des Anschlags nicht ausführlich beschrieben hat , da er ihn doch nicht nur selbst hatte , sondern auch gerade hierin ein Hauptunterschied liegt , wodurch sich die Bachische Art das Clavier zu spielen , von jeder andern auszeichnet . Er sagt zwar im Capitel vom Vortrag : » Einige Personen spielen zu klebricht , als wenn sie Leim zwischen den Fingern hätten . Ihr Anschlag ist zu lang , indem sie die Tasten über die Zeit liegen lassen . Andere haben es verbessern wollen , und spielen zu kurz , als wenn die Tasten glühend wären . Es thut aber auch schlecht . Die Mittelstraße ist die beste . « Er hätte uns aber die Art und Weise lehren und beschreiben sollen , wie man auf diese Mittelstraße gelangen kann . Ich will die Sache deutlich zu machen suchen , in so weit solche Dinge ohne mündlichen Unterricht deutlich gemacht werden können .
Nach der Seb. Bachischen Art , die Hand auf dem Clavier zu halten , werden die fünf Finger so gebogen , daß die Spitzen derselben in eine gerade Linie kommen , die sodann auf die in einer Fläche neben einander liegenden Tasten so passen , daß kein einziger Finger bey vorkommenden Fällen erst näher herbey gezogen muß , sondern daß jeder über dem Tasten , den er etwa nieder drücken soll , schon schwebt . Mit dieser Lage der Hand ist nun verbunden : 1 ) daß kein Finger auf seinen Tasten fallen , oder ( wie es ebenfalls oft geschieht ) geworfen , sondern nur mit einem gewissen Gefühl der innern Kraft und Herrschaft über die Bewegung getragen werden darf. 2 ) Die so auf den Tasten
getragene Kraft , oder das Maaß des Drucks muß in gleicher Stärke unterhalten werden , und zwar so , daß der Finger nicht gerade aufwärts vom Tasten gehoben wird , sondern durch ein allmähliges Zurückziehen der Fingerspitzen nach der innern Fläche der Hand , auf dem vordern Theil des Tasten abgleitet . 3) Beym Uebergange von einem Tasten zum andern wird durch dieses Abgleiten das Maß von Kraft oder Druck , womit der erste Ton unterhalten worden ist , in der größten Geschwindigkeit auf den nächsten Finger geworfen , so daß nun die beyden Töne weder von einander gerissen werden , noch in einander klingen können . Der Anschlag derselben ist also , wie C. Ph. Emanuel sagt , weder zu lang noch zu kurz , sondern genau so wie er seyn muß .
Die Vortheile einer solchen Haltung der Hand und eines solchen Anschlags sind sehr mannigfaltig , nicht bloß auf dem Clavichord , sondern auch auf dem Pianoforte und auf der Orgel . Ich will nur einige der wichtigsten anführen . 1 ) Die gebogene Haltung der Finger macht jede ihrer Bewegungen leicht . Das Hacken , Poltern und Stolpern kann also nicht entstehen , welches man so häufig bey Personen findet , die mit ausgestreckten oder nicht genug gebogenen Fingern spielen . 2 ) Das Einziehen der Fingerspitzen nach sich , und das dadurch bewirkte geschwinde Uebertragen der Kraft des einen Fingers auf den zunächst darauf folgenden , bringt den höchsten Grad von Deutlichkeit im Anschlage der einzelnen Töne hervor , so daß jede auf diese Art vorgetragene Passage glänzend , rollend und rund klingt , gleichsam als wenn jeder Ton eine Perle wäre . Es kostet dem Zuhörer nicht die mindeste Aufmerksamkeit , eine so vorgetragene Passage zu verstehen . 3 ) Durch das Gleiten der Fingerspitze auf dem Tasten in einerley Maß von Druck wird der Saite gehörige Zeit zum Vibriren gelassen ; der Ton wird also dadurch nicht nur verschönert , sondern auch verlängert , und wir werden dadurch in den Stand gesetzt , selbst auf einem so Ton-armen Instrument , wie das Clavichord ist , sangbar und zusammenhängend spielen zu können . Alles dieß zusammen genommen hat endlich noch den überaus großen Vortheil , daß alle Verschwendung von Kraft durch unnütze Anstrengung und durch Zwang in den Bewegungen vermieden wird . Auch soll Seb. Bach mit einer so leichten und kleinen Bewegung der Finger gespielt haben , daß man sie kaum bemerken konnte . Nur die vordern Gelenke der Finger waren in Bewegung , die Hand behielt auch bey den schwersten Stellen ihre gerundete Form , die Finger hoben sich nur
wenig von den Tasten auf , fast nicht mehr als bey Trillerbewegungen , und wenn der eine zu thun hatte , blieb der andere in seiner ruhigen Lage . Noch weniger nahmen die übrigen Theile seines Körpers Antheil an seinem Spielen , wie es bey vielen geschieht , deren Hand nicht leicht genug gewöhnt ist .
Man kann indessen die angeführten Vortheile alle besitzen , und doch noch ein schwacher Clavierspieler seyn , so wie jemand eine völlig reine und schöne Aussprache haben , und doch noch ein schlechter Declamator oder Redner seyn kann . Um starker Spieler zu seyn , sind noch viele andere Vorzüge erforderlich , welche Bach ebenfalls in höchster Vollkommenheit besaß .
Der natürliche Unterschied der Finger an Größe , so wie an Stärke , verleitet sehr häufig die Clavierspieler , sich da , wo es nur irgend möglich ist , bloß der stärkern zu bedienen , und die schwächern zu vernachlässigen . Dadurch entsteht nicht nur eine Ungleichheit im Anschlage mehrerer auf einander folgender Töne , sondern sogar eine Unmöglichkeit , gewisse Sätze , wobey keine Auswahl der Finger Statt findet , heraus zu bringen . Joh. Seb. fühlte dieß bald , und um einer so fehlerhaften Bildung abzuhelfen , schrieb er sich besondere Stücke , wobey die Finger beyder Hände in den mannigfaltigsten Lagen nothwendig alle gebraucht werden mußten , wenn sie rein heraus gebracht werden sollten . Durch solche Uebungen bekamen alle seine Finger beyder Hände gleiche Stärke und Brauchbarkeit , so daß er nicht nur Doppelgriffe und alles Laufwerk mit beyden Händen , sondern auch einfache und Doppeltriller mit gleicher Leichtigkeit und Feinheit auszuführen vermochte . Sogar solche Sätze hatte er in seiner Gewalt , worin , während einige Finger trillern , die übrigen derselben Hand eine Melodie fortzuführen haben .
Zu allen diesem kam nun noch die von ihm ausgedachte neue Fingersetzung . Vor ihm und noch in seinen Jugendjahren , wurde mehr harmonisch als melodisch , auch noch nicht in allen 24 Tonarten gespielt . Weil das Clavier noch gebunden war , so daß mehrere Tasten unter eine einzige Saite schlugen , so konnte es noch nicht rein temperirt werden ; man spielte also nur aus solchen Tonarten , die sich am reinsten stimmen ließen . Von diesen Umständen kam es , daß selbst die damahligen größten Spieler den Daumen nicht eher gebrauchten , als bis er bey Spannungen durchaus unentbehrlich wurde . Da Bach nun anfing , Melodie und Harmonie so zu vereinigen , daß selbst seine Mittelstimmen
nicht bloß begleiten , sondern ebenfalls singen mußten , da er den Gebrauch der Tonarten theils durch Abweichung von den damahls auch in der weltlichen Musik noch sehr üblichen Kirchentönen , theils durch Vermischung des diatonischen und chromatischen Klanggeschlechts erweiterte , und nun sein Instrument so temperiren lernte , daß es in allen 24 Tonarten rein gespielt werden konnte ; so mußte er sich auch eine andere , seinen neuen Einrichtungen angemessenere Fingersetzung ausdenken , und besonders den Daumen anders gebrauchen , als er bisher gebraucht worden war . Einige haben behaupten wollen , Couperin habe in seinem 1716 heraus gekommenen Werk : l’ art de toucher le Clavecin , schon vor ihm dieselbe Fingersetzung gelehrt . Allein , theils war Bach um diese Zeit über 30 Jahre alt , und hatte seine Fingersetzung schon lange angewendet , theils ist auch die Applicatur Couperin’s von der Bachischen noch sehr verschieden , ob sie gleich den häufigern Gebrauch des Daumens mit ihr gemein hat . Ich sage nur : den häufigern ; denn in der Bachischen Fingersetzung wurde der Daumen zum Hauptfinger gemacht , weil ohne ihn in den sogenannten schweren Tonarten durchaus nicht fortzukommen ist ; bey Couperin hingegen nicht , weil er weder so mannigfaltige Passagen hatte , noch in so schweren Tonarten setzte oder spielte wie Bach , folglich auch keine so dringende Veranlassung dazu hatte . Man darf nur die Bachische Fingersetzung , so wie sie C. Ph. Emanuel entwickelt hat , mit Couperin’s Anweisung vergleichen , so wird man bald finden , daß sich mit der einen alle , auch die schwersten und vollstimmigsten Sätze rein und leicht heraus bringen lassen , mit der andern aber höchstens in Couperin's eigenen Claviercompositionen , und sogar auch da noch mit Schwierigkeit , durchzukommen ist . Uebrigens kannte Bach Couperin's Werke und schätzte sie so wie die Werke mehrerer französischer Claviercomponisten aus jenem Zeitraum , weil man eine nette und zierliche Spielart aus ihnen lernen kann . Doch hielt er sie auch für zu geziert , weil ein allzu häufiger Gebrauch von den Manieren darin gemacht wird , so daß fast keine Note von ihnen verschont bleibt . Außerdem hatten auch die darin enthaltenen Gedanken für ihn nicht genug Gehalt .
Aus der leichten , zwanglosen Bewegung der Finger , aus dem schönen Anschlage , aus der Deutlichkeit und Schärfe in der Verbindung auf einander folgender Töne , aus der vortheilhaften neuen Fingersetzung , aus der gleichen Bildung und Uebung aller
Finger beyder Hände , und endlich aus der großen Mannigfaltigkeit seiner melodischen Figuren , die in jedem seiner Stücke auf eine neue , ungewöhnliche Art gewendet sind , entstand zuletzt ein so hoher Grad von Fertigkeit und ( man könnte fast sagen ) Allgewalt über das Instrument in allen Tonarten , daß es nun für Seb . Bach fast keine Schwierigkeiten mehr gab . So wohl bey seinen freyen Fantasien , als beym Vortrag seiner Compositionen , in welchen bekanntlich alle Finger beyder Hände ununterbrochen beschäftigt sind , und so fremdartige ungewöhnliche Bewegungen machen müssen , als die Melodien derselben selbst fremdartig und ungewöhnlich sind , soll er doch eine solche Sicherheit gehabt haben , daß er nie einen Ton verfehlte . Auch besaß er eine so bewundernswürdige Fertigkeit im Lesen und Treffen anderer Clavierwerke ( die freylich sämmtlich leichter als die seinigen waren ) , daß er einst , als er noch in Weimar lebte , gegen einen seiner Bekannten äußerte , er glaube wirklich , es sey ihm möglich , alles ohne Anstoß beym ersten Anblick zu spielen . Er hatte sich aber geirrt . Der Bekannte , gegen den er sich so geäußert hatte , überzeugte ihn davon , ehe 8 Tage vergingen . Er lud ihn eines Morgens zum Frühstück zu sich , und legte auf den Pult seines Instruments außer andern Stücken auch eines , welches dem ersten Ansehen nach sehr unbedeutend zu seyn schien . Bach kam und ging seiner Gewohnheit nach sogleich zum Instrument , theils um zu spielen , theils um die Stücke durchzusehen , welche auf dem Pulte lagen . Während er diese durchblätterte und durchspielte , ging sein Wirth in ein Seitenzimmer , um das Frühstück zu bereiten . Nach einigen Minuten war Bach an das zu seiner Bekehrung bestimmte Stück gekommen und fing an , es durchzuspielen . Aber bald nach dem Anfange blieb er vor einer Stelle stehen . Er betrachtete sie , fing nochmahls an , und blieb wieder vor ihr stehen . Nein , rief er seinem im Nebenzimmer heimlich lachenden Freunde zu , indem er zugleich vom Instrument wegging : Man kann nicht alles wegspielen , es ist nicht möglich !
Nicht minder groß war seine Fertigkeit , Partituren zu übersehen und ihren wesentlichen Inhalt beym ersten Anblick auf dem Clavier vorzutragen . Auch neben einander gelegte einzelne Stimmen übersah er so leicht , daß er sie sogleich abspielen konnte . Dieses Kunststück machte er oft , wenn jemand etwa ein neues Trio oder Quartett für Bogeninstrumente bekommen hatte , und nun gern hören wollte , wie es klinge . Er konnte
ferner aus einer ihm vorgelegten , oft schlecht bezifferten einzelnen Baßstimme augenblicklich ein Trio oder Quartett abspielen ; ja er ging sogar bisweilen so weit , wenn er gerade fröhlicher Laune und im vollen Gefühl seiner Kraft war , zu 3 einzelnen Stimmen sogleich eine vierte zu extemporiren , also aus einem Trio ein Quartett zu machen . Zu solchen Künsten bediente er sich zweyer Claviere und des Pedals , oder eines mit einem Pedal versehenen Doppelflügels .
Am liebsten spielte er auf dem Clavichord . Die sogenannten Flügel , obgleich auch auf ihnen ein gar verschiedener Vortrag statt findet , waren ihm doch zu seelenlos , und die Pianoforte waren bey seinem Leben noch zu sehr in ihrer ersten Entstehung , und noch viel zu plump , als daß sie ihm hätten Genüge thun können . Er hielt daher das Clavichord für das beste Instrument zum Studiren , so wie überhaupt zur musikalischen Privatunterhaltung . Er fand es zum Vortrag seiner feinsten Gedanken am bequemsten , und glaubte nicht , daß auf irgend einem Flügel oder Pianoforte eine solche Mannigfaltigkeit in den Schattirungen des Tons hervor gebracht werden könne , als auf diesem zwar Ton-armen , aber im Kleinen außerordentlich biegsamen Instrument .
Seinen Flügel konnte ihm Niemand zu Dank bekielen ; er that es stets selbst . Auch stimmte er so wohl den Flügel als sein Clavichord selbst , und war so geübt in dieser Arbeit , daß sie ihm nie mehr als eine Viertelstunde kostete . Dann waren aber auch , wenn er fantasirte , alle 24 Tonarten sein ; er machte mit ihnen was er wollte . Er verband die entferntesten so leicht und so natürlich mit einander , wie die nächsten ; man glaubte , er habe nur im innern Kreise einer einzigen Tonart modulirt . Von Härten in der Modulation wußte er nichts ; seine Chromatik sogar war in den Uebergängen so sanft und fließend , als wenn er bloß im diatonischen Klanggeschlecht geblieben wäre . Seine nun schon gestochene sogenannte chromatische Fantasie kann beweisen , was ich hier sage . Alle seine freyen Fantasieen sollen von ähnlicher Art , häufig aber noch weit freyer , glänzender und ausdrucksvoller gewesen seyn .
Bey der Ausführung seiner eigenen Stücke nahm er das Tempo gewöhnlich sehr lebhaft , wußte aber außer dieser Lebhaftigkeit noch so viele Mannigfaltigkeit in seinen Vortrag zu bringen , daß jedes Stück unter seiner Hand gleichsam wie eine Rede sprach . Wenn er starke Affekten ausdrücken wollte , that er es nicht wie manche andere durch eine
übertriebene Gewalt des Anschlags , sondern durch harmonische und melodische Figuren , das heißt : durch innere Kunstmittel . Er fühlte hierin gewiß sehr richtig . Wie kann es Ausdruck einer heftigen Leidenschaft seyn , wenn jemand auf einem Instrument so poltert , daß man vor lauter Poltern und Klappern keinen Ton deutlich hören , viel weniger einen von dem andern unterscheiden kann ? –
IV .
Was im Vorhergehenden von Joh. Seb. Bachs vorzüglichem Clavierspielen gesagt worden ist , kann im Allgemeinen auch auf sein Orgelspielen angewendet werden . Das Clavier und die Orgel sind einander nahe verwandt . Allein Styl und Behandlungsart beyder Instrumente ist so verschieden , als ihre beyderseitige Bestimmung verschieden ist . Was auf dem Clavichord klingt oder etwas sagt , sagt auf der Orgel nichts , und so umgekehrt . Der beste Clavierspieler , wenn er nicht die Unterschiede der Bestimmung und der Zwecke beyder Instrumente gehörig kennt und zu beobachten weiß , wird daher stets ein schlechter Orgelspieler seyn , wie es auch gewöhnlich der Fall ist . Bis jetzt sind mir nur zwey Ausnahmen vorgekommen . Die eine macht Joh . Sebastian selbst , und die zweyte sein ältester Sohn , Wilh . Friedemann . Beyde waren feine Clavierspieler ; sobald sie aber auf die Orgel kamen , bemerkte man keinen Clavierspieler mehr . Melodie , Harmonie , Bewegung etc. alles war anders , das heißt : alles war der Natur des Instruments und seiner Bestimmung angemessen . Wenn ich Wilh . Friedemann auf dem Clavier hörte , war alles zierlich , fein und angenehm . Hörte ich ihn auf der Orgel , so überfiel mich ein heiliger Schauder . Dort war alles niedlich , hier alles groß und feyerlich . Eben so war es bey Joh. Sebastian , nur beydes in einem noch weit höhern Grad von Vollkommenheit . W. Friedemann war auch hierin nur ein Kind gegen seinen Vater , und erklärte sich mit aller Aufrichtigkeit selbst dafür . Schon die vorhandenen Orgelcompositionen dieses bewundernswürdigen Mannes sind voll von Ausdruck der Andacht , Feyerlichkeit und Würde ; aber sein freyes Orgelspiel , wobey durchs Niederschreiben nichts verloren ging , sondern alles unmittelbar aus der Fantasie ins Leben kam , soll noch andächtiger , feyerlicher , würdiger und erhabener gewesen
seyn . Worauf kommt es nun bey dieser Kunst hauptsächlich an ? Ich will davon sagen , was ich weiß ; aber manches kann nicht gesagt , sondern nur gefühlt werden .
Wenn man Bachs Claviercompositionen mit seinen Orgelcompositionen vergleicht , so bemerkt man , daß die in beyden befindliche Melodie und Harmonie ganz von verschiedener Art ist . Wir können hieraus schließen , daß es beym wahren Orgelspielen zunächst auf die Beschaffenheit der Gedanken ankommen müsse , deren sich der Organist bedient . Diese Beschaffenheit wird durch die Natur des Instruments , durch den Platz , an welchem es steht , und endlich durch den Zweck , der damit beabsichtigt wird , bestimmt . Der große Ton der Orgel ist seiner Natur nach nicht dazu geeignet , in geschwinden Sätzen gebraucht zu werden ; er erfordert Zeit , in dem weiten und freyen Raum einer Kirche verhallen zu können . Läßt man ihm diese Zeit nicht , so verwirren sich die Töne , und das Orgelspiel wird undeutlich und unverständlich . Die der Orgel und dem Platz angemessenen Sätze müssen also feyerlich langsam seyn ; höchstens kann beym Gebrauch einzelner Register , etwa in einem Trio etc. eine Ausnahme von dieser Regel gemacht werden . Die Bestimmung der Orgel zur Unterstützung des Kirchengesangs , und zur Vorbereitung und Unterhaltung andächtiger Gefühle durch Vor- und Nachspiele , erfordert ferner , daß die innere Zusammensetzung und Verbindung der Töne auf eine andere Art bewerkstelligt werde , als außer der Kirche geschieht . Das Gewöhnliche , Alltägliche kann nie feyerlich werden , kann nie ein erhabenes Gefühl erregen ; es muß daher auf alle Weise von der Orgel entfernt bleiben . Und wer ist hierin je gewissenhafter gewesen , als Bach ? Schon in seinen weltlichen Compositionen verschmähte er alles Gewöhnliche ; in seinen Orgelcompositionen hat er sich aber noch unendlich weiter davon entfernt , so daß er mir hier nicht mehr wie ein Mensch , sondern wie ein wahrer verklärter Geist vorkommt , der sich über alles Irdische hinauf geschwungen hat .
Die Mittel , deren er sich bediente , um zu einem so heiligen Styl zu gelangen , lagen in seiner Behandlungsart der alten sogenannten Kirchentonarten , in seiner getheilten Harmonie , im Gebrauch des obligaten Pedals und in seiner Art zu registriren . Daß die Kirchentonarten ihres Unterschieds wegen von unsern 12 Dur- und 12 Molltonarten zu fremdartigen , ungewöhnlichen Modulationen , so wie sie in die Kirche gehören , vorzüglich geschickt sind , kann jedermann erfahren , der nur die einfachen vierstimmigen
Choralgesänge von Joh. Sebastian untersuchen will . Was aber die getheilte Harmonie für Wirkung auf der Orgel thue , wird sich Niemand leicht vorstellen können , der nie ein so eingerichtetes Orgelspiel gehört hat . Es wird dadurch gleichsam ein Chor von 4 oder 5 Singstimmen in ihrem völlig natürlichen Umfange auf die Orgel übertragen . Man versuche auf einem Claviere folgende Accorde in getheilter Harmonie , ( s. die Kupfertafel , Fig. 1. ) und vergleiche dann , wie die folgende , ( Fig. 2. ) deren sich gewöhnliche Organisten zu bedienen pflegen , dagegen klingt , so wird man bald einsehen , was für eine Wirkung es machen müsse , wenn ganze Stücke auf solche Art mit 4 oder mehr Stimmen gespielt werden . Auf diese Art spielte nun Bach stets auf der Orgel , und bediente sich dabey noch außerdem des obligaten Pedals , von dessen wahrem Gebrauch nur wenige Organisten etwas wissen . Er gab mit dem Pedal nicht bloß Grundtöne oder diejenigen an , die bey gewöhnlichen Organisten der kleine Finger der linken Hand zu greifen hat , sondern er spielte eine förmliche Baß-Melodie mit seinen Füßen , die oft so beschaffen war , daß mancher mit 5 Fingern sie kaum heraus gebracht haben würde .
Zu allen diesem kam noch die eigene Art , mit welcher er die verschiedenen Stimmen der Orgel mit einander verband , oder seine Art zu registriren . Sie war so ungewöhnlich , daß manche Orgelmacher und Organisten erschraken , wenn sie ihn registriren sahen . Sie glaubten , eine solche Vereinigung von Stimmen könne unmöglich gut zusammen klingen ; wunderten sich aber sehr , wenn sie nachher bemerkten , daß die Orgel gerade so am besten klang , und nun etwas Fremdartiges , Ungewöhnliches bekommen hatte , das durch ihre Art zu registriren , nicht hervor gebracht werden konnte .
Diese ihm eigene Art zu registriren war eine Folge seiner genauen Kenntniß des Orgelbaues , so wie aller einzelnen Stimmen . Er hatte sich frühe gewöhnt , jeder einzelnen Orgelstimme eine ihrer Eigenschaft angemessene Melodie zu geben , und dieses führte ihn zu neuen Verbindungen dieser Stimmen , auf welche er außerdem nie verfallen seyn würde . Ueberhaupt entging dem scharfen Blicke seines Geistes nichts , was nur irgend auf seine Kunst Beziehung hatte , und zur Entdeckung neuer Kunstvortheile genutzt werden konnte . Seine Achtsamkeit auf die Ausnahme großer Musikstücke an Plätzen von verschiedener Beschaffenheit , sein sehr geübtes Gehör , mit welchem er in der vollstimmigsten und besetztesten Musik jeden noch so kleinen Fehler bemerkte , seine Kunst auf eine so
leichte Art ein Instrument rein zu temperiren , können zum Beweise dienen , wie scharf und umfassend der Blick dieses großen Mannes war . Als er im Jahr 1747 in Berlin war , wurde ihm das neue Opernhaus gezeigt . Alles was in der Anlage desselben in Hinsicht auf die Ausnahme der Musik gut oder fehlerhaft war , und was Andere erst durch Erfahrung bemerkt hatten , entdeckte er beym ersten Anblick . Man führte ihn in den darin befindlichen großen Speise-Saal ; er ging auf die oben herum laufende Gallerie , besah die Decke , und sagte , ohne fürs erste weiter nachzuforschen , der Baumeister habe hier ein Kunststück angebracht , ohne es vielleicht zu wollen , und ohne daß es Jemand wisse . Wenn nehmlich Jemand an der einen Ecke des länglicht viereckichten Saals oben ganz leise gegen die Wand einige Worte sprach , so konnte es ein Anderer , welcher übers Kreuz an der andern Ecke mit dem Gesichte gegen die Wand gerichtet stand , ganz deutlich hören , sonst aber Niemand im ganzen Saal , weder in der Mitte , noch an irgend einer andern Stelle . Diese Wirkung kam von der Richtung der an der Decke angebrachten Bogen , deren besondere Beschaffenheit er beym ersten Anblick entdeckte . Solche Beobachtungen konnten und mußten ihn allerdings auch auf Versuche führen , durch ungewöhnliche Vereinigung verschiedener Orgelstimmen vor und nach ihm unbekannte Wirkungen hervor zu bringen .
Die Vereinigung und Anwendung der angeführten Mittel auf die üblichen Formen der Orgelstücke brachte nun das große , feyerlich-erhabene , der Kirche angemessene , beym Zuhörer heiligen Schauder und Bewunderung erregende Orgelspiel Joh. Seb. Bachs hervor . Seine tiefe Kenntniß der Harmonie , sein Bestreben , alle Gedanken fremdartig zu wenden , um ihnen auch nicht die mindeste Aehnlichkeit mit der außer der Kirche üblichen Art musikalischer Gedanken zu lassen , seine der reichsten , unerschöpflichsten und stets unaufhaltsam fortströmenden Fantasie entsprechende Allgewalt über sein Instrument mit Hand und Fuß , sein sicheres und schnelles Urtheil , mit welchem er aus dem ihm zuströmenden Reichthum an Gedanken nur die zum gegenwärtigen Zweck gehörigen zu wählen wußte , kurz sein großes Genie , welches alles umfaßte , alles in sich vereinigte , was zur Vollendung einer der unerschöflichsten unerschöpflichsten Künste erforderlich ist , brachte auch die Orgelkunst so zur Vollendung , wie sie vor ihm nie war , und nach ihm schwerlich seyn wird . Quanz war hierin meiner Meynung . Der bewundernswürdige Joh. Seb. Bach ,
sagt er , hat endlich in den neuern Zeiten die Orgelkunst zu ihrer größten Vollkommenheit gebracht ; es ist nur zu wünschen , daß sie nach dessen Absterben wegen geringer Anzahl derjenigen , die noch einigen Fleiß darauf verwenden , nicht wieder verfallen oder gar untergehen möge .
Wenn Joh. Seb. Bach außer den gottesdienstlichen Versammlungen sich an die Orgel setzte , wozu er sehr oft durch Fremde aufgefordert wurde , so wählte er sich irgend ein Thema , und führte es in allen Formen von Orgelstücken so aus , daß es stets sein Stoff blieb , wenn er auch zwey oder mehrere Stunden ununterbrochen gespielt hätte . Zuerst gebrauchte er dieses Thema zu einem Vorspiel und einer Fuge mit vollem Werk . Sodann erschien seine Kunst des Registrirens für ein Trio , ein Quatuor etc. immer über dasselbe Thema . Ferner folgte ein Choral , um dessen Melodie wiederum das erste Thema in 3 oder 4 verschiedenen Stimmen auf die mannigfaltigste Art herum spielte . Endlich wurde der Beschluß mit dem vollen Werke durch eine Fuge gemacht , worin entweder nur eine andere Bearbeitung des erstern Thema herrschte , oder noch eines oder auch nach Beschaffenheit desselben zwey andere beygemischt wurden . Dieß ist eigentlich diejenige Orgelkunst , welche der alte Reinken in Hamburg schon zu seiner Zeit für verloren hielt , die aber , wie er hernach fand , in Joh. Seb. Bach nicht nur noch lebte , sondern durch ihn die höchste Vollkommenheit erreicht hatte .
Theils das Amt , in welchem Joh. Seb. stand , theils auch überhaupt der große Ruf seiner Kunst und Kunstkenntnisse verursachte , daß er sehr häufig zur Prüfung junger Orgel-Candidaten , und zur Untersuchung neu-erbauter Orgelwerke aufgefordert wurde . Er benahm sich in beyden Fällen so gewissenhaft und unpartheyisch , daß die Zahl seiner Freunde selten dadurch vermehrt wurde . Der ehemahlige Dänische Capellmeister Scheibe unterwarf sich in frühern Jahren ebenfalls einmahl seiner Prüfung bey einer Organistenwahl , fand aber dessen Ausspruch so ungerecht , daß er sich nachher in seinem kritischen Musikus durch einen heftigen Ausfall an seinem ehemahligen Richter zu rächen suchte . Mit seinen Orgeluntersuchungen ging es ihm nicht besser . Er konnte es eben so wenig über sich erhalten , ein schlechtes Instrument zu loben , als einen schlechten Organisten . Seine Orgelproben waren daher sehr streng , aber immer gerecht . Da er den Orgelbau so vollkommen verstand , so konnte er in keiner Sache dabey irre geführt werden . Das
erste , was er bey einer Orgeluntersuchung that , war , daß er alle klingende Stimmen anzog , und das volle Werk sodann so vollstimmig als möglich spielte . Hierbey pflegte er im Scherze zu sagen : er müsse vor allen Dingen wissen , ob das Werk eine gute Lunge habe . Sodann ging es an die Untersuchung einzelner Theile . Seine Gerechtigkeit gegen die Orgelbauer ging übrigens so weit , daß , wenn er wirklich gute Arbeit , und die dafür accordirte Summe zu geringe fand , so daß der Orgelbauer offenbar mit Schaden gearbeitet haben würde , er die Vorsteher zu angemessenen Nachschüssen zu bewegen suchte , und mehrere Mahle auch wirklich dazu bewog .
Nach geendigter Probe , besonders wenn das Werk darnach beschaffen war , und seinen Beyfall hatte , machte er gewöhnlich noch einige Zeit für sich und die Anwesenden von den oben erwähnten Orgelkünsten Gebrauch , und zeigte dadurch jedes Mahl aufs neue , daß er wirklich der Fürst aller Clavier- und Orgelspieler sey , wie ihn der ehemahlige Organist Sorge zu Lobenstein in einer Dedication einst genannt hat .
V .
Joh. Seb. Bachs erste Versuche in der Composition waren wie alle erste Versuche mangelhaft . Ohne einigen Unterricht , durch welchen ihm ein Weg vorgezeichnet worden wäre , der ihn allmählig von Stufe zu Stufe hätte führen können , mußte er es so wie alle diejenigen , die ohne Leitung eine solche Bahn betreten , anfänglich machen , wie es werden wollte . Auf dem Instrumente auf und ab laufen oder springen , beyde Hände dabey so voll nehmen , als die fünf Finger erlauben wollen , und dieses wilde Wesen so lange forttreiben , bis irgend ein Ruhepunkt zufälliger Weise erhascht wird , sind die Künste , welche alle Anfänger mit einander gemein haben . Sie können daher auch nur Fingercomponisten seyn ( oder Clavier-Husaren , wie sie Bach in seinen spätern Jahren nannte ) , das heißt : sie müssen sich von ihren Fingern vormachen lassen , was sie schreiben sollen , anstatt daß sie den Fingern vorschreiben müßten was sie spielen sollen . Bach blieb aber nicht lange auf diesem Wege . Er fing bald an zu fühlen , daß es mit dem ewigen Laufen und Springen nicht ausgerichtet sey , daß Ordnung , Zusammenhang und Verhältniß in die Gedanken gebracht werden müsse , und daß man zur Erreichung solcher
Zwecke irgend eine Art von Anleitung bedürfe . Als eine solche Anleitung dienten ihm die damahls neu herausgekommenen Violinconcerte von Vivaldi . Er hörte sie so häufig als vortreffliche Musikstücke rühmen , daß er dadurch auf den glücklichen Einfall kam , sie sämmtlich für sein Clavier einzurichten . Er studirte die Führung der Gedanken , das Verhältniß derselben unter einander , die Abwechselungen der Modulation und mancherley andere Dinge mehr . Die Umänderung der für die Violine eingerichteten , dem Clavier aber nicht angemessenen Gedanken und Passagen , lehrte ihn auch musikalisch denken , so daß er nach vollbrachter Arbeit seine Gedanken nicht mehr von seinen Fingern zu erwarten brauchte , sondern sie schon aus eigener Fantasie nehmen konnte . So vorbereitet , bedurfte es nun nur Fleiß und ununterbrochene Uebung , um immer weiter , und endlich auf einen Punkt zu kommen , auf welchem er sich nicht nur ein Kunst-Ideal erschaffen , sondern auch hoffen konnte , es mit der Zeit zu erreichen . An dieser Uebung ließ er es nie fehlen . Er arbeitete so anhaltend , und so emsig , daß er sogar häufig die Nächte zu Hülfe nahm . Was er am Tage geschrieben hatte , lernte er in der darauf folgenden Nacht spielen . Bei allem Fleiß , den er auf seine eigene Versuche wendete , unterließ er um diese Zeit doch nie , auch die Werke des Frescobaldi , Frobergers , Kerls , Pachelbels , Fischers , Struncks , Burtehudens Buxtehudens , Reinkens , Bruhns , Böhms und einiger alten französischen Organisten , die alle nach damahliger Art starke Harmonisten und Fugisten waren , mit der größten Aufmerksamkeit zu studiren .
Nicht nur der Charakter aller dieser Muster , welche meistens für die Kirche bestimmt waren , sondern hauptsächlich sein eigenes ernsthaftes Temperament führte ihn vorzüglich zur Bearbeitung des ernsthaften und hohen Styls in der Musik . Bey dieser Art von Musik läßt sich mit einer mäßigen Anzahl von Kunstausdrücken oder Tonverbindungen nicht viel ausrichten . Er wurde bald gewahr , daß der damahls vorhandene musikalische Sprachschatz erst vermehrt werden müsse , ehe das ihm vorschwebende Kunst-Ideal erreicht werden könne . Er sah die Musik völlig als eine Sprache , und den Componisten als einen Dichter an , dem es , er dichte in welcher Sprache er wolle , nie an hinlänglichen Ausdrücken zur Darstellung seiner Gefühle fehlen dürfe . Da nun wirklich in seiner Jugend die Kunstausdrücke wenigstens für seinen musikalischen Dichtergeist noch nicht in
hinlänglicher Anzahl vorhanden , auch außerdem noch nicht geschmeidig genug waren , so suchte er beyden Mängeln zunächst durch eine Behandlung der Harmonie abzuhelfen , die , so sehr sie auch ihrer eigentlichen Natur und Bestimmung angemessen ist , doch ihm allein eigen war .
So lange die Sprache der Musik noch bloß melodische Ausdrücke , oder bloß nach einander folgende Tonverbindungen hat , ist sie noch arm zu nennen . Durch hinzugefügte Baßtöne , wodurch ihr Verhältniß zu den Tonarten und den darin liegenden Accorden etwas minder zweydeutig wird , gewinnt sie nicht so wohl an Reichthum als an Bestimmtheit . Eine auf solche Art begleitete Melodie , wenn auch nicht bloß Baßtöne , sondern durch Mittelstimmen sogar die vollen Accorde angegeben waren , wurde von unsern Vorfahren mit Recht noch immer Homophonie genannt . Ganz anders verhält sichs , wenn zwey Melodien so mit einander verwebt werden , daß sie gleichsam wie zwey verschiedene Personen gleichen Standes und gleicher Bildung sich mit einander unterreden . Dort war die Begleitung untergeordnet , mußte der erstern als vornehmern Stimme nur dienen . Hier ist kein solcher Unterschied , und diese Art von Vereinigung zweyer Melodien gibt Veranlassung zu neuen Tonverbindungen und dadurch zur Vermehrung des Reichthums an Kunstausdrücken . So wie mehrere Stimmen hinzu gefügt , und auf eine eben so freye ununtergeordnete Art mit einander verwebt werden , nimmt der Reichthum an Kunstausdrücken noch mehr zu , und wird endlich , wenn verschiedenes Zeitmaß und die unendliche Mannigfaltigkeit der Rhythmen hinzu kommt , unerschöpflich . Die Harmonie ist also nicht bloß als Begleitung einer einfachen Melodie , sondern als eigentliches Vermehrungsmittel unserer Kunstausdrücke , oder unsers musikalischen Sprachreichthums zu betrachten . Sie muß aber auch alsdann , wenn sie ein solches Vermehrungsmittel seyn soll , nicht in bloßer Begleitung , sondern in der Verwebung mehrerer wirklichen Melodien bestehen , deren jede das Wort bald oben , bald in der Mitte und bald unten führt und führen kann .
Aus einer solchen Verwebung mehrerer Melodien , die alle so sangbar sind , daß jede zu ihrer Zeit als Oberstimme erscheinen kann , und wirklich erscheint , besteht die Joh. Seb. Bachische Harmonie in allen Werken , die er ungefähr von dem Jahre 1720 , oder von seinem 35sten Lebensjahre an , bis an sein Ende verfertiget hat . Er
übertrifft hierin alle Componisten der Welt . S. Kirnbergers Kunst des reinen Satzes , S. 157 . Wenigstens habe ich bey keinem von allen , deren Werke mir bekannt geworden sind , je etwas ähnliches gefunden . In seinen vierstimmigen Werken kann man sogar bisweilen die Ober- und Unterstimme weglassen , und bloß an beyden Mittelstimmen eine noch immer deutliche und sangbare Musik zu hören bekommen .
Um aber eine solche Harmonie hervor zu bringen , in welcher die einzelnen Stimmen im höchsten Grade geschmeidig und biegsam gegen einander seyn müssen , wenn sie alle einen freyen , fließenden Gesang haben sollen , bediente sich Bach ganz besonderer Mittel , die in den damahligen musikalischen Lehrbüchern noch nicht gelehrt wurden , die ihn aber sein großes Genie lehrte . Sie lagen in der großen Freyheit , die er dem Gange seiner Stimmen gab . Er übertrat dadurch alle hergebrachte und zu seiner Zeit für heilig gehaltene Regeln dem Scheine nach , aber nicht in der That . Denn er erfüllte ihren Zweck , der in nichts anderm als in der Beförderung reiner Harmonie und Melodie , oder successiven und coexistirenden Wohlklangs bestehen kann , aufs vollkommenste , nur auf ungewöhnlichen Wegen . Ich muß mich über diesen Gegenstand etwas näher erklären .
So wie es bey einzelnen Intervallen sehr fühlbar ist , ob ihre Folge steigen oder fallen muß , so ist es auch bey ganzen Phrasen oder bey einzelnen Theilen derselben , wenn sie von einigem Umfange sind , sehr merklich , nach welchem Ziele sie in Absicht auf Modulation , oder ihrem innern Sinne nach , streben . Dieses Vorgefühl eines gewissen Ziels kann jede Stimme durch andere Intervalle erregen . Soll aber jede Stimme einen freyen und fließenden Gesang erhalten , so müssen zwischen den Tönen , die das erwähnte Ziel vorher fühlbar machen können oder sollen , und denjenigen , mit welchen die Phrase angefangen worden ist , noch andere liegen , die den eben so zwischen beyden Hauptpuncten liegenden Tönen der übrigen Stimmen oft sehr entgegen sind , aber doch mit ihnen zugleich angeschlagen werden können . Dieß ist ein sogenannter Durchgang der Töne von der ausgedehntesten Art . Sie gehen sämmtlich von einer Stelle aus , trennen sich unterwegs , treffen aber genau am Ziele wieder zusammen . Dieser Art von Durchgang hat sich noch Niemand freyer bedient als Bach , um dadurch allen seinen einzelnen Stimmen
einen völlig freyen und fließenden Gesang zu verschaffen . Wenn nun seine Werke dieser Art nicht völlig leicht vorgetragen werden , so entstehen bisweilen zwischen dem Anfange und Ende einer Phrase große Härten , und man wird anfänglich geneigt , ihn einer Uebertreibung zu beschuldigen . Aber er hat nichts übertrieben ; denn wenn man erst so viel Kraft bekommt , sie ihrem wahren Charakter gemäß vorzutragen , so klingen sie nun desto schöner , und es werden sodann durch ihre zwar sonderbaren , aber doch natürlichen , Modulationen neue Gehörgänge in uns eröffnet , in die vorher noch nie ein Ton eingedrungen war .
Um jedoch auch im Einzelnen etwas von Bachs Art zu sagen , wie er die hergebrachten Regeln übertrat , bemerke ich , 1 ) daß er Octaven und Quinten machte , wenn sie wohl klangen , das heißt : wenn die Ursache ihres Verbots nicht mehr vorhanden war . Daß es Fälle giebt , in welchen sie wohl klingen , und daß sie nur dann vermieden werden müssen , wenn eine große Leerheit oder Nacktheit der Harmonie ( oder , wenn es Jemand lieber so nennen will , ein Harmonien-Sprung ) durch sie entsteht , weiß Jedermann . Aber Bachs Quinten und Octaven haben nie leer oder schlecht geklungen . Allein er machte auch hierin einen großen Unterschied . Unter gewissen Umständen konnte er sogar zwischen 2 Mittelstimmen nicht einmahl verdeckte Quinten und Octaven ertragen , die man doch sonst höchstens zwischen den beyden äußern Stimmen zu vermeiden sucht ; unter andern Umständen setzte er sie aber so offenbar hin , daß sie jedem Anfänger in der Composition ein Aergerniß gaben , sich aber dennoch bald rechtfertigten . Sogar in den spätern Verbesserungen seiner frühern Arbeiten hat er Stellen , die nach dem ersten Entwurf ohne Tadel waren , bloß um des größern Wohlklangs willen so verändert , daß wirklich offenbare Octaven zum Vorschein kamen . Ein solcher Fall findet sich unter andern vorzüglich im ersten Theil seines wohltemp . Claviers , in der Fuge aus dem E dur , zwischen dem 5ten und 4ten vorletzten Takt . Ich bedaure es bis diese Stunde , daß ich bey Durchsicht der Abschrift , nach welcher die Hoffmeister- und Kühnelsche Ausgabe gestochen worden ist , so schwach gewesen bin , bloß um dieser dem Wohlklange übrigens beförderlichen Octave willen , die alte Leseart stehen zu lassen , die zwar regelrecht , aber steif , ist . In der neuern Leseart ist lauter leichter , ungezwungener Gesang in allen 3 Stimmen . Welches ist besser ?
2 ) Jeder zufällig erhöhete Ton , so wie auch das Semitonium Modi kann der Regel nach nicht verdoppelt werden , weil der erhöhete Ton seiner Natur nach aufwärts steigen muß . Ist er verdoppelt , so muß er doppelt aufsteigen , folglich Octaven machen . Bach verdoppelte wirklich sehr oft nicht nur zufällig erhöhete Töne der Scala , sondern auch die Semitonia Modi , und machte doch keine Octaven . Solche Fälle finden sich gerade in seinen allerschönsten Werken . – Nicht als Uebertretung , sondern mehr als Erweiterung einer Regel könnte angesehen werden , daß er
3 ) der Meynung war , und darnach arbeitete , daß auf einem liegenden Grundtone alles angeschlagen werden könne , was im ganzen Tonvorrath in allen drey Klanggeschlechten vorhanden sey . Diese Sache gehört sonst eigentlich unter die so genannten Orgelpuncte , die gewöhnlich nichts anders als verzögerte Schlüsse sind . Bach hat sie aber auch im Laufe seiner Stücke angewendet , wovon besonders die letzte Gique seiner so genannten englischen Suiten ein merkwürdiges Beyspiel ist . Anfänglich will diese Gique gar nicht klingen ; sie wird aber nach und nach immer schöner , und das , was man bey noch unvollkommenem Vortrag für hart und rauh gehalten hat , fängt allmählich an , immer weicher , sanfter und angenehmer zu werden , bis man am Ende sich nicht satt daran hören und spielen kann .
Mit der eigenen Art von Harmonie , von welcher ich bisher geredet habe , hängt nun auch Bachs Modulation zusammen , die nicht minder von eigener Art ist . Der Begriff von Harmonie und Modulation läßt sich kaum trennen , so nahe sind beyde mit einander verwandt . Und doch sind sie verschieden . Unter Harmonie muß man nehmlich den Zusammenklang der verschiedenen Stimmen , unter Modulation aber den Fortgang derselben verstehen . Modulation kann also auch in einer einzigen Stimme statt finden ; Harmonie aber nur in vielen . Ich will versuchen , mich deutlicher zu erklären .
Bey den meisten Componisten findet man , daß ihre Modulation , oder wenn man lieber will , ihre Harmonie langsam fortschreitet . Bey sehr stark besetzten Musiken an großen Plätzen , wie z. B. in Kirchen , wo der große Ton nur langsam verhallen kann , zeugt diese Einrichtung unstreitig von der Klugheit eines Componisten , der seinem Werke gern die möglichst vortheilhafte Ausnahme verschaffen will . Aber bey der Instrumental- oder Kammermusik , ist jene langsame Fortschreitung wohl kein Beweis von Klugheit ,
sondern weit öfter ein Zeichen , daß es dem Componisten an gehörigem Reichthum der Gedanken gefehlt habe . Bach hat dieses alles gar wohl unterschieden . Seine sonst von Gedanken überströmende Fantasie wußte er in seinen großen Singwerken recht gut zurück zu halten ; in seinen Instrumentalwerken war aber diese Zurückhaltung nicht nöthig . Da er noch überdem nie für den großen Haufen arbeitete , sondern stets sein Kunst-Ideal , ohne alle Rücksicht auf Beyfall oder etwas ihm ähnliches , verfolgte , so hatte er gar keinen Grund , warum er weniger hätte geben sollen , als er hatte , und geben konnte . Auch hat er dieß nie gethan . Daher ist in der Modulation seiner Instrumentalstücke jede Fortschreitung ein neuer Gedanke , ein beständig fortgehendes Leben und Weben im innern Kreise der gewählten und nächst verwandten Tonarten . Er behält von der Harmonie , welche er hat , das meiste bey , mischt aber bey jeder Fortschreitung etwas verwandtes hinzu , und geht auf diese Weise bis ans Ende eines Stücks so sachte , so weich und allmählich vorwärts , daß kein Sprung oder harter Uebergang zu fühlen , und doch kein Takt ( ich möchte wohl sagen , kein Glied eines Taktes ) dem andern ähnlich ist . Jeder Uebergang mußte bey ihm mit dem vorhergehenden Gedanken in Beziehung stehen , und eine nothwendige Folge desselben zu seyn scheinen . Jene plötzlichen Ausfälle , womit manche Componisten ihre Zuhörer frappiren wollen , kannte er nicht , oder verschmähte sie vielmehr . Selbst in seiner Chromatik sind die Fortschreitungen so sanft und weich , daß man ihre oft sehr weiten Entfernungen kaum gewahr wird ; man glaubt , er habe sich nicht einen Schritt von seiner diatonischen Leiter entfernt . So wußte er alles aus dem ganzen Gebiete des Tonreichs zu vereinigen , was nur irgend mit einander in Beziehung gesetzt werden konnte .
VI.
Durch die Art , wie Joh. Seb. Bach die Harmonie und Modulation behandelte , mußte nun nothwendig auch seine Melodie eine eigene Gestalt annehmen . Bey der Vereinigung mehrerer zugleich mit einander fortlaufenden Melodien , welche sämmtlich singbar seyn sollen , kann keine einzelne so hervorstechend seyn , daß sie die Aufmerksamkeit des Zuhörers auf sich allein ziehen könnte . Dieses Hervorstechende müssen sie hier gleichsam
mit einander theilen , so daß bald die eine , bald die andere vorzüglich glänzen kann , deren Glanz aber dennoch von den neben ihnen herlaufenden , ebenfalls singenden Stimmen vermindert zu werden scheint , weil die Aufmerksamkeit des Zuhörers dadurch getheilt wird . Ich sage , vermindert zu werden scheint : denn im Grunde wird er nicht vermindert , sondern vielmehr erhöht , wenn der Zuhörer Uebung genug hat , das Ganze auf einmahl übersehen und fassen zu können . Viele halten dafür , die beste Melodie sey diejenige , welche sogleich von Jedermann gefaßt nachgesungen werden könne . Als Grundsatz kann diese Meynung gewiß nicht gelten . Denn sonst müßten die Volksmelodien , die häufig von Süden bis Norden von allen Menschenclassen bis zu Knechten und Mägden herunter gesungen werden , die schönsten und besten Melodien seyn . Ich würde den Satz umkehren , und sagen : diejenige Melodie , die von Jedermann sogleich nachgesungen werden kann , ist von der gemeinsten Art . So könnte er vielleicht eher als Grundsatz gelten .
Außerdem nöthigt eine solche Vereinigung mehrerer Stimmen den Componisten zu gewissen Wendungen in den einzelnen Melodien , zu welchen das homophonische Verfahren in der Composition nicht nöthigen kann . Eine einzelne Stimme braucht sich nirgends durchzudrängen ; mehrere aber müssen sich in ihrer Vereinigung bisweilen gar künstlich und fein drehen , biegen und schmiegen . Diese Nothwendigkeit des Durchdrängens veranlaßt daher ungewöhnliche , fremdartige , ganz neue , noch nie gehörte Wendungen in den Melodien , so wie sie wohl wenigstens eine von den Ursachen ist , warum überhaupt Bachs Melodien mit den Melodien anderer Componisten so wenig Aehnlichkeit haben , und sich so auffallend von allen unterscheiden . Wenn diese Fremdartigkeit nicht ins Unnatürliche oder in Schwulst ausartet , sondern mit fließender , wahrer Singbarkeit verbunden bleibt , so ist sie für denjenigen , der sie hervor zu bringen weiß , ein Verdienst mehr , und eigentlich das , was man Originalität nennt , die den einzigen Nachtheil hat , daß sie nicht fürs große Publikum , sondern nur für sehr gebildete Kenner brauchbar ist .
Nicht alle Bachische Melodien sind indessen von dieser Art. Obgleich überall dieselbe Originalität der Gedanken herrscht , so sind doch die Melodien seiner so genannten freyen Compositionen so offen , klar und deutlich , daß sie zwar anders klingen als die Melodien anderer Componisten , aber dennoch auch von den ungeübtesten Zuhörern verstanden , und ihres inwohnenden Geistes wegen sogar gefühlt werden können . Die meisten
Präludien aus seinem wohltemperirten Clavier , so wie die meisten Stücke aus seinen größern und kleinern Suiten sind von dieser Art .
So wie seine Melodie im Ganzen ein solches Gepräge von Originalität hat , so haben es auch seine so genannten Passagen im Einzelnen ; sie sind so neu , so ungewöhnlich und dabey so glänzend und überraschend , wie man sie bey keinem andern Componisten antrifft . In allen seinen Claviercompositionen finden sich Beyspiele hiervon ; in den großen Variationen , in dem ersten Theil der Clavierübung , in den englischen Suiten und in der chromatischen Fantasie aber die auffallendsten . Es kommt hierbey wiederum auf den Reichthum der Gedanken an . Da alle Passagen nichts als zergliederte Accorde sind , so müssen sie nothwendig desto reicher und fremdartiger an Inhalt werden , je reicher und fremdartiger die ihnen zum Grunde liegenden Accorde sind .
Wie weit Bachs Nachdenken und Scharfsinn in der Behandlung der Melodie und Harmonie ging , wie sehr er geneigt war , alle Möglichkeiten in beyden zu erschöpfen , beweiset auch sein Versuch , eine einzige Melodie so einzurichten , daß keine zweyte singbare Stimme dagegen gesetzt werden konnte . Man machte sich in jener Zeit zur Regel , daß jede Vereinigung von Stimmen ein Ganzes machen , und die zur vollständigen Angabe des Inhalts nothwendigen Töne so erschöpfen müsse , daß nirgends ein Mangel fühlbar sey , wodurch die Beyfügung noch einer Stimme etwa möglich werden könnte . Man hatte diese Regel bis auf Bachs Zeit bloß auf den 2–3 und 4 stimmigen Satz , und zwar überall noch sehr mangelhaft angewendet . Er that dieser Regel nicht nur im 2–3 und 4stimmigen Satz volle Genüge , sondern versuchte auch , sie auf den einstimmigen Satz auszudehnen . Diesem Versuch haben wir 6 Soli für die Violine und 6 andere für das Violoncell zu verdanken , die ohne alle Begleitung sind , und durchaus keine zweyte singbare Stimme zulassen . Durch besondere Wendungen der Melodie hat er die zur Vollständigkeit der Modulation erforderlichen Töne so in einer einzigen Stimme vereinigt , daß eine zweyte weder nöthig noch möglich ist .
Nicht Eigenschaft , sondern vielmehr eine Folge ihrer Eigenschaften ist es , daß die Bachische Melodie nie veraltet . Sie bleibt ewig schön und ewig jung , wie die Natur , aus welcher sie entsprungen ist . Alles , was Bach seinen frühern Arbeiten vom damahls herrschenden Zeitgeschmack beygemischt hat , ist nun veraltet ; wo er , wie in seinen spätern
Werken , die Melodien aus der innern Quelle der Kunst selbst , ohne Rücksicht auf Modeformen , entwickelt hat , ist alles noch so frisch und neu , als ob es erst seit gestern ins Leben gekommen wäre . Man wird wenig Compositionen von gleichem Alter finden , von welchen etwas ähnliches gesagt werden könnte . Selbst die Werke so Geistvoller Componisten , wie z. B. Reinhard Kaiser und Händel waren , sind früher veraltet , als man hätte glauben sollen , und als ihre Urheber wohl selbst geglaubt haben . Als Componisten fürs große Publicum waren sie genöthigt , dem herrschenden Zeitgeschmack nachzugeben , und Werke dieses Geschmacks können nicht länger dauern , als der Zeitgeschmack selbst . Nichts ist aber wandelbarer und veränderlicher , als jede Art des Zeitgeschmacks , so wie überhaupt alles , was Mode heißt . Bey Händel ist jedoch merkwürdig , daß seine Singfugen noch nicht veraltet sind , da hingegen von seinen Arien nur wenige noch anzuhören seyn möchten .
Die besondere Beschaffenheit der Bachischen Harmonie und Melodie war auch noch mit einem sehr ausgedehnten und in sich mannigfaltigen Gebrauch des Rhythmus verbunden . Bisher war nur vom innern oder logischen Verhältniß der harmonischen und melodischen Gedanken die Rede ; diese Gedanken erfordern aber auch ein äußeres oder ein rhythmisches Verhältniß , wodurch ihre an sich schon große Mannigfaltigkeit nicht nur noch mannigfaltiger , sondern auch Charaktervoller wird . Zur zweckmäßigen und leichten Handhabung der mannigfaltigen Rhythmen zu gelangen , hatten die Componisten in Bachs Zeitalter eine vortreffliche Gelegenheit durch die so genannten Suiten , welche damahls statt unserer Sonaten üblich waren . In solchen Suiten kamen zwischen den Präludien und Schluß-Giquen viele Französische Charakterstücke und Tanzmelodien vor , bey welchen es vornehmlich auf den Rhythmus ankam . Die Componisten mußten also von einer großen Menge Takt-Arten , Tonfüßen und Rhythmen , ( die jetzt großentheils ganz unbekannt geworden sind ) Gebrauch machen , und sehr gewandt darin werden , wenn sie jeder Tanzmelodie ihren bestimmten Charakter und Rhythmus geben wollten . Auch diesen Zweig der Kunst hat Bach viel weiter getrieben als irgend einer seiner Vorgänger oder Zeitgenossen . Keine Art von Zeitverhältniß ließ er unversucht und unbenutzt , um den Charakter seiner Stücke dadurch so verschieden als möglich zu modificiren . Er bekam zuletzt eine solche Gewandtheit darin , daß er im Stande war , sogar seinen Fugen bey
allem künstlichen Gewebe ihrer einzelnen Stimmen ein so auffallendes , charaktervolles , vom Anfange bis ans Ende ununterbrochenes und leichtes rhythmisches Verhältniß zu geben , als wenn sie nur Menuetten wären .
Ueberhaupt liegt eben die erstaunliche Kunst Bachs in dieser überall gleich leichten Anwendung der bisher erwähnten Kunstmittel . Die Kunstform , welche er wählte , mochte zu den leichtesten oder zu den schwersten gehören , seine Behandlung derselben war immer gleich leicht , gleich glücklich . Nirgends findet man eine Spur , daß ihm etwas schwer geworden sey . Er erreichte stets das Ziel , nach welchem er strebte . Alles ist vollendet , vollkommen in sich ; kein Ton kann vom Kenner anders gewünscht werden , als er gesetzt ist . Ich will das , was bisher gesagt worden ist , auf einige einzelne Kunstformen anwenden .
C. Ph. Emanuel sagt in der Vorrede zu den von ihm herausgegebenen vierstimmigen Choralgesängen seines Vaters , die Welt sey gewohnt gewesen , nichts als Meisterstücke von ihm zu sehen . Dieses Lob wurde zwar von einigen Recensenten für übertrieben gehalten ; es ist aber wirklich nicht übertrieben , wenn man es bloß auf diejenigen seiner Werke anwendet , die er von der oben angegebenen Periode an , das heißt in den Jahren seiner Reise gemacht hat . In mancher Gattung haben indessen andere Componisten ebenfalls Meisterstücke gemacht , die den seinigen in eben der Gattung mit Ehren an die Seite gesetzt werden können . So hat man z. B. Allemanden , Couranten etc. von Händel und noch einigen wenigen andern , die nicht minder schön , obgleich minder reich sind , als Bachische . Aber in der Fuge und in allen mit ihr verwandten Arten des Contrapuncts und Canons steht er ganz allein , und so allein , daß weit und breit um ihn herum alles gleichsam leer und wüste ist . Nie ist eine Fuge von irgend einem Componisten gemacht worden , die einer der seinigen an die Seite gesetzt werden könnte . Wer die Bachischen Fugen nicht kennt , wird sich nicht einmahl einen Begriff machen können , was eine wahre Fuge ist und seyn soll . In Fugen gewöhnlicher Art herrscht nichts als ein gewisser sehr unbedeutender Kunst-Schlendrian . Man nimmt ein Thema , giebt ihm einen Gefährten , versetzt beyde nach und nach in verwandte Tonarten , und läßt sie sodann von den ubrigen übrigen Stimmen in allen diesen Versetzungen mit einer Art von Generalbaßgriffen begleiten . Dieß giebt eine Fuge ; aber was für eine ? Es ist sehr begreiflich ,
daß Jemand , der nur solche Fugen kennen lernt , eben keinen hohen Begriff von der ganzen Gattung bekommen kann . Wie viel Kunst gehört denn dazu , eines solchen Schlendrians mächtig zu werden ?
Ganz anderer Art ist die Bachische Fuge . In ihr sind alle Forderungen erfüllt , die man sonst nur an freyere Compositionsgattungen zu machen wagt . Ein charaktervolles Thema ; ununterbrochen bloß aus demselben hergeleiteter , eben so charaktervoller Gesang vom Anfange bis ans Ende ; nicht bloß Begleitung in den übrigen Stimmen , sondern in jeder ein selbstständiger mit den andern einverstandener Gesang , wiederum vom Anfange bis ans Ende ; Freyheit , Leichtigkeit und Fluß im Fortgang des Ganzen ; unerschöpflicher Reichthum an Modulation , mit untadelhafter Reinheit verbunden ; Entfernung jeder willkührlichen , nicht zum Ganzen nothwendig gehörigen Note ; Einheit und Mannigfaltigkeit im Styl , im Rhythmus und in den Tonsüßen ; und endlich ein über alles verbreitetes Leben , wobey es dem Spieler oder Hörer bisweilen vorkommt , als wenn alle Töne in Geister verwandelt wären , dieß sind die Eigenschaften der Bachischen Fuge , Eigenschaften , die bey jedem Kenner , welcher weiß , was für ein Maaß von Geisteskraft zur Hervorbringung solcher Werke erforderlich ist , Bewunderung und Staunen erregen müssen . Sollte auch ein solches Kunstwerk , in welchem sich alles vereinigt , was in andern Compositionsgattungen , ihren veränderten Bestimmungen nach , vereinzelt wird , nicht vorzügliche Bewunderung verdienen ? Ich muß noch mehr sagen . Alle Bachische Fugen aus den Jahren seiner vollendeten Bildung haben die genannten Eigenschaften mit einander gemein , alle sind mit gleich großen Vorzügen ausgestattet , aber jede auf eine andere Art . Jede hat ihren eigenen , genau bestimmten Charakter , so wie ihre eigenen davon abhängenden Wendungen in Melodie und Harmonie . Wenn man daher eine kennt und vortragen kann , so kennt man wirklich nur eine , und kann auch nur eine vortragen , anstatt daß man Folianten voll Fugen vieler andern Componisten aus Bachs Zeitalter kennt und vortragen kann , sobald die Wendungen einer einzigen begriffen und der Hand geläufig geworden sind .
Zu solchen Eigenschaften und Vorzügen führen die contrapunctischen Künste , wenn sie recht , das heißt : wenn sie so gebraucht worden , wie sie Bach gebraucht hat . Durch sie lernte er aus einem gegebenen Satz eine ganze Folge gleichartiger und doch verschiedener
Melodien in allen Arten des Geschmacks und in allen Figuren entwickeln ; durch sie lernte er nicht bloß gut anfangen , sondern auch gut ausführen und vollenden ; durch sie wurde er der Harmonie und ihrer unendlichen Versetzungen so mächtig , daß er ganze Stücke von Note zu Note in allen Stimmen umkehren konnte , ohne dem fließenden Gesang oder dem reinen Satz den mindesten Abbruch zu thun ; durch sie lernte er die künstlichsten Canones in allen Intervallen und in allen Arten der Bewegung so leicht und fließend machen , daß nichts von der dabey angewendeten Kunst merkbar wird , daß sie vielmehr völlig wie freyere Tonstücke klingen ; durch sie ist er endlich in den Stand gesetzt worden , der Nachwelt eine große Anzahl von Kunstwerken der verschiedensten Art zu hinterlassen , die sämmtlich Muster der Kunst sind , und bleiben werden , so lange die Kunst selbst nicht untergehen wird . Es gibt Personen , die der Meynung sind , Bach habe nur die Harmonie vervollkommnet . Wenn man aber den richtigen Begriff von Harmonie hat , nach welchem sie ein Erweiterungs- oder Vermehrungsmittel der Kunstausdrücke ist , so kann sie nie ohne Melodie gedacht werden . Wenn sie nun gar so wie die Bachische eine vervielfältigte Melodie ist , so sehe ich nicht ein , wie man obiger Meynung seyn kann . Nach meinen Begriffen könnte man weit eher sagen , dieser oder jener habe nur die Melodie vervollkommnet , weil sogar schöne Melodie ohne Harmonie , aber keine schöne und wahre Harmonie ohne Melodie bestehen kann . Wer demnach die Harmonie vervollkommnet hat , hat das Ganze vervollkommnet , der Melodist aber nur einen Theil des Ganzen .
Das bisher Gesagte betrifft hauptsächlich Bachs Clavier- und Orgelcompositionen . Da sich aber die Kunst ihrer Anwendung nach in zwey Hauptzweige theilt , nehmlich in Instrumental- und Vocal-Musik , und Bach beyde bearbeitet hat , so wird man vielleicht gern auch noch einige Worte über seine Singcomposition lesen .
In Weimar fand er die erste Veranlassung , sich mit der Composition für den Gesang zu beschäftigen , als er zum Concertmeister ernannt wurde , und als solcher die Kirchenmusik in der dasigen Hofkirche zu besorgen bekam . Der Styl , dessen er sich in seinen Kirchenmusiken bediente , war wie der Styl seiner Orgelsachen , andächtig , feyerlich und völlig so , wie der Kirchenstyl seyn muß . Dabey hatte er den sehr richtigen Grundsatz , sich nicht auf den Ausdruck einzelner Worte , wodurch bloße Spielereyen entstehen , sondern nur auf den Ausdruck des ganzen Inhalts einzulassen . Seine Chöre sind durchgehends
voll Pracht und Feyerlichkeit . Sehr häufig wählte er eine Choralmelodie dazu , und ließ nach Motetten-Art die übrigen Stimmen um sie herum fugiren . Derselbe Reichthum der Harmonie , den man in seinen übrigen Werken findet , herrscht auch hier , nur den Singstimmen und der gewählten Instrumental-Begleitung angemessen . Seine Recitative sind gut declamirt und mit reichen Bässen versehen . Bey seinen Arien , unter welchen sich viele von der feinsten und ausdrucksvollesten Melodie finden , scheint er sich oft eingeschränkt und nach den Kräften seiner Sänger und Spieler gerichtet zu haben , die aber dessen ungeachtet ewige Klagen über die Schwierigkeiten derselben zu führen hatten . Wäre er so glücklich gewesen , lauter gute Ausführer seiner Kirchenarbeiten zu haben , so würden sie gewiß Eindrücke ihrer Vortrefflichkeit hinterlassen haben , und so wie seine andern Werke noch jetzt bewundert und genutzt werden . Der unerschöpfliche Schatz von Kunst , welcher in ihnen liegt , wäre einer längern Aufbewahrung gewiß werth gewesen .
Unter sehr vielen Gelegenheits-Musiken , die er in Leipzig verfertigt hat , gedenke ich nur zweyer Trauer-Cantaten , deren eine bey der Begräbniß-Feyer seines geliebten Fürsten Leopold zu Cöthen , die andere aber bey der Trauerrede auf den Tod der Königin von Pohlen und Churfürstin zu Sachsen , Christiane Eberhardine in der Paulinerkirche zu Leipzig aufgeführt wurde . Die erste enthält Doppelchöre von ungemeiner Pracht und vom rührendsten Ausdruck ; die zweyte hat zwar nur einfache Chöre , aber so anziehende , daß wer einmahl angefangen hat , einen durchzuspielen , nicht davon kommen wird , ohne ihn geendigt zu haben . Sie ist im October 1727 componirt .
Außer den bisher angezeigten Werken für den Gesang hat Bach auch sehr viele Motetten , hauptsächlich für das Chor der Leipziger Thomas-Schule gemacht . Dieses Chor hat stets gegen 50 , auch wohl bisweilen mehrere Sänger enthalten , für deren musikalische Bildung Bach väterlich sorgte , und ihnen durch ein- zwey- und mehrchörige Motetten so viel Uebung verschaffte , daß sie wenigstens sichere Treffer und reinliche Chorsänger werden konnten . Unter den zu diesem Zwecke bestimmten 2chörigen Motetten finden sich mehrere , die an Pracht , an Reichthum der Harmonie und Melodie , und an Leben und Geist alles übertreffen , was man von dieser Art hören kann . Sie sind aber , wie alle Bachische , oder vielmehr wie alle reiche , große Kunstwerke , schwer auszuführen , und müssen noch überdieß stark besetzt seyn , wenn sie ihre volle Wirkung thun sollen .
Dieß ist das Wichtigste von Bachs Werken für den Gesang . Für die kleinere , der geselligen Unterhaltung gewidmete Kunst hat er nichts , wenigstens gewiß nicht viel gethan , ein so geselliger und freundlicher Mann er auch sonst war . So soll er z.B. nie ein Lied gemacht haben . Dazu bedurfte es aber auch seiner nicht . Diese kleinen lieblichen Kunstblümchen werden deswegen doch nie ausgehen ; die Natur treibt sie allenfalls auch ohne besondere Pflege von selbst hervor .
VII.
Es giebt manche gute Componisten und geschickte Virtuosen für alle Instrumente , welche nicht im Stande sind , das , was sie wissen oder können , andere zu lehren . Sie haben mit der Uebung , durch welche ihre natürlichen Anlagen entwickelt wurden , entweder nicht hinlängliche Aufmerksamkeit verbunden , oder sie sind durch guten Unterricht auf dem geradesten Wege zu einem gewissen Ziel geführt worden , und haben das Nachdenken über die Ursachen , warum etwas so und nicht anders gemacht werden müsse , ihren Lehrern überlassen . Wenn solche Künstler wirklich gut unterrichtet sind , so kann ihre Ausübung für Anfänger lehrreich werden , aber unterrichten können sie eigentlich nicht . Der mühsame Weg des Selbstunterrichts , auf welchem sich der Lehrling tausendmahl verirrt , ehe er das Ziel entdeckt oder erreicht , ist vielleicht der einzige , der einen vollkommen guten Lehrer hervor bringen kann . Die öftern fruchtlosen Versuche und Verirrungen machen nach und nach mit dem ganzen Kunstgebieth bekannt , und jedes Hinderniß des Fortkommens wird entdeckt und vermeiden gelernt . Freylich ist dieser Weg der längere ; wer aber Kraft in sich hat , wird ihn dennoch vollenden , und zum Lohn seiner Anstrengungen sein Ziel auf einem desto anmuthigern Weg finden lernen . Alle diejenigen , welche je eine eigene Schule in der Musik gestiftet haben , sind auf solchen beschwerlichen Wegen dazu gelangt . Der von ihnen entdeckte neue , anmuthigere Weg war das , was ihre Schule von andern Schulen unterschied .
Eben so ist es mit der Bachischen Schule beschaffen . Ihr Urheber irrte lange umher , mußte erst ein Alter von mehr als 30 Jahren erreichen , und durch stete Anstrengungen an Kräften immer mehr wachsen , ehe er alle Schwierigkeiten und Hindernisse
überwinden lernte . Dafür hat er aber auch am Ende den schönsten und reizendsten Weg entdeckt , welchen es vielleicht im ganzen Kunstgebiethe giebt .
Nur derjenige , welcher viel weiß , kann viel lehren . Nur derjenige , welcher Gefahren kennen gelernt , selbst ausgestanden und überwunden hat , kann sie gehörig bemerklich machen , und seine Nachfolger mit Erfolg belehren , wie ihnen ausgewichen werden müsse . Beydes vereinigte sich bey Bach . Sein Unterricht wurde dadurch der lehrreichste , zweckmäßigste und sicherste , den es je gegeben hat , und alle seine Schüler traten , wenigstens in irgend einem Zweig der Kunst in die Fußtapfen ihres großen Meisters , ob gleich keiner ihn erreichte und noch viel weniger übertraf .
Ich will zuerst etwas über seinen Unterricht im Spielen sagen . Das erste , was er hierbey that , war , seine Schüler die ihm eigene Art des Anschlags , von welcher schon geredet worden ist , zu lehren . Zu diesem Behuf mußten sie mehrere Monathe hindurch nichts als einzelne Sätze für alle Finger beyder Hände , mit steter Rücksicht auf diesen deutlichen und saubern Anschlag , üben . Unter einigen Monathen konnte keiner von diesen Uebungen loskommen , und seiner Ueberzeugung nach hätten sie wenigstens 6 bis 12 Monathe lang fortgesetzt werden müssen . Fand sich aber , daß irgend einem derselben nach einigen Monathen die Geduld ausgehen wollte , so war er so gefällig , kleine zusammenhängende Stücke vorzuschreiben , worin jene Uebungssätze in Verbindung gebracht waren . Von dieser Art sind die 6 kleinen Präludien für Anfänger , und noch mehr die 15 zweystimmigen Inventionen . Beyde schrieb er in den Stunden des Unterrichts selbst nieder , und nahm dabey bloß auf das gegenwärtige Bedürfniß des Schülers Rücksicht . In der Folge hat er sie aber in schöne , ausdrucksvolle kleine Kunstwerke umgeschaffen . Mit dieser Fingerübung entweder in einzelnen Sätzen oder in den dazu eingerichteten kleinen Stücken , war die Uebung aller Manieren in beyden Händen verbunden .
Hierauf führte er seine Schüler sogleich an seine eigenen größern Arbeiten , an welchen sie , wie er recht gut wußte , ihre Kräfte am besten üben konnten . Um ihnen die Schwierigkeiten zu erleichtern , bediente er sich eines vortrefflichen Mittels , nehmlich : er spielte ihnen das Stück , welches sie einüben sollten , selbst erst im Zusammenhange vor , und sagte dann : So muß es klingen . Man kann sich kaum vorstellen , mit wie vielen Vortheilen diese Methode verbunden ist . Wenn durch das Vergnügen , ein solches Stück
in seinem wahren Charakter zusammenhängend vortragen zu hören , auch nur der Eifer und die Lust des Schülers angefeuert würde , so wäre der Nutzen schon groß genug . Allein dadurch , daß der Schüler nun auch auf einmahl einen Begriff bekommt , wie das Stück eigentlich klingen muß , und welchen Grad von Vollkommenheit er zu erstreben hat , wird der Nutzen noch ungleich größer . Denn so wohl das eine als das andere kann der Schüler ohne ein solches Erleichterungsmittel nur nach und nach , so wie er die mechanischen Schwierigkeiten allmählig überwindet , und vielleicht doch nur sehr unvollkommen kennen und fühlen lernen . Ueberdieß ist nun der Verstand mit in das Spiel gezogen worden , unter dessen Leitung die Finger weit besser gehorchen , als sie ohne dieselbe vermögen würden . Kurz , dem Schüler schwebt nun ein Ideal vor , welches den Fingern die im gegebenen Stücke liegenden Schwierigkeiten erleichtert , und mancher junge Clavierspieler , der kaum nach Jahren einen Sinn in ein solches Stück zu bringen weiß , würde es vielleicht in einem Monath recht gut gelernt haben , wenn es ihm nur ein einziges Mahl im gehörigen Zusammenhange und in gehöriger Vollkommenheit vorgespielt worden wäre .
So zweckmäßig und sicher Bachs Lehrart im Spielen war , so war sie es auch in der Composition . Den Anfang machte er nicht mit trockenen , zu nichts führenden Contrapuncten , wie es zu seiner Zeit von andern Musiklehrern geschah ; noch weniger hielt er seine Schüler mit Berechnungen der Tonverhältnisse auf , die nach seiner Meynung nicht für den Componisten , sondern für den bloßen Theoretiker und Instrumentenmacher gehörten . Er ging sogleich an den reinen vierstimmigen Generalbaß , und drang dabey sehr auf das Aussetzen der Stimmen , weil dadurch der Begriff von der reinen Fortschreitung der Harmonie am anschaulichsten gemacht wird . Hierauf ging er an Choräle . Bey diesen Uebungen setzte er selbst anfänglich die Bässe , und ließ von den Schülern nur den Alt und Tenor dazu erfinden . Nach und nach ließ er sie auch die Bässe machen . Ueberall sah er nicht nur auf die höchste Reinigkeit der Harmonie an sich , sondern auch auf natürlichen Zusammenhang und fließenden Gesang aller einzelnen Stimmen . Was für Muster er selbst in dieser Art geliefert hat , weiß jeder Kenner ; seine Mittelstimmen sind oft so sangbar , daß sie als Oberstimmen gebraucht werden könnten . Nach solchen Vorzügen mußten auch seine Schüler in diesen Uebungen streben , und ehe sie nicht einen hohen Grad von Vollkommenheit hierin erreicht hatten , hielt er es nicht für rathsam ,
sie eigene Erfindungen versuchen zu lassen . Ihr Gefühl für Reinigkeit , Ordnung und Zusammenhang in den Stimmen mußte erst an andern Erfindungen geschärft und gleichsam zu einer Gewohnheit werden , ehe er ihnen zutrauete , dieselben Eigenschaften ihren eigenen Erfindungen geben zu können .
Ueberdieß setzte er bey allen seinen Compositionsschülern die Fähigkeit , musikalisch denken zu können , voraus . Wer diese nicht hatte , erhielt von ihm den aufrichtigen Rath , mit der Composition sich nicht zu beschäftigen . Daher fing er auch so wohl mit seinen Söhnen als andern Schülern das Compositions-Studium nicht eher an , bis er Versuche von ihnen gesehen hatte , worin er diese Fähigkeit , oder das , was man musikalisches Genie nennt , zu bemerken glaubte . Wenn sodann die schon erwähnten Vorbereitungen in der Harmonie geendigt waren , nahm er die Lehre von den Fugen vor , und machte mit zweystimmigen den Anfang u. s.w . In allen diesen und andern Compositionsübungen hielt er seine Schüler strenge an , 1 ) ohne Clavier , aus freyem Geiste zu componiren . Diejenigen , welche es anders machen wollten , schalt er Clavier-Ritter . 2 ) Ein stetes Augenmerk so wohl auf den Zusammenhang jeder einzelnen Stimme für und in sich , als auf ihr Verhältniß gegen die mit ihr verbundenen und zugleich fortlaufenden Stimmen zu haben . Keine , auch nicht eine Mittelstimme durfte abbrechen , ehe das , was sie zu sagen hatte , vollständig gesagt war . Jeder Ton mußte seine Beziehung auf einen vorhergehenden haben ; erschien einer , dem nicht anzusehen war , woher er kam , oder wohin er wollte , so wurde er als ein Verdächtiger ohne Anstand verwiesen . Dieser hohe Grad von Genauigkeit in der Behandlung jeder einzelnen Stimme ist es eben , was die Bachische Harmonie zu einer vielfachen Melodie macht . Das unordentliche Untereinanderwerfen der Stimmen , so daß ein Ton , welcher in den Tenor gehört nun in den Alt geworfen wird , und umgekehrt ; ferner das unzeitige Einfallen mehrerer Töne bey einzelnen Harmonien , die , wie vom Himmel gefallen , die angenommene Anzahl der Stimmen auf einer einzelnen Stelle plötzlich vermehren , auf der folgenden Stelle aber wieder verschwinden , und auf keine Weise zum Ganzen gehören , kurz das , was Seb. Bach mit dem Worte Mantschen ( sudeln , Töne und Stimmen unordentlich unter einander mengen ) bezeichnet haben soll , findet sich weder bey ihm selbst , noch bey irgend einem seiner Schüler . Er sah seine Stimmen gleichsam als Personen an , die sich wie
eine geschlossene Gesellschaft mit einander unterredeten . Waren ihrer drey , so konnte jede derselben bisweilen schweigen und den andern so lange zuhören , bis sie selbst wiederum etwas Zweckmäßiges zu sagen hatte . Kamen aber auf Ein Mahl mitten in der besten Unterredung ein Paar unberufene und unbescheidene fremde Töne in ihre Mitte gestürzt , und wollten ein Wort , vielleicht gar nur eine Sylbe eines Worts ohne Verstand und Beruf mit einsprechen , so hielt dieß Bach für eine große Unordnung , und bedeutete seine Schüler , daß sie nie zu gestatten sey .
Bey aller Strenge dieser Art , gestattete er dennoch auf einer andern Seite seinen Schülern große Freyheiten . Sie durften im Gebrauch der Intervallen , in den Wendungen der Melodie und Harmonie alles wagen , was sie wollten und konnten , nur mußte nichts vorkommen , was dem musikalischen Wohlklang , oder der völlig richtigen , unzweydeutigen Darstellung des innern Sinnes , um deswillen alle Reinigkeit der Harmonie gesucht wird , nachtheilig seyn konnte . So wie er selbst hierin alle Möglichkeiten versucht hat , so sah er es auch gerne , wenn seine Schüler es thaten . Andere Compositionslehrer vor ihm , wie z.B. Berardi , Bononcini und Fux gestatteten nicht so viele Freyheiten . Sie waren bange , daß ihre Schüler dadurch in Gefahren verwickelt werden möchten , veranlaßten aber dadurch offenbar , daß sie auch nie Gefahren überwinden lernten . Die Lehrart Bachs ist daher gewiß zweckmäßiger und führt weiter . Auch schränkt er sich überhaupt nicht so wie seine Vorgänger bloß auf den reinen Satz an sich ein , sondern nimmt überall Rücksicht auf die noch übrigen Erfordernisse einer wirklich guten Composition , nehmlich auf Einheit des Charakters durch ein ganzes Stück , auf Verschiedenheit des Styls , auf den Rhythmus , auf Melodie etc . Wer die Bachische Lehrmethode in der Composition nach ihrem Umfange kennen lernen will , findet sie in Kirnbergers Kunst des reinen Satzes hinlänglich erläutert .
Endlich durften seine Schüler , so lange sie unter seiner musikalischen Aufsicht standen , außer seinen eigenen Compositionen nichts als classische Kunstwerke studiren und kennen lernen . Der Verstand , durch welchen das wahre Gute erst erkannt wird , entwickelt sich später als das Gefühl , nicht zu gedenken , daß auch selbst dieser durch häufige Beschäftigung mit unechter Kunst irre gemacht und verwöhnt werden kann . Gewöhnung an das Gute ist daher die beste Lehrart für die Jugend . Die Begriffe davon folgen mit
der Zeit nach , und können dann die Anhänglichkeit an lauter echte Kunstwerke immer mehr befestigen .
Alle seine Schüler sind bey dieser so vortrefflichen Lehrart ausgezeichnete Künstler geworden , obgleich einer mehr als der andere , je nachdem einer entweder früher in seine Schule kam , oder in der Folge Aufmunterung und Veranlassung zur fernern Ausbildung und Anwendung des von ihm erhaltenen Unterrichts fand . Seine beyden ältesten Söhne , Wilh . Friedemann und C. Ph. Emanuel , sind indessen doch die ausgezeichnetsten unter ihnen geworden , gewiß nicht , weil er ihnen bessern Unterricht als seinen übrigen Schülern ertheilt hat , sondern weil sie schon von ihrer ersten Jugend an Gelegenheit hatten , im väterlichen Hause nichts als gute Musik zu hören . Sie wurden also schon frühe , selbst ehe sie noch Unterricht erhielten , an das Vorzüglichste der Kunst gewöhnt , anstatt daß die übrigen , ehe sie seines Unterrichts theilhaft werden konnten , entweder noch nichts Gutes gehört hatten , oder durch gemeine Compositionen schon verwöhnt waren . Man kann übrigens die Güte der Schule daran erkennen , daß , ungeachtet solcher Nachtheile , auch selbst diese Bachischen Schüler dennoch sämmtlich einen hohen Kunstsinn erhalten und sich auf eine oder die andere Art ausgezeichnet haben . Es ist hier bloß die Rede von solchen Schülern , welche die Kunst zu ihrer Hauptbeschäftigung gemacht haben . Außer diesen hat Bach noch gar viele andere Schüler gehabt . Jeder in seiner Nähe lebende Dilettant wollte sich wenigstens rühmen können , den Unterricht eines so großen und berühmten Mannes genossen zu haben . Viele gaben sich auch für dessen Schüler aus , ohne es je gewesen zu seyn .
Sein ältester Schüler war Joh. Caspar Vogler , der seines Unterrichts schon in Arnstadt und Weimar genoß , und , selbst nach des Lehrers Zeugniß , ein sehr starker Orgelspieler geworden ist . Er wurde anfänglich Organist in Weimar , zuletzt aber mit Beybehaltung seiner Organisten-Stelle Burgermeister daselbst . Einige Choralvorspiele für 2 Claviere und Pedal von ihm , sind im Jahr 1737 in Kupfer gestochen worden .
Die übrigen merkwürdig gewordenen Bachischen Schüler waren :
1 ) Homilius in Dresden , nicht nur ein vortrefflicher Organist , sondern auch ein vorzüglicher Componist für die Kirche .
2 ) Transchel in Dresden . Er war ein seiner Clavierspieler und ein guter Musiklehrer . Man hat 6 Polonoisen fürs Clavier von ihm in Manuscript , die außer den Wilh . Friedemannischen vielleicht alle Polonoisen in der Welt übertreffen .
3 ) Goldberg aus Königsberg . Er war ein sehr starker Clavierspieler , aber ohne besondere Anlage zur Composition .
4) Krebs , Organist zu Altenburg . Er war nicht nur ein sehr guter Orgelspieler , sondern auch ein fruchtbarer Componist für Orgel , Clavier und Kirchenmusik . Er hatte Gelegenheit , Bachs Unterricht 9 Jahre lang zu genießen . Zur Bezeichnung seiner Vortrefflichkeit sagten zu seiner Zeit die witzigen Kunstliebhaber : es sey in einem Bach nur ein Krebs gefangen worden .
5 ) Altnikol , Organist zu Naumburg und Schwiegersohn seines Lehrers . Er soll ein starker Orgelspieler und Componist gewesen seyn .
6 ) Agricola , Preussischer Hof-Componist . Er ist weniger durch Compositionen als durch seine Kenntnisse in der Theorie der Musik bekannt . Tosi ’s Anweisung zum Singen hat er aus dem Italiänischen ins Deutsche übersetzt und mit sehr lehrreichen Anmerkungen begleitet .
7 ) Müthel in Riga . Er war ein starker Clavierspieler und Componist für sein Instrument . Sein gedrucktes Duett für 2 Claviere , so wie seine früher herausgekommenen Sonaten , können dieß beweisen .
8 ) Kirnberger , Hof-Musikus der Prinzessin Amalia von Preussen zu Berlin . Er war einer der merkwürdigsten unter Bachs Schülern , voll des nützlichsten Kunsteifers und wahren hohen Kunstsinnes . Außer der Entwickelung der Bachischen Lehrart in der Composition , hat ihm die musikalische Welt auch das erste und einzige haltbare System der Harmonie zu danken , welches er aus seines Lehrers praktischen Werken abstrahirt hat . Das eine that er in seiner Kunst des reinen Satzes , und das andere in den wahren Grundsätzen zum Gebrauch der Harmonie . Außerdem ist er der Kunst noch durch andere Schriften und Compositionen , so wie auch durch Lehren , nützlich geworden . Amalia selbst war seine Schülerin .
9 ) Kittel , Organist in Erfurt . Er ist ein sehr gründlicher ( obgleich nicht sehr fertiger ) Orgelspieler . Als Componist hat er sich durch mehrere Orgeltrios ausgezeichnet ,
die so vortrefflich sind , daß sich selbst sein Meister ihrer nicht geschämt haben würde . Er ist der einzige noch lebende Bachische Schüler .
10 ) Voigt in Anspach und ein Organist Schubert sind mir von C. Ph. Emanuel noch als Schüler seines Vaters genannt worden . Von beyden wußte er aber nichts näheres zu sagen , als daß sie erst ins väterliche Haus gekommen sind , nachdem er es schon verlassen hatte .
Ich habe oben gesagt , daß Bachs Söhne sich unter seinen Schülern am meisten ausgezeichnet haben . Der älteste , Wilh . Friedemann , kam in der Originalität aller seiner Gedanken seinem Vater am nächsten . Alle seine Melodien sind anders gewendet als die Melodien anderer Componisten , und doch nicht nur äußerst natürlich , sondern zugleich außerordentlich sein und zierlich . Fein vorgetragen , wie er selbst sie vortrug , müssen sie nothwendig jeden Kenner entzücken . Nur Schade , daß er mehr fantasirte und bloß in der Fantasie nach musikalischen Delicatessen grübelte , als schrieb . Die Anzahl seiner schönen Compositionen ist daher nicht groß .
C. Ph. Emanuel folgt zunächst auf ihn . Dieser kam frühe genug in die große Welt , um noch zu rechter Zeit zu bemerken , wie man für ein ausgebreitetes Publikum componiren müsse . Er nähert sich daher an Deutlichkeit und leichter Faßlichkeit seiner Melodien schon etwas dem Populären , bleibt aber noch vollkommen edel . Beyde älteste Söhne gestanden übrigens offenherzig : sie hätten sich nothwendig eine eigene Art von Styl wählen müssen , weil sie ihren Vater in dem seinigen doch nie erreicht haben würden .
Johann Christoph Friedrich , Bückeburgischer Concertmeister , ahmte die Manier Emanuels nach , erreichte seinen Bruder aber nicht . Er soll jedoch nach Wilh . Friedemanns Aussage unter den Brüdern der stärkste Spieler gewesen seyn , und seines Vaters Claviercompositionen am fertigsten vorgetragen haben .
Johann Christian , der sogenannte Mayländische , nachher Londonsche Bach hatte als jüngster Sohn zweyter Ehe das Glück nicht mehr , seines Vaters Unterricht zu genießen . Der Bachische Originalgeist ist daher in keinem seiner Werke zu finden . Er ist dagegen ein Volkscomponist geworden , der zu seiner Zeit allgemein beliebt war .
VIII .
Außer den großen Verdiensten , welche Bach in der Kunst als vollendeter Spieler , Componist und Musiklehrer hatte , besaß er auch das Verdienst , ein vorzüglich guter Hausvater , Freund und Staatsbürger zu seyn . Die Tugenden des Hausvaters bewies er durch seine Sorgfalt für die Bildung seiner Kinder , und die übrigen durch gewissenhafte Erfüllung gesellschaftlicher und bürgerlicher Pflichten . Sein Umgang war Jedermann angenehm . Wer nur irgend ein Kunstliebhaber war , er mochte fremd oder einheimisch seyn , konnte sein Haus besuchen , und sicher seyn , eine freundliche Aufnahme zu finden . Diese geselligen Tugenden mit seinem großen Kunstruf vereint , waren auch Ursache , daß sein Haus fast nie von Besuchen leer wurde .
Als Künstler war er außerordentlich bescheiden . Bey dem großen Uebergewicht , welches er über seine Kunstverwandte hatte , und gewiß fühlen mußte , bey der Bewunderung und Ehrerbiethung , die ihm täglich als so hervorragendem Künstler bewiesen wurde , hat man doch kein Beyspiel , daß er je irgend einen Anspruch darauf gebaut hätte . Wenn er bisweilen gefragt wurde , wie er es denn angefangen habe , der Kunst in einem so hohen Grade mächtig zu werden , antwortete er gewöhnlich : Ich habe fleißig seyn müssen ; wer eben so fleißig ist , der wird es eben so weit bringen können . Auf seine größern angebohrnen Gaben schien er nichts zu rechnen . Alle seine Urtheile über andere Künstler und ihre Werke waren freundlich und billig . Es mußte ihm nothwendig manches Kunstwerk klein vorkommen , da er sich ausschließend fast immer mit der höhern , größern Kunst beschäftigte ; dennoch hat er sich nie erlaubt , ein hartes Urtheil darüber zu äußern , es müßte denn gegen einen seiner Schüler gewesen seyn , welchen er reine , strenge Wahrheit schuldig zu seyn glaubte . Noch weniger hat er sich je durch das Gefühl seiner Kraft und Uebermacht verleiten lassen , ein herausfordernder musikalischer Renomist zu werden , wie dieß so häufig der Fall bey Spielern ist , die sich für stark halten , wenn sie einen schwächern vor sich zu sehen glauben . Seine Bescheidenheit ging hierin so weit , daß er selbst von dem musikalischen Wettstreit , welchen er gegen Marchand bestehen sollte , nie freywillig sprach , ob er gleich hier nicht Ausforderer , sondern der Aufgeforderte war . Die vielen zum Theil abentheuerlichen Fechterstreiche , die ihm nachgesagt werden , z.B. daß er bisweilen , als ein armer Dorffschulmeister gekleidet , in eine Kirche
gekommen sey , und den Organisten gebethen habe , ihn einen Choral spielen zu lassen , um sodann das durch sein Spielen erregte allgemeine Staunen der Anwesenden zu genießen , oder vom Organisten zu hören , er müsse entweder Bach oder der Teufel seyn etc. sind erdichtete Mährchen . Er selbst hat nie etwas davon wissen wollen . Auch hatte er zu viele wahre Kunst , als daß er solche Scherze mit ihr hätte treiben können . Ein Künstler wie Bach wirst sich nicht weg .
In musikalischen Gesellschaften , in welchen Quartette oder vollstimmigere Instrumentalstücke aufgeführt wurden , und er sonst nicht dabey beschäftigt war , machte es ihm Vergnügen , die Bratsche mit zu spielen . Er befand sich mit diesem Instrument gleichsam in der Mitte der Harmonie , aus welcher er sie von beyden Seiten am besten hören und genießen konnte . Wenn es in solchen Gesellschaften die Gelegenheit mit sich brachte , accompagnirte er auch bisweilen ein Trio oder sonst etwas mit dem Flügel . War er dann fröhlichen Geistes , und wußte , daß es der etwa anwesende Componist des Stücks nicht übel nehmen würde , so pflegte er , wie schon oben gesagt worden , entweder aus dem bezifferten Baß ein neues Trio , oder aus 3 einzelnen Stimmen ein Quartett aus dem Stegreif zu machen . Dieß sind aber wirklich die einzigen Fälle , wobey er gegen andere bewies , wie stark er war . Ein gewisser Hurlebusch aus Braunschweig , ein eingebildeter und übermüthiger Clavierspieler , besuchte ihn einst in Leipzig , nicht um ihn zu hören , sondern um sich hören zu lassen . Bach nahm ihn freundlich und höflich auf , hörte sein sehr unbedeutendes Spielen mit Geduld an , und als er beym Abschied den ältesten Söhnen ein Geschenk mit einer gedruckten Sammlung von Sonaten machte , mit der Ermahnung , daß sie sie recht fleißig studiren möchten , ( sie , die schon ganz andere Sachen studirt hatten ) lächelte er doch bloß in sich , und wurde gegen den Fremden nicht im mindesten unfreundlicher .
Er mochte gern fremde Musik hören . Wenn er nun in einer Kirche eine stark besetzte Fuge hörte , und einer seiner beyden ältesten Söhne stand etwa neben ihm , so sagte er stets vorher , sobald er die ersten Eintritte des Thema gehört hatte , was der Componist und von Rechts wegen anbringen müsse , und was möglicher Weise angebracht werden könne . Hatte nun der Componist gut gearbeitet , so trafen seine Vorhersagungen ein ;
dann freuete er sich , und stieß den Sohn an , um ihn aufmerksam darauf zu machen . Man sieht hieraus , daß er auch die Kunst Anderer schätzte .
Die Componisten , die er in seiner Jugend studirte , schätzte und liebte , sind schon genannt . In seinem spätern , völlig reisen Alter wurden sie aber verdrängt . Hingegen hielt er nun viel auf den ehemahligen Kaiserlichen Ober-Capellmeister Fux , auf Händel , auf Caldara , auf Reinh . Kayser , auf Hasse , beyde Graune , Telemann , Zelenka , Benda etc. überhaupt auf alles , was damahls in Dresden und Berlin am vorzüglichsten war . Die ersten vier , nehmlich Fux , Händel , Caldara und Kayser , kannte er nicht persönlich , die übrigen aber sämmtlich . Mit Telemann hatte er in seiner Jugend vielen Umgang . Händeln achtete er sehr hoch , und wünschte oft , ihn persönlich kennen zu lernen . Da Händel ebenfalls ein großer Clavier- und Orgelspieler war , so wünschten auch viele Musikfreunde in Leipzig und in der dortigen Gegend , beyde große Männer einmahl gegen einander zu hören . Aber Händel konnte nie die Zeit zu einer solchen Zusammenkunft finden . Er war dreymahl aus London zum Besuch nach Halle ( seiner Vaterstadt ) gekommen . Beym ersten Besuch , etwa im Jahr 1719 , war Bach noch in Cöthen , nur 4 kleine Meilen von Halle entfernt . Er erfuhr Händels Ankunft sogleich , und säumte keinen Augenblick , ihm unverzüglich seinen Besuch abzustatten ; aber gerade am Tage seiner Ankunft , reiste Händel wieder von Halle ab . Beym zweyten Händelschen Besuch in Halle ( zwischen 1730–1740. ) war Bach schon in Leipzig , aber krank . Er sandte aber , sobald er Händels Ankunft in Halle erfahren hatte , sogleich seinen ältesten Sohn , Wilh . Friedemann , dahin , und ließ Händeln aufs höflichste zu sich nach Leipzig einladen . Händel bedauerte aber , daß er nicht kommen könne . Beym dritten Händelschen Besuch , um das Jahr 1752 oder 1753 war Bach schon todt . Sein Wunsch , Händeln persönlich kennen zu lernen , wurde ihm also eben so wenig erfüllt , als der Wunsch vieler Musikfreunde , die ihn und Händel gern neben einander gesehen und gehört hätten .
In Dresden war die Capelle und die Oper , während Hasse Capellmeister dort war , sehr glänzend und vortrefflich . Bach hatte schon in frühern Jahren dort viele Bekannte , von welchen allen er sehr geehrt wurde . Auch Hasse nebst seiner Gattin , der berühmten Faustina , waren mehrere Mahle in Leipzig gewesen , und hatten seine
große Kunst bewundert . Er hatte auf diese Weise immer eine ausgezeichnet ehrenvolle Aufnahme in Dresden , und ging oft dahin , um die Oper zu hören . Sein ältester Sohn mußte ihn gewöhnlich begleiten . Er pflegte dann einige Tage vor der Abreise im Scherz zu sagen : Friedemann , wollen wir nicht die schönen Dresdener Liederchen einmahl wieder hören ? So unschuldig dieser Scherz an sich ist , so bin ich doch überzeugt , daß ihn Bach gegen keinen andern als gegen diesen Sohn geäußert haben würde , der um jene Zeit ebenfalls schon wußte , was in der Kunst groß , und was bloß schön und angenehm ist .
Was man in der Welt ein glänzendes Glück nennt , hat Bach nicht gemacht . Er hatte zwar ein einträgliches Amt , aber er hatte auch von den Einkünften des selben eine große Anzahl Kinder zu ernähren und zu erziehen . Andere Hülfsquellen hatte und suchte er nicht . Er war viel zu sehr in seine Geschäfte und in seine Kunst vertieft , als daß er diejenigen Wege hätte einschlagen mögen , auf welchen vielleicht für einen solchen Mann , wie er war , besonders in seiner Zeit , eine Goldgrube zu finden gewesen wäre . Wenn er hätte reisen wollen , so würde er , wie sogar einer seiner Feinde gesagt hat , die Bewunderung der ganzen Welt auf sich gezogen haben . Allein , er liebte ein häusliches , stilles Leben , eine stete , ununterbrochene Beschäftigung mit seiner Kunst , und war , wie schon von seinen Vorfahren gesagt worden ist , genügsam .
Ueberdieß gebrach es ihm in seinem Leben weder an Liebe und Freundschaft , noch an großer Ehre . Der Fürst Leopold in Cöthen , Herzog Ernst Augustin Weimar , und Herzog Christian in Weissenfels waren ihm mit herzlicher Liebe zugethan , die dem großen Künstler um so mehr werth seyn mußte , da diese Fürsten nicht bloß Freunde , sondern auch Kenner der Kunst waren . In Berlin und Dresden wurde er ebenfalls allgemein geachtet und verehrt . Wenn man hierzu noch die Bewunderung der Kenner und Liebhaber der Kunst rechnet , die ihn gehört oder seine Werke kennen gelernt hatten , so wird man leicht begreifen , daß ein Mann wie Bach , der nur „ sich und den Musensang “ auch aus den Händen des Ruhms alles erhalten hatte , was er sich wünschen konnte , und was für ihn mehr Reitz hatte , als die zweydeutigen Geschenke eines Ordensbandes oder einer goldenen Kette .
Daß er im Jahr 1747 Mitglied der von Mitzler gestifteten Societät der musikalischen Wissenschaften wurde , würde kaum bemerkt zu werden verdienen , wenn wir diesem Umstand nicht den vortrefflichen Choral : Vom Himmel hoch etc. zu verdanken hätten . Er übergab diesen Choral der Societät bey seinem Eintritt in dieselbe , und ließ ihn nachher in Kupfer stechen .
IX.
Um so vollendete Kunstwerke liefern zu können , wie sie uns Bach in mancherley Gattungen hinterlassen hat , mußte er nothwendig sehr viel componiren . Wer nicht täglich mit seiner Kunst beschäftigt ist , wird doch , wenn er auch das größte Genie von der Welt wäre , nie ein Werk zu Stande bringen , von welchem der Kenner sagen könnte , daß es durchgehends vollkommen und vollendet sey . Nur ununterbrochene Uebung kann zur wahren Meisterschaft führen . Wenn man aber alle Werke , die während solcher Uebungen hervor gebracht werden , für Meisterstücke halten wollte , weil endlich wirkliche Meisterwerke aus ihnen hervor gehen , so würde man sehr irren . Dieß ist auch der Fall bey Bachs Werken . Obgleich allerdings schon in seinen frühern Versuchen unverkennbare Spuren eines vorzüglichen Genies zu bemerken sind , so enthalten sie doch daneben so viel Unnützes , so viel Einseitiges , Wildes und Geschmackloses , daß sie wenigstens für das große Publicum der Aufbewahrung nicht werth sind , und höchstens für einen solchen Kunstfreund wichtig seyn können , der den Gang , welchen ein solches Genie vom Anfange seiner Ausbildung an genommen hat , näher kennen lernen will .
Zur Absonderung dieser Versuche oder Jugendübungen von den wahren Meisterwerken , hat uns Bach selbst zwey Mittel angegeben , und ein drittes haben wir an der Kunst der kritischen Vergleichung . Bey Erscheinung seines ersten Werks war er schon über vierzig Jahre alt . Was er in einem so reisen Alter der öffentlichen Bekanntmachung selbst werth hielt , hat gewiß die Vermuthung für sich , daß es gut ist . Wir können daher alle seine Werke , die er selbst durch den Stich bekannt gemacht hat , für vorzüglich gut halten .
Bey denjenigen seiner musikalischen Arbeiten , die nur in Abschriften verbreitet wurden , und die bey weitem die größere Anzahl ausmachen , müssen wir , um zu wissen , was davon der Aufbewahrung werth ist , unsere Zuflucht theils zur kritischen Vergleichung nehmen , theils auch zu dem zweyten Mittel , welches uns Bach selbst angegeben hat . Er legte nehmlich , so wie alle wirklich große Genies , niemahls die kritische Feile aus der Hand , um seine schönen Werke schöner , und die schönern zu den schönsten zu machen . Was von seinen frühern Werken nur irgend so angelegt war , daß es verbessert werden konnte , das verbesserte er . Dieser Verbesserungstrieb erstreckte sich sogar auf einige seiner gestochenen Werke . Es entstanden hieraus verschiedene Lesearten in ältern und neuern Abschriften , und alle diejenigen Stücke , welche man mit so verschiedenen Lesearten findet , hat er selbst ihrer ersten Anlage nach einer Verbesserung werth gehalten , und geglaubt , sie in wahre Kunstwerke umschaffen zu können . Ich rechne hieher das meiste , was er vor dem Jahre 1725 componirt hat , wie im nachher folgenden Verzeichniß näher angegeben werden soll . Sehr viele spätere Compositionen , die aber aus sehr begreiflichen Ursachen ebenfalls nur handschriftlich bekannt wurden , tragen das Gepräge ihrer Vollendung zu deutlich an sich , als daß ein Zweifel entstehen könnte , ob sie unter die Versuche oder unter die Arbeiten des schon vollkommenen Meisters zu zählen sind .
Bachs gestochene Werke sind folgende :
1 ) Clavierübung , bestehend in Präludien , Allemanden , Couranten , Sarabanden , Mauen , Menuetten und andern Galanterien , den Liebhabern zur Gemüthsergötzung verfertigt . Opus I . Im Verlag des Autors . 1731 . Dieses erste Werk besteht aus 6 Suiten , von welchen die erste im Jahr 1726 herauskam , und die übrigen einzeln nachfolgten , bis sie im Jahr 1731 zusammen gestochen wurden . Dieß Werk machte zu seiner Zeit in der musikalischen Welt großes Aufsehen ; man hatte noch nie so vortreffliche Claviercompositionen gesehen und gehört . Wer einige Stücke daraus recht gut vortragen lernte , konnte sein Glück in der Welt damit machen ; und noch in unserm Zeitalter wird sich ein junger Künstler Ehre damit erwerben können , so glänzend , wohlklingend , ausdrucksvoll und immer neu sind sie . In der neuen schon erschienenen Ausgabe haben sie den Titel : Exercices pour le Clavecin erhalten .
2 ) Clavierübung , bestehend in einem Concert nach Italiänischem Gusto , und einer Ouverture nach Französischer Art , für ein Clavicymbel mit zwey Manualen . Zweyter Theil . Im Verlag Christoph Weigels zu Nürnberg .
3 ) Clavierübung , bestehend in verschiedenen Vorspielen über die Catechismus- und andere Gesänge , für die Orgel , den Liebhabern und besonders den Kennern solcher Arbeit zur Gemüthsergötzung verfertigt . Dritter Theil . Im Verlag des Autors . Außer den für die Orgel bestimmten Präludien , Fugen und Vorspielen , die sämmtlich Meisterstücke der Kunst sind , enthält diese Sammlung auch noch vier Duette für ein Clavier , die als Muster von Duetten keine dritte Stimme zulassen .
4) Sechs Choräle von verschiedener Art , auf einer Orgel mit 2 Clavieren und Pedal vorzuspielen . Zella , am Thüringer Wald bey Joh. G. Schübler . Sie sind voll Würde und andächtigen Ausdrucks . Bey einigen derselben kann man sehen , wie Bach im Registriren von der gewöhnlichen Art abging . So gibt er z.B. im zweyten Choral : Wo soll ich fliehen hin etc. dem ersten Clavier 8 , dem zweyten 16 und dem Pedal 4 Fußton . Das Pedal hat nehmlich den Cantum firmum zu führen .
5 ) Clavierübung , bestehend in einer Arie mit verschiedenen Veränderungen fürs Clavicymbel mit 2 Manualen . Nürnberg , bey Balthasar Schmid . Dieß bewundernswürdige Werk besteht aus 30 Veränderungen , worunter Canones in allen Intervallen und Bewegungen vom Einklang bis zur None mit dem faßlichsten und fließendsten Gesange vorkommen . Auch ist eine regulaire 4 stimmige Fuge , und außer vielen andern höchst glänzenden Variationen für 2 Claviere , zuletzt noch ein sogenanntes Quodlibet darin enthalten , welches schon allein seinen Meister unsterblich machen könnte , ob es gleich hier bey weitem noch nicht die erste Partie ist .
Dieses Modell , nach welchem alle Variationen gemacht werden sollten , obgleich aus begreiflichen Ursachen noch keine einzige darnach gemacht worden ist , haben wir der Veranlassung des ehemaligen Russischen Gesandten am Chursächs . Hofe , des Grafen Kaiserling zu danken , welcher sich oft in Leipzig aufhielt , und den schon genannten Goldberg mit dahin brachte , um ihn von Bach in der Musik unterrichten zu lassen . Der Graf kränkelte viel und hatte dann schlaflose Nächte . Goldberg , der bey ihm im Hause wohnte , mußte in solchen Zeiten in einem Nebenzimmer die Nacht zubringen , um
ihm während der Schlaflosigkeit etwas vorzuspielen . Einst äußerte der Graf gegen Bach , daß er gern einige Clavierstücke für seinen Goldberg haben möchte , die so sanften und etwas muntern Charakters wären , daß er dadurch in seinen schlaflosen Nächten ein wenig aufgeheitert werden könnte . Bach glaubte , diesen Wunsch am besten durch Variationen erfüllen zu können , die er bisher , der stets gleichen Grundharmonie wegen , für eine undankbare Arbeit gehalten hatte . Aber so wie um diese Zeit alle seine Werke schon Kunstmuster waren , so wurden auch diese Variationen unter seiner Hand dazu . Auch hat er nur ein einziges Muster dieser Art geliefert . Der Graf nannte sie hernach nur seine Variationen . Er konnte sich nicht satt daran hören , und lange Zeit hindurch hieß es nun , wenn schlaflose Nächte kamen : Lieber Goldberg , spiele mir doch eine von meinen Variationen . Bach ist vielleicht nie für eine seiner Arbeiten so belohnt worden , wie für diese . Der Graf machte ihm ein Geschenk mit einem goldenen Becher , welcher mit 100 Louisd'or angefüllt war . Allein ihr Kunstwerth ist dennoch , wenn das Geschenk auch tausend Mahl größer gewesen wäre , damit noch nicht bezahlt . Noch muß bemerkt werden , daß in der gestochenen Ausgabe dieser Variationen einige bedeutende Fehler befindlich sind , die der Verf . in seinem Exemplar sorgfältig verbessert hat .
6 ) Einige kanonische Veränderungen über das Weihnacht-Lied : Vom Himmel hoch da komm ich her , für die Orgel mit 2 Clavieren und Pedal . Nürnberg , bey Balthasar Schmid . Es sind 5 Veränderungen , worin eine große Menge kanonischer Künste auf die zwangloseste Art angebracht ist .
7 ) Musicalisches Opfer , dem König von Preussen Friedrich II. zugeeignet . Das von dem König erhaltene Thema , von welchem schon geredet worden , ist hier erstlich als eine 3stimmige Clavierfuge unter dem Namen : Ricercar , oder mit der Aufschrift : Regis Iussu Cantio Et Reliqua Canonica Arte Resoluta , ausgeführt . Zweytens hat der Componist ein 6stimmiges Ricercar fürs Clavier daraus gemacht . Drittens folgen : Thematis regii elaborationes canonicae von mancherley Art. Endlich ist viertens ein Trio für die Flöte , Violine und den Baß über dasselbe Thema beygefügt .
8 ) Die Kunst der Fuge . Dieß vortreffliche , einzige Werk in seiner Art kam erst nach des Verfassers Tode im Jahr 1752 heraus , war aber noch bey seinem Leben Größtentheils durch einen seiner Söhne gravirt worden . Marpurg , damahls
am Ruder der musikalischen Schriftstellerey in Deutschland , begleitete die Ausgabe mit einer Vorrede , worin sehr viel Gutes und Wahres über den Werth und Nutzen solcher Kunstwerke gesagt ist . Aber diese Bachische Kunst der Fuge war doch für die große Welt zu hoch ; sie mußte sich in die kleine , mit sehr wenigen Kennern bevölkerte , Welt zurückziehen . Diese kleine Welt war sehr bald mit Abdrücken versorgt ; die Kupferplatten blieben ungenutzt liegen , und wurden endlich von den Erben als altes Kupfer verkauft . Wäre ein Werk dieser Art außerhalb Deutschland von einem so außerordentlich berühmten Mann , wie Bach , zum Vorschein gekommen , und noch außerdem durch einen Schriftsteller , der in diesem Fache öffentlichen Glauben hatte , als etwas Außerordentliches empfohlen worden , so würden aus bloßem Patriotismus vielleicht 10 Prachtausgaben davon vergriffen worden seyn . In Deutschland wurden nicht einmahl so viele einzelne Exemplare von einem solchen Werke abgesetzt , daß die dazu erforderlichen Kupferplatten mit deren Ertrag bezahlt werden konnten .
Das Werk besteht übrigens aus Variationen im Großen . Die Absicht des Verfassers war nehmlich , anschaulich zu machen , was möglicher Weise über ein Fugenthema gemacht werden könne . Die Variationen , welche sämmtlich vollständige Fugen über einerley Thema sind , werden hier Contrapuncte genannt . Die vorletzte Fuge hat 3 Themata ; im dritten gibt sich der Componist namentlich durch bach zu erkennen . Diese Fuge wurde aber durch die Augenkrankheit des Verfassers unterbrochen , und konnte , da seine Operation unglücklich ausfiel , nicht vollendet werden . Sonst soll er Willens gewesen seyn , in der allerletzten Fuge 4 Themata zu nehmen , sie in allen 4 Stimmen umzukehren , und sein großes Werk damit zu beschließen . Alle die in diesem Werke vorkommenden verschiedenen Gattungen von Fugen über einerley Hauptsatz , haben übrigens das gemeinschaftliche Verdienst , daß alle Stimmen darin gehörig singen , und keine weniger als die andere .
Zum Ersatz des Fehlenden an der letztern Fuge ist dem Werke am Schluß der 4 stimmig ausgearbeitete Choral : Wenn wir in höchsten Nöthen sind etc. beygefügt worden . Bach hat ihn in seiner Blindheit , wenige Tage vor seinem Ende seinem Schwiegersohn Altnikol in die Feder dictirt . Von der in diesem Choral liegenden Kunst will ich nichts sagen ; sie war dem Verf . desselben so geläufig geworden , daß er sie auch
in der Krankheit ausüben konnte . Aber der darin liegende Ausdruck von frommer Ergebung und Andacht hat mich stets ergriffen , so oft ich ihn gespielt habe , so daß ich kaum sagen kann , was ich lieber entbehren wollte , diesen Choral , oder das Ende der letztern Fuge .
9 ) Endlich sind nach Bachs Tode noch herausgekommen : Vierstimmige Choralgesänge , gesammelt von C. Ph. Em. Bach . Berlin und Leipzig , bey Birnstiel , 1765 . Erster Theil. Ebendas. 1769 . Zweyter Theil . Jeder Theil enthält 100 Choräle , die meistens aus des Verf . Kirchenjahrgängen genommen sind .
Später gab auch Kirnberger 4 Sammlungen solcher 4 stimmigen Choräle von Joh. Seb. Bach im Breitkopfischen Verlag heraus .
Die ungedruckten Werke Bachs können in Clavier- und Orgel-Sachen mit und ohne Begleitung , in Compositionen für Bogeninstrumente und für den Gesang unterschieden werden . Ich will sie nach ihrer natürlichsten Ordnung anzeigen .
I. Claviersachen .
1 ) 6 kleine Präludien zum Gebrauch der Anfänger .
2 ) 15 zweystimmige Inventiones . Man nannte einen musikalischen Sag , der so beschaffen war , daß aus ihm durch Nachahmung und Versetzung der Stimmen die Folge eines ganzen Stücks entwickelt werden konnte , eine Invention . Das übrige war Ausarbeitung und bedurfte , wenn man die Hülfsmittel der Entwickelung gehörig kannte , nicht erst erfunden zu werden . Diese 15 Inventionen sind zur Bildung eines angehenden Clavierspielers von großem Nutzen . Der Verf . hat darauf gesehen , daß dadurch nicht nur eine Hand wie die andere , sondern auch ein Finger wie der andere gebildet werden kann . Sie sind im Jahr 1723 zu Cöthen verfertigt , und führen ursprünglich den Titel : „ Aufrichtige Anleitung , womit den Liebhabern des Claviers eine deutliche Art gezeigt wird , mit zwey Stimmen rein spielen zu lernen , auch zugleich gute Inventiones zu bekommen und sie gut durchzuführen , am allermeisten aber eine cantable Art im Spielen , und einen starken Vorschmack von der Composition zu erlangen . “
In mehrere dieser Inventionen hatten sich anfänglich einige steife und unedele Wendungen der Melodie , auch einige andere Mängel eingeschlichen . Bach , der sie ihrer B
Anlage nach auch in spätern Jahren sehr brauchbar für seine Schüler fand , nahm ihnen nach und nach alles , was nach seinem gereinigtern Geschmack nicht taugte , und machte am Ende wahre ausdrucksvolle Meisterstücke daraus , die deswegen ihren Nutzen für Hand-Finger- und Geschmacksbildung nicht verloren haben . Durch ein sorgfältiges Studium derselben kann man sich zu den größern Stücken Joh. Seb. Bachs am besten vorbereiten .
3 ) 15 dreystimmige Inventiones , die auch unter dem Namen Sinfonien bekannt sind . Sie haben einerley Zweck mit den vorhergehenden , sollen nur weiter führen .
4 ) Das wohltemperirte Clavier , oder Präludien und Fugen durch alle Töne . Zum Nutzen und Gebrauch der lehrbegierigen musikalischen Jugend , wie auch den in diesem Studio schon habil seyenden zum besondern Zeitvertreib aufgesetzt und verfertigt . Erster Theil . 1722 . Der zweyte Theil dieses Werks , welcher ebenfalls 24 Präludien und 24 Fugen aus allen Tönen enthält , ist später verfertigt . Er besteht vom Anfang an bis ans Ende aus lauter Meisterstücken . Im ersten Theil hingegen befinden sich noch einige Präludien und Fugen , welche das Unreife früher Jugend an sich tragen , und von dem Verf. wahrscheinlich nur beybehalten sind , um die Zahl vier und zwanzig voll zu haben . Doch auch hier hat er mit der Zeit gebessert , wo nur irgend zu bessern war . Er hat ganze Stellen entweder weggeworfen , oder anders gewendet , so daß nun nach den neuern Abschriften nur wenige Stücke übrig sind , denen man den Vorwurf der Unvollkommenheit noch machen kann . Ich rechne unter diese wenigen die Fugen aus A moll , G dur und Moll , C dur , F dur und moll etc . Die übrigen hingegen sind sämmtlich vortrefflich , und einige sogar in einem so hohen Grade vortrefflich , daß keine derselben den im 2ten Theil enthaltenen nachzusetzen ist . Auch selbst der vom Anfang an vollkommenere zweyte Theil hat in der Folge große Verbesserungen erhalten , wie man durch Vergleichung älterer und neuerer Abschriften sehen kann . Uebrigens ist in beyden Theilen dieses Werks ein Schatz von Kunst enthalten , der gewiß nur in Deutschland gefunden wird .
5 ) Chromatische Fantasie und Fuge . Unendliche Mühe habe ich mir gegeben noch ein Stück dieser Art von Bach aufzufinden . Aber vergeblich . Diese
Fantasie ist einzig und hat nie ihres Gleichen gehabt . Ich erhielt sie zuerst von Wilh . Friedemann aus Braunschweig . Einer seiner und meiner Freunde , der gerne Knittelverse machte , schrieb auf ein beygelegtes Blatt :
Anbey kommt an
Etwas Musik von Sebastian ,
Sonst genannt : Fantasia chromatica ;
Bleibt schön in alle Saecula .
Sonderbar ist es , daß diese so außerordentlich kunstreiche Arbeit auch auf den allerungeübtesten Zuhörer Eindruck macht , wenn sie nur irgend reinlich vorgetragen wird .
6 ) Eine Fantasie . ( Fig. 3. ) Sie ist nicht von der Art der vorhergehenden , sondern wie ein Sonaten-Allegro in 2 Theile getheilt , und muß in einerley Bewegung und Tact vorgetragen werden . Sonst ist sie vortrefflich . In ältern Abschriften findet man eine Fuge angehängt , die aber nicht dazu gehören kann , auch nicht ganz vollendet ist . ( Fig. 4. ) Daß aber wenigstens die ersten 30 Tacte von Seb. Bach sind , kann nicht bezweifelt werden , denn sie enthält einen äußerst gewagten Versuch , verminderte und vergrößerte Intervalle nebst ihren Umkehrungen in einer 3 stimmigen Harmonie zu gebrauchen . So etwas hat außer Bach nie Jemand gewagt . Was nach den ersten 30 Tacten folgt , scheint von einer andern Hand beygefügt zu seyn , denn es trägt kein Merkmahl Sebastianischer Art an sich .
7) Sechs große Suiten , bestehend in Präludien , Allemanden , Couranten , Sarabanden , Giquen etc . Sie sind unter dem Namen der Englischen Suiten bekannt , weil sie der Componist für einen vornehmen Engländer gemacht hat . ( Fig. 5. ) Sie sind alle von großem Kunstwerth ; aber einige einzelne Stücke derselben , z.B. die Giquen der 5ten und 6ten Suite sind als höchste Meisterstücke origineller Melodie und Harmonie zu betrachten . ( Fig. 6. und 7. )
8) Sechs kleine Suiten , bestehend in Allemanden , Couranten etc . Man nennt sie gewöhnlich Französische Suiten , weil sie im Französischen Geschmack geschrieben sind . Seinem Zweck nach ist hier der Componist weniger gelehrt als in seinen andern Suiten , und hat sich meistens einer lieblichen , mehr hervorstechenden Melodie bedient . Insbesondere verdient die 5te Suite in dieser Rücksicht bemerkt zu werden , in welcher
sämmtliche einzelne Stücke von der sanftesten Melodie sind , so wie in der letzten Gique nichts als consonirende Intervalle , insbesondere aber Sexten und Terzen gebraucht werden .
Dieß sind die vorzüglichsten Clavierwerke Joh. Seb. Bachs , welche durchgehends für klassisch gehalten werden können . Eine große Menge einzelner Suiten , Toccaten und Fugen , die noch außer ihnen vorhanden sind , haben zwar alle auf eine oder die andere Art vielen Kunstwerth , gehören aber dennoch unter seine Jugendübungen . Höchstens 10 bis 12 einzelne Stücke aus dieser Menge sind der Aufbewahrung werth , einige , weil sie als Fingerübungen von großem Nutzen seyn können , auch ursprünglich vom Verfasser dazu bestimmt waren , andere , weil sie wenigstens besser sind , als ähnliche Werke von vielen andern Componisten . Als Fingerübung für beyde Hände rechne ich vorzüglich hieher eine Fuge aus A moll , worin es der Componist recht darauf angelegt hat , durch ununterbrochenes Laufwerk beyden Händen gleiche Kraft und Geläufigkeit zu verschaffen . ( Fig. 9. ) Für Anfänger könnte eine kleine 2 stimmige Fuge noch brauchbar seyn , die sehr sangbar ist , und dabey nichts Veraltetes enthält . ( Fig. 10. )
II. Claviersachen mit Begleitung anderer Instrumente .
1) Sechs Sonaten fürs Clavier mit Begleitung einer obligaten Violine . Sie sind zu Cöthen verfertigt , und können in dieser Art unter Bachs erste Meisterstücke gerechnet werden . Sie sind durchgehends fugirt ; auch einige Canones zwischen dem Clavier und der Violine kommen darin vor , die äußerst sangbar und Charaktervoll sind . Die Violinstimme erfordert einen Meister . Bach kannte die Möglichkeiten dieses Instruments und schonte es eben so wenig , als er sein Clavier schonte . Dis Tonarten dieser 6 Sonaten sind : H moll , A dur , E dur , C moll , F moll und G dur .
2) Viele einzelne Sonaten für den Flügel mit Begleitung der Violine , der Flöte , der Viola da Gamba etc. alle vortrefflich gearbeitet , und so , daß sie meistens noch in unsern Tagen von Kennern mit Vergnügen gehört werden könnten .
3 ) Concerte für den Flügel , mit Begleitung vieler Instrumente . Sie sind ohngeachtet des darin liegenden Kunstreichthums in Rücksicht auf Form und übrige Einrichtung veraltet .
4) Zwey Concerte für zwey Claviere , mit Begleitung zweyer Violinen , der Bratsche und des Violoncells . ( Fig. 11. und 12. ) Das erste ist sehr alt , das zweite aber so neu , als wenn es erst gestern componirt worden wäre . Es kann ganz ohne Begleitung der Bogeninstrumente bestehen , und nimmt sich sodann ganz vortrefflich aus . Das letzte Allegro ist eine streng und Prachtvoll gearbeitete Fuge . Auch diese Gattung hat Bach zuerst vervollkommnet , vielleicht gar zuerst versucht . Mir ist wenigstens nur ein einziger Versuch dieser Art von einem andern Componisten bekannt geworden , der vielleicht älter seyn könnte . Wilh. Hieronymus Pachelbel zu Nürnberg hat ihn in einer so genannten Toccata gemacht . Allein theils war Pachelbel ein Zeitgenosse Bachs , könnte also leicht durch ihn zu seinem Versuch veranlaßt worden seyn ; theils ist auch sein Versuch so beschaffen , daß er kaum in Betracht kommen kann . Ein Instrument spielt die vorgespielten Sätze des andern bloß nach , ohne im mindesten dagegen zu certiren . Ueberhaupt scheint es , als wenn Bach um diese Zeit alles habe versuchen wollen , was sich mit vielen und wenigen Stimmen ausrichten lasse . So wie er bis zu einer einstimmigen Musik herunterstieg , worin alles zur Vollständigkeit erforderliche zusammen gedrängt war , so stieg er nun hinauf , um so viele an sich schon reiche Instrumente mit einander zu verbinden , als nur möglich seyn könnte . Von seinen Concerten für zwey Claviere ging er nun zur Vereinigung dreyer Claviere über , von welcher Art man ebenfalls
5) Zwey Concerte mit Begleitung von 4 Bogeninstrumenten hat . ( Fig. 13. und 14 . ) Bey diesen Concerten ist merkwürdig , daß außer der harmonischen Verwebung und beständigen Concertation der 3 Hauptinstrumente , auch die Bogeninstrumente ihr eigenes Wesen unter einander treiben . Man begreift die Kunst kaum , die bey dieser Arbeit angewendet worden ist . Wenn man nun noch hinzu denkt , daß diese so kunstreichen Werke zugleich so sein , Charakter- und Ausdrucksvoll sind , als wenn der Componist nur eine einfache Melodie zu handhaben gehabt hätte , wie dieß besonders der Fall im Concert aus D moll ist , so weiß man kaum , was man vor Verwunderung sagen soll . Und doch war dieß für Bach noch nicht genug . Er machte auch einen Versuch mit einem
6 ) Concert für 4 Claviere , mit 4 Bogeninstrumenten begleitet . ( Fig. 15 . ) Von der Wirkung dieses Concerts kann ich nicht urtheilen , da es mir nie gelungen ist ,
4 Instrumente und 4 Spieler dazu zusammen zu bringen . Daß es aber vortrefflich gearbeitet sey , läßt sich aus der Vergleichung der einzelnen Stimmen sehen .
III. Orgelsachen .
Das Pedal ist ein wesentliches Stück der Orgel ; durch dieses allein wird sie über alle andere Instrumente erhoben , indem das Prachtvolle , Große und Majestätische derselben davon abhängt . Ohne Pedal ist dieses große Instrument nicht mehr groß , sondern nähert sich den kleinen Positiven , die in den Augen des Kenners keinen Werth haben . Aber die große , mit dem Pedal versehene Orgel muß so behandelt werden , daß ihr Umfang erschöpft wird , das heißt : der Spieler und Componist muß alles von ihr fordern , was sie leisten kann . Noch Niemand hat dieß mehr gethan , als J. S. Bach , nicht bloß durch seine reiche , dem Instrumente angemessene Melodie und Harmonie , sondern auch dadurch , daß er dem Pedal seine eigene Stimme gab . Dieß that er schon in seinen frühern Compositionen . Er wurde aber dieser Art von Behandlung des Pedals erst mit der Zeit recht mächtig , so daß seine ganz vollendeten Meisterstücke hierin ebenfalls erst in den Zeitpunct fallen , in welchem seine Clavierarbeiten anfingen , Meisterwerke zu werden . Seiner Vorarbeiten , durch welche er zu diesem Ziel gelangen mußte , sind eine große Menge in der Welt verbreitet . Sobald ein Künstler anfängt , sich auszuzeichnen , will jedermann etwas von ihm besitzen . Ehe er aber seine Laufbahn ganz vollenden kann , ist die Neugierde des Publicum's gewöhnlich schon gestillt , besonders wenn er sich durch ungewöhnliche Vervollkommnung von den Begriffen desselben allzusehr entfernt . Dieß scheint mit Bach der Fall gewesen zu seyn . Daher kommt es , daß gerade seine vollendetsten Werke weit weniger verbreitet sind , als seine frühern Vorübungen . Da diese letztern auf keine Weise in einer kritischcorrecten Ausgabe seiner Werke aufgenommen werden können , so verzeichne ich auch hier nur diejenigen Werke , welchen eine solche Aufnahme gebührt , so wie ich in den vorhergehenden Artikeln gethan habe .
Die besten Orgelcompositionen Joh. Seb. Bachs theilen sich demnach in drey Classen , in welchen enthalten sind :
1 ) Große Präludien und Fugen mit obligatem Pedal . Die Anzahl derselben läßt sich nicht genau bestimmen ; doch glaube ich , daß sie nicht über ein Dutzend steigen wird .
Wenigstens habe ich mit allen meinen vieljährigen Nachforschungen an den besten Quellen ihrer nicht mehr als 12 zusammen bringen können , deren Themata ich hier verzeichnen will . ( Fig. 16 . ) Zu diesen setze ich noch eine sehr kunstreich gearbeitete Passacaglia ( Fig. 17. ) , die aber mehr für zwey Claviere und Pedal als für die Orgel ist .
2 ) Vorspiele über die Melodien verschiedener Choralgesänge . Schon in Arnstadt fing Bach an , solche Choräle mit Variationen unter dem Titel : Partite diverse auszuarbeiten . Sie konnten aber meistens mit dem bloßen Manual gespielt werden . Diejenigen , von welchen hier die Rede ist , erfordern hingegen nothwendig das obligate Pedal . Ihre Zahl mag wohl an 100 hinansteigen ; wenigstens besitze ich selbst ihrer mehr als 70 , und weiß , daß hier und dort noch mehrere derselben vorhanden sind . Man kann nichts würdigeres , erhabeneres und heiligeres hören , als diese Vorspiele . Sie können aber hier nicht verzeichnet werden , weil ihrer zu viele sind . Außer diesen größern Vorspielen hat man noch eine große Menge kürzere und leichtere , die ebenfalls bloß in Abschriften verbreitet und für angehende Organisten bestimmt sind .
3) Sechs Sonaten oder Trio für zwey Claviere mit dem obligaten Pedal . Bach hat sie für seinen ältesten Sohn , Wilh . Friedemann , aufgesetzt , welcher sich damit zu dem großen Orgelspieler vorbereiten mußte , der er nachher geworden ist . Man kann von ihrer Schönheit nicht genug sagen . Sie sind in dem reifsten Alter des Verfassers gemacht , und können als das Hauptwerk desselben in dieser Art angesehen werden . Die Themata derselben s. Fig. 18. Mehrere einzelne , die noch hier und da verbreitet sind , können ebenfalls schön genannt werden , ob sie gleich nicht an die erst genannten reichen .
IV. Instrumentalsachen .
Es gibt wenige Instrumente , für welche Bach nicht etwas componirt hat . Zu seiner Zeit wurde in der Kirche während der Communion gewöhnlich ein Concert oder Solo auf irgend einem Instrument gespielt . Solche Stücke setzte er häufig selbst , und richtete sie immer so ein , daß seine Spieler dadurch auf ihren Instrumenten weiter kommen konnten . Diese Stücke sind aber meistens verloren gegangen . Dagegen sind uns
zwey Hauptwerke von anderer Art und Bestimmung aufbehalten worden , die den Verlust jener wahrscheinlich reichlich ersetzen können , nemlich :
1 ) 6 Violinsolo , ohne alle Begleitung , und
2 ) 6 Violoncellsolo , ebenfalls ohne alle Begleitung .
Die Violinsolos wurden lange Jahre hindurch von den größten Violinisten allgemein für das beste Mittel gehalten , einen Lehrbegierigen seines Instruments völlig mächtig zu machen . Die Violoncell-Solos sind in dieser Rücksicht von gleichem Werth .
V. Sing-Compositionen .
1) Fünf vollständige Jahrgänge von Kirchenstücken auf alle Sonn- und Festtage .
2) Fünf Passionsmusiken , unter welchen eine zweychörige ist .
3) Viele Oratorien , Missen , Magnificat , einzelne Sanctus , Geburts- Namenstags- und Trauermusiken , Brautmessen , Abendmusiken , auch einige italiänische Cantaten .
4) Viele ein- und zweychörige Motetten .
Die meisten dieser Werke sind aber nun zerstreut . Die Jahrgänge wurden nach des Verfassers Tode unter die ältern Söhne vertheilt , und zwar so , daß Wilh . Friedemann das meiste davon bekam , weil er in seiner damahligen Stelle zu Halle den meisten Gebrauch davon machen konnte . Seine nachherigen Umstände nöthigten ihn , das , was er erhalten hatte , nach und nach zu veräußern . Von den übrigen größern Singwerken ist ebenfalls nichts mehr beysammen . Bloß von den doppelchörigen Motetten sind noch 8 bis 10 vorhanden ; aber ebenfalls nicht in einer , sondern in mehrern Händen . In dem an das Joachimsthalische Gymnasium zu Berlin vermachten musikalischen Nachlaß der Prinzessin Amalia von Preussen , befindet sich von Bachischen Singcompositionen vielleicht noch am meisten beysammen , obgleich ebenfalls nicht viel . Ich habe daselbst gefunden :
1 ) 21 Kirchen-Cantaten . In einer derselben über den Text : Schlage doch , gewünschte Stunde etc. hat der Componist obligate Glocken angebracht . Es läßt sich hieraus
schließen , daß wenigstens diese Cantate nicht in die Zeit seines gereinigten Geschmacks gehört .
2 ) 2 fünfstimmige Missen . Mit starker Instrumentalbegleitung .
3 ) Eine zweychörige Misse . Der erste Chor ist mit Saiten- und der zweyte mit Blase-Instrumenten begleitet .
4 ) Eine zweychörige Passion . Der Text ist von Picander .
5 ) Ein Sanctus mit 4 Stimmen , und Instrumentalbegleitung .
6 ) Eine 4 stimmige Motette : Aus tiefer Noth schrey ich zu dir etc .
7 ) Eine 5 stimmige Motette : Jesu , meine Freude etc .
8) Vier 8 stimmige oder 2chörige Motetten , a ) Fürchte dich nicht , ich bin bey dir etc. b ) Der Geist hilft unserer Schwachheit auf etc. c ) Komm , Jesu , komm etc. d ) Singet dem Herrn ein neues Lied etc .
9 ) Eine einzelne Fuge für 4 Stimmen : Nimm was dein ist , und gehe hin etc .
10 ) Eine Cantate mit Recitativen , Arien , einem Duett und einem Chor . Ist eine Bauern-Cantate .
Dieser letztgenannten Cantate ist eine Nachricht , und der zweychörigen Misse unter Num. 3. eine Erklärung der in ihr enthaltenen großen Kunst von Kirnbergers Hand beygefügt .
X .
Es ist schon mehrere Mahle der großen Sorgfalt gedacht worden , mit welcher Bach sein ganzes Leben hindurch an seinen Werken zu verbessern suchte . Ich habe Gelegenheit gehabt , viele Abschriften seiner Hauptwerke aus verschiedenen Jahren mit einander zu vergleichen , und ich muß gestehen , daß ich mich oft über die Mittel gewundert und gefreut habe , deren er sich bediente , um nach und nach das Fehlerhafte gut , das Gute besser und das Bessere zum Allerbesten zu machen . Nichts kann für einen Kenner , so wie für jeden eifrigen Kunstbeflissenen , lehrreicher seyn , als solche Vergleichungen . Es wäre daher sehr zu wünschen , daß der Ausgabe der sämmtlichen Bachischen Werke am Ende ein Heft beygefügt werden könnte , bloß um darin die wichtigsten und lehrreichsten Varianten
aus seinen besten Werken zu sammeln , und zur Vergleichung neben einander zu siegen . Warum sollte so etwas bey den Werken des Componisten , des Dichters in Tönen nicht eben so gut geschehen können , als bey den Werken des Dichters in Worten ?
In seinen frühern Arbeiten war Bach wie andere Anfänger sehr oft in dem Fall , einerley Gedanken mehrere Mahle , nur mit andern Worten zu wiederhohlen , das heißt : dieselbe Modulation wurde vielleicht in einer tiefern , vielleicht in eben derselben Octave , oder auch mit einer andern melodischen Figur wiederhohlt . Eine solche Armuth konnte er in reifern Jahren nicht ertragen ; was er also von dieser Art fand , wurde ohne Bedenken verworfen , das Stück mochte auch schon in so vielen Händen seyn , oder so vielen gefallen haben , als es wollte . Zwey der merkwürdigsten Beyspiele hiervon sind die beyden Präludien aus C dur und Cis dur im ersten Theil des wohltemp . Claviers . Beyde sind dadurch zwar um die Hälfte kürzer , aber auch zugleich von allem unnützen Ueberfluß befreyt worden .
In andern Stücken sagte Bach oft zu wenig . Sein Gedanke war also nicht vollständig ausgedrückt , und bedurfte noch einiger Zusätze . Hiervon ist mir als das merkwürdigste Beyspiel unter allen das Präludium in D moll aus dem 2ten Theil des wohlt . Claviers vorgekommen . Ich besitze vielerley verschiedene Abschriften dieses Stücks . In der ältesten fehlt die erste Versetzung des Thema in den Baß , so wie noch manche andere Stelle , die zur vollständigen Darstellung des Gedankens erforderlich war . In der zweyten ist die Versetzung das Thema in den Baß , so oft es in verwandten Tonarten vorkommt , eingeschaltet . In der dritten sind auch andere Sätze vollständiger ausgedrückt und in bessern Zusammenhang gebracht worden . Endlich waren noch einige Wendungen oder Figuren der Melodie übrig , die dem Geist und Styl des Ganzen nicht anzugehören schienen . Diese sind in der vierten Abschrift so gebessert , daß nun dieses Präludium zu einem der schönsten und tadellosesten im ganzen wohlt . Clavier geworden ist . Mancher hatte sein Wohlgefallen schon an der ersten Einrichtung desselben , und hielt die nachherige Umschaffung für weniger schön . Bach ließ sich aber dadurch nicht irre machen ; er besserte so lange daran , bis es ihm gefiel .
Im Anfang des verflossenen Jahrhunderts war es Mode , auf Instrumenten einzelne Töne so mit Laufwerk zu überhäufen , wie man seit einiger Zeit wieder anfängt , es
im Gesange zu thun . Bach bewies der Mode seine Achtung dadurch , daß er ebenfalls einige Stücke in dieser Art componirte . Eines derselben ist das Präludium in E moll aus dem ersten Theil des wohltemp . Claviers . Er kehrte aber bald zur Natur und zum reinen Geschmack zurück , und änderte es so um , wie es nun gestochen ist .
Jedes Jahrzehend hat einige Formen von melodischen Wendungen , die demselben eigen sind , die aber gewöhnlich schon mit dem Ablauf desselben veralten . Ein Componist , der seine Werke auf die Nachwelt zu bringen gedenkt , muß sich vor ihnen hüten . Bach scheiterte in seinen frühern Jahren ebenfalls an dieser Klippe . Seine ersten Orgelcomponisten , und seine zweystimmigen Inventionen nach ihrer ersten Gestalt sind voll von Floskeln seines Zeitgeschmacks . Die Orgelsachen sind geblieben , wie sie einmahl waren ; aber die Inventionen haben große Verbesserungen erhalten . Das Publicum wird bald Gelegenheit haben , sie in ihrer ältern und neuern Gestalt mit einander zu vergleichen , da die Verlagshandlung den rühmlichen Entschluß gefaßt hat , die erste Ausgabe derselben zu unterdrücken , und den Interessenten eine verbesserte dafür zu liefern .
Die bisher angegebenen Verbesserungsmittel erstrecken sich jedoch nur auf äußere Form , und auf das zu viel und zu wenig in der Darstellung eines Gedankens im Großen . Aber Bach bediente sich noch weit häufiger feinerer Mittel zur Vervollkommnung seiner Werke , die man kaum beschreiben kann . Einheit des Styls und Charakters wird oft in einzelnen Stellen durch Umänderung einer einzigen Note erhalten , gegen welche in ihrer vorigen Lage auch der strengste musikalische Grammatiker nichts erinnern konnte , die aber dennoch den Kenner immer noch etwas anderes wünschen ließ . Auch gemeine Sätze werden oft durch Veränderung , Wegnehmen oder Hinzusetzen einer einzigen Note in die edelsten umgeschaffen . Hier kann nur das geübteste Gefühl und der feinste , gebildetste Geschmack entscheiden . Dieses seine Gefühl und diesen gebildeten Geschmack besaß Bach in der höchsten Vollkommenheit . Er hatte beydes nach und nach so geübt , daß ihm zuletzt gar kein Gedanke mehr kommen konnte , der nicht sogleich nach allen seinen Eigenschaften und Beziehungen dem Ganzen so angehörte , wie er sollte und mußte . Seine spätern Werke sind daher sämmtlich wie in einem Guß gegossen , so weich , sanft und eben strömt der ungeheure Reichthum der verschiedensten in einander verschmolzenen Gedanken darin
fort . Dieß ist die hohe Stufe von Kunst-Vollendung , die in der innigsten Vereinigung der Melodie und Harmonie noch Niemand als Joh. Seb. Bach erreicht hat .
XI.
Wenn ein Künstler Werke in großer Anzahl geliefert hat , die sämmtlich von der verschiedensten Art sind , die sich von den Werken aller andern Componisten jedes Zeitalters unterscheiden und den höchsten Reichthum der originellesten Gedanken , so wie den lebendigsten , jeden , er sey Kenner oder Nichtkenner , ansprechenden Geist mit einander gemein haben , so ist es wohl keine Frage mehr , ob ein solcher Künstler wirklich ein wahres großes Kunst-Genie gewesen sey , oder nicht . Die fruchtbarste Einbildungskraft , der unerschöpflichste Erfindungsgeist , die feinste und schärfste Beurtheilung in der für jeden Zweck schicklichen Anwendung des aus der Einbildungskraft strömenden Gedankenreichthums , der gebildetste Geschmack , der auch nicht einen einzigen willkührlichen , oder nur dem Geist des Ganzen nicht genug angehörigen Ton ertragen kann , die größte Gewandtheit im zweckmäßigen Gebrauch der feinsten und scharfsinnigsten Kunstmittel , und endlich der höchste Grad von Geschicklichkeit in der Ausführung , lauter Eigenschaften , bey welchen nicht nur eine , sondern alle Kräfte der Seele in ihrer innigsten Vereinigung wirksam seyn müssen ; dieß müssen Merkmahle eines wahren Genies seyn , oder es gibt keine , und wenn Je mand diese Merkmahle in den Bachischen Werken nicht finden kann , so kennt er sie entweder nicht , oder nicht genug . Wer sie nicht kennt , kann unmöglich weder über sie , noch über das Genie ihres Urhebers eine Stimme haben , und wer sie nicht genug kennt , der beherzige , daß Kunstwerke , je größer und vollendeter sie sind , desto anhaltenders Studium erfordern , wenn aller Werth erkannt werden soll , der in ihnen liegt . Jener Schmetterlingsgeist , der unaufhörlich von Blume zu Blume flattert , ohne auf irgend einer zu verweilen , kann hier nichts ausrichten .
Aber mit allen den schönen und großen Anlagen , welche Bach von der Natur erhielt , würde er doch der vollendete Künstler nicht geworden seyn , wenn er nicht frühe manche Klippen vermeiden gelernt hätte , woran so viele vielleicht eben so reichlich mit
Genie begabte Künstler zu scheitern pflegen . Ich will hierüber dem Leser noch einige zerstreute Bemerkungen mittheilen , und sodann mit einigen zur Charakteristik des Bachischen Genies gehörigen Zügen diesen Aufsatz beschließen .
Das größte Genie , mit dem unwiderstehlichsten Trieb zu einer Kunst , ist seiner ursprünglichen Natur nach nie mehr als Anlage , oder ein fruchtbarer Boden , auf welchem eine Kunst nur dann recht gedeihen kann , wenn er mit unermüdeter Sorgfalt bearbeitet wird . Fleiß , von dem eigentlich erst alle Kunst und Wissenschaft herkommt , ist hierzu eine der ersten und unerläßlichsten Bedingungen . Durch ihn wird das Genie nicht nur der mechanischen Kunstmittel mächtig , sondern er reitzt auch nach und nach die Urtheilskraft und das Nachdenken auf , an allem , was es hervorbringt , Theil zu nehmen . Allein , die Leichtigkeit , mit welcher das Genie sich mancher Kunstmittel zu bemächtigen weiß , und das eigene so wohl als das Wohlgefallen Anderer an den ersten Kunstversuchen , die gewöhnlich viel zu frühe für wohlgerathen gehalten werden , verleitet es sehr häufig , über die ersten Grundsätze der Kunst wegzuspringen , Schwierigkeiten zu wagen , ehe das Leichtere völlig gefaßt ist , oder zu fliegen , ehe ihm die Flügel genug gewachsen sind . Wenn nun ein solches Genie in dieser Periode entweder durch guten Rath und Unterricht , oder durch aufmerksames Studium schon vorhandener classischer Kunstwerke nicht wieder zurück geführt wird , um das , was übersprungen worden ist , nachzuholen , so wird es seine besten Kräfte unnütz verschwenden , und sich nie zu einer würdigen Kunststufe empor schwingen können . Denn es bleibt ausgemacht , daß man nie große Fortschritte machen , nie die höchstmögliche Vollkommenheit erreichen kann , wenn man die ersten Grundsätze vernachlässigt : daß man nie Schwierigkeiten überwinden lernt , wenn man das Leichtere nicht überwunden hat , und daß man endlich nie durch eigene Erfahrungen groß werden wird , wenn man nicht vorher die Kenntnisse und Erfahrungen Anderer benutzt hat .
An solchen Klippen scheiterte Bach nicht . Sein feuriges Genie hatte einen eben so feurigen Fleiß zur Folge , der ihn unaufhörlich antrieb , da , wo er mit eigenen Kräften noch nicht durch zu kommen wußte , Hülfe bey den zu seiner Zeit vorhandenen Mustern zu suchen . Anfänglich leisteten ihm die Vivaldischen Violinconcerte diese Hülfe , nachher wurden die Werke der damahligen besten Clavier- und Orgelcomponisten seine Rathgeber .
Nichts ist aber fähiger das Nachdenken eines angehenden Componisten zu erwecken , als die contrapunctischen Künste . Da nun die Componisten der letztgenannten Werke sämmtlich starke Fugisten nach ihrer Art waren , die die contrapunctischen Künste wenigstens mechanisch in ihrer Gewalt hatten , so schärfte das fleißige Studium und Nachahmen derselben seinen Verstand , seine Urtheilskraft und sein Nachdenken nach und nach so , daß er bald bemerkte , wo er Lücken gelassen und etwas nachzuholen hatte , um sodann in seiner Kunst mit Sicherheit desto größere Fortschritte machen zu können .
Eine zweyte Klippe , woran manches schöne , noch nicht genug ausgebildete Genie scheitert , ist öffentlicher Beyfall . Wenn wir diesen öffentlichen Beyfall auch nicht so tief herunter setzen wollen , wie jener Grieche , der zu seinem Schüler , welcher im Theater mit Beyfall gespielt hatte , sagte : Du hast schlecht gespielt : denn sonst würde dich das Publicum nicht beklatscht haben ; so ist doch nicht zu läugnen , daß die meisten Künstler durch ihn auf Irrwege geführt werden , besonders wenn er ihnen zu frühe , das heißt : ehe sie gehörige Ueberlegung und Selbstkenntniß erlangt haben , zu Theil wird . Das Publicum will alles menschlich haben , und der wahre Künstler soll doch eigentlich alles göttlich machen . Wie sollte also Beyfall der Menge und wahre Kunst neben einander bestehen können ? Diesen Beyfall der Menge suchte Bach nie . Er dachte wie Schiller :
Kannst du nicht allen gefallen durch deine That und dein Kunstwerk .
Mach’ es wenigen recht , vielen gefallen ist schlimm .
Er arbeitete für sich , wie jedes wahre Kunstgenie ; er erfüllte seinen eigenen Wunsch , befriedigte seinen eigenen Geschmack , wählte seine Gegenstände nach seiner eigenen Meynung , und war endlich auch mit seinem eigenen Beyfall am zufriedensten . Der Beyfall der Kenner konnte ihm sodann nicht entgehen , und ist ihm nie entgangen . Wie könnte auch auf andere Art ein wahres Kunstwerk zu Stande gebracht werden ? Derjenige Künstler , welcher sich bey seinen Arbeiten darauf einläßt , sie so einzurichten , wie es diese oder jene Classe von Liebhabern wünscht , hat entweder kein Kunstgenie , oder er mißbraucht es . Sich nach dem herrschenden Geschmack der Menge zu richten , erfordert höchstens einige Gewandtheit in einer sehr einseitigen Behandlungsart der Töne . Künstler dieser Art sind dem Handwerksmanne zu vergleichen , der seine Arbeiten ebenfalls
so einrichten muß , daß seine Kunden sie gebrauchen können . Bach ließ sich nie auf solche Bedingungen ein . Er meynte , der Künstler könne wohl das Publicum , aber das Publicum nicht den Künstler bilden . Wenn er von jemand um ein recht leichtes Clavierstück gebeten wurde , welches oft geschah , pflegte er zu sagen : ich will sehen , was ich kann . Er wählte in solchen Fällen gewöhnlich ein leichtes Thema , fand aber bey der Bearbeitung immer so viel gründliches darüber zu sagen , daß das Stück dennoch nicht leicht werden konnte . Wenn nun hernach geklagt wurde , daß es doch zu schwer sey , lächelte er und sagte : Ueben Sie es nur recht fleißig , so wird es schon gehen ; Sie haben ja fünf eben so gesunde Finger an jeder Hand wie ich War dieß Eigensinn ? Nein , es war wahrer Kunstgeist .
Dieser wahre Kunstgeist ist es eben , der ihn zum Großen und Erhabenen , als dem höchsten Ziel der Kunst führte . Ihm haben wir es zu verdanken , daß Bachs Werke nicht bloß gefallen und ergötzen , wie das bloß Schöne und Angenehme in der Kunst , sondern daß sie uns unwiderstehlich mit sich fortreißen : daß sie uns nicht bloß einen Augenblick überraschen , sondern in ihren Wirkungen immer stärker werden , je öfter wir sie hören , und je näher wir sie kennen lernen ; daß der in ihnen aufgehäufte ungeheuere Gedankenreichthum auch nach tausendmahliger Betrachtung uns noch immer etwas Neues übrig läßt , das unsere Bewunderung und oft unser Staunen erregt ; daß endlich selbst der Nichtkenner , der nichts weiter als das musikalische Alphabet kennt , sich kaum der Bewunderung erwehren kann , wenn sie ihm gut vorgetragen werden , und wenn er ihnen Ohr und Herz ohne Vorurtheil öffnet .
Noch mehr . Diesem wahren Kunstgeist muß es verdankt werden , daß Bach mit seinem großen und erhabenen Kunststyl auch die feinste Zierlichkeit und höchste Genauigkeit der einzelnen Theile , woraus die große Masse zusammen gesetzt ist , verband , die man sonst hier nicht für so nothwendig hält , als in Werken , bey welchen es bloß auf Schönheit abgesehen ist ; daß er glaubte , das große Ganze könne nicht vollkommen werden , wenn den einzelnen Theilen desselben irgend etwas an der höchsten Genauigkeit fehle : und daß endlich , wenn er , ungeachtet der Hauptrichtung seines Genies zum Großen und Erhabenen , dennoch bisweilen munter und sogar scherzend setzte und spielte , seine Fröhlichkeit und sein Scherz die Fröhlichkeit und der Scherz eines Weisen war .
Nur durch diese Vereinigung des größten Genies mit dem unermüdetsten Studium vermochte Joh. Seb. Bach das Gebiet der Kunst überall , wohin er sich wandte , so ansehnlich zu erweitern , daß seine Nachkommen nicht einmahl im Stande waren , dieses erweiterte Gebiet in seiner ganzen Ausdehnung zu behaupten ; nur dadurch konnte er so zahlreiche und so vollendete Kunstwerke hervorbringen , die sämmtlich wahre Ideale und unvergängliche Muster der Kunst sind und ewig bleiben werden .
Und dieser Mann – der größte musikalische Dichter und der größte musikalische Declamator , den es je gegeben hat , und den es wahrscheinlich je geben wird – war ein Deutscher . Sey stolz auf ihn , Vaterland ; sey auf ihn stolz , aber , sey auch seiner werth !