Organon
der rationellen
Heilkunde
von
Samuel Hahnemann.
Die Wahrheit, die wir alle nöthig haben,
die uns als Menschen glücklich macht,
ward von der weisen Hand, die sie uns zugedacht,
nur leicht verdeckt, nicht tief vergraben.
Gellert.
Dresden, 1810.
in der Arnoldischen Buchhandlung.
Vorerinnerung.
Kein Geschäft ist nach dem Geständnis-
se aller Zeitalter einmüthiger für eine Ver-
muthungskunst (ars conjecturalis) erklärt
worden, als die Arzneikunst; keine kann
sich daher einer prüfenden Untersuchung,
ob sie Grund habe, weniger entziehen,
als sie, auf welcher das theuerste Gut
a
im Erdenleben, Menschengesundheit sich
stützt.
Ich rechne mirs zur Ehre, in neuern
Zeiten der einzige gewesen zu seyn, wel-
cher eine ernstliche, redliche Revision der-
selben angestellt, und die Folgen seiner
Ueberzeugung theils in namenlosen, theils
in namentlichen Schriften dem Auge der
Welt vorgelegt hat.
Bei diesen Untersuchungen fand ich
den Weg zur Wahrheit, den ich allein ge-
hen mußte, sehr weit von der allgemeinen
Heerstraße der ärztlichen Obſervanz abge-
legen. Ie weiter ich von Wahrheit zu
Wahrheit vorschritt, destomehr entfernten
sich meine Sätze, deren keinen ich ohne
Erfahrungsüberzeugung gelten ließ, von
dem alten Gebäude, was aus Meinungen
zusammengesetzt, sich nur noch durch
Meinungen erhielt.
Die Resultate meiner Ueberzeugungen
liegen in diesem Buche.
Es wird sich zeigen, ob Aerzte, die
es redlich mit ihrem Gewissen und der
Menschheit meinen, nun noch ferner dem
heillosen Gewebe der Vermuthungen und
Willkürlichkeiten anhängen, oder der heil-
bringenden Wahrheit die Augen öfnen
können.
Soviel warne ich im Voraus, daß In-
dolenz, Gemächlichkeit und Starrsinn vom
Dienste am Altare der Wahrheit aus-
schließt, und nur Unbefangenheit und
unermüdeter Eifer zur heiligsten aller
a 2
menschlichen Arbeiten fähigt, zur Aus-
übung der wahren Heilkunde. Der Heil-
künstler in diesem Geiste aber schließt sich
unmittelbar an die Gottheit, an den Wel-
tenschöpfer an, dessen Menschen er erhal-
ten hilft, und dessen Beifall sein Herz
dreimahl beseligt.
Einleitung.
Man kurirte bisher die Krankheiten der
Menschen nicht rationell, nicht nach
feststehenden Gründen, sondern nach sehr
verschiednen Heilzwecken, unter andern
auch nach der palliativen Regel: contraria
contrariis curentur.
Im Gegentheile hievon lag die Wahr-
heit, der ächte Heilweg, zu welchem ich in
diesem Werke die Anleitung gebe: wähle,
um sanft, schnell und dauerhaft zu heilen,
in jedem Krankheitsfalle eine Arznei, wel-
che ein ähnliches Leiden (ὅμοιον πάϑος) vor
sich erregen kann, als sie heilen soll (simi-
lia similibus curentur)! Diesen homöopathi-
schen Heilweg lehrte bisher niemand.
Ist es aber die Wahrheit, die diesen Weg
vorschreibt, so läßt sich erwarten, daß,
gesetzt sie wäre auch Jahrtausende nicht
geachtet worden, sich dennoch Spuren
von ihr, der Unsterblichen, in allen Zeit-
altern werden auffinden lassen. Und so ist
es auch. In allen Zeitaltern sind die Kran-
ken, welche wirklich, schnell, dauerhaft
und sichtbar durch Arzneien, —
nicht durch ein großes andres Ereigniß,
nicht durch den Selbstverlauf der akuten
Krankheit, nicht durch die Länge der Zeit,
nicht durch das allmählige Uebergewicht
der Energie des Körpers, u. s. w. gesund
wurden, blos durch die homöopathische
Wirkung eines Arzneimittels genesen, ob-
gleich ohne Wissen des Arztes.
Selbst bei den (— seltnen —) wirkli-
chen Heilungen mit vielerlei zusammen ge-
mischten Arzneien, findet man hie und da,
daß das stark vorwirkende Mittel von der
homöopathischen Art war.
Doch noch auffallend überzeugender
findet man dieß, wo die Aerzte, wider die
Observanz, zuweilen mit einem einfachen
Mittel die Heilung schnell zu Stande brach-
ten. Da siehet man, zum Erstaunen, daß
es durch eine Arznei (nach Art der in die-
sem Werke vorgetragenen homöopathischen
Heilgesetze) geschah, die geeignet war, ein
ähnliches Leiden zu erzeugen; ob sie gleich
was sie da thaten, selbst nicht wußten, und
es in einem Anfalle von Vergessenheit der
gegentheiligen Lehren ihrer Schule thaten.
Hier einige Beispiele:
Schon Hippocrates heilte (ἐπιδημιῶν,
lib. 4.) die Cholera, die sich durch nichts
stillen lassen wollte, einzig durch Weiß-
nieswurzel, welche doch vor sich Cho-
lera erregt, wie Forestus, Lentilius, Rei-
mann, Ettmüller und mehrere Andre sahen.
Das englische Schweißfieber, was
im Iahre 1485 zuerst erschien, und anfäng-
lich, wie Willis versichert, von 100 Perso-
nen 99 tödete, konnte nicht eher gebändigt
werden, bis man den Kranken Schweiß
erregende Mittel zu geben lernte. Von der
Zeit an starben nur Wenige, wie Sennert be-
merkt.
Darmsaiten in die gesunde Harnröhre
gelegt, erregen allemahl einen Schleimab-
fluß, und eben deshalb heilen sie so oft
alte Nachtripper.
Ein jahrelanger, den Tod drohender
Bauchfluß, wo alle andre Arzneien ganz
ohne Erfolg waren, ward, wie Fischer zu
seiner (nicht meiner) Verwunderung wahr-
nahm, von einem ungelehrten Kurirer mit
einem Purgirmittel schnell und dauer-
haft gehoben.
Murray, statt aller andern Zeugen,
und die tägliche Erfahrung zählt unter die
Symptomen, welche der Gebrauch des Ta-
baks hervorbringt, vorzüglich Schwindel,
Uebelkeit und Aengstlichkeit. Und ge-
rade Schwindel, Uebelkeit und Aengst-
lichkeit waren es, von denen sich Diemer-
broek durch Tabakrauchen befreiete, wenn
er unter der ärztlichen Behandlung der epi-
demischen Krankheiten in Holland von die-
sen Beschwerden befallen ward. — Chomel,
Grant und Marrigues sahen vom starken Ge-
brauche des Tabaks Konvulsionen ent-
stehen, und lange vor ihnen hatte Zacutus
der Portugiese in dem aus dem Safte des
Tabakskrautes bereiteten Sirupe ein sehr
heilbringendes Mittel in vielen Fällen von
Epilepsie gefunden.
Die schädlichen Wirkungen, welche
einige Schriftsteller, und unter ihnen Geor-
gi vom Genusse des Fliegenschwam-
mes bei den Kamtschadalen anmerken,
Zittern, Konvulsionen, Fallsucht,
wurden wohlthätig unter den Händen
Whistling’s, der sich des Fliegenschwammes
mit Erfolge gegen Konvulsionen mit Zit-
tern begleitet, und unter Bernhardt’s Hän-
den, der sich desselben hülfreich in Fall-
suchten bediente.
Die bei Murray zu findende Wahrneh-
mung, daß Anies-Oel von Purganzen
erregtes Leibweh stillt, setzt uns nicht in
Verwunderung, wenn wir wissen, daß J.
B. Albrecht Magenschmerzen und P.
Forest heftige Koliken vom Anies-Oele be-
obachtet hatten.
Wenn Fr. Hoffmann die Schafgarbe
in mehrern Blutflüssen rühmte, Stahl,
Buchwald, und Löseke sie im übermäßigen
Flusse der Goldader sehr dienlich fan-
den, die Breslauer Sammlungen Heilungen
des Blutspeiens durch Schafgarbe anfüh-
ren, und Thomasius bei Haller sie mit Glück
in Mutterblutflüssen anwendete, so be-
ziehen sich diese Heilungen offenbar auf die
ursprüngliche Neigung dieses Krautes, vor
sich Blutflüsse und Blutharnen, wie
Fr. Hoffmann beobachtete, und eigenthüm-
lich Nasenbluten zu erzeugen, wie Boecler
von demselben wahrnahm.
Scovolo, nächst Andern, heilte schmerz-
haften Abgang eiterigen Harns mit der Bä-
rentraube, welche dieses nicht vermocht
hätte, wenn sie nicht vor sich schon Harn-
brennen mit Abgang eines schleimigen
Urins erzeugen könnte, wie wirklich Sau-
vages von der Bärentraube entstehen sah.
Der jezt so sehr vernachlässigte Fle-
ckenschierling hat homöopathisch nicht
selten schwierige Krankheiten geheilt, wie
die Schriften der besten Aerzte bezeugen.
Wenn er nun, wie Baylies erfuhr, vor sich
Engbrüstigkeit, nach Stoerck verkürztes,
keuchendes Athemholen, nach Lange hef-
tigen Husten, abermahl nach Stoerck ei-
nen trocknen Husten, nach einer andern
Beobachtung von ihm sehr gewaltsamen
Husten, und nach noch einer andern,
einen nächtlichen Husten, nach Lan-
deutte aber Kurzäthmigkeit und eine
Art nächtlichen Keuchhusten vor sich
erzeugen kann, so wird es leicht begreif-
lich, wie er unter Boulard’s Augen ein
nächtliches Asthma, und bei Stoerck ei-
nen konvulsivischen Husten nach unter-
drückter Krätze, bei Viventius einen hart-
näckigen Husten, und eine Art Keuch-
husten unter Butter’s, Armstrong’s, Len-
tin’s und Ranoe’s Erfahrungen hat glücklich
heilen können. — Die Heilung einer
Harnwinde durch Schierling bei Stoerck
wird erklärlich aus der Strangurie, welche
Lange und Ehrhardt von eben dieſem Krau-
te haben entstehen sehen. — Hat Stoerck
einen schwarzen Staar damit bezwungen,
so ward dieß durch die natürliche Eigen-
schaft des Schierlings möglich, vermöge
welcher er (nach Amatus dem Portugiesen)
plötzliche Blindheit, (nach Baylies und
Andree) Gesichtsverdunkelung und
(nach Gatacker) Gesichtsschwäche schon
von selbst zu erzeugen pflegt.
Wenn es auch die vielen Erfahrungen
von Stoerck, Marges, Planchon, du Monceau,
F. Ch. Juncker, Schinz, Ehrmann und Ande-
rer nicht versicherten, daß die Herbst-
zeitlose eine Art Wassersucht geheilt
habe, so würde diese Kraft schon aus ihrer
Eigenschaft, verminderte Absonderung
eines feuerrothen Urins mit stetem
Harndrange vor sich zu erregen (wie
nächst Stoerck auch de Berge sah) leicht zu
erwarten seyn. — Sehr sichtbar aber ist
das von Göritz durch die Zeitlose geheilte
hypochondrische Asthma, und die von
Stoerck durch sie gehobene Engbrüstig-
keit mit einer Brustwassersucht (wie es
schien) verbunden, in der Tendenz dieser
Wurzel, Schweräthmigkeit und Asthma
vor sich hervorzubringen, gegründet, der-
gleichen de Berge von ihr wahrnahm.
Muralto sah, was man noch täglich se-
hen kann, daß die Ialappe außer
Bauchweh auch eine große Unruhe und
Umherwerfen zuwege bringt und, ganz
begreiflich für jeden denkenden Arzt, fließt
aus dieser ihrer Tendenz, jene wohlthätige
Kraft derselben, kleinen Kindern in Leib-
weh, Unruhe und Schreien oft zu helfen
und ihnen einen ruhigen Schlaf zu ver-
schaffen, wie G. W. Wedel ihr mit Recht
nachrühmt.
Bekanntlich (wie auch Murray, Hillary
und Spielmann zum Ueberflusse bezeugen)
machen die Sensblätter eine Art Leib-
schmerzen und bringen das Blut in Wal-
lung (die gewöhnliche Ursache der Schlaf-
losigkeit) und eben dieser ihrer natürli-
chen Eigenschaft wegen, konnte Detharding
heftige Kolikschmerzen mit ihnen he-
ben und den Kranken die unruhigen Näch-
te benehmen.
Ganz nahe lag es dem sonst scharfsin-
nigen Stoerck, einzusehen, daß der beim
Gebrauch der Diptamwurzel von ihm
selbst bemerkte Nachtheil, zuweilen eine
Leukorrhöe zähen Schleims mit Blut-
striemen vermischt, zu erzeugen, eben die
Kraft sei, wodurch er mit dieser Wurzel ei-
nen langwierigen weißen Fluß be-
zwang.
Eben so wenig durfte es Stoerck auffal-
len, wenn er mit der Brenn-Waldre-
be eine Art langwierigen, feuchten, fres-
senden, allgemeinen Krätzausschlags
heilte, da er selbst von diesem Kraute
wahrgenommen hatte, daß es krätzige
Pusteln über den ganzen Körper vor
sich schon erzeugen könne.
Aus eben dem Grunde, aus welchem
von Auflegung der Wolfsmilch blos auf
den Unterleib unter Scopoli’s Augen Was-
sergeschwulst des ganzen Körpers er-
folgte, konnten auch in den ältern Zeiten
eine Menge Aerzte und gemeine Leute eine
Art Wassersucht mit Wolfsmilch heilen,
wie Herrmann und Boecler anführen.
Wenn nach Murray die Euphrasie
das Triefauge und Augenentzündung
geheilet hat, wodurch vermochte sie dieß
sonst, als durch ihre (von Lobelius, Bonnet
und S. Paulli beobachtete) Eigenschaft, vor
sich schon eine Art Augenentzündung
erzeugen zu können?
Nach Lange’s braunschweigischer Haus-
mittelpraxis hat sich die Muskatnuß
sehr hülfreich in hysterischer Ohnmacht
erwiesen; doch wohl aus keinem natürli-
chern Grunde, als weil sie in großer Gabe
(bei Cullen) ein Verschwinden der Sinne
und allgemeine Unempfindlichkeit bei
gesunden Personen zu erregen fähig ist!
Boecler und Linné bezeugen, daß der
Faulbeer-Kreuzdorn beim innern
Gebrauche eine Art Wassersucht heile.
Der Grund hievon liegt ganz nahe; Schwenck-
feld sah durch äußere Auflegung der innern
Rinde dieses Strauchs von selbst eine Art
Wassersucht entstehen.
Die uralte Wahl des Rosenwassers
zum äußerlichen Gebrauche bei Augen-
entzündungen scheint stillschweigend ei-
ne Heilkraft dieser Blumenblätter in Oph-
thalmien anzuerkennen. Es könnte aber
doch vielleicht nur Aberglaube seyn, wenn
sie nicht auch ihrer eigenthümlichen Natur
nach die Eigenschaft besäßen, vor sich ei-
ne Art Augenentzündung bei gesunden
Menschen zu erzeugen; und diese Kraft
besitzen sie wirklich, wie Echtius und Lede-
lius bezeugen, von ihnen wahrgenommen
zu haben.
Wenn der Rhus radicans nach Rossi ge-
neigt ist, den Körper allmählig mit Pu-
steln zu überziehn, so sieht ein verstän-
diger Mann leicht ein, wie er homöopa-
thisch den Herpes bei Dufresnoy und van
Mons heilen konnte.
Was zwingt den Rhus toxicodendron, bei
Alderson und Darwin, Lähmung der un-
tern Gliedmasen mit Verstandes-
schwäche begleitet, zu heilen, wenn es
nicht die deutlich zu Tage liegende eigen-
thümliche Kraft dieses Strauchs thut, gänz-
liche Abspannung der Muskelkräfte
mit einer zu sterben fürchtenden Verstan-
desverwirrung vor sich erzeugen zu kön-
nen, wie Zadig sah?
Hat das Bittersüß, wie Haller bei
Vicat versichert, von Verkältung ent-
standnen Husten geheilt, so kam es ein-
zig daher, weil es bei feucht kalter Luft
vorzüglich geneigt ist, mancherlei Verkäl-
tungsbeschwerden hervorzubringen, wie
Carrere und de Haen beobachteten. — Er-
sterer Arzt sah beim Gebrauche des Bitter-
süßes eine Rauhheit der Zunge entste-
hen, und eben dieser Eigenschaft wegen
war es vermögend, Schrunden der Zunge
zu heilen, wie Haller bei Vicat anführt. —
Dem Carrere verdanken wir die Beobach-
tung, daß Bittersüß eine Art Leucorrhöe
vor sich erregt. Hieraus hätte man schon
im voraus schließen können, daß dieses
Kraut eine ähnliche Art Leucorrhöe mit
Gewißheit heilen müsse; die Bestätigung
aber hievon, daß es dergleichen auch wirk-
lich heile, haben die Erfahrungen von Rahn,
Carrere und Durande gelehrt. — Vergeb-
lich würde man den innern Grund, warum
gerade Bittersüß so wirksam eine Art
Flechten und Herpes (unter den Augen
eines Carrere, Fouquet und Poupart) geheilt
hat, in dem Reiche der Vermuthungen auf-
suchen, da er uns von der einfachen Natur
so nahe gelegt worden ist, nämlich: das
Bittersüß erregt von selbst eine Art Flech-
ten, und Carrere sah von seinem Gebrauche
einen Herpes zwei Wochen hindurch sich
über den ganzen Körper verbreiten, und
bei andrer Gelegenheit Flechten auf den
Händen davon entstehen.
Vom Schwarznachtschatten sah
Rucker eine Geschwulst des ganzen Kör-
pers entstehen und Gatacker konnte deshalb
eine Art Wassersucht mit diesem Kraute
(homöopathisch) heilen.
Eine andre Art Wassersucht konn-
ten Boerhaave, Sydenham und Radcliff mit
Schwarzholder heilen, eben weil, wie
b
Haller berichtet, der Schwarzholder schon
bei äußerer Auflegung Oedem erzeugt.
De Haen, Sarcone und Pringle huldig-
ten der Wahrheit und Erfahrung, da sie
freimüthig gestanden, den Seitenstich mit
Squille geheilt zu haben, mit einer Wur-
zel, die das, hier blos schmeidigende, ab-
spannende und kühlende Mittel verlangen-
de System ihrer großen Schärfe wegen
durchaus widerrathen mußte; er wich den-
noch der Squille und zwar nach dem ho-
möopathischen Naturgesetze, indem schon
J. C. Wagner (obs. clin. Lub. 1737.) von der
freien Wirkung der Meerzwiebel eine Art
Pleuritis entstehen sah.
Nach Gaterau’s Beobachtung hat der
Gebrauch des Taxus einen heftigen Hu-
sten verursacht, und blos deshalb konnte
er bei Perry (Journ. de Med. 1790.) Husten
heilen.
Die Eigenschaft des Terbenthin-
Oels (nach Stedman), eine Harnverhal-
tung, eine Art Wassersucht und Nieren-
schmerzen erzeugen zu können, gab die-
sem ätherischen Oele die homöopathische
Heilkraft, hie und da eine Wassersucht,
und hie und da eine Art Hüftweh zu he-
ben, worüber uns Home, Herz, Thilenius,
Cheyne und Andre die Belege liefern.
Der chinesische Thee ist seiner Na-
tur nach nichts als ein Arzneimittel. Man
findet in den Nov. Act. N. C. und bei Lettsom
zusammenziehenden Magenkrampf von
Thee erzeugt, auch erwähnt letzterer eines
drückenden Magenschmerzes davon,
eine Tendenz die das Lob, welches Buchan
dem Thee bei Hebung der Cardialgie der
Schwangern ertheilt, hinlänglich motivirt.
— Nach mehrern Beobachtungen (von Geof-
froy, von Tode und von James bei Lettsom)
hat er nicht selten Zuckungen und Fall-
sucht hervorgebracht und in dieser Eigen-
schaft stillt er die bei Masern und Pocken
gewöhnlichen Konvulsionen (Eph. N. C. dec.
III. a. I. obs. 1618.) —; so wie er auch ein
vorzügliches homöopathisches Heilmittel
in der Ermüdung von Strappazen (Lett-
som) abgiebt, ebenfalls einzig durch
seine, allgemeine Schwäche erzeugende
Kraft, welche von Lettsom, Whytt und
Murray beobachtet worden ist — und eben
dahin scheint auch seine von Lettsom be-
b 2
merkte, Schläfrigkeit erzeugende Eigen-
schaft zu gehören, vermöge deren die Chi-
nesen die Schlafsucht in Krankheiten
(Herrmann) mit Thee heilen.
Die durch Viele (Dan. Crüger, Ray,
Kellner, Kaaw, Boerhave u. s. w.) vom Ge-
nusse des Stechapfels beobachtete
Wirkung, wunderliche Phantasien und
Konvulsionen zu erregen, setzte die Aerz-
te in Stand, die Dämonie (monströse
Phantasien in Begleitung von krampfhaften
Gliederbewegungen) mit Stechapfel (Ve-
ckoskrift, IV.) zu heilen, — so wie eine von
Quecksilberdampf und eine andre von
Schreck entstandne Art Veitstanz von Si-
drèn mit diesem Kraute geheilt ward, oder
eigentlich mittelst seiner Eigenschaft, schon
vor sich dergleichen unwillkührliche
Gliederbewegungen erzeugen zu kön-
nen, wie man von Kaaw, Boerhave und Lob-
stein beobachtet findet. — Weil auch der
Stechapfel nach vielen Wahrnehmungen
(auch denen von P. Schenck) sehr schnell alle
Besinnung und Rückerinnerung weg-
nimmt, so ist er auch fähig, Gedächt-
nißschwäche (nach Sauvages und Schinz) zu
heben, — und eben so konnte auch Schmalz
eine mit Manie abwechselnde Melancho-
lie mit diesem Kraute heilen, weil es, wie
a Costa erzählt, solche alternirende Ge-
müthsverwirrungen auch vor sich zu er-
zeugen im Stande ist.
Percival, Stahl und Quarin beobachte-
ten Magendrücken, Morton, Friborg,
Bauer und Quarin Erbrechen und Durch-
fall, Morton und Dan. Crüger Ohnmachten,
und viele Andre einen großen Schwäche-
zustand, Thomson, Richard, Stahl und C. E.
Fischer eine Art Gelbsucht, Quarin und Fi-
scher Bitterkeit des Mundes, und meh-
rere Andre harte Anspannung des Unter-
leibes vom Gebrauche der Chinarinde,
und eben diese vereinigten Zustände sind
es, bei deren ursprünglichen Gegenwart in
Wechselfiebern Torti und Cleghorn so an-
gelegentlich auf den alleinigen Gebrauch
der Chinarinde dringen, — so wie die ge-
segnete Anwendung derselben in dem er-
schöpften Zustande, der Unverdaulich-
keit und Anorexie nach akuten, beson-
ders mit Blutlassen und erschöpfenden Aus-
leerungsmitteln behandelten Fiebern blos
auf der (von Cleghorn, Friborg, Crüger, Rom-
berg, Stahl, Thomson u. A.) beobachteten
Eigenschaft dieser Rinde, ein ungemeines
Sinken der Kräfte, erschlafften Zu-
stand Leibes und der Seele, Unver-
daulichkeit und Anorexie zu erregen,
beruhet.
Außer Piso, Huck und Meyer haben
noch eine Menge andrer Aerzte die Durch-
fall stillende Kraft der Ipecacuanhe aner-
kannt. Wie könnte sie aber einige Arten
Durchfall so kräftig stillen, wenn sie nicht
selbst, wie bekannt (Murray) vor sich Pur-
giren zu erregen geeignet wäre? — Wie
könnte sie mehrere Blutflüsse stillen
(Bagliv, Barbeirac, Gianella, Dalberg, Ber-
gius u. A.), wenn sie nicht selbst Blutflüs-
se zu erzeugen (Murray, Geoffroy) im Stande
wäre? — Wie könnte sie in Engbrüstig-
keit und besonders in der krampfhaften
Engbrüstigkeit (Akenside, Meyer, Bang)
so hülfreich seyn, wenn sie nicht, auch
ohne Ausleerungen zu erregen, schon vor
sich de Tendenz besäße, Engbrüstigkeit
überhaupt, und krampfhafte Engbrü-
stigkeit insbesondre zu verursachen?
dergleichen Murray (pract. Bibl. III.), Geoffroy
und Scott von dieser Wurzel beobachteten.
Kann es deutlichere Winke geben, daß wir
die Arzneien nach ihren krankmachenden
Wirkungen zur Heilung der Krankheiten
anwenden sollen?
Eben so würde es nicht einzusehen
seyn, wie die Ignatzbohne in einer Art
Konvulsionen (Acta Berolin. Herrmann, Va-
lentin) so wohlthätig hätte seyn können,
wenn nicht bekannt wäre (Bergius, Camelli,
Durius in Misc. N. C. Dec. III. ann. 9, 10.), daß
sie selbst dergleichen hervorzubringen im
Stande wäre.
Durch Stoß und Quetschungen be-
schädigte Personen bekommen Seitenstiche,
Brechreitz, krampfhafte, stechende und
brennende Schmerzen in den Hypochon-
dern mit Aengstlichkeit und Zittern beglei-
tet, ein unwillkührliches Zusammenfahren
wie von elektrischen Stößen wachend und
im Schlafe, ein Kriebeln in den beschädig-
ten Theilen, u. s. w. Da nun das Wohl-
verleih eben diese Zustände erregen kann
(de Meza, Vicat, Crichton, Collin, Aaskow,
Stoll und J. Chr. Lange), so wird es leicht
begreiflich, wie dieses Kraut die Zufälle
von Quetschung und Fall, folglich die
Quetschung selbst heilen kann, wie eine
namenlose Menge von Aerzten und ganze
Völkerschaften in Erfahrung gebracht ha-
ben.
Wenn es mehrere Stufen und Arten
von Hundswuth giebt, wie mehr als
wahrscheinlich ist, so wird man wohl be-
haupten können, daß die Belladonne
eine Art Wasserscheu zu heilen vermö-
gend sei, wie denn wirklich Münch, Buch-
holz und Neimeke dergleichen mit ihr geheilt
haben; auch leuchtet diese Heilkraft aus
der eigenthümlichen Wirkungsart dieses
Krautes hervor, mehrere Zufälle von
Wasserscheu schon selbst erzeugen zu
können, z. B. das vergebliche Haschen
nach Schlaf, das ängstliche Athemholen,
der ängstliche brennende Durst nach Ge-
tränke, das die Person kaum erhält, als sie
es schon wieder von sich stößt, mit ro-
them Gesichte, stieren und funkelnden
Augen (von welcher Arzneikrankheit durch
Belladonne uns J. F. C. Grimm das Bild
entwirft), während die einzelnen Züge die-
ses Zustandes von mehrern Beobachtern,
namentlich das, Ersticken erregende Nie-
derschlingen des Getränks bei übermäsigem
Durste von El. Camerarius und Sauter, und
überhaupt das Unvermögen zu schlucken
von May, Lottinger, Sicelius, Buchave, d’ Her-
mont, Manetti, Vicat und Cullen wiederho-
let, von Andern aber die von diesem Krau-
te entstandne, mit Furchtsamkeit abwech-
selnde Begierde, nach den Umstehenden zu
schnappen (Sauter, Dumoulin, Buchave, Mar-
dorf) und umher zu spucken (Sauter), auch
wohl zu entfliehen (Dumoulin, Eb. Gmelin,
Buc’hoz) und die beständige Regsamkeit des
Körpers (von Boucher, Eb. Gmelin, Sauter)
noch hinzugesetzt werden, — alles Zufäl-
le von Belladonne, welche vereinigt ein
ziemlich treffendes Bild von der durch sie
heilbaren Art Hydrophobie darstellen.
Ob aber die Behandler der Wasserscheu mit
Belladonne auf der einen Seite nicht oft die
Gabe übertrieben, auf der andern Seite aber
die der Belladonne entsprechende Art von
Wasserscheu immer getroffen haben, will
ich hier nicht entscheiden — da die häufig-
sten Arten von Hundswuth mehr den durch
Bilsenkraut erzeugbaren Zufällen äh-
neln, und daher öfterer durch lezte-
res heilbar seyn müssen. — — Die
Belladonne heilte auch Arten von Manie
und Melancholie (Evers, Schmucker, Schmalz
und Münch Vater und Sohn) das ist, mit-
telst ihrer Kraft, besondre Arten von
Wahnsinn eigenthümlich zu erzeugen,
dergleichen Rau, Glimm, Hasenest, May,
Mardorf, Hoyer, Dillenius, u. A. aufgezeich-
net haben. — Henning brauchte eine Men-
ge vergeblicher Mittel gegen eine Amauro-
sis mit vielfarbigen Flecken vor den
Augen drei Monate lang, bis er aus Ver-
dacht gegen etwanige Gicht, die der Kran-
ke doch nicht hatte, endlich Belladonne
gab und ihn damit schnell und ohne Be-
schwerde heilte. Er würde es wohl gleich
Anfangs gethan haben, wenn er gewußt
hätte, daß Belladonne dieß homöopathisch
thun muß, da sie selbst Amaurosis mit
vielfarbigen Flecken vor den Augen
erzeugt, wie Sauter sah.
Die von einigen Beobachtern (Blom,
Planchon) zu Anfange der Wirkung des
Bilsenkrautes bemerkte Schlaflosig-
keit, welche gewöhnlich von Aengstlich-
keit unterhalten wird, ist auffallend der
einzige Grund der so großen Schlaf brin-
genden Wirkung desselben in ähnlichen
idiopathischen Agrypinen, die, nach
Stoerck, jene (palliative) hypnotische Wir-
kung des Opiums weit übertrifft. — Das
Bilsenkraut hat Krämpfe, welche viel Aehn-
lichkeit mit der Fallsucht hatten, auch
wohl dafür gehalten worden sind (nach
Stoerck, Collin und A.), gehoben, weil es
der Fallsucht sehr ähnliche Zuckungen
erregen kann (nach El. Camerarius, Chph.
Seliger, Hünerwolf, A. Hamilton, Planchon,
a Costa u. A.) — Nicht umsonst hat Greding
von diesem Kraute einen trocknen krampf-
haften Husten entstehen sehen; dieß
sollte uns zeigen, daß er ein kräftiges Heil-
mittel in einem ähnlichen Husten sei,
wie auch Friccius, Rosenstein, Dubb und
Stoerck wirklich erfahren haben. — In ge-
wissen Arten von Wahnsinn hat Stoerck,
Fothergill, Herwig und Ofterdinger das Bil-
senkraut mit Erfolge gebraucht; doch wür-
den noch weit mehrere Aerzte hierin glück-
lich gewesen seyn, wenn sie keinen an-
dern Wahnsinn damit zu heilen unternom-
men hätten, als das Bilsenkraut in seinen
Primärwirkungen zu erzeugen vermag,
nämlich jene Art stupider Sinnlosigkeit,
wie sie Helmont, Wedel, J. G. Gmelin, la
Serre, Hünerwolf, A. Hamilton, Kiernander,
J. Stedman, Toppetti, J. Faber und Wendt
vom Bilsenkraute haben erfolgen sehen. —
Aus den von diesem Kraute erfahrnen Wir-
kungen, die man bei obigen Beobachtern
nachsehen kann, läßt sich das Bild des
höchsten Grades von einer Art Hysterie
zusammensetzen, und eben diese wird von
ihm geheilt (J. A. P. Gesner, Stoerck). —
Unmöglich hätte Schenckbecher einen zwan-
zigjährigen Schwindel damit heben kön-
nen, wenn das Bilsenkraut nicht so allge-
mein und in so hohem Grade einen ähnli-
chen Schwindel zu erzeugen, von Natur
geeignet wäre, wie Hünerwolf, Blom, Na-
vier, Planchon, Sloane, Stedman, Greding,
Wepfer, Vicat, Bernigau bezeugen. — Die
sechs gemischten Arzneistoffe, die Hecker
in einer krampfhaften Verschließung
der Augenlieder mit dem sichtbarsten Er-
folge brauchte, wären vergeblich gewesen,
war nicht das hier homöopathische Bilsen-
kraut glücklicherweise drunter, welches
nach Wepfer dasselbe Symptom am gesun-
den Körper zu erregen pflegt.
Die Glieder- und Gelenkschmerzen,
welche A. Richard (bei P. Schenck) vom
Sturmhute in Erfahrung gebracht hat,
sind von der Art, wie sie von vielen Aerz-
ten, deren Namen Murray verzeichnet, mit
Sturmhut geheilt worden sind; so daß der
homöopathische Grund seiner Heilkraft
deutlich in die Augen fällt.
Wie wäre es möglich, daß der Kam-
pher in den sogenannten schleichenden
Nervenfiebern mit verminderter Kör-
perwärme, verminderter Empfindung
und gesunkenen Kräften so ausnehmen-
de Dienste leisten konnte, wie uns der
Wahrheit liebende Huxham versichert, wenn
der Kampher nicht in seiner Primärwirkung
gerade einen solchen Zustand erzeug-
te, wie Alexander, Cullen und Fr. Hoffmann
von ihm sahen? — Die bis zur höchsten
Schmerzhaftigkeit erhöhete Empfindlich-
keit des Organismus mit Hitze verbunden
in der Influenza hebt er deshalb zwar
schnell, aber nur palliativ, und seine
Gaben müssen daher stets erhöhet und oft
erneuert werden, wenn er dieser akuten
Krankheit Meister werden soll. (§. 266.)
Feuriger Wein stillt oft, wie Murray
bezeugt, eine lästige Erhitzung des Kör-
pers und die allzu heftige Erregung des
Pulses — offenbar homöopathisch! —.
Ein fieberhaftes Delirium, wie eine ver-
nunftlose Trunkenheit mit laut schnar-
chendem Athem —, diese Krankheit, dem
Zustande einer heftigen Berauschung von
Weine ähnlich — heilte Rademacher in ei-
ner einzigen Nacht blos mit Weintrinken.
Wem fällt hier nicht die Macht des analo-
gen Arzneireitzes (similia similibus) in die
Augen?
Ein Zustand, dem Todeskampfe ähn-
lich, von Konvulsionen ohne Bewustseyn,
abwechselnd mit Anfällen von krampfhaf-
tem und stoßweisem Athmen, welches auch
schluchzend und röchelnd mit Todtenkälte
des Gesichts und Körpers (Hände und Füße
blaulich) und mit schwachem Pulse erfolg-
te (ganz so, wie Schweickert und Andre die
Zufälle vom Mohnsafte beobachteten)
ward von Stütz vergeblich mit Laugensalz,
nachgehends glücklich und schnell und
dauerhaft durch Mohnsaft gehoben. Wer
erkennt hier nicht das, unwissender Weise
ausgeübte homöopathische Verfahren? —
Eben diesen, so große Neigung zum fast
unüberwindlichen Schlafe mit heftigem
Schweiße und Delirien (nach Vicat, J C.
Grimm und Andern) erregenden Mohnsaft
fürchtete sich Osthoff in einem epidemi-
schen Fieber, was dieselben Symptomen
hatte, anzuwenden, weil das System (!) in
dieser direkten Schwäche ihn zu geben ver-
biete. Nur da er nach vergeblichem Ge-
brauch aller bekannten Arzneien den Tod
vor Augen sah, entschloß er sich, ihn auf
gut Glück zu probiren, und, siehe! er
war allgemein hülfreich (mußte es seyn,
nach dem ewigen homöopathischen Heilge-
setze!) — In einem Fieber, wo die Kran-
ken sprachlos waren, die Augen offen, die
Glieder starr, der Puls klein und aus-
setzend, der Athem schwer mit Schnarchen
und Röcheln und in Schlafsucht versunken
— Zuständen, die der Mohnsaft ganz
ähnlich zu bewirken vor sich vermag (wie
de la Croix, Rademacher, Crumpe, Pyl, Vicat,
Sauvages und viele Andre beobachtet haben)
— da sah Hoffmann in Münster blos den
Mohnsaft helfen (wie ganz natürlich!) —
Nach langer Quaal mit einer Menge nicht
passender Arzneien hob C. C. Matthäi eine
hartnäckige Nervenkrankheit, deren Haupt-
zeichen Unempfindlichkeit, Taubheit und
Eingeschlafenheit in Armen, Schenkeln
und am Unterleibe waren, mit Mohnsaft
(der nach Stütz, J. Young und Andern, der-
gleichen in vorzüglichem Grade vor sich
erregen kann), wie jeder Nachdenkende
sieht, blos homöopathisch. — Hufeland’s
Heilung einer tagelangen Lethargie mit
Mohnsaft, nach welchem andern Gesetze
erfolgte sie, als nach dem bisher verkann-
ten homöopathischen?
Rave und Wedekind heilten schlimme
Mutter-Blutflüsse mit Sadebaum,
welcher wie jede freche Dirne weiß, Bär-
mutter-Blutflüsse bei Gesunden er-
zwingt. Wer will hier das Heilgesetz der
Natur durch Aehnlichkeit, verkennen?
Wie könnte der Biesam im Millari-
schen Asthma fast specifisch helfen, wenn
er nicht vor sich selbst Paroxysmen von
hustenloser, erstickender, krampfhaf-
ter Zusammenschnürung der Brust
zuwege bringen könnte? und dieß kann
er, wie Fr. Hoffmann beobachtete.
Kann die Kuhpocke anders gegen
Kindblattern schützen, als homöopathisch?
sie, welche außer andern großen Aehnlich-
keiten mit ihnen, und insbesondre ihrem im
Ganzen nur einmahl möglichen Erscheinen
am menschlichen Körper und der Tiefe ih-
rer Narben, sogar auch Achseldrüsenge-
schwülste, Augenentzündung und Konvul-
sionen, wie die Menschenblattern erregt hat.
Bekanntlich ist Haruverhaltung mit
Harnzwang eins der häufigsten und be-
schwerlichsten Symptome der spani-
schen Fliegen, wie zum Ueberflusse
Joa. Camerarius, Baccius, van Hilden, Forest,
J. Lanzoni, van der Wiel und Werlhoff bestä-
tigen. Ein behutsamer innerer Gebrauch
der Kanthariden mußte daher in ähnlichen
schmerzhaften Dysurien durchaus ein
hülfreiches und homöopathisches Hauptmit-
tel seyn. Und so ist es auch. Außer fast
allen griechischen Aerzten (deren Kantharide
c
die sehr ähnliche Meloe des Wegwarts
war) haben Fabr. ab Aquapendente, Capivac-
cius, Th. Bartholin, Riedlin und Andre die
schmerzhaftesten, ohne mechanische
Hinderung entstandenen Ischurien mit
Kanthariden geheilt. Selbst Huxham sah die
vortrefflichsten Wirkungen davon in sol-
chen Fällen; er rühmt sie sehr, und hätte
sie gar gern gebraucht. Aber das System
hielt ihn ab, wider seine Ueberzeugung! —
Van Hilden hat in zwei verschiedenen Fällen
Hüftweh von Kanthariden erfolgen sehn,
und dieser ihnen eigenthümlichen krank-
machenden Kraft hat man die vielen dauer-
haften Heilungen von Hüftweh zu danken,
welche Hollerius, Riedlin, Boerhaave, Tral-
les, Tissot, Medicus, Tode und Andre aus
ihren Erfahrungen anführen. — Doch kann
wohl schwerlich ein stärkeres Beispiel von
der Kraft der Arzneien, durch die Tendenz,
ähnlich krank machen, und so homöopathisch
Krankheiten heilen zu können, gefunden
werden, als die Heilsamkeit (ganz kleiner
Gaben) der Kanthariden im frischen ent-
zündlichen Tripper selbst, wo sie Sachs
von Lewenheim, Hannaeus, Bartholin, Lister,
Mead und vor allen Werlhoff mit dem auffal-
lendsten Erfolge anwendeten —, eine Heil-
kraft, die die Kantharide dem Umstande
verdankt, daß sie fast nach allen Beobach-
tern schmerzhafte Ischurie, Harnbren-
nen, ja selbst Entzündung der Harnröh-
re (Wendt) und sogar bei blos äußerlicher
Anwendung einen entzündungsartigen
Tripper (Wichmann) vor sich selbst schon,
zu erzeugen vermag.
Bei empfindlichen Personen erregt der
innere Gebrauch des Schwefels nicht sel-
ten Stuhlzwang, zuweilen sogar Erbre-
chen, Leibweh und Stuhlzwang (Wal-
ther) und aus eben diesem Grunde hat man
(Med. N. z.) ruhrartige Zufälle und nach
Werlhoff Stuhlzwang bei blinden Hämor-
rhoiden, und nach Rave Hämorrhoidal-
koliken mit demselben heilen können. —
Bekanntlich erzeugt das Töplitzer Bad, so
wie alle lauen und warmen Bäder, welche
Schwefel in Wasserstoffgas aufgelöst
enthalten, oft einen sogenannten Bade-
ausschlag, welcher große Aehnlichkeit mit
der Krätze hat, und eben deswegen heilen
auch diese Bäder (homöopathisch), so wie
c 2
der Schwefel selbst, die wahre Krätze der
Wollarbeiter dauerhaft.
Die englischen Aerzte haben in den neu-
ern Zeiten, in den Beddoesschen Schrif-
ten und anderwärts, die Salpetersäure
als ein sehr dienliches Mittel in dem Spei-
chelflusse von Quecksilber und den daher
entstandnen Mundgeschwüren befunden,
welches diese Säure nicht hätte ausrichten
können, wenn sie nicht schon vor sich,
selbst wo sie auch nicht örtlich auf den
Mund wirken konnte, und schon als Bad
(Scott) gebraucht, die Eigenschaft besäße,
Speichelfluß und Rachengeschwüre zu
erzeugen, wie auch Aloyn, Kellie, Blair,
Luke und Ferriar von ihr gesehen haben.
Fritze hat von einem Bade mit kausti-
schem Kali geschwängert, eine Art Teta-
nus erfolgen sehn, und Humbold hat die
Reitzbarkeit der Muskeln durch zerflossenes
Weinsteinsalz bis zum Tetanus zu erre-
gen vermocht; kann eine einfachere und
wahrere Quelle für die Heilkraft des (ätzen-
den) Laugensalzes in jener Art von Te-
tanus, wo es Stütz nebst Andern hülfreich
fanden, nachgewiesen werden?
Der durch seine ungeheure Kraft, das
Befinden des Menschen zu verändern, man
weiß nicht, ob in verwegnen Händen mehr
fürchterlich, als in der Hand des Weisen
eher verehrungswürdig zu nennende Ar-
senik würde im Gesichtskrebse nach
Gui von Chauliac, nach Theodoric, nach Va-
lescus von Taranta, nach Fallopius, nach Pe-
net, nach Rönnov, (Cosme) und mehrern
Neuern nicht so große Heilungen haben
vollbringen können, wenn dieses Metall-
oxyd nicht die homöopathische Kraft be-
säße, schon vor sich sehr schmerzhaf-
te, sehr schwer heilbare Knoten (nach
Amatus dem Portugiesen) und tief eind in-
gende, bösartige Geschwüre (nach Heim-
reich und Knape) zu erzeugen. — Die Alten
würden das, Arsenik enthaltende, soge-
nannte magnetische Pflaster des Angelus Sa-
la bei Pestbeulen und Karbunkeln nicht
so einstimmig wohlthätig haben finden kön-
nen, wenn der Arsenik nicht vor sich (wie
Degner und Knape bezeugen) die Neigung
besäße, schnell in Brand übergehende
Entzündungsgeschwülste hervorzubrin-
gen. — Der Arsenik bringt, nach den
Wahrnehmungen Dan. Crüger’s und J. C.
Grimm’s die meisten Zufälle einer bösarti-
gen rothen Ruhr hervor; was Wunder,
wenn ihn schon Galenus in Klystiren und
Zacutus der Portugiese, Slevogt und Molitor
innerlich als Heilmittel in einer Art ro-
then Ruhr haben heilsam finden können?
Und wo käme seine so tausendfach bestä-
tigte (nur noch nicht behutsam genug ange-
wendete) Heilkraft in einigen Arten von
Wechselfieber her, die seit Jahrhunderten
schon von Myrepsus, nachgehends von Sle-
vogt, Molitor, Jacobi, J. C. Bernhardt, Jung-
ken und Fowler nicht unzweideutig geprie-
sen worden ist, wenn sie nicht in der eigen-
thümlichen Fieber erregenden Kraft des Ar-
seniks gegründet wäre, welche fast alle
Beobachter der Nachtheile dieser metalli-
schen Substanz, und insbesondre Amatus
der Portugiese, Degner, Buchholz, Heun,
und Knape deutlich bemerkten? — Ganz
wohl läßt sich Alexander’n glauben, daß
der Arsenik ein Hauptmittel in (einigen Ar-
ten?) der Brustbräune sei, da schon Ot-
to Tachenius und Guilbert Beklemmung des
Athemholens, Greiselius fast erstickende
Schweräthmigkeit, und vorzüglich Ma-
jault ein beim Gehen plötzlich entste-
hendes Asthma mit Sinken der Kräfte
vom Arsenik wahrgenommen haben. —
Die Konvulsionen, welche nach
Ramsay, Fabas bei Unzer, und Cosmier der Ge-
nuß kupferner Dinge, und die wiederholten
epileptischen Anfälle, welche eine ver-
schluckte Kupfermünze unter Lazerme’s und
der Kupfersalmiak unter Pfündel’s Augen er-
regt haben, erklären dem nachdenkenden
Arzte deutlich genug, woher die Heilung
des Veitstanzes durch Kupfer, wovon
R. Willan — und die vielen Heilungen ei-
ner Art Fallsucht durch die Bereitungen
eben dieses Metalls kamen, wovon Weiß-
mann, Pasquallati, Duncan, Russel, Cullen
und Andre so glückliche Erfahrungen auf-
zeichneten.
Haben Poterius, Wepfer, Wedel, Fr.
Hoffmann, R. A. Vogel, Thierry und Albrecht
mit Zinn eine Art Schwindsucht, hekti-
sches Fieber, langwierige Katarrhe
und feuchte Engbrüstigkeit geheilt, so
geschah es vermittelst der eigenthümlichen
Kraft des Zinnes, eine Art Schwindsucht
erzeugen zu können, welche schon J. E.
Stahl beobachtet hatte. — Wie wäre es wohl
möglich, daß Zinn, wie Geischläger berich-
tet, Magenschmerzen heilen könnte, wenn
es nicht vor sich schon dergleichen erregen
könnte. Und das kann es, wie auch Gei-
schläger selbst sah, und ehedem Stahl (mat.
med. C. 6. p. 83).
Amelung’s Kur einer Art geschwüriger
Lungensucht durch den innern Gebrauch
des Bleies deutet auf die von Boerhaave
beobachtete Tendenz dieses Metalls, selbst
unter seiner äußern Auflegung eine Art
Schwindsucht zu erzeugen. — Sollte die
schädliche Kraft des Bleies, Ileus hervor
zu bringen, wie Thunberg, Wilson, Luzu-
riaga und Andre sahen, nicht diese schreck-
liche Krankheit, wenn sie Menschen aus
andern, unmechanischen Ursachen befällt,
zu besiegen geschaffen worden seyn? Und
wirklich heilte Angelus Sala durch innern
(homöopathischen) Gebrauch dieses Metalles
den Ileus und Agricola eine andre heftige
Leibesverstopfung. — Wenn Otto Ta-
chenius und Ettmüller ehemals hartnäckige
hypochondrische Beschwerden mit Blei
heilten; so erinnere man sich der diesem
Metalle anerschaffnen Neigung, hypochon-
drische Uebel vor sich zu erzeugen, wie in
Luzuriaga’s Beschreibung seiner schädlichen
Wirkungen zu sehen ist.
Man darf sich nicht wundern, daß
Marcus (Magaz. II. 2.) eine Entzündung und
Geschwulst der Zunge und des Ra-
chens schnell und dauerhaft mit einem
Mittel geheilt hat, welches nach der tägli-
chen, tausendfachen Erfahrung aller Aerz-
te ganz specifisch Entzündung der innern
Theile des Mundes erzeugt (mit Queck-
silber) welches dergleichen schon bei
äußerer Auflegung (der merkurialischen
Salben, Pflaster oder des Sublimats) auf die
Haut des übrigen Körpers thut, wie Degner
nebst Andern erfuhr. — Die Gemüthsstö-
rung und die Herzensangst, welche, un-
ter Andern, Hill vom Quecksilbergebrau-
che wahrnahm, und die bekannte, fast
specifische Tendenz dieses Metalls, Spei-
chelfluß zu erregen, erklärt sehr einleuch-
tend, wie W. Perfect eine mit Speichel-
fluß abwechselnde Melancholie mit
Quecksilber dauerhaft heilen konnte. —
Woher kömmt des Quecksilbers guter Ruf
in der häutigen Bräune? Warum war
Seelig in Heilung der von Frieselfieber be-
gleiteten bösartigen Bräune so glücklich
mit Kalomel? Macht wohl irgend eine Arz-
nei in der Welt vor sich eine schlimmere
Bräune als Kalomel? — Heilte Sauter je-
ne geschwürige Mundentzündung mit
Schwämmchen und Speichelflußgestan-
ke durch Gurgeln mit Sublimatauflösung
wohl anders als homöopathisch, das ist,
durch eine ähnliche arzneiliche Krankheits-
potenz? — Mehrerer Gemische von Arz-
neien bediente sich Hecker in der caries
von Pocken mit sichtbarem Erfolge; zum
Glücke daß in allen diesen Mischungen
Quecksilber mit befindlich war, von wel-
chem nur allein dieß Uebel besiegt werden
konnte, homöopathisch, da Quecksilber un-
ter allen je bekannt gewordnen Arzneien,
die einzige Potenz ist, welche Knochen-
fraß specifisch selbst erzeugen kann, wie
so viele übertriebne Merkurialkuren, auch
unvenerische Kuren (Michaelis) bezeugen.
Eben so wird auch dieses bei seinem lang-
wierigen Gebrauche durch Erzeugung des
Beinfraßes so fürchterliche Metall, ho-
möopathisch höchst wohlthätig in Heilung
der caries bei Verwundungen der Kno-
chen, wovon uns Justus Schlegel, Joerdens
und J. Matth. Müller (obs. med. chir. Dec. II.
Cas. X.) sehr merkwürdige Beobachtungen
geliefert haben.
Bei Lesung der Schriften über die me-
dicinische Elektrisität muß man über
die nahe Beziehung erstaunen, mit welcher
die von ihr hie und da erzeugten Körperbe-
schwerden und Krankheitszufälle den ganz
ähnlichen Körperbeschwerden und Krank-
heiten entsprechen, welche sie mit Glück
und dauerhaft durch Homöopathie geheilt
hat. Ich sage hier nichts von den Heilun-
gen die sie schon als entgegengesetzt wir-
kendes Arzneimittel Blos in der Nachwirkung sehr heftiger und unge-
heurer elektrischen Schläge sind Anwandlung von
Lähmung der Glieder, Gefühlsverlust, und Läh-
mung der Gehör- und Seh-Nerven enthalten. bei neu entstand-
nen Fällen von Gefühlsverlust, Schlagfluß,
Lähmungen und schwarzem Staare bei voll-
kräftigen Körpern zuweilen vollführte —
da sie dergleichen auf diese opponirte Wei-
se in chronischen alten Lähmungen und
Amaurosen der Natur der Sache nach, nie
auszurichten im Stande ist, so wenig als
irgend ein andres Palliativ. Ich erwähne
blos ihrer homöopathischen Wirkungen.
Unzählig sind die Schriftsteller, welche in
der Primärwirkung Beschleunigung
des Pulses von der positiven Elektrisität
wahrnahmen, vollständig fieberhafte An-
fälle aber, blos durch Elektrisität erzeugt,
sahen Sauvages, Delas und Barillon bei Ber-
tholon. Diese ihre febrilische Tendenz war
Ursache, daß Gardini, Wilkinson, Syme, und
Wesley eine Art Tertianfieber einzig mit
Elektrisität heilen konnten, Zetzel aber und
Willermoz sogar Quartanfieber. — Sie er-
regt, wie bekannt, eine den Zuckungen
ähnliche Verkürzung der Muskeln, und de
Sans konnte durch sie, so oft er wollte, so-
gar anhaltende Konvulsionen am Arme ei-
nes Mädchens erregen; und eben mittelst
dieser konvulsivischen Tendenz konnten de
Sans und Francklin (bei Sauvages) krankhafte
Konvulsionen mit Elektrisität stillen. —
Hamilton und de Haen sahen die Elektrisität
rheumatische Schmerzen hervorbringen,
und eben rhevematische Schmerzen sind es,
welche unzählige Mahle schon von der Elek-
trisität homöopathisch und dauerhaft geheilt
worden sind, wie eine unnennbare Menge
Aerzte und Naturforscher bezeugen. — Auch
Hüftweh selbst, erregte die Elektrisität
(Jallabert und Philos. Trans. Vol. 63.) und
konnte also auch leicht das Hüftweh hei-
len, wie Hiortberg, Lovet, Arrigoni, Dabou-
eix, Mauduyt, Syme und Wesley durch ihre
Erfahrungen bewährt haben. — Eine Men-
ge Aerzte haben eine Art Augenentzün-
dung durch Elektrisität gehoben, nämlich
vermittelst eben der Tendenz derselben,
wodurch sie selbst Augenentzündungen
(nach Patrick, Dickson und Bertholon) erzeu-
gen kann. — Buisson sah eine Verhärtung
der Brustdrüsen vom Blitze verschwinden
und Mauduyt heilte verhärtete Halsdrü-
sen mit Elektrisität; er hätte es nicht ver-
mocht, wenn dieses Agens nicht schon vor
sich im Stande wäre, Geschwülste der
Halsdrüsen zu erzeugen, wie de Haen von
ihr sah. — Fuschel heilte Aderkröpfe (va-
rices) mit Elektrisität, welche diese Heil-
kraft blos mittelst ihrer (von Jallabert be-
obachteten) Eigenschaft, Venengeschwül-
ste zu erregen, besitzt.
Der Galvanische Metallreitz, wel-
cher schon vor sich (wie Ritter, Bischoff und
Geiger vielfältig beobachteten) die Kraft be-
sitzt, die Muskeln (der positive Pol die
Strecke- der negative aber die Beuge-Mus-
keln) zuverkürzen, konnte jene dreizehn-
jährige Stummheit (Hufel. Journ. XXIV.) wel-
che in einer Steifigkeit der Zunge be-
stand, in wenigen Tagen, in kleiner Gabe
angewendet (mit einem einzigen Plattenpaa-
re) leicht und vollständig heilen, da die Hei-
lung durch Homöopathie geschah. — Der un-
erträglich brennend stechende Schmerz,
den der Galvanismus nach Schließung der
Kette, wie bekannt, an jeder empfindlichen
Stelle unsers Körpers hervorbringt, erklärt
von selbst, wie vor einiger Zeit eine Art
Gesichtsschmerz (tic douloureux) von ei-
nem Arzte durch die Voltaische Säule ge-
heilt werden konnte.
Starke Hitze eines akuten Fiebers mit
130 Pulsschlägen ward von einem heißen
Bade von 100° Fahr. sehr gemildert und
der Puls bis zu 110 Schlägen herabge-
stimmt (Albers).
Und so finden sich noch mehrere Hei-
lungen in allen Zeitaltern durch Arzneien
von ähnlicher Krankheitspotenz als die zu
heilende Krankheit war, schnell und dau-
erhaft vollführt, deren Urheber ohne zu
wissen, was sie thaten, selbst im Wi-
derspruche mit den Lehren aller
bisherigen Systeme, und wider ihren
Willen, das wohlthätige Heilgesetz der Ho-
möopathie faktisch bestätigen mußten, das
sie scientiv anzuerkennen von ihren sym-
bolischen Büchern gehindert wurden.
So hat auch sogar die Hausmittelpraxis
der mit gesundem Beobachtungssinn be-
gabten unärztlichen Klasse von Menschen
diese Heilart als die sicherste und gründ-
lichste in der Erfahrung befunden.
Auf frisch erfrorne Glieder legt man
Schnee oder gefrornes Sauerkraut. — Eine
mit kochender Brühe begossene Hand hält
der erfahrne Koch in einiger Entfernung
dem Feuer nahe, und achtet den anfänglich
dadurch vermehrten Schmerz nicht, da er
weiß, daß er hiemit in kurzer Zeit die ver-
brannte Stelle zur gesunden, schmerzlosen
Haut wieder herstellen kann; — andre
verständige Nichtärzte legen auf die ver-
brannte Stelle ein ähnliches, Brennen er-
zeugendes Mittel, starken Weingeist oder
Terbenthinöl, und stellen sich binnen ein
Paar Stunden damit wieder her, während
die kühlenden Salben, wie sie wissen, dieß
in eben so viel Monaten oft nicht ausrich-
ten. — Der alte kluge Schnitter wird,
wenn er auch sonst keinen Brantwein
trinkt, doch in dem Falle, wenn er in der
Sommergluth sich bis zum hitzigen Fieber
angestrengt hat, nicht kaltes Wasser (con-
traria contrariis) trinken (er kennt das Nach-
theilige dieses palliativen Verfahrens), son-
dern einen mäßigen Schluck Branntwein;
die Lehrerin der Wahrheit, Erfahrung, über-
zeugte ihn von dem Vorzuge dieses homöo-
pathischen Verfahrens.
Ia es gab sogar von Zeit zu Zeit Aerzte,
welche ahneten, daß die Arzneien durch
ihre Kraft, analoge Symptomen zu erregen,
analoge Krankheitszustände heilen. So sagt
Hippokrates, oder der Verfasser des Buchs
πεϱὶ τόπων τὥν κὰτ̕ ἄνϑϱωπον (Basil. Frob. 1538.
S. 72.) die merkwürdigen Worte: διὰ τὰ ὅμοια
νȣσος γίνεται, ϰαὶ διὰ τὰ ὅμοια πϱοςφεϱόμενα ἐϰ
νοσεύντων ὑγιαίνονται — διὰ τὸ ἐμέειν ἔμετος
παύεται. — So haben auch nachgängige Aerz-
te (außer dem, was Thomas Erastus in sei-
nen Disputationen nur so als scholastische
Thesis hinwirft) die Wahrheit der homöo-
pathischen Heilart gefühlt. So sieht z. B.
Boulduc ein (Mem. de l’ac. roy. 1710.), daß die
purgirende Eigenschaft der Rhabarber die
Ursache ihrer Durchfall stillenden Kraft sei;
— Detharding erräth (Eph. N. C. Cent. 10. obs. 76),
daß der Sensblätteraufguß Kolik bei Er-
wachsenen stille, vermöge seiner analogen,
Kolik erregenden Wirkung bei Gesunden —;
und wenn Bertholon (Med. Elektr. II. S. 15, vergl.
mit S. 282.) gesteht, daß die Elektrisität den-
selben (höchst ähnlichen) Schmerz, den sie
selbst errege, in Krankheiten abstumpfe und
vernichte — und Thoury (memoire la à l’acad.
de Caen), daß die positive Elektrisität an sich
zwar den Puls beschleunige, aber wenn er
krankhaft schon zu schnell sei, denselben
langsamer mache — so scheinen beide die
homöopathische Kausalverbindung dieser
Erscheinungen mit Ueberzeugung anzuer-
kennen.
So nahe war man zuweilen der Wahr-
heit!
Organon
der
rationellen Heilkunde
nach
homöopathischen Gesetzen.
1.
Der Arzt hat kein höheres Ziel, als
kranke Menschen gesund zu machen, was
man Heilen nennt.
2.
Das höchste Ideal der Heilung ist
schnelle, sanfte, dauerhafte Wiederher-
stellung der Gesundheit, oder Hebung und
Vernichtung der Krankheit in ihrem gan-
zen Umfange auf dem kürzesten, zuverläs-
sigsten, unnachtheiligsten Wege, nach
deutlich einzusehenden Gründen. (ra-
tionelle Heilkunde).
3.
Sieht der Arzt deutlich ein, was an
Krankheiten überhaupt und an jedem ein-
zelnen Krankheitsfalle insbesondre zu hei-
A 2
len ist (Krankheitskenntniß, Kenntniß
des Krankheitsbedürfnisses — Indika-
tion —); sieht er deutlich ein, was an
Arzneien überhaupt und an jeder Arznei
insbesondre das Heilende ist (Kenntniß der
Arzneikräfte) und weiß er nach deutli-
chen Gründen das Heilende der Arzneien
auf das an der jedesmahligen Krankheit zu
Heilende so, daß Genesung erfolgen
muß, anzupassen sowohl in Hinsicht der
Angemessenheit der für den Fall nach ih-
rer Wirkungsart geeignetsten Arznei (Wahl
des Heilmittels — Indikat —) als in
Hinsicht der genau erforderlichen Menge
derselben (rechte Gabe) und der gehörigen
Wiederholungszeit der Gabe — kennt er
die Hindernisse der Genesung in jedem
Falle und weiß sie hinwegzuräumen, da-
mit die Herstellung von Dauer sei: so ver-
steht er durchaus nach zureichen-
den Gründen zu handeln und er
ist ein rationeller Heilkünstler.
4.
Er ist zugleich ein Gesundheit-Er-
halter, wenn er die, Gesundheit störenden
und Krankheit erzeugenden Dinge kennt,
und sie von den gesunden Menschen abzu-
halten weiß.
5.
Es läßt sich denken, daß jede Krank-
heit auf einer Veränderung im In-
nern des menschlichen Organis-
mus gegründet seyn müsse: diese wird je-
doch blos nach dem, was die äußern Zei-
chen davon verrathen, vom Verstande ge-
ahnet; an sich erkennbar aber auf
irgend eine Weise ist sie nicht.
6.
Das unsichtbare, krankhaft Veränder-
te im Innern und die merkbare Verän-
derung des Befindens im Aeußern (Symp-
tomen Inbegriff) machen zusammen aus,
was man Krankheit nennt; beide sind die
Krankheit selbst.
Anm. Ich weiß daher nicht, wie man jenes
bei Krankheiten im Innern des Körpers
krankhaft Veränderte, für etwas der
Krankheit Außerwesentliches und vor
sich Bestehendes, für eine Bedingung
der Krankheit, für ihre innere,
nächste, erste Ursache (prima
causa) hat ausgeben können. Eine Sa-
che oder ein Zustand bedürfen doch nur
zum Werden einer ersten nächsten
Ursache; wenn sie aber schon sind, so
bedürfen sie zum Seyn nun keiner Ent-
stehungs-, keiner ersten und nächsten Ur-
sache mehr.
Eben so dauert die nun einmahl ent-
standne Krankheit fort, unabhängig von
ihrer nächsten Entstehungs-Ursache und
ohne daß diese noch dazuseyn braucht:
ohne daß sie noch da ist. Wie hat man
nun wohl ihre Wegnahme zur Hauptbe-
dingung der Krankheitsheilung machen
können? Unmöglich klebt einer fliegen-
den Kugel eine prima causa ihres Flugs an,
und was wir an ihr Verändertes bemer-
ken können, ist blos eine abgeänderte Art
ihrer Existenz, ein abgeänderter Zustand,
und es würde mehr als lächerlich seyn,
zu behaupten, man könne diesen Zustand
nicht anders gründlich aufheben, man
könne die Kugel nicht besser wieder in Ruhe
bringen, als erst durch Ausforschung der
prima causa ihres Flugs, und dann durch
Hinwegnahme dieser metaphysisch erkann-
ten prima causa — oder durch Hinweg-
nahme der diesem Fluge zum Grunde lie-
genden, (wie sich Andre ausdrücken) im
innern Wesen der Kugel entstandnen Ver-
änderungen.
Mit nichten! Ein einziger dem Fluge der
Kugel in gerader Richtung opponirter Stoß
von gleicher Gegenkraft bringt sie augen-
blicklich zur Ruhe, ohne alle metaphysi-
sche, unmögliche Erforschungen der in-
nern Wesenheit des Zustandes der Kugel
beim Fluge.
Man braucht blos die Symptomen des
Fluges dieser Kugel, das ist, die Kraft der
Fortbewegung und ihre Richtung genau
zu kennen, um diesem Zustande ein gera-
de opponirtes Gegenmittel von gleicher
Kraft entgegen setzen und so augenblickli-
che Ruhe herstellen zu können.
Dieses ist zugleich (sei’s im Vorbeigehn
gesagt) ein Beispiel von den übrigen natur-
gemäßen Abänderungen der abnormen Zu-
stände physischer Dinge — nämlich
durch das gerade Entgegengesetzte. So wird
das kochende Wasser schnell durch Zusatz
einer gewissen Portion Schnee zur gemäsig-
ten Temperatur herabgestimmt — so ver-
liert die Säure durch das ihr opponirte Lau-
gensalz ihre Schärfe und wird zum Neu-
tralsalze — das allzu Gedehnte sucht sich
zusammen zu ziehen, das Gepreßte sich
auszudehnen — das allzu Trockne zieht
Feuchtigkeit aus der Luft an sich, u. s.
w. und so werden wohl die meisten Ab-
änderungen der abnormen Zustände phy-
sischer Dinge durch Gegensätze von außen
durch die Natur bewerkstelligt.
Der vitale Organismus der Thiere hin-
gegen bedurfte ganz hievon abweichender
Gesetze zur Entfernung seines krankhaft ab-
geandertengeänderten Zustandes; da gilt nicht das Ge-
setz des opponirten Gegensatzes, was zur
Abänderung der Zustände der unvita-
len physischen Natur das angemessene
war.
7.
In den Arzneien muß ein heilen-
des Princip vorhanden seyn; der Ver-
stand ahnet es. Aber sein Wesen ist
uns auf keine Weise erkennbar —;
blos seine Aeußerungen und Wirkungen
lassen sich in der Erfahrung abnehmen.
8.
Der vorurtheillose Beobachter —,
er kennt den Unwerth übersinnlicher Spe-
kulationen, die sich in der Erfahrung nicht
nachweisen lassen — nimmt, auch wenn
er der scharfsinnigste ist, an jeder einzel-
nen Krankheit nichts, als äußerlich durch
die Sinne erkennbare Veränderungen des
Befindens Leibes und der Seele, Krank-
heitszufälle, Symptomen wahr, das
ist, in die Beobachtung des Kranken über
sich selbst, und des Arztes und der Um-
stehenden über ihn fallende Abweichungen
vom gesunden, ehemahligen Zustande des-
selben. Alle diese wahrnehmbaren Zeichen
bilden zusammen die Gestalt der Krank-
heit.
9
Da an Krankheiten sonst nichts wahr-
nehmbar ist, als diese; so müssen es
auch einzig diese Symptomen seyn, durch
welche die Krankheit Beziehung zur erfor-
derlichen Arznei hat, wodurch sie Anfode-
rung auf Hülfe macht und auf dieselbe hin-
weisen kann —, so muß dieser Sympto-
menkomplex, dieses nach außen re-
flektirte Bild des innern Wesens
der Krankheit das einzige seyn, wo-
durch es — von Seiten der Krankheit —
möglich ward, ein Heilmittel für sie aufzu-
finden, das einzige, was die Wahl des
angemessensten Heilmittels bestimmen
kann.
10.
Blos der Komplex aller Symptomen
einer Krankheit repräsentirt diese Krank-
heit in ihrem ganzen Umfange.
Anm. 1. Alle genauere Erfahrungen lehren,
daß eine beschwerliche, Hülfe erheischen-
de Krankheit fast nie aus einem einzigen
Symptome bestehe, und ein einziges hefti-
ges Symptom fast nie allein da sei. Fast
immer sind mehrere merkbare Krankheits-
zeichen und Abweichungen vom natürli-
chen Zustande zugleich, am Kranken wahr-
zunehmen, welche die Einheit des kranken
Gesamtzustandes bilden, so wenig auch ei-
nige derselben auf den ersten Anblick Be-
ziehung auf einander zu haben scheinen.
Ein einziger, leichter Zufall ist keine,
Hülfe fodernde Krankheit.
Anm. 2. Von jeher suchte man, wenn man
sich nicht anders zu helfen wußte, in
Krankheiten hie und da ein einzelnes
der mehrern Symptomen durch Arzneien
zu bestreiten und wo möglich zu unterdrü-
cken — eine Einseitigkeit, welche un-
ter dem Namen, symptomatische Kur-
art mit Recht allgemeine Verachtung er-
regt hat, weil durch sie nicht nur nichts
gewonnen, sondern auch viel verdorben
wird. Ein einzelnes der Symptomen ist so
wenig die Krankheit selbst, als ein ein-
zelner Fuß der Mensch selbst ist.
11.
Es läßt sich nicht denken, auch durch
keine Erfahrungen in der Welt nachwei-
sen, daß nach Hebung aller Krankheits-
symptomen (des ganzen Konvoluts der
wahrnehmbaren Zufälle), etwas andres als
Gesundheit übrig bliebe, übrig bleiben kön-
ne, so daß die krankhafte Veränderung im
Innern des Organismus ungetilgt geblieben
wäre.
12.
Die unsichtbare krankhafte Verände-
rung im Innern und der Komplex der von
außen wahrnehmbaren Symptomen sind
hienach beide wechselseitig und nothwen-
dig durch einander bedingt, beide bilden
zusammen die Krankheit in ihrem Umfange,
das ist, eine solche Einheit, daß leztere
mit ersterer zugleich stehen und fallen, daß
sie zugleich mit einander daseyn und zu-
gleich mit einander verschwinden müssen,
so daß, wer (was) im Stande ist, die Grup-
pe der wahrnehmbaren Symptome hervor-
zubringen, zugleich die dazu gehörige (von
der äußern Krankheitserscheinung unzer-
trennliche) innere krankhafte Veränderung
im Körper erzeugt haben muß — sonst
wäre die Erscheinung der Symptomen un-
möglich —, und, folglich, wer (was) den
Umfang der wahrnehmbaren Krankheits-
zeichen hebt, auch zugleich die krankhafte
Aenderung im Innern des Organismus ge-
hoben haben muß — weil sich die Hebung
der erstern ohne die Verschwindung der
leztern nicht denken läßt.
Anm. Ein ahnungsvoller Traum, eine abergläu-
bige Einbildung, eine feierliche Schicksal-
Prophezeyung des an einem gewissen Tage
und zu einer gewissen Stunde unfehlbar zu
erwartenden Todes brachte nicht selten alle
Zeichen entstehender und zunehmender
Krankheit, des herannahenden Todes und
den Tod selbst zu der angedeuteten Stunde
zuwege, welches ohne gleichzeitige Bewir-
kung der (dem von außen wahrnehmbaren
Zustande entsprechenden) innern Verän-
derung nicht möglich war —; und eben
so wurden in solchen Fällen durch eine
künstliche Täuschung oder Gegenüberre-
dung wiederum alle den nahen Tod ankün-
digenden Krankheitsmerkmale nicht selten
verscheucht und plötzlich Gesundheit wie-
der hergestellt, welches ohne Wegnahme
der Tod bereitenden, innern krankhaften
Veränderungen ebenfalls nicht möglich war.
13.
Da nun in der Heilung durch Hin-
wegnahme des ganzen Inbegriffs der wahr-
nehmbaren Zeichen und Zufälle der Krank-
heit zugleich die ihr zum Grunde liegende
innere Veränderung — also jedesmahl das
Total der Krankheit — gehoben wird, so
folgt, daß der Heilkünstler blos den Inbe-
griff der Symptomen hinwegzunehmen hat,
um mit ihm zugleich die Veränderung im
Innern — also das Total der Krankheit,
die Krankheit selbst, zu heben, als worauf
einzig das erhabne Ziel des rationellen Heil-
künstlers beruhen kann; man müßte denn
das Wesen der Heilkunde nicht in Her-
stellung der Gesundheit, sondern in Er-
grübelung der Veränderung im verborgnen
Innern, d. i. in fruchtleeren Spekulationen
suchen wollen.
Anm. Blos vom Misbrauche des zu edlern Ab-
sichten dem menschlichen Geiste verliehe-
nen Triebes, das Unendliche zu erreichen,
entstanden jene kecken Eingriffe in das Ge-
biet des Unmöglichen, jene spekulativen
Grübeleien über das innere Wesen des arz-
neilich wirkenden Stoffs in den Medika-
menten, über Vitalität an sich, über die
innere, unsichtbare Einrichtung des Orga-
nismus im gesunden Zustande und über die,
Krankheit bedingende Abänderung dieses
verborgnen Innern, das ist, über die in-
nere Natur und Wesenheit der Krankheit,
fälschlich „innere nächste Ursache“ ge-
nannt.
Es blieben aber Spiele der Phantasie und
des Witzes (physiogenische und pathogeni-
sche Poesie), weil uns die zur metaphysi-
schen Kenntniß der innern Vorgänge im in-
nern, lebenden Organismus nöthigen festen
Punkte fehlen und in Ewigkeit fehlen wer-
den, von deren nächstem man stufenweise
zu den übrigen bis an den innersten Ur-
punkt übergehen könne, woran der Men-
schenschöpfer die Bedingung der Krank-
heit im Heiligthume jener verborgnen
Werkstätte knüpfte. Alles was die Men-
schenkinder vom thierischen Magnetism,
Galvanism, Elektricität, Anziehungs- und
Abstoßungskraft, Erdmagnetism, Wär-
mestoff, Gaslehre und von der übrigen Che-
mie und Physik etwa aufgefaßt haben,
reicht bei weitem nicht hin zur aufschlie-
ßenden, deutlichen und fruchtbringenden
Erklärung auch nur der mindesten
Funktion im lebenden, gesunden oder kran-
ken Organism. Welche unzähligen, un-
bekannten Kräfte und ihre Gesetze mögen
bei den Verrichtungen der lebenden Organe
noch in Wirkung seyn, die wir nicht
einmahl ahnen und zu deren Erkennung
uns unendlich mehr Sinne, als wir haben,
und von unendlicher Feinheit verliehen
seyn müßten! Alle diese zu einer solchen
abstrakten Erforschung nothwendigen Er-
fordernisse, alle jene festen Punkte und
Mittelglieder fehlen dem Sterblichen gänz-
lich — und es ist Miskenntniß der mensch-
lichen Fähigkeiten und Verkennung der
Erfordernisse zum Heilgeschäfte, wenn der
Arzt die Ergrübelung solcher Dinge für
nöthig ausgiebt, deren Kenntniß ihm so
unnöthig ist, als unfähig er zu ihrer Er-
forschung geschaffen ward.
So viele der tiefdenkendsten Köpfe sich
auch zu diesem „Dringen ins Innere der
Natur“ hingaben, so vielerlei fruchtleere
Hypothesen entstanden auch, voll Wider-
sprüche. Dieß lehrt die ganze Geschichte,
dieß lehrt das Urtheil des unterrichtetsten,
gesunden Verstandes.
Und wenn sie nur den mindesten Nutzen
dem Heilgeschäfte geleistet hätten; wenn
diese Grübeleien auch nur das wahre Heil-
mittel der mindesten Krankheit hätte offen-
baren können, so möchte es noch hinge-
hen!
Eben so denkt der ehrliche und weise
Sydenham: „quantulacumque in hoc sci-
„entiae genere accessio, etsi nihil magnifi-
„centius quam odontalgiae aut clavorum
„pedibus innascentium curationem edoceat,
„longe maximi facienda est, prae inani sub-
„tilium speculationum pompa, — quae for-
„tasse medico ad abigendos morbos non ma-
„gis ex usu futura est, quam architecto ad
construendas aedes musicae artis peritia.“
Man sehe nur! Alle ersinnlichen Theo-
reme über die Funktionen und die innere
Form und Bestandtheile des lebenden Ge-
hirns im gesunden und kranken Zustande,
alle jene unzähligen Speculationen über
die Natur der Entzündungen, alle Hypo-
thesen über die Natur des Wassers und des
Wärmestoffs vermochten nicht einmahl, so
lange die Welt stand, das specifische Heil-
mittel der vom Sonnenstiche entstandnen
Phrenitis weder zu errathen, noch auszu-
sprechen! — Löffler fand es zufalls-
weise in der Begießung der Haut mit hei-
ßem Wasser, und die rationelle (homöopa-
thische) Heilkunde weiß diese und andre
specifische Hülfe aus ihren einfachen Sätzen
leicht und schnell hervorzurufen, ohne
metaphysisches Kopfzerbrechen,
auch ohne den, oft Iahrtausende zögern-
den Zufall abzuwarten.
14.
Da nun, wenn man den Komplex
der Symptomen ausnimmt, an Krankheiten
sonst nichts durch Beobachtung Wahr-
nehmbares auszufinden ist, wodurch sie
ihr Hülfe-Bedürfniß ausdrücken könnten;
so folgt, daß das einzige, was an Krank-
heiten eine bedeutende Hinweisung (Indi-
kation) auf ein zu wählendes Heilmittel
geben könne, blos der Inbegriff aller wahr-
nehmbaren Symptomen seyn muß.
B
15.
Hinwiederum, da das heilende We-
sen in Arzneien nicht an sich erkennbar
ist, und in reinen Versuchen selbst vom
scharfsinnigsten Beobachter an Arzneien
sonst nichts, was sie zu Arzneien machte,
wahrgenommen werden kann, als jene
Kraft, im menschlichen Körper deutliche
Veränderungen seines Befindens hervor zu
bringen, besonders aber den gesunden
Menschen umzustimmen, und mehrere,
bestimmte Krankheitssymptomen in und an
demselben zu erregen; so folgt, daß, wenn
die Arzneien als Heilmittel wirken, sie
ebenfalls nur durch diese Symptomenerre-
gung ihr inneres Heilprincip an den Tag
legen und ihr Heilvermögen in Ausübung
bringen können, und wir uns also einzig
an die krankhaften Zufälle, die die Arz-
neien im gesunden Körper erzeugen (als die
einzige Offenbarung ihrer inwohnenden
Heiltendenz) zu halten haben, um zu be-
stimmen, welche unter den einzelnen Arz-
neien dem jedesmahligen Krankheitsfalle
am angemessensten sei (sobald gefunden
ist, worauf diese Angemessenheit beruht).
16.
Da nun Krankheiten nichts aufzuwei-
sen haben, was an ihnen hinwegzuneh-
men sei, um sie in Gesundheit zu verwan-
deln, als den Komplex ihrer Symptomen,
und auch die Arzneien nichts Heilkräfti-
ges aufweisen können, als ihre Neigung,
Krankheits-Symptome zu erzeugen, so
folgt, daß wenn Arzneien wirklich Heil-
mittel zu werden, das ist, Krankheiten
vernichten zu können im Stande sind, die-
ses nur dadurch erfolgen kann, daß von
gewissen Symptomen, die das Heilmittel
erzeugen kann, gewisse Symptomen der
Krankheit aufgehoben und vertilgt werden.
17.
Fände man nun in der Erfahrung
(wie man auch findet!), daß ein gegeb-
nes Symptom einer Krankheit blos von
demjenigen Arzneistoffe gehoben würde,
welcher ein ähnliches unter seinen (im ge-
sunden Körper von ihm erzeugten) Symp-
tomen aufzuweisen hat, so würde es schon
wahrscheinlich, daß diese Arznei durch
ihre Tendenz, gleichartige Symptomen zu
B 2
erregen, fähig werde, an dieser Krankheit
Symptomen gleicher Art zu tilgen.
18.
Fände sichs dann ferner (wie sichs
auch in der That findet!), daß diejenige
Arznei, welche in ihrer Einwirkung auf
den gesunden menschlichen Körper alle die
Symptomen zu erkennen gegeben hat, die
die zu heilende Krankheit in sich faßt, bei
ihrem arzneilichen Gebrauche in derselben
auch den ganzen Komplex der Krankheits-
symptomen, die ganze gegenwärtige
Krankheit aufhebe und in Gesundheit ver-
wandle, so ließe sich nicht zweifeln, daß
das Gesetz gefunden sei, nach welchem
diese Arznei auf diese Krankheit heilbrin-
gend gewirkt habe, das Gesetz: gleicharti-
ge Symptomen dieser Arznei heben Symp-
tomen gleicher Art in dieser gegebnen
Krankheit auf.
19.
Da sichs nun aber ohne Widerrede,
und ohne den mindesten Zweifel übrig
zu lassen, in Rücksicht jeder Arznei und
jeder Krankheit in der Erfahrung findet,
daß alle Arzneien die ihnen an Sympto-
men konformen Krankheiten ohne Aus-
nahme schnell, gründlich und dauerhaft
heilen, so hindert uns nichts, festzu-
setzen: „das Heilvermögen der
Arzneien beruht auf ihren, mit
den der Krankheit überein kom-
menden Symptomen,“ oder mit andern
Worten: „jede Arznei, welche un-
ter ihren, im gesunden menschli-
chen Körper von ihr erzeugten
Krankheitszufällen die meisten
der in einer gegebnen Krankheit
bemerkbaren Symptome aufwei-
sen kann, vermag diese Krank-
heit am schnellsten, gründlich-
sten und dauerhaftesten zu hei-
len.“
20.
Dieses ewige allgemeine Naturgesetz,
daß jede Krankheit durch die ihr ähnliche
künstliche Krankheit, die das passende
Heilmittel zu erzeugen Tendenz hat, ver-
nichtet und geheilet wird, beruht auf dem
Satze: daß immer nur eine einzige
Krankheit im Körper bestehen
kann, daher durchaus eine Krank-
heit der andern weichen muß.
Anm. Die wenigen Beispiele, welche man
vom Gegentheile hat anführen wollen,
waren der Täuschung allzu sehr unterwor-
fen, als daß man sie reine, über alle
Zweifel erhabne Beobachtungen nennen
könnte.
21.
Der Organism erhält nämlich von je-
der Krankheit eine besondre Stimmung;
eine zweite andre Stimmung von einer
neuen Krankheit kann er, seiner an un-
wandelbare Einheits-Gesetze gebundnen
Natur wegen, entweder überhaupt nicht
annehmen, oder doch nicht, ohne die er-
stere krankhafte Stimmung fahren zu las-
sen; die neue krankhafte Stimmung müßte
denn bei ihrer Unfähigkeit die ältere auf-
zuheben, dem Organism allzu lange aufge-
drungen werden, da dann beide verschmel-
zen zu einer ebenfalls einzigen (dritten)
Krankheit, die man mit dem Namen, kom-
plicirte Krankheit belegt. Diese Sätze
gründen sich auf folgende Thatsachen.
22.
Eine chronische, im Körper schon
vorhandne, natürliche Krankheit hält die
Entstehung einer neuen chronischen
Krankheit ab, außer wenn wenigstens die
neue eine miasmatische oder endemische
ist, deren Ansteckung der Körper fortwäh-
rend geraume Zeit über ausgesetzt blieb.
In diesem Falle, da beide gewöhnlich un-
gleichartig sind, die neue folglich die
alte nicht homöopathisch vernichten kann,
wird entweder die ältere, wenn sie schwä-
cher ist, von der neuen, so lange diese dau-
ert, suspendirt (so verschwand, wie
Schoepf sah, die Krätze, als der Scharbock
eintrat, kam aber nach Heilung des Schar-
bocks wieder hervor), oder es ver-
schmelzen beide zusammen in eine so-
genannte komplicirte Krankheit; wel-
che denn aber immer nur eine einzige bil-
det (einen Mittelzustand von beiden) und
blos wie eine einfache zu behandeln und
homöopathisch zu heilen ist nach dem To-
tal des neu vereinigten Symptomenkom-
plexes. — Von der Zeit der zweiten An-
steckung an bis zur Verschmelzung beider
in eine (dritte) einzige (komplicirte),
schweigt die ältere.
Anm. So kann eine ganz frisch entstandne
Krätze an einem noch ungeheilten veneri-
schen Kranken zwar noch, während die
venerischen Symptomen indeß schweigen,
mit der ihr eigenthümlichen Arznei geheilt
werden; kommen aber die (durch die Krätze
abgeänderten) venerischen Symptomen wie-
der hervor, so ist die Vereinigung beider
zu einer dritten (komplicirten) Krankheit
geschehen, und der Ausschlag kann nun
nicht mehr mit Schwefel geheilet werden.
Die Vereinigungen (Komplikationen)
des Scharbocks, der venerischen Krank-
heit, des Wichtelzopfs u. s. w. sind nicht
selten.
23.
Ungleich häufiger aber als die von
selbst verschmelzenden (und sich so kom-
plicirenden) natürlichen Krankheiten sind
die künstlichen, wenn auf einen mit
einem chronischen Uebel behafteten Körper
langwierige, unpassende Kuren wirken,
das ist, künstliche Krankheitspotenzen,
welche durch keinen analogen Gegenreitz
die alte Krankheit aufzuheben vermögen
und sie nicht homöopathisch heilen kön-
nen, sondern den Körper in einer dispara-
ten Richtung geraume Zeit lang angreifen,
und ihm so nach und nach eine andersar-
tige innere Umstimmung, eine künstliche
andersartige chronische Krankheit bei-
bringen, die mit dem alten chronischen Ue-
bel sich vereinigt und so ein neues mon-
ströses Uebel, eine komplicirte Krank-
heit bildet, oft von sehr empörender Art.
Anm. Mehrere in ärztlichen Iournalen zur Kon-
sultation aufgestellte Krankheitsfälle sind
von dieser Art, so wie andre in medi-
cinischen Schriften erzählte chronische
Krankengeschichten. Von gleicher Art
sind die häufigen Fälle, wo die venerische
Krankheit unter langwieriger Behandlung
mit unpassenden Quecksilberpräparaten
nicht heilt, sondern sich mit dem indeß
allmählig erzeugten chronischen Quecksil-
bersiechthume zu einem grausamen Mittel-
dinge von komplicirter Krankheit (verlarv-
te venerische Krankheit) verbindet, die nun
nicht mehr weder mit (dem Heilmittel
der venerischen Krankheit) Quecksilber,
noch mit (dem Heilmittel der Quecksilber-
krankheit) Schwefelleber zu heilen ist.
24.
Wird hingegen einem mit einer chro-
nischen Krankheit behafteten Körper eine
neue, mehr lokale und deshalb weniger
mit jener verschmelzbare Krankheit künst-
lich aufgedrungen, welche keine
Aehnlichkeit mit ersterer hat, folg-
lich die ältere nicht homöopathisch heilen
kann, so wird gewöhnlich die chronische
natürliche Krankheit so lange suspen-
dirt, als die künstliche unterhalten wird.
Anm. Zwei mit Fallsucht behaftete Kinder
wurden durch Ansteckung mit Grindko-
pfe von den epileptischen Anfällen, an de-
nen sie gelitten hatten, indeß frei; so-
bald aber die Köpfe wieder heilten, war
auch die alte Fallsucht bei beiden wieder
da, wie Tulpius sah. — Schon mehrere
Epileptische blieben von ihren Anfällen
frei, so lange die ihnen gelegten Fontanel-
len im Gange erhalten wurden; verfielen
aber sogleich wieder in die bisher nur sus-
pendirte Fallsucht, wenn man die künst-
lichen Geschwüre (und wenn es erst nach
vielen Iahren geschah) wieder zuheilen
ließ. Pechlin und mehrere Andre füh-
ren hievon Beispiele an.
25.
Ist schon eine alte chronische, entwe-
der künstliche oder natürliche Krankheit
im Körper, so wird von dieser, als der stär-
kern, eine neue akute andersartige
natürliche Krankheit, auch oft eine künst-
lich aufgedrungene akute Krankheit vom
Organism abgehalten.
Anm. Leute, die an Flechten leiden, sind
nach Larrey frei von der Pestansteckung,
und durch unterhaltene Fontanelle und
beständige Blasenpflaster (d. i. künstliche,
(lokale) chronische Krankheiten) bleiben die
Europäer in Syrien frei von der Ansteckung
der levantischen Pest, wie in neuern Zei-
ten Larrey, in ältern aber van Hilden und
F. Plater beobachtet haben. Mehrere chro-
nische Krankheiten, (flechtenartige Aus-
schläge und andre Hautkrankheiten, Ien-
ner) vorzüglich aber die Rachitis lassen die
Schutzpockenimpfung nicht haften, so wie
das durch tägliches Koffeetrinken bei Kin-
dern erzeugte Siechthum diese Impfung
mächtig abwehrt, oder doch öfters unächte
Vaccinepusteln erzeugt.
26.
Wird aber einem mit einem chroni-
schen Uebel behafteten Körper eine neue
akute Krankheit dennoch aufgedrungen,
und leztere ist stärker, aber ungleich-
artig, so schweigt die chronische Krank-
heit nur so lange (wird suspendirt), als
die akute ihren Verlauf hält und kömmt
dann ungeändert wieder hervor.
Anm. Wie die geschwürige Lungensucht still-
steht, wenn die Menschenpocken ausbre-
chen, und sich wieder erneuert, sobald
sie abgetrocknet sind.
27.
Wird ein schon mit einer akuten
Krankheit behafteter Körper mit einer neuen
akuten, aber andersartigen Krankheit
angesteckt, so weicht die eine, welche die
schwächere ist, wird aber nicht vernich-
tet, sondern blos so lange suspendirt,
bis die stärkere ihren Lauf vollendet hat.
Anm. Die zuerst ausgebrochenen Masern ver-
schwinden sogleich, sobald die Kindblat-
tern ausbrechen, und erst wenn diese ab-
geheilt sind, kommen die bis dahin suspen-
dirten Masern wieder zum Vorscheine, und
vollenden ihren Lauf. — Einen Bauerwä-
zel (Mumps) sah ich sogleich verschwin-
den, als die Schutzpockenimpfung gehaf-
tet hatte, und erst nach Beendigung der
Vaccine, als die peripherische Entzündung
vergangen war, kam die fieberhafte Ohr-
und Unterkiefer-Drüsengeschwulst (Bau-
erwäzel) wieder hervor, und verlief wie
gewöhnlich. — Wie die Vaccinepusteln am
achten Tage zur Vollkommenheit waren,
brachen die (den Körper schon vorher an-
gesteckt habenden) Masern aus und die Kuh-
pocke stand still; erst nachdem die Masern
sich abschuppten, gieng die Vaccine ihren
Weg wieder fort bis zu Ende (Kortum) —.
Schon entwickeltes Scharlachfieber mit
Bräune ward vier Tage unterbrochen und
suspendirt, während die Kuhpocke und
ihre Areola entstanden (Ienner).
28.
Wird dagegen dem schon mit einer
akuten Krankheit behafteten Organism die
Ansteckung von einer andern akuten, aber
gleichartigen Krankheit aufgedrungen,
so hebt die stärkere die schwä-
chere gänzlich auf und vertilgt
sie homöopathisch.
Anm. So hebt die zu Schutzpocken kommen-
de Kindblatterkrankheit erstere gänzlich
auf; die Schutzpocken kommen nicht zur
Vollendung, sondern werden vernichtet,
wo es dann zuweilen den Anschein hat,
als ob die Schutzpocken sich in Kindblat-
tern verwandelten, welche leztern dann ein-
zig ihren Lauf fortsetzen bis zu Ende.
29.
Zwei akute zu einander in denselben
Körper kommende Krankheiten verschmel-
zen nicht mit einander; die etwa hievon
angeführten Fälle sind nur scheinbar.
Anm. Durch die ihrer Reife schon nahe ge-
kommene Vaccinepustel werden die nun
ausbrechenden Kindblattern oft zwar sehr
in ihrem Ansehn geändert, gutartig, ein-
zeln stehend, von einem breitern, rothen
Hofe umgeben, sind mehr warzenartig, und
enthalten wenig Eiter; aber dieser Eiter
bringt bei der Fortimpfung dennoch nichts
anders als wahre Kindblattern hervor (Müh-
ry). Zwei akute Krankheiten verschmel-
zen so wenig mit einander, daß man Bei-
spiele hat, wo wenige Augenblicke vorher,
ehe bei der Vaccination das Fieber des Men-
schenblatterausbruchs erschien, mit der
Lymphe aus den Vaccinepusteln noch an-
dre Kinder geimpft wurden, mit dem rei-
nen Erfolge, daß blos ächte Kuhpocken da-
von erschienen (Hardege d. j.). Zwei
akute gleichartige Krankheiten
heben einander blos auf, und
vernichten einander homöopa-
thisch (die stärkere die schwächere).
30.
Eben so, wenn schon eine chronische
Krankheit im Körper liegt, und es wird ihm
eine sehr ähnliche akute Krankheit auf-
gedrungen, so wird die chronische
von der akuten gänzlich vernich-
tet und homöopathisch geheilt.
Anm. So heilt die Schutzpockenimpfung, de-
ren Miasm nächst der Kraft, Kuhpocke
hervorzubringen, zugleich einen Anste-
ckungszunder zu einem Hautausschlage von
kleinen, in ihrem Umkreise rothen Pusteln
(pimples) enthält (und bei einigen Körpern
wirklich hervorbringt) einige diesem ähn-
liche, oft sehr alte Hautausschläge voll-
kommen und dauerhaft, wie eine Menge
Thatsachen erweisen. —
Eben so ward ein alter feuchtender Her-
pes durch die hinzugetretenen Masern voll-
kommen geheilt (Huf. Iourn. XXIII).
Leroy (Heilk. f. Mütter S. 384) sah eine
langwierige, sehr hartnäckige Augenent-
zündung bei einem Knaben durch die Men-
schenblatterkrankheit auf immer verschwin-
den, in deren Natur es liegt, Augenent-
zündung selbst zu erzeugen in ihrem aku-
ten Stadium.
Durch Einimpfung der Menschenblattern
ward eine hartnäckige Augenentzündung
gehoben von Dezoteux (traité de l’inocu-
lation S. 189). Und so sind mehrere der-
gleichen Fälle bei den Krankheitsbeobach-
tern anzutreffen.
31.
Auf diesem uns von der Erfahrung auf-
gestellten Gesetze der Menschennatur, daß
Krankheiten blos von gleichartigen Krank-
heiten vernichtet und geheilet werden, be-
ruht das große homöopathische Heilgesetz:
daß eine Krankheit blos von einer
Arznei vernichtet und geheilet
werden kann, welche eine gleich-
artige und ähnliche Krankheit zu
erzeugen geneigt ist — denn die
Effekte der Arzneien vor sich sind
nichts anders, als künstliche
Krankheiten.
32.
Die Tinktur von einer Unze China-
rinde mit ein Paar Pfund Wasser gemischt
und in Tag und Nacht allmählig ausgetrun-
ken, bringt nicht weniger gewiß ein mehr-
tägiges Chinafieber, und ein laues Fuß-
bad von Arsenikauflösung oder eine auf den
Haarkopf gestrichene Arseniksalbe nicht
weniger gewiß ein wenigstens vierzehntä-
giges Arsenikfieber zuwege, als der
Aufenthalt in herbstlicher Sumpfluft ein
gewöhnliches Wechselfieber zuwege
bringt. Ein Gürtel von Merkurialpflaster
um die Hüften gelegt Eine der ältesten Gebrauchsarten des Quecksilbers zu
Anfange des sechszehnten Iahrhunderts. bringt wohl noch
schneller und gewisser die Quecksilber-
krankheit hervor, als das angelegte Hem-
de von einem Krätzigen die Wollarbei-
C
ter-Krätze hervorbringt. Ein kräftiger
Hollunderblüthen-Aufguß, oder einige
verschluckte Belladonnebeeren sind eben
so gewiß krankmachende Potenzen,
als eingeimpfter Kindblatterstoff, oder ein
Viperbiß, oder ein Schreck, und jeder die-
ser Einflüsse kann aus gleichem Grunde,
als er Krankheits-Potenz ist, sobald er ei-
ner schon im Körper vorhandnen ähnlichen
Krankheit zu ihrer Vertreibung entgegen
gesetzt wird, aus gleichem Grunde zur Ge-
genkrankheitspotenz, zum Heilmittel wer-
den, so daß alles was wir Arznei
nennen, nichts anders als Krank-
heit erregende Potenz, und alle
wahre Heilmittel nichts anders
als Potenzen sind, welche eine
ähnliche Gegenkrankheit im Orga-
nism künstlich zu erzeugen fähig
und dadurch die ähnliche natürli-
che Krankheit aufzuheben und zu
vernichten im Stande sind.
33.
Freilich wird, wenn wir nach den Re-
geln der rationellen Heilkunde eine der zu
kurirenden Krankheit möglichst angemes-
sene Arznei gefunden haben und sie nun
als Heilmittel anwenden, durch eine sol-
che künstliche Krankheitspotenz dem schon
kranken Organism eine neue Krankheit (Ge-
genkrankheit) gewissermasen eingeimpft
und, so zu sagen, aufgedrungen; aber,
man muß gestehen, eine Gegenkrankheit
von ungemeinen Vorzügen vor allen na-
türlichen Gegenkrankheiten.
34.
Die unsichtbaren Einflüsse, von wel-
chen die gewöhnlichen Krankheiten des
Menschenlebens erregt zu werden pfle-
gen, sind uns allzu wenig bekannt, ste-
hen auch allzu wenig in unsrer Gewalt,
als daß wir durch sie Krankheiten bequem
und nach Willkühr hervorbringen, sie meh-
rern ältern Krankheiten als Heilmittel ent-
gegen setzen, und so Gesundheit, wo es
nöthig, damit wiederbringen könnten.
35.
Selbst der zur Entfernung einiger
Krankheiten einzuimpfenden Miasmen sind
zu wenig, als daß man von ihnen auch nur
C 2
einen mäßig ausgedehnten Gebrauch als
Heilmittel machen könnte.
36,36.
Könnten wir auch wirklich mehrere
natürliche Krankheiten durch Kunst und
nach Willkühr veranstalten, so sind sie
entweder der damit zu heilenden Krankheit
nicht analog genug, folglich nicht hülf-
reich, oder sie sind auch selbst von län-
gerer Dauer, und wenn sie ja das ältere
Uebel bezwungen hätten, so behaupten sie
sich dagegen selbst oft noch geraume Zeit
im Körper, verschwinden selten vor sich,
und müssen gewöhnlich durch künstliche
Hülfe wiederum gezwungen werden, zu
entweichen.
Anm. Beispiele giebt die eingeimpfte Woll-
arbeiter-Krätze, womit man hie und da
einige chronische Krankheiten heilte.
37.
Unendlich leichter hingegen, weit ge-
wisser und mit ungemessener Auswahl kön-
nen wir uns zum Heilzwecke jener Krank-
heitspotenzen bedienen, die man gewöhn-
lich Arzneien zu nennen pflegt; der durch
sie zu erregenden Gegenkrankheit (welche
die natürliche Krankheit, zu der wir ge-
rufen werden, aufheben soll) können wir
gemessene Stärke und Dauer geben, weil
Maas und Gewicht ihrer Gaben in unsrer
Gewalt steht, und da jede Arznei abwei-
chend von jeder andern, und vor sich
schon vielfach wirkt, so haben wir in der
großen Menge der Arzneistoffe eine uner-
meßliche Zahl künstlicher Krankheiten in
unsrer Hand, die wir den im Laufe der Na-
tur entstehenden Krankheiten und Gebre-
chen der Menschenkinder mit treffender
Wahl entgegen setzen und so Naturkrank-
heit mit höchst ähnlicher, künstlich erreg-
ter Gegenkrankheit schnell und sicher auf-
heben und auslöschen können.
38.
Da es nun weiter keinem Zweifel un-
terworfen ist, daß die Krankheiten des
Menschen blos in Gruppen gewisser beson-
drer Symptomen bestehen, durch einen Arz-
neistoff aber blos dadurch, daß dieser ähn-
liche krankhafte Symptomen künstlich zu
erzeugen vermag, vernichtet und in Ge-
sundheit verwandelt werden (worauf der
Vorgang aller ächten Heilung beruht), so
wird sich das Heilgeschäft auf Beantwor-
tung folgender Punkte beschränken:
I. Wie erforscht der Arzt was er von der
Krankheit zu Heilabsichten zu wissen
nöthig hat?
II. Wie erforscht er die als Gegenkrank-
heit, zur Heilung der natürlichen
Krankheiten bestimmte, krankmachen-
de Potenz der Arzneien?
III. Wie wendet er diese künstlichen
Krankheitspotenzen (Arzneien) zur
Heilung der natürlichen Krankheiten
am zweckmäsigsten an?
39.
Was den ersten Punkt betrifft, so
kann die ungeheure Verschiedenheit und
Menge der Krankheiten leicht verleiten,
zu glauben, man könne ihre übergroße
Mannigfaltigkeit unmöglich ins Gedächt-
niß fassen und überschauen und sie da-
her nicht heilen, wenn man keinen faß-
lichen Ueberblick über das Total gewin-
nen, und sie nicht in wenige Fächer von
kleinem Umfange vertheilte, um die da in
jedes einzelne Fach nach einigen gemein-
samen Beziehungen und Aehnlichkeiten
aufgestellten vielen und mancherlei Krank-
heitsindividuen sämtlich überein, gleich-
sam als eine einzige Krankheit, nach all-
gemeinen Formen arzneilich behandeln,
und sich so ihre Kur erleichtern zu kön-
nen.
40.
Die Krankheiten, Gebrechen und
Siechthume sind aber so unendlich mannig-
faltige Erscheinungen, daß eine brauch-
bare Klassification derselben nicht einmahl
möglich wäre, wenn auch eine solche ge-
zwungene Zusammenfassung derselben in
getrennte Fächer zur Heilabsicht erforder-
lich zu seyn scheinen sollte.
Anm. Die bisherigen systematischen Einthei-
lungen der Krankheiten (fast jede Patho-
logie hat eine andre, ihr eigne) übergehe
ich. Wäre nur eine einzige von den un-
zähligen von einleuchtenden, wahren
Nutzen, so würde sie unstreitig den all-
gemeinen Beifall — durch die Allmacht,
die der Wahrheit eigen ist — errungen
und behalten haben.
41.
Am meisten schien die Eintheilung in
allgemeine und in Lokal-Krankheiten ge-
feiert zu werden.
42.
Der menschliche Organism ist aber im
lebenden Zustande ein völlig geschlosse-
nes Ganze, eine Einheit. Iede Empfin-
dung, jede Kraftäußerung, jedes Mi-
schungsverhältniß der Stoffe des einen
Theils hängt mit der Empfindung, der
Funktionen und dem Mischungsverhält-
nisse der Stoffe aller übrigen Theile innig
zusammen. Kein Theil kann leiden, ohne
daß alle übrige zugleich — mehr oder
weniger — mit leiden, mit verändert wer-
den.
43.
Diese lebendige Einheit verstattet
nicht, daß an unserm Körper eine Krank-
heit je blos örtlich, vollkommen und ab-
solut örtlich bleibe, so lange das für lo-
kal gehaltene Uebel noch an einem, vom
übrigen Körper nicht völlig getrennten
Theile sich befindet. Immer leidet der
übrige Körper mehr oder weniger mit, und
legt dieß Uebelbefinden durch dieses oder
jenes Symptom an den Tag. Immer macht
jede, selbst an ganz entfernten Orten an-
gebrachte oder innerlich eingenommene
kräftige Arznei auch auf diesen örtlich
scheinenden Fehler einen ändernden Ein-
druck und das für die Gesamtkrankheit
(wovon das Lokalübel immer nur ein Theil,
immer nur ein Symptom ist) specifisch pas-
sende Heilmittel pflegt zugleich das, ob-
schon ganz entfernt und isolirt scheinen-
de Lokalübel selbst mit zu heilen.
44.
Eine zweite hoch aufgenommene Ein-
theilung der Krankheiten in fieberhafte
und fieberlose leidet gleiches Schicksal.
Es fehlt sogar noch die Uebereinkunft,
welche Charakterzüge und Symptomen in
die Fieberdefinition aufgenommen werden
sollen und können, und welche auszu-
schließen sind, und es ist keine unter der
großen Zahl der Fieber-Theorien und Defi-
nitionen, welche nicht Zufälle in sich be-
griffe, die auch in den fieberlosest geach-
teten Krankheiten mehr oder weniger statt
finden. In unmerklichen Abstufungen ge-
hen die fieberhaftesten in die fieberlosesten
über und zeigen, daß eine scharfe Tren-
nung beider nur pathologisch, aber nicht
naturgemäß ist.
45.
An sich würde die Benahmung
oder Klassifikation der unzählig ver-
schiednen Krankheiten, wenn sie nur ei-
nigermaßen richtig und vollständig mög-
lich wäre, für den Arzt, als Naturhi-
storiker, eben den Nutzen haben, den
die Klassification andrer Naturerscheinun-
gen und Naturkörper in der allgemeinen
Naturgeschichte leistet, nämlich seine hi-
storische Ansicht durch einen tabel-
larischen Ueberblick zu erleichtern; aber
für den Arzt als Heilkünstler hat sie
gar keinen Nutzen, da die wahre Heil-
kunde sich mit der flachen, einseitigen
Aehnlichkeit mehrerer Krankheitsindivi-
duen unter einander, die zur Zusammen-
koppelung in Gattungen und Arten zu-
reicht, nicht begnügen darf, sondern die
vollständigste Ansicht jedes zu heilenden,
individuellen Krankheitsfalles auffassen
muß, ehe sie ein genau passendes Heilmit-
tel wählen, das ist, den Namen der
gründlichen und rationellen Heil-
kunde verdienen kann.
46.
Die Natur hat keine Benahmung oder
Klassifikation der Krankheiten. Sie schafft
einzelne Krankheiten, und will, daß
der wahre Heilkünstler an seinem Men-
schenbruder nicht die systematisch ver-
einte Krankheitsgattung (eine Art von Ver-
wechselung verschiedner Krankheiten mit-
werden zerschnitten und am gehörigen ort gebracht.
einander), sondern jedesmahl nur das In-
dividuum seiner Krankheit individuell be-
handeln soll; den therapevtischen Leisten
aber, für die von Menschen blos in der
Idee zusammengefügten Krankheitszünfte
geschnitzt, verbietet sie, an die (weis-
lich von ihr eigenartig geschaffe-
nen) Krankheitsindividuen anzulegen, und
so das göttliche Heilwerk zu verkrüppeln.
Anm. Der eben so sehr seiner Einsicht, als
seines zarten Gewissens wegen verehrungs-
werthe Huxham sagt (Op. phys med.
Tom. I.): „Nihil sane in artem medicam
„pestiferum magis unquam irrepsit malum,
„quam generalia quaedam nomina morbis
„imponere, iisque aptare velle generalem
„quamdam medicinam.“
47.
Wenn nun die Rationalität der Heil-
kunde, wenn wo irgend, vorzüglich dar-
inn besteht, daß sie alle systematische und
andre Vorurtheile unterdrücke, wo mög-
lich nie ohne Gründe handle, wo möglich
nie einige sich darbietenden Gründe zum
zweckmäsig Handeln vernachlässige, und
sich möglichst an das Erkennbare der Din-
ge halte; so wird vorzüglich die Be-
rücksichtigung der Abweichung
und Verschiedenheit der Krank-
heiten (so wie der Arzneimittel),
das ist, die sorgfältige Aufsu-
chung der individuellen Zeichen
der jedesmahligen Krankheit und
die der individuellen Wirkungs-
art jeder einzelnen Arznei den ra-
tionellen, den gründlichen Arzt
charakterisiren.
48.
Blos der rationelle Heilkünstler wird,
da jede Krankheits-Epidemie in der Welt
(mit Ausnahme jener wenigen mit einem
festständigen, unabänderlichen Miasma)
von der andern, und selbst jeder einzelne
Krankheitsfall epidemischer und sporadi-
scher Art, am meisten aber jeder nicht zu
einer solchen Kollektivkrankheit gehöri-
ge Krankheitsfall von jedem andern ab-
weicht —, auch jedes ihm zur Heilung
angetragene Siechthum nach seiner indi-
viduellen Verschiedenheit nehmen, wie es
ist, und wenn er dessen Eigenheiten und
alle seine Zeichen und Symptomen er-
forscht hat (denn dazu sind sie, daß auf
sie soll geachtet werden), auch nach sei-
ner Individualität, d. i. nach der sich an
ihm zeigenden Gruppe von Symptomen
mit einem individuell passenden Heilmit-
tel behandeln und sich durch ein so recht-
liches und vorurtheilfreies, als rationelles
Verfahren vor jeden andern Arzte auszeich-
nen, der den Krankheitsfall gründlich aus-
zuspähen nicht würdigt, sondern ihn, der
Bequemlichkeit zu Gefallen, nach Gutdün-
ken generalisirt, ihm seine systematische
Vermuthung anheftet, und blos nach die-
ser, seine Behandlung modelt.
49.
Einige Krankheiten, welche einen
eignen Ansteckungsstoff (ein eignes, sich
ziemlich gleichbleibendes Miasm) zum
Grunde haben, z. B. die levantische Pest,
die Menschenpocken, die Masern, das äch-
te glatte Scharlachfieber, die venerische
Krankheit, die Wollarbeiterkrätze —, auch
wohl die Hundswuth, der Keuchhusten,
der Wichtelzopf u. s. w. erscheinen in ih-
rem Charakter und Verlaufe so selbststän-
dig, daß sie, wo sie sich zeigen, wie
schon bekannte Individuen an ihren sich
gleichbleibenden Zeichen immer kennbar
bleiben. Man konnte ihnen daher, jeder
einen eignen, Namen geben, und sich be-
mühen für jede derselben eine feststän-
dige Heilart, als Regel, einzuführen.
50.
So mögen wohl noch einige andre
Krankheiten, denen wir ein Miasm noch
nicht nachweisen können, so wie jene an
gewisse Gegenden und klimatische Verhält-
nisse gebundene, nebst den hie und da
endemischen: das herbstliche Sumpfwech-
selfieber, das gelbe Fieber, der See-Schar-
bock, der Pian, die Yaws, die Sibbens,
die Pellagra u. s. w. auch sonst noch ei-
nige wenige Krankheiten entweder aus ei-
ner einzigen, sich gleichbleibenden Ursa-
che, oder aus einem, öfterer sich vereini-
genden Zusammenflusse mehrerer, be-
stimmter Ursachen, die sich leicht auf eine
bestimmte Art zusammen gesellen (wie z.
B. bei der Knotengicht; auch wohl der
häutigen Bräune und dem Millarischen
Asthma der Fall seyn mag), entspringen,
und wohl nicht viel weniger verdienen,
jede ihren eignen Namen zu führen, da
die Gruppe der Symptomen bei jeder der-
selben, im Ganzen, sich doch ziemlich
gleich bleibt, und daher einer eigenarti-
gen, fast feststehenden Behandlung fähig
ist.
51.
Aber schon anders ist es mit einer
Menge der übrigen Krankheiten, welche
vermuthlich aus dem Zusammenflusse ei-
niger sich nicht auf gleiche Art zur Erzeu-
gung des Uebels verbindenden, krankma-
chenden Ursachen entspringen, daher oft
in mehrern wichtigen Symptomen von ein-
ander abweichen, und deshalb nie über-
ein mit denselben Mitteln ärztlich behan-
delt werden können. Hieher gehören die
sehr verschiednen Arten von Fallsucht,
Katalepsie, Tetanus, Veitsdanz, Pleuritis,
Lungensucht, Diabetes, Brustbräune, Ge-
sichtsschmerz, Ruhr und andre Namen,
welche die Schule oft wesentlich abwei-
chenden, und nur durch ein Paar gemein-
schaftliche Symptome einander ähnlichen
Krankheitszuständen gab, um unter Vor-
aussetzung ihrer Identität für sie eine
gleichartige Kurbehandlung festsetzen zu
können, deren sehr ungleicher Erfolg in
der Erfahrung schon allein die supponirte
Identität derselben widerlegt. Als Kollek-
tivnamen mögen sie gelten, nur nicht als
Eigennamen angeblich identischer Krank-
heitszustände; denn dann verführen sie zu
einer gleichförmigen, empirisch arzneili-
chen Behandlung zum Verderben der Kran-
ken.
Anm. So giebt es z. B. im Diabetes meh-
rere Verschiedenheiten, d. i. mehrere we-
sentlich von einander abweichende Krank-
heiten, unter diesen einzigen Namen zu-
sammen gedrängt, welche blos dem ersten
flüchtigen Anblicke nach, in einem oder
D
dem andern Symptome einander scheinbar
ähneln, aber sehr mit Unrecht für eine
und dieselbe Krankheit sind gehalten
worden. Wurden die einzelnen Fälle
genauer untersucht, so fanden sich fast in
jedem sehr abweichende, in den andern
Fällen nicht vorhandne Zufälle, und selbst
der Harn, auf welchen sich die Erfinder
dieses Namens, als auf einen wichtigen
Fund viel zu Gute thaten, wich oft in
seiner angegebnen Beschaffenheit ab; der
eine ging schnell in geistige und saure
Gährung über, der andre schimmelte blos,
u. s. w. Wenn die eine Art Diabetes mit
geschwefeltem Ammonium geheilt werden
konnte, so vermochte man doch viele an-
dre Arten nicht mit diesem Mittel zu hei-
len. Da schien hingegen Alaun die hülf-
reiche Arznei in einem Paar Fällen zu
seyn, und wieder in andern weder Alaun,
noch geschwefeltes Ammonium. Soll das
einerlei Krankheit seyn, was im Inbegriffe
seiner Symptomen so verschieden ist, und
eine so abweichende Heilart verlangt?
Arten von Diabetes könnte man diese
ma cherlei Krankheitszustände allenfalls
wohl nennen, aber nur nicht schlechthin
Diabetes, um nicht eine sich gleichblei-
bende, einfache Krankheit unter diesem
Namen fälschlich vermuthen zu lassen.
Wer einmahl einen Gesichtsschmerz
mit Quecksilbersalbe heilte, wird wohl
noch drei, vier Fälle erleben, die er alle
unter demselben Namen begreift, und in
deren keinem doch je wieder diese Salbe
hilft. Wenn jeder dieser Namen nur
Krankheiten bezeichnete, die sich immer
gleich wären, so wäre dieses Fehlschlagen
der Kur mit demselben, schon einmahl sich
hülfreich erwiesenen Mittel ganz unmög-
lich; sie müßten sämtlich gleicher Kurart
weichen, wenn sie selbst gleich wären.
So wie sie dieß aber nicht thun, so zei-
gen sie klärlich an, daß sie, trotz des
gleichen Namens, wesentlich verschiedne
Krankheiten sind, nach deren unterschei-
denden Symptomen zu forschen, man sich
nur nicht die Mühe nahm. Arten von
Gesichtsschmerz könnte man diese
mancherley Krankheitszustände allenfalls
wohl nennen, nur nicht schlechthin Ge-
sichtsschmerz, da es durchaus nicht
immer eine und dieselbe Krankheit ist.
So ist es mit den übrigen genannten, und
andern Krankheitsnamen solcher Art.
52.
Und so werden vollends in den übri-
gen Krankheiten die Namen immer unei-
D 2
gentlicher, und ihre Verführung zur em-
pirischen Behandlung immer gefährlicher,
wenn sie eine noch größere Verschieden-
heit von Krankheitszuständen unter sich
begreifen, welche kaum mit ein Paar
ähnlichen Symptomen sich einander, blos
in der Entfernung, nähern, während die
große Zahl ihrer übrigen Zufälle und Ei-
genheiten sehr weit von einander abwei-
chen. Die vieldeutigen Namen von kal-
ten Fiebern, Gelbsucht, Wassersucht,
Schwindsucht, Leukorrhöe, Hämorrhoi-
den, Rheumatism, Schlagfluß, Krämpfe,
Lähmung, Melancholie, Manie, u. s. w.
mögen zu Beispielen dienen.
Anm. Welche unzählige, höchst von einander
abweichende Arten von sogenannten Wech-
selfiebern giebt es nicht, die höchstens
das Phänomen von Frost und Hitze, und
etwas typusähnliches, und oft auch wohl
dieses nicht einmahl, mit einander gemein
haben! Bei näherer Erforschung ihrer
übrigen Zeichen findet man, daß fast je-
de dieser abweichenden Arten eine Krank-
heit sui generis ist. — Mit welchem Rech-
te könnte man die vielen höchst verschied-
nen Krankheiten, die in ihren übrigen
Symptomen keine Verwandschaft, und
nur in dem einzigen Zufalle, der Haut-
Gilbe, einige Aehnlichkeit mit einander
haben, welche sich auf eine Störung der
Gallabsonderung gründet, die wiederum
höchst verschieden ist — mit dem, Iden-
tität voraussetzenden Namen, Gelbsucht
belegen? — Eben so ist bei unzähligen
höchst verschiednen Siechthumen unter den
vielen andern Symptomen, auch Haut-
Oedem zugegen; wer wollte nun dieses
einzelnen, zwar sehr in die Augen fallen-
den, aber deshalb nicht immer wichtig-
sten, oft nicht einmahl wichtigen Symp-
toms wegen, alle jene höchst verschied-
nen Krankheiten für eine einzige, unter
dem gemeinsamen Namen Wassersucht,
ausgeben, und so alle die übrigen höchst
bedeutsamen Symptomen unbeachtet las-
sen, die diese Krankheiten weit von ein-
ander entfernen? Und so in den übrigen
Beispielen. —
53.
Wie könnte man auch nur mit einem
Scheine von Rationalität jene höchst ver-
schiednen Krankheitszustände, welche oft
nur ein einziges Symptom mit einander
gemein haben, unter generelle Namen zu-
sammenziehen, und so für jeden eine gleich-
artige arzneiliche Behandlung rechtfertigen
wollen? Und soll die arzneiliche Behand-
lung nicht gleichartig seyn, — wie sie es
auch ohne Verderben des Kranken nicht seyn
darf —; wozu der, gleiche Heilart voraus-
setzende identische Namen? So misbräuch-
lich, nutzlos und schädlich diese Namen al-
so sind, so wenig dürfen sie je Einfluß auf
die Kurart eines rationellen Heilkünstlers
haben, welcher weiß, daß er die Krankhei-
ten nicht nach der vagen Namensähnlich-
keit eines einzelnen Symptoms, sondern
nach dem ganzen Inbegriffe aller Zeichen
des individuellen Zustandes jedes einzel-
nen Kranken zu beurtheilen und zu heilen
habe, dessen Leiden er genau auszuspähen
die Pflicht hat, nie aber hypothetisch ver-
muthen darf.
54.
Selbst jene Volkskrankheiten, welche
sich wohl auch bei jeder einzelnen
Epidemie durch einen Ansteckungsstoff
fortpflanzen mögen — die Menge jener soge-
nannten (Spital-Kerker-Lager-) Faul-Gal-
len-Nerven- und andrer herumgehenden
Fieber sind sehr abweichend in ihrem je-
desmahligen Verhalten und Verlaufe. Iede
neue Epidemie derselben, z. B. des soge-
nannten Faulfiebers, zeigt sich, weil je-
der Epidemie ein abgeändertes Miasm zum
Grunde lag, selbst in mehrern der auffal-
lendsten Symptomen allen vorher gegan-
genen Epidemien seines Namens so un-
ähnlich, daß man alle logische Genauig-
keit in Begriffen verleugnen müßte, wenn
man diesen, von sich selbst so sehr ab-
weichenden Seuchen den alten, oder über-
haupt einen sehr eingeführten Namen ge-
ben und sie mit den ehemaligen Epidemien
gleicher Benennung überein, arzneilich be-
handeln wollte, verführt durch den mis-
bräuchlichen Namen.
55.
Nur die einzelnen Fälle jeder solchen
epidemischen oder sporadischen Seuche
insbesondre, die man in dieser Rücksicht
eine Kollektivkrankheit nennen möch-
te, kann man bei der Heilung für ähnlich
ansehen, und (mit Berücksichtigung der
größern oder kleinern Verschiedenheiten
jedes einzelnen Falles insbesondre) ähnlich
behandeln.
56.
Iede Epidemie begreift nämlich eine
Menge einander sehr ähnlicher Krankheits-
individuen in sich; die Epidemien selbst
aber weichen sehr von einander ab, und
können nicht mit einem ähnlichen oder
gleichen Namen belegt, nicht unbesehens
mit gleicher Arznei behandelt werden.
57.
Diese, keines festständigen, speciel-
len Namens fähigen Epidemien, welche bei
jeder neuen Erscheinung im Volke in abge-
änderter Form und mit einer veränderten
Gruppe von Zeichen und Symptomen her-
vortreten, werden, als Kollektiv-
krankheiten, am füglichsten zu der un-
geheuer großen Klasse aller übri-
gen Krankheiten, Gebrechen, und
Siechthume des menschlichen Körpers
gerechnet, welche aus einem sehr verschied-
nen Zusammenflusse ungleichartiger Ursa-
chen und Potenzen, die an Zahl, Stärke
und Art sich äußerst ungleich sind, ent-
springen, — Einflüssen von unendlich ge-
mischter Natur, aus welchen jene so un-
endlich verschiedenen Krankheiten hervor-
sprießen, woran das große Geschlecht der
Menschen auf dem Erdenrunde leidet und
je gelitten hat.
58.
Alle Dinge, die nur einigermasen
wirksam sind, (ihre Zahl ist unübersehlig)
vermögen auf unsern, mit allen Theilen
des Universums in Verbindung und Kon-
flikt stehenden Organismus einzuwirken
und Veränderungen hervorzubringen, je-
des eine verschiedenartige, so wie es selbst
verschiedenartig ist.
59.
Wie abweichend, ich möchte sagen,
unendlich abweichend von einander müs-
sen nun nicht die Krankheiten, das ist,
die Erfolge der Einwirkung dieser unzähli-
gen, oft sehr feindseeligen Potenzen seyn,
wenn ihrer wenigere oder mehrere zugleich
und in verschiedner Succession, Qualität
und Stärke auf unsere Körper influiren, da
leztre zugleich so sehr in einer
Menge äußerer und innerer Eigen-
heiten und Verschiedenheiten un-
ter einander abweichen, und in den
mancherlei Zuständen des Lebens
sich dergestalt abändern, daß kein
menschliches Individuum dem an-
dern gleich ist in irgend einer er-
denklichen Rücksicht!
Anm. Einige dieser, Krankheit vorbereiten-
den oder erzeugenden Einflüsse sind z. B.
die unzählige Menge mehr oder weniger
schädlicher Ausdünstungen aus leblosen
und organischen Substanzen —; die so
verschiedentlich reitzenden mancherlei
Gasarten, die in der Atmosphäre, in
unsern Werkstätten und Wohnungen auf
unsre Nerven ändernd oder zerstörend
wirken, oder uns aus Wasser, Erde, Thie-
ren, Pflanzen entgegen strömen —; Mau-
gel an dem unentbehrlichen Nahrungsmit-
tel für unsere Vitalität, der reinen, freien
Luft —; Uebermaas oder Mangel des Son-
nenlichts —; Uebermaas oder Mangel der
elektrischen Stoffe —; abweichende Druck-
kraft der Atmosphäre, ihre Feuchtigkeit
oder Trockenheit —; die noch unbekann-
ten Eigenheiten und Nachtheile hoher Ge-
birgsgegenden und dagegen die der niedri-
gen Orte und tiefen Thäler —; die Eigen-
heiten der Klimate und andrer Ortslagen
auf großen Ebenen, auf gewächs- oder
wasserlosen Einöden, gegen das Meer hin,
gegen Sümpfe, Berge, Wälder oder gegen
die verschiednen Winde —; Einfluß sehr
veränderlicher oder allzu gleich förmig lan-
ge anhaltender Witterung; Einfluß der
Stürme und mehrerer Meteore —; allzu
große Wärme oder Kälte der Luft, Blöße,
oder übertriebne künstliche Wärme unsrer
Körperbedeckung oder der Stuben; Be-
engung einzelner Glieder durch verschied-
ne Anziige —; der allzu hohe Grad der
Kälte und Wärme unsrer Nahrungsmittel
und Getränke; Hunger oder Durst oder
Ueberfüllung mit Speißen und Getränken
und ihre schädliche arzneiliche, den Kör-
per umändernde Kraft, die sie theils vor
sich besitzen (Wein, Branntwein, mit
mehr oder weniger schädlichen Kräutern
gewürzte Biere, mit fremdartigen Stoffen
geschwängertes Trinkwasser, Kaffee, Thee,
ausländische und inländische Gewürzkräu-
ter und die damit reitzend gemachten Spei-
sen, Saucen, Liqueure, Schokolade, Ku-
chen; die unerkannte Schädlichkeit eini-
ger Gemüße und Thiere im Genuße) —
theils sie durch nachlässige Zubereitung,
Verderbniß, Verwechselung oder Verfäl-
schung bekommen (z. B. schlecht gegohr-
nes und nur halb ausgebackenes Brod,
halbgekochte Fleisch- und Gewächsspei-
sen, oder andre vielfach verdorbne, ge-
faulte, verschimmelte Nahrungsmittel, in
metallenen Geschirren zubereitete oder auf-
bewahrte Speisen und Getränke, gekün-
stelte, vergiftete Weine, mit ätzenden
Substanzen verschärfter Essig, Fleisch
kranker Thiere, mit Gyps oder Sand ver-
fälschtes Mehl, mit schädlichen Samen
vermischtes Getreide, mit gefährlichen Ge-
wächsen aus Bosheit, Unwissenheit oder
Dürftigkeit vermischte oder vertauschte
Gemüße) —; Unreinlichkeit des Körpers,
der Körperbedeckungen der Wohnun-
gen —; nachtheilige Substanzen, die durch
Unreinlichkeit oder Nachlässigkeit bei der
Zubereitung und Aufbewahrung in die
Nahrungsmittel gerathen —; Einhauchung
schädlicher Dünste in Krankenstuben, in
Bergwerken, Pochwerken, Rösten und
Schmelzhütten —; der auf uns eindrin-
gende Staub mancherlei schädlichen Ge-
halts von den Stoffen unsrer Fabrikationen
und Gewerbe —; Vernachlässigungen meh-
rerer Anstalten der Policei zur Sicherheit
des allgemeinens Wohls —; allzu heftige
Anspannung unsrer Körperkräfte, allzu
schnelle aktive oder passive Bewegung,
übermäsige Exertionen einzelner Körper-
theile oder Sinnorgane, mancherlei unna-
türliche Lagen und Stellungen, welche die
verschiednen Arbeiten der Menschen mit
sich bringen —; Mangel des Gebrauchs
einzelner Theile oder allgemeine unthätige
Körperruhe —; ungeregelte Zeiten der
Ruhe (langer Mittagsschlaf), der Mahl-
zeiten, der Arbeit —; Uebermaas oder
Mangel des Nacht-Schlafs —; Anstren-
gung in Geistesarbeiten überhaupt, oder
in solchen, welche widrig und gezwungen
sind, oder einzelne Seelenkräfte besonders
erregen oder ermüden —; empörende,
gewaltsame Leidenschaften, Zorn, Schreck,
Aergerniß, oder entnervende Leidenschaf-
ten durch wollüstige Leserei, Erziehung,
Angewöhnung und Umgang erregt —;
Misbrauch des Geschlechtstriebes —; Ge-
wissensvorwürfe, Furcht, Gram, u. s. w.
60.
Daher die unaussprechliche Zahl un-
gleichartiger Leibes- und Seelengebrechen,
welche unter sich so verschieden sind, daß
genau genommen, jedes derselben
vielleicht nur ein einziges Mahl
in der Welt existirt, und daß (jene
wenigen Uebel mit unabänderlichem Miasm
[§. 49.] und etwa sonst noch einige [§. 50.]
abgerechnet) jede epidemische oder spora-
dische Kollektivkrankheit, und, außer
ihnen, jeder vorkommende andre Krank-
heitsfall als eine namenlose, individuelle
Krankheit angesehen und behandelt werden
muß, die sich noch nie so ereignete als in
diesem Falle, in dieser Person und unter
diesen Umständen, und genau eben so,
nie wieder in der Welt vorkommen kann.
61.
Da die Natur selbst die Krankheiten
so individuell verschieden hervorbringt, so
kann keine rationelle Heilkunde statt fin-
den ohne strenge Individualisation jeden
Krankheitsfalles beim Heilgeschäfte, ohne
daß der Arzt jede ihm dargebotene Krank-
heit einzeln und vor sich allein so nehme,
wie sie genau ist. Dann hört all jenes em-
pirische Generalisiren auf, was mit dem
kecken Vermuthen und dem eigenmächti-
gen Verwechseln so nahe verwandt ist!
62.
Diese individualisirende Untersu-
chung jeden vorkommenden Krankheits-
falles, so wie er an sich selbst ist, ver-
langt von dem Heilkünstler nichts als Un-
befangenheit und gesunde Sinne, Auf-
merksamkeit im Beobachten und Treue im
Kopiren des Bildes der Krankheit.
63.
Der Kranke klagt den Vorgang seiner
Beschwerden; die Angehörigen erzählen
seine Klagen, sein Benehmen; der Arzt
sieht, hört und bemerkt durch die übri-
gen Sinnen, was verändert und unge-
wöhnlich in ihm ist. Er schreibt alles
mit den genauen Ausdrücken auf, deren
der Kranke und die Angehörigen sich be-
dienen. Stillschweigend läßt er sie aus-
reden, wo möglich ohne Unterbrechung.
Blos langsam zu sprechen, ermahne sie
der Arzt gleich anfangs, damit er den
Sprechenden im Nachschreiben folgen
könne.
Anm. Iede Unterbrechung stört ihre Gedan-
kenreihe, und es fällt ihnen hinterdrein
nicht alles genau wieder so ein, wie sie’s
Anfangs sagen wollten.
64.
Mit jeder Angabe des Kranken oder
der Angehörigen bricht er die Zeile ab, da-
mit die Symptomen alle einzelnen unter
einander zu stehen kommen. So kann er
bei jedem nachtragen, was ihm anfäng-
lich allzu undeutlich und unbestimmt an-
gegeben worden war.
65.
Sind beide fertig mit dem, was sie
von selbst sagen wollten, so trägt er bei
jedem einzelnen Symptome die nähere Be-
stimmung nach, auf folgende Weise er-
kundigt. Er liest die einzelnen ihm ge-
sagten Symptomen vor, und fragt bei je-
dem insbesondre: z. B. zu welcher Zeit
ereignete sich dieser Zufall? In der Zeit
vor dem Arzneigebrauche? während dem
Arzneinehmen? oder erst einige Tage her-
nach, als er schon mit aller Arznei aufge-
hört hatte? Was für ein Schmerz, genau
beschrieben, war es, der sich an dieser
Stelle ereignete? Welche genaue Stelle war
es? Erfolgte der Schmerz abgesetzt, nur
einzeln, in verschiednen Zeiten? Wie lan-
ge setzte er jedesmahl aus? Zu welcher
Zeit des Tages oder der Nacht war er am
schlimmsten, oder setzte ganz aus? Wie
war dieser, wie war jener angegebne Zu-
fall, oder Umstand, mit deutlichen Wor-
ten beschrieben, genau beschaffen?
66.
Und so läßt der Arzt sich die nähere
Bestimmung von jeder einzelnen Angabe
noch dazu sagen, ohne doch jemahls dem
Kranken die Frage so in den Mund zu le-
gen, daß er blos mit Ia, oder Nein drauf
E
antworten könnte, sonst wird derselbe ver-
leitet, etwas Unwahres, Halbwahres oder
anders Vorhandnes aus Bequemlichkeit oder
dem Fragenden zu Gefallen, zu bejahen
oder zu verneinen, wodurch ein falsches
Bild der Krankheit und eine unpassende
Heilart entstehen muß.
Anm. Er darf, mit einem Worte, weder
den Kranken, noch den Krankenwärter
bei der ersten Erkundigung fragen: „war
nicht etwa auch dieser oder jener Um-
stand da?“ „Nicht wahr, es war so und
so?“ Dergleichen zu einer falschen An-
gabe verführende Suggestionen darf sich
der Arzt nie zu Schulden kommen lassen.
67.
Ist nun bei diesen freiwilligen Anga-
ben von mehrern Theilen oder Funktio-
nen des Körpers nichts erwähnt worden,
so fragt der Arzt, was in Rücksicht die-
ser Theile und dieser Funktionen noch zu
erinnern sei, aber in allgemeinen Aus-
drücken, damit der Berichtgeber genöthigt
sei, sich speciell darüber zu äußern.
Anm. Z. B. Wie ist es mit dem Stuhlgange?
Wie geht der Urin ab? Wie ist es mit
dem Schlafe bei Tage, bei der Nacht?
Wie ist sein Gemüth, seine Laune be-
schaffen? Wie ist es mit dem Durste?
Wie mit dem Geschmacke so vor sich im
Munde? Welche Speisen und Getränke
schmecken ihm am besten, welche sind
ihm am meisten zuwider? Hat jedes sei-
nen natürlichen, vollen oder andern Ge-
schmack? Ist etwas wegen des Kopfs, der
Glieder oder des Unterleibes zu erinnern?
68.
Hat nun der Kranke (— denn nur die-
sem ist in Absicht seiner Empfindungen,
außer in Verstellungskrankheiten, der
meiste Glaube beizumessen —) auch durch
diese freiwilligen oder fast unveranlaßten
Aeußerungen dem Arzte gehörige Aus-
kunft gegeben und das Bild der Krankheit
ziemlich vervollständigt, so ist es diesem
erlaubt, speciellere Fragen zu thun.
Anm. Z. B. Wie oft hatte er Stuhlgang,
von welcher genauen Beschaffenheit? War
der weißlichte Stuhlgang Schleim oder
E 2
Koth? Waren Schmerzen beim Abgange
oder nicht? Welche genaue und wo?
Was brach er aus? Ist der garstige Ge-
schmack im Munde faul oder bitter oder
sauer, oder wie sonst? Ist dieser Ge-
schmack, auch wenn er nichts genießt,
im Munde? zu welcher Tageszeit am mei-
sten? oder entsteht er nur während dem
Essen oder Trinken, oder gar erst nach-
her? Läßt er den Urin gleich trübe, oder
wird er erst beim Stehen trübe? Von
welcher Farbe ist er, wenn er eben ge-
lassen ist? Von welcher Farbe ist der
Satz? Wie gebehrdet und äußert er sich
im Schlafe? Wimmert, stöhnt, redet,
oder schreiet er im Schlafe? Erschrickt
er im Schlafe? wirft er sich öfters her-
um? schnarcht er beim Ein- oder Ausath-
men? Liegt er blos auf dem Rücken oder
auf welcher Seite? Deckt er sich selbst
fest zu, oder leidet er das Zudecken nicht?
Wacht er leicht auf, oder schläft er all-
zu fest? Wie oft kömmt diese, wie oft
jene Beschwerde, auf welche jedesmahlige
Veranlassung, im Sitzen, im Liegen, im
Stehn oder bei der Bewegung, blos nüch-
tern und früh, oder blos Abends, oder
blos nach der Mahlzeit? Wann kam der
Frost? War es blos Frostempfindung,
oder war er zugleich kalt, (an welchen
Theilen?), oder wohl gar bei der Frost-
empfindung heiß anzufühlen? War es
blose Empfindung von Kälte ohne Schau-
der? War er heiß ohne Gesichtsröthe?
An welchen Theilen war er heiß anzu-
fühlen? Oder klagte er Hitze ohne heiß
zu seyn beim Anfühlen? Wie lange dau-
erte der Frost, wie lange die Hitze?
Wann kam der Durst; beim Froste? bei
der Hitze? wie stark war er, worauf?
Wann kommt der Schweiß? beim An-
fange, oder zu Ende der Hitze? oder wie
viel Stunden nach der Hitze? Wie stark
ist der Schweiß? heiß oder kalt? an wel-
chen Theilen? von welchem Geruche?
Was klagt er an Beschwerden vor oder
bei dem Froste, was bei der Hitze, was
nach derselben? u. s. w.
69.
Ist er mit Niederschreibung dieser
Aussagen fertig, so notirt er sich, was er
selbst an dem Kranken wahrnimmt, und
erkundigt sich, was dem Kranken hievon
in gesunden Tagen eigen gewesen.
Anm. z. B. wie sich der Kranke bei dem
Besuche gebehrdet hat; ob er verdrüßlich,
zänkisch, hastig, ängstlich, verzweifelt,
oder getrost, ob er schlaftrunken, oder
überhaupt unbesinnlich war, ob er heisch,
sehr leise, oder ob er unpassend, oder
wie anders er redete; wie die Farbe des
Gesichts und der Augen, und die Farbe
der Haut überhaupt, wie die Lebhaftig-
keit und Kraft der Mienen und Augen,
wie die Zunge, der Odem, der Geruch
aus dem Munde, oder das Gehör beschaf-
fen ist; wie sehr die Pupillen erweitert
sind, wie schnell, wie weit sie sich im
Dunkeln und Hellen verändern; wie der
Puls, wie der Unterleib; wie feucht, oder
heiß die Haut an diesen oder jenen Thei-
len anzufühlen ist; ob er mit zurückge-
bognem Kopfe, mit halb oder ganz off-
nem Munde, mit über den Kopf gelegten
Armen, ob er auf dem Rücken, oder in
welcher andern Stellung er liegt; mit wel-
cher Anstrengung er sich aufrichtet, und
was vom Arzte sonst auffallend bemerk-
bares an ihm wahrgenommen werden
konnte.
70.
Die Zufälle und das Befinden des
Kranken während des Arzneigebrauchs ge-
ben nicht das reine Bild der Krankheit;
die Symptomen und Beschwerden hinge-
gen, welche er vor dem Gebrauche
der Arzneien, oder nach ihrer mehr-
tägigen Zurücksetzung litt, geben
den ächten Grundbegriff von der ur-
sprünglichen Gestalt der Krankheit,
und vorzüglich diese muß sich der Arzt
aufzeichnen; er kann auch wohl, wenn
die Krankheit chronisch ist, den Kranken,
wenn er bis zu der Zeit noch Arznei ge-
nommen hatte, einige Tage ganz ohne
Arznei lassen und bis dahin die genauere
Prüfung der Krankheitszeichen verschie-
ben, um die dauerhaften, unvermischten
Symptomen des alten Uebels in ihrer Rein-
heit aufzufassen, und ein untrügliches Bild
von der ursprünglichen Krankheit entwer-
fen zu können.
71.
Leidet aber der dringende Zustand der
akuten Krankheit keinen Verzug, so muß
sich der Arzt mit dem, selbst von Arz-
neien geänderten Krankheitszustande be-
gnügen (wenn er die vor dem Arzneige-
brauche bemerkten Symptomen nicht er-
fahren kann), um wenigstens die gegen-
wärtige Gestalt des Uebels mit einem pas-
senden Heilmittel bestreiten zu können.
72.
Ist die Krankheit durch ein auffallen-
des Ereigniß verursacht worden, so wird
der Kranke (oder wenigstens die in Ge-
heim befragten Angehörigen) sie schon an-
geben entweder von selbst und aus eignem
Triebe, oder auf eine behutsame Erkun-
digung.
Anm. Den entehrenden, etwanigen Veran-
lassungen, welche die Kranken oder die
Angehörigen nicht gern, wenigstens nicht
von freien Stücken gestehen, muß der Arzt
durch klügliche Wendungen der Fragen,
oder durch andre Privaterkundigungen auf
die Spur zu kommen suchen; dahin ge-
hören: Vergiftung oder intendirter Selbst-
mord, Onanie, Ausschweifungen in ge-
wöhnlicher oder unnatürlicher Wollust,
Schwelgen in Wein, Liqueuren, Punsch,
Kaffee — Schwelgen in Essen überhaupt,
oder in besonders schädlichen Speisen,
venerische Krankheit, unglückliche Liebe,
Eifersucht, Hausunfrieden, und Gram
über ein Familienunglück, erlittene Mis-
handlung, verbissene Rache, gekränkter
Stolz, Zerrüttung des Vermögenszustan-
des, abergläubige Furcht, Hunger — oder
ein Körpergebrechen an den Schamtheilen,
ein Bruch, ein Vorfall, u. s. w.
73.
Bei Erforschung des Zustandes chro-
nischer Krankheiten müssen die Verhältnis-
se des Kranken in Absicht seiner gewölm-
lichen Beschäftigungen, seiner gewöhnli-
chen Lebensordnung und Diät, seiner
häußlichen Lage u. s. w. wohl erwogen
und geprüft werden, was sich in ihnen
Krankheit Erregendes oder Unterhaltendes
befindet, um durch seine Entfernung die
Genesung befördern zu können.
Anm. Vorzüglich muß bei den chronischen
Krankheiten des weiblichen Geschlechts
Rücksicht auf Schwangerschaft, Unfrucht-
barkeit, Neigung zur Begattung, Nieder-
kunften, Fehlgeburten, Kindersäugen,
und den Zustand des monatlichen Blut-
flusses genommen werden. Insbesondre
ist in Rücksicht des leztern die Erkundi-
gung nicht zu versäumen, ob er in zu kur-
zen Perioden wiederkehrt oder über die
gehörige Zeit außen bleibt, wie viel Tage
er anhält, ununterbrochen oder abgesetzt?
in welcher Menge überhaupt, wie dunkel
von Farbe, ob mit Leukorrhöe vor dem
Eintritt oder nach der Beendigung? —
vorzüglich aber mit welchen Beschwerden
Leibes und der Seele, mit welchen Em-
pfindungen und Schmerzen vor dem Ein-
tritte, bei dem Flusse, oder nachher?
74.
Die Erforschung der obgedachten und
aller übrigen Krankheitszeichen muß des-
halb bei chronischen Krankheiten so sorg-
fältig und umständlich als möglich gesche-
hen und in die kleinsten Einzelheiten ge-
hen, theils weil sie bei diesen Krankheiten
am sonderlichsten sind, denen in den
schnell vorübergehenden Krankheiten am
wenigsten gleichend, und bei der Heilung,
wenn sie gelingen soll, nicht genau genug
genommen werden können; theils weil die
Kranken der langen Leiden so gewohnt
worden sind, daß sie auf die kleinern cha-
rakteristischen (bei Aufsuchung des Heil-
mittels oft viel entscheidenden) Nebenzu-
fälle wenig oder gar nicht mehr achten und
sie fast für einen Theil ihres nothwendigen
Zustandes, fast für Gesundheit ansehen,
deren wahres Gefühl sie bei der fünf-,
zehn-, zwanzigjährigen Dauer ihrer Lei-
den ziemlich vergessen haben, es ihnen
auch kaum einfällt, zu glauben, daß die
übrigen kleinern oder größern Abweichun-
gen vom gesunden Zustande mit ihrem
Hauptübel im Zusammenhange stehen
könnten.
75.
Zudem sind die Kranken selbst über-
haupt von so abweichender Gemüthsart,
daß einige, vorzüglich die sogenannten
Hypochondristen und andre sehr gefühlige
und unleidliche Personen ihre Klagen in
allzu grellem Lichte aufstellen und um den
Arzt zur Hülfe aufzureitzen, die Beschwer-
den mit überspannten Ausdrücken bezeich-
nen.
Anm. Eine reine Erdichtung von Zufällen
wird man wohl nie bei Hypochondristen,
selbst bei den unleidlichsten nicht, wahr-
nehmen (welches die Vergleichung ihrer zu
verschiednen Zeiten geklagten Beschwer-
den, während der Arzt ihnen nichts oder
etwas ganz unarzneiliches eingiebt, deut-
lich zeigt); nur muß man von ihren Hy-
perbeln und Superlativen etwas abziehen,
wenigstens die Stärke ihrer Ausdrücke
auf Rechnung ihres übermäsigen Gefühls
setzen — in welcher Hinsicht selbst diese
Hochstimmung ihrer Ausdrücke über ihre
Leiden vor sich schon zum bedeutenden
Symptome in der Reihe der übrigen wird,
welche das Bild der Krankheit konstitui-
ren. Bei Wahnsinnigen und böslichen
Krankheitserdichtern ist es ein andrer
Fall.
76.
Andre, entgegen gesetzte Personen
aber halten theils aus Indolenz, theils aus
misverstandner Scham, theils aus einer
Art milder Gesinnung eine Menge Beschwer-
den zurück, bezeichnen sie mit undeutli-
chen Ausdrücken, oder geben mehrere als
unbeschwerlich an.
77.
So gewiß man nun auch vorzüglich
den Kranken über seine Beschwerden und
Empfindungen zu hören und vorzüglich
seinen eignen Ausdrücken, mit denen er
seine Leiden auszudrücken vermag, Glau-
ben beizumessen hat, weil sie in dem
Munde der Angehörigen und Krankenwär-
ter verändert und verfälscht zu werden
pflegen; so gewiß erfordert doch auf der
andern Seite bei allen Krankheiten, vor-
züglich aber bei den chronischen die Erfor-
schung des wahren vollständigen Bildes
derselben und seiner Einzelheiten besondre
Umsicht, Skepticismus, Menschenkennt-
niß, Behutsamkeit im Erkundigen und Ge-
dult in hohem Grade.
78.
Im Ganzen wird dem Arzte die Erkun-
digung akuter, oder sonst seit kurzem ent-
standener Krankheiten leichter, weil dem
Kranken und Angehörigen alle Zufälle und
Abweichungen von der nur unlängst ver-
lornen Gesundheit noch in frischem Ge-
dächtnisse, noch neu und auffallend ge-
blieben sind. Der Arzt muß zwar auch
hier alles wissen; er braucht aber weit we-
niger zu erforschen — man sagt ihm alles
größtentheils von selbst.
79.
Bei Erforschung des Symptomeninbe-
griffs der epidemischen Seuchen und spo-
radischen Krankheiten ist es sehr gleichgül-
tig, ob schon ehedem etwas Aehnliches un-
ter diesem oder jenem Namen in der Welt
vorgekommen sei, oder nicht. Die Neu-
heit oder Besonderheit einer solchen Seu-
che macht keinen Unterschied weder in ih-
rer Erkennung, noch Heilung, da der
Arzt ohnehin das reine Bild jeder gegen-
wärtig herrschenden Krankheit als neu und
unbekannt voraussetzen und es, vom
Grunde aus, vor sich erforschen muß,
wenn er ein rationeller Heilkünstler seyn
will, der nie Vermuthung an die Stelle
der Wahrnehmung setzen, nie einen ihm
angetragenen Krankheitsfall weder ganz,
noch zum Theile für bekannt annehmen
darf, ohne ihn sorgfältig nach allen seinen
Aeußerungen auszuspähen, und das hier
um so mehr, da jede herrschende Seuche
in vieler Hinsicht eine Erscheinung eig-
ner Art ist, und sehr abweichend von allen
ehemahligen Seuchen ähnlichen Namens
(§. 54 — 57.) bei genauer Untersuchung be-
funden wird — wenn man die Epidemien
von sich gleich bleibendem Miasm, die
Pocken, Masern u. s. w. ausnimmt.
80.
Es kann wohl seyn, daß er beim er-
sten Krankheitsfalle einer epidemischen
Krankheit nicht gleich zum ersten Mahle
das vollkommne Bild davon zu Gesichte
bekömmt, da jede solche Kollektivkrank-
heit erst bei genauer Beobachtung mehrerer
Fälle den Inbegriff ihrer Symptomen und
Zeichen an den Tag legt. Indessen kann
der sorgfältig forschende Arzt schon beim
ersten und zweiten Kranken dem wahren
Zustande oft schon so nahe kommen, daß
er ein charakteristisches Bild davon inne
wird (und selbst schon dann eine passende
Gegenkrankheitspotenz, ein angemessenes
Heilmittel für sie ausfindet).
81.
Bei Aufzeichnung des Zeichenkom-
plexes mehrerer Fälle dieser Art wird das
entworfene Krankheitsbild immer vollstän-
diger, nicht größer und wortreicher, son-
dern gewöhnlich immer kleiner, aber kennt-
licher und charakteristischer, die Totalität
dieser Kollektivkrankheit umfassender —
denn dann weichen die allgewöhnlichen,
nichts Besondres und Auszeichnendes an-
deutenden Zufälle, z. B. Unlust, Mattig-
keit, Mangel an Schlaf und Appetit, u. s.
w. in den Hintergrund, und dagegen tre-
ten die mehr auffallenden, besondern, we-
nigstens in dieser Verbindung seltnern,
wenig Krankheiten eignen Zufälle hervor
und bilden das Charakteristische dieser
Seuche.
Anm. Da werden dem Arzte, welcher schon
in den ersten Fällen des ziemlich allgemein
passenden, oder doch dem specifischen am
nächsten kommenden Heilmittels gewiß
geworden, die neuern Fälle entweder die
Passendheit des zuerst (nach treuen, ob-
gleich unvollständigen Krankheitsumris-
sen) gewählten bestätigen oder ihn näher-
hin auf das noch passendere, passendste,
specifische Heilmittel hinweisen.
82.
Ist nun der Inbegriff der Symptomen,
das Bild der Krankheit irgend einer Art ein-
mahl genau aufgezeichnet, so ist auch die
schwerste Arbeit geschehen. Der Heil-
künstler hat es dann auf immer vor sich
liegen; er kann es festhalten in allen seinen
Theilen, um ein treffendes Gegenstück da-
zu, eine dem gegenwärtigen Uebel treffend
ähnliche, künstliche Gegenkrankheitspo-
tenz aus den Symptomenreihen aller ihm
bekannten Arzneien darnach aussuchen zu
können; und wenn er sich während der
Kur nach dem Erfolge der Arznei erkun-
digt, braucht er von der ursprünglichen
Gruppe der Krankheitssymptomen blos ab-
zuziehen, was sich gebessert hat, oder an-
zumerken, was etwa an neuen Beschwer-
den hinzu gekommen ist.
F
83.
Der zweite Punkt des rationellen
Heilgeschäftes betrifft demnach die Wahl
des homöopathischen Heilmittels,
jener künstlichen Krankheitspotenz, durch
deren Einnahme dem Kranken ein ähnli-
ches Leiden (ὅμοιον πάϑος), eine künstliche
Gegenkrankheit, gleichsam eingeimpft wird,
welche die Krankheit, woran er leidet,
durch Symptomenähnlichkeit zu überstim-
men und auszulöschen (gründlich zu hei-
len) fähig ist.
84.
Zu dieser Absicht müssen die einzel-
nen Arzneien in ihrer ganzen Wirksamkeit
als Krankheit erregende Potenzen bekannt
seyn, das ist, möglichst alle die krankhaf-
ten Symptomen und Körperveränderungen,
die jede derselben insbesondre zu erzeugen
fähig ist, müssen erst bekannt seyn, ehe
man eine derselben als Gegenkrankheitspo-
tenz einer natürlichen Krankheit, um sie
zu heben, entgegen stellen kann.
85.
Giebt man, dieß zu erforschen, Arz-
neien kranken Personen ein, so sieht man
von ihren reinen Wirkungen wenig oder
nichts, weil die von den Arzneien in Ver-
änderung des Befindens des menschlichen
Körpers besonders zu erwartenden Effekte,
mit den Symptomen der gegenwärtigen na-
türlichen Krankheit vermengt, nur undeut-
lich oder gar nicht wahrgenommen werden
können.
86.
Dieß zu vermeiden, war nichts natür-
licher Schon der große Albrecht von Haller sah die Noth-
wendigkeit hiervon ein (in der Vorrede zur Pharm.
Helvet. S. 12.): „Nempe primum in corpore sano me-
dela tentanda est, sine peregrina ulla miscela; odoreque
et sapore ejus exploratis, exigua illius dosis inge-
renda et ad omnes, quae inde contingunt, affectio-
nes, quis pulsus, qui calor, quae respiratio, quae-
nam excretiones, adtendendum. Inde ad ductum
phaenomenorum, in sano obviorum, tran-
seas ad experimenta in corpore aegroto, ect.“, als daß man die einzelnen Arz-
neien versuchsweise gesunden Menschen in
F 2
mäsiger Menge eingab, um zu sehen, wel-
che Veränderungen, Symptomen und Zei-
chen ihrer Einwirkung jede besonders in
der Gesundheit Leibes und der Seele rein
hervorbringe, das ist, welche Krankheits-
elemente sie zu erregen, geneigt sei.
87.
Da traten dann, indem ich dieß mit
Standhaftigkeit unternahm, nicht wenige
Potenzen künstlicher Krankheit vor meine,
mit vieler Aufopferung und möglichster
Aufmerksamkeit geführte Beobachtung, die
nun mit bestimmlicher Gewißheit zu Erre-
gung von Gegenkrankheiten gebraucht, das
ist, als homöopathische Heilmittel natürli-
chen Krankheiten entgegen gesetzt werden
können.
88.
Es fielen zugleich mehrere Reihen von
Symptomen in meine Augen die schon in
älteren Nachrichten verzeichnet standen,
welche Beispiele erzählten von der Schäd-
lichkeit stark wirkender Substanzen, die
von gesunden Personen in größerer Menge
verschluckt worden waren.
Anm. Man ahnete nicht, daß diese Geschich-
ten von Arzneikrankheiten dereinst die
ersten Anfangsgründe der Arzneistoff-
lehre abgeben würden, die bis hieher fast
nur in Vermuthungen bestand, das ist,
fast noch gar nicht existirte.
89.
Die Uebereinkunft meiner mit jenen äl-
tern (obgleich unhinsichtlich auf Heilbehuf
beschriebenen) Beobachtungen reiner Arz-
neieffekte und selbst die Uebereinstimmung
dieser Nachrichten mit andern dieser Art,
überzeugt uns leicht, daß die Arzneistoffe
bei der krankhaften Veränderung des ge-
sunden menschlichen Körpers nach be-
stimmten, unabänderlichen Ge-
setzen wirken, daß sie gewisse, zu-
verlässige Krankheitssymptomen
zu erzeugen geeignet sind.
90.
Indeß nimmt man in jenen älteren
Beschreibungen der oft lebensgefährlichen
Effekte in so übermäsigen Gaben verschluck-
ter Arzneien, auch Zustände wahr, die
nicht Anfangs, sondern beim Ausgange
solcher traurigen Ereignisse sich zeigten,
und von einer, den anfänglichen ganz ent-
gegen gesetzten Natur waren.
91.
Solche nachgängigen Zufälle
nahm zwar auch ich Anfangs nicht selten
wahr, doch weit seltner als in jenen Nach-
richten vorkömmt, weil ich nicht so über-
mäsige Gaben zu Versuchen anwendete.
Ie kleinere Gaben ich aber nachgehends zu
Versuchen dieser Art nahm, in desto klei-
nerer Zahl erschienen dieselben, indeß die
anfänglichen Symptomen auch bei
den kleinern Gaben in gleich reichlicher
Menge und mit gleicher Bestimmtheit er-
schienen, wenn ich die Aufmerksamkeit
bei der Beobachtung verdoppelte und alles
vermied, wodurch irgend die Reinheit des
Versuchs hätte vermindert werden können.
92.
Der Umstand, daß die nachgängigen,
die man negative oder Sekundär-
symptomen nennen kann, am häufig-
sten bei sehr großen Gaben zum Vorschei-
ne kommen und je kleiner die Gabe ist,
auch in den Versuchen desto seltner wer-
den, zeiget, daß die Sekundärsymptomen
nur eine Art von Nachkrankheit sind,
welche bei großen Gaben nach Verfluß der
anfänglichen Symptomen (positiven
oder Primärsymptomen), entsteht;
eine Art gegenseitiger Zustand — nach
dem gewöhnlichen Vorgange im Leben, in
welchem alles in Wechselzuständen vorzu-
gehen scheint.
Anm. So wie auf allzu große Lustigkeit Trau-
rigkeit — auf Leibesverstopfung Durch-
fall, auf Durchfall Verstopfung, auf
Schlaf Munterkeit, auf Frost Hitze und
umgekehrt zu folgen pflegt.
93.
Von jeder kräftigen Arznei zeigt sich
eine ansehnliche Zahl Symptomen man-
cherlei Art, ganze Reihen von Zufällen und
Krankheitszeichen, welche sämtlich Pri-
märsymptomen sind, wenn die Versuchs-
gabe nicht heftig war. Die Haupteffek-
te der Arzneien, als künstlicher Krank-
heitspotenzen, sind jene häufigern Primär-
symptomen.
94.
Unter diesen giebt es nicht wenige,
welche andern, bald vorher erschienenen,
bald nachher erscheinenden Symptomen
zum Theil, oder in Absicht gewisser Ne-
benumstände entgegen gesetzt sind, des-
wegen aber nicht zu den Sekundärsympto-
men oder zur Nachkrankheit der Arzneiwir-
kung gehören, sondern nur den Wechsel-
zustand der verschiednen Wirkungsparo-
xysmen positiver (primärer) Art bilden.
95.
Einige Symptomen bringen die Arz-
neien öfterer, andre seltner, und einige
sehr selten bei ihrer Anwendung am gesun-
den menschlichen Körper zum Vorscheine.
Die sonderlichsten und die am öftersten
von ihnen erzeugten Symptomen sind die
vorzüglichsten.
Anm. Idiosynkrasien sind oft nichts als sol-
che zwar selten vorkommende, aber reine,
auffallende Arzneieffekte auf Personen,
welche obgleich gesund, doch für die Ein-
wirkung dieser besondern Substanzen vor-
zügliche Empfänglichkeit besitzen; so wie
einige Sumach-Arten bei der Berührung
nur einigen wenigen Personen gewisse
Hautausschläge, und die Flußkrebse nach
dem Genusse nur bei einigen Wenigen eine
Art Rothlauf und Blasenfieber zuwege brin-
gen (obgleich beide die beständige Ten-
denz zu diesen Aeußerungen unter
allen Umständen behalten), und so wie
selbst nur einige Individuen von Pferden
und Kühen vom Genusse der Taxusblätter
plötzlich getödet werden, indeß die übri-
gen nur wenig davon leiden.
96.
Iede Arznei zeigt besondre Effekte,
welche sich von keinem andern Arznei-
stoffe verschiedner Art genau so ereignen.
97.
So gewiß jede Pflanzenart in ihrer äu-
ßern Gestalt, in der eignen Weise ihres
Lebens, und Wuchses, in ihrem Ge-
schmacke und in ihrem Geruche von je-
der andern Pflanzen-Art und Gattung, so
gewiß jedes Mineral, jedes Salz in seinen
äußern sowohl, als innern physischen und
chemischen Eigenschaften (wodurch allein
oft schon alle Verwechslung unmöglich
gemacht wird) verschieden ist, so gewiß
sind sie alle unter sich, in ihren krank-
machenden (also auch heilenden) Wirkun-
gen verschieden. Iede dieser Substanzen
wirkt daher auf eine eigne, verschiedne,
doch bestimmte Weise die alle Verwech-
selung verbietet Abänderungen des Ge-
sundheitszustandes und des Befindens der
Menschen.
Anm. Wer die so sonderbar abweichenden
Effekte jeder einzelnen Substanz von denen
jeder andern genau kennt und zu würdigen
versteht, der sieht auch leicht ein, daß es
unter ihnen, in arzneilicher Hinsicht, kei-
ne gleichbedeutenden Mittel, keine Sur-
rogate geben kann. Blos wer die verschied-
nen Arzneien in ihren reinen positiven
Wirkungen nicht kennt, kann sich solche
Verwechselungen zu Schulden kommen
lassen. So wurden die Mineralien, in de-
nen die neue, sorgfältigere Chemie ganz
eigne, höchst verschiedne neue Metalle
entdeckt hat, nur für gleichgültige Steine
und Erden von unsern unwissenden Vor-
fahren gehalten; so verwechseln Kinder
die wesentlich verschiedensten Dinge, weil
sie sie kaum dem Aeußern nach, und nicht
nach ihrem Werthe, nicht nach ihren in-
nern, höchst abweichenden Eigenschaften
kennen.
98.
Die Substanzen des Thier- und Pflan-
zenreiches sind in ihrem rohen Zustande
am arzneilichsten.
Anm. Diejenigen Pflanzen und Thiere, derer
wir uns zu Nahrungsmitteln bedienen,
haben den Vorzug einer größern Menge
Nahrungstheile vor den übrigen, und wei-
chen darinn von den andern ab, daß die
Arzneikräfte ihres rohen Zustandes theils
nicht sehr heftig, theils, wenn sie auch
heftig sind, durchs Trocknen (wie bei der
Aron- und Päonienwurzel), durch Aus-
pressen des schädlichen Saftes (wie bei der
Kassave), durch Gähren (saure Gurken),
durch Räuchern, und durch die Gewalt
der Hitze (beim Rösten, Braten, Backen,
Kochen) zerstört und verflüchtigt, oder
durch den Zusatz des Kochsalzes, des Zu-
ckers, vorzüglich aber des Essigs (in Sau-
cen und Salaten) antidotisch unschädlicher
gemacht werden. Ia selbst die arzneilich-
sten Pflanzen verlieren ihre Arzneikraft
zum Theil, oder ganz durch solche Ope-
rationen. Der Saft der heroischen Pflan-
zen wird durch die Hitze der gewöhnlichen
Extraktbereitung oft zur ganz unkräftigen
pechartigen Masse. Der ausgepreßte Saft
der tödlichsten Pflanzen in ihrem frischen
Zustande (denn wenn sie grün übereinan-
der liegend, wie man sagt, geschwitzet
haben, so ist durch innere Gährung schon
ein großer Theil der Arzneikraft verloren),
darf nur Einen Tag an einem temperirten
Orte stehen, so ist er in volle Weingäh-
rung übergegangen, und hat schon viele
seiner Arzneikräfte eingebüßt; steht er
aber noch einen oder zwei Tage, so ist die
Essiggährung vollendet und alle specifische
Arzneikraft ist verschwunden; das
Satzmehl ist dann völlig unschädlich, der
Weizenstärke gleich.
99.
Um die Effekte der Arzneien auszu-
spähen, muß man wissen, daß die star-
ken, so genannten heroischen Arzneien
schon in geringer Gabe ihre Wirkung bei
gesunden, selbst starken Personen zeigen.
Die von schwächerer Kraft müssen zu die-
sen Versuchen in ansehnlicherer Gabe ge-
reicht werden, die schwächsten Arzneien
aber können, damit man ihre absolute
Wirkung wahrnehme, blos bei solchen
von Krankheit freien Personen versucht
werden, welche zärtlich, reitzbar und em-
pfindlich sind.
100.
Der hiezu aufgelegte, beobachtende
Arzt darf keine Arzneien zu solchen Ver-
suchen, von denen das Wohl ganzer Men-
schengenerationen abhängt, nehmen, als
solche, die er genau kennt und von de-
ren Aechtheit und Vollkräftigkeit er gänz-
lich überzeugt ist.
101.
Iede dieser Arzneien muß in ganz ein-
facher, ungekünstelter Form, in Pulver,
oder als blos mit Weingeist verfertigte
Tinktur, die Salze und Gummen in wäs-
seriger Auflösung eingegeben werden, um
ihre eigenthümlichen Wirkungen zu erfor-
schen. Da aber der wässerige Aufguß
der Gewächse und die frischen Kräuter-
säfte sich schon binnen wenigen Stunden
durch Gährung zersetzen, so müssen bei-
de gleich nach ihrer Verfertigung ohne
Zeitverlust eingegeben werden, wenn man
die Gährung nicht durch Zusatz von et-
was Weingeist verzögern oder durch eine
stärkere Menge desselben ganz beseitigen
will.
102.
Ieden Arzneistoff muß man zu dieser
Absicht ganz allein, ganz rein anwenden,
ohne irgend eine fremdartige Substanz zu-
zumischen, oder dergleichen zu derselben
Zeit, oder kurz vorher oder nachher zu
brauchen.
103.
Man giebt dem zum Versuche be-
stimmten, gesunden Menschen, während
er nüchtern ist, ungefähr eine solche Gabe
ein, als man in der gewöhnlichen Praxis
gegen Krankheiten zu brauchen pfleget,
am besten in Auflösung, und läßt die Per-
son noch mehrere Stunden nüchtern. Sie
muß mit gutem Willen auf sich genau
Acht haben und dabei ungestört seyn.
104.
Will man die Effekte dieser einzelnen
Gabe (wie am besten) mehrere Tage lang
beobachten, so muß die Diät recht mä-
ßig eingerichtet werden, möglichst ohne
Gewürze, von blos nährender, einfacher
Art, so daß die grünen Zugemüße und
frischen Wurzeln (welche immer einige
störende Arzneikraft auch bei aller Zube-
reitung behalten) vermieden werden. Die
Getränke sollen die alltäglichen seyn, so
wenig als möglich reitzend.
105.
Die Person muß sich vor Excessen
aller Art, auch in Leidenschaften hüten.
106.
Wäre auf die erste Gabe gar nichts
erfolgt, wenigstens nichts Deutliches, Be-
stimmbares, so wird eine zweite, doppelt
stärkere den zweiten Tag, und wenn auch
diese der Absicht noch nicht entspräche,
allenfalls eine noch stärkere am dritten
Tage, ihre Wirkung schon zu erkennen
geben.
107.
Diese Wiederholung wird jedoch sel-
ten nöthig seyn, wenn die Versuchsper-
son und der Arzt gleich aufmerksam sind;
so wie es auch weit sichrer ist, um ei-
nen reinen Erfolg, wenigstens in Hinsicht
der Succession der Symptome auf einander,
zu sehen, wenn bei einer Person nur mit
einer einzigen Gabe der Versuch angestellt
wird, und erst nach Wochen vielleicht
mit einer zweiten Gabe derselben, oder
besser, nach geraumer Zeit, mit einer einzel-
nen Gabe einer andern Arzneisubstanz.
108.
So erfährt man die Aufeinanderfolge
der Arzneisymptomen genauer, als wenn
bald nach der erstern, wieder eine zweite
Gabe derselben Arznei gegeben wird; auch
läßt sich bei Anwendung einer einzigen Ga-
be die Dauer der Wirkungszeit einer Arznei
im menschlichen Körper gewisser, als auf
irgend eine andre Art, beobachten.
109.
Wo man aber noch ohne Rücksicht
auf Wirkungsdauer, und Succession blos
die Symptomen vor sich, besonders einer
schwachkräftigen Arznei erforschen will;
da ist die Veranstaltung vorzuziehen, daß
man jeden Tag eine erhöhete Gabe, auch
wohl des Tages mehrmahls eine solche rei-
che. Dann wird der Effekt auch der mil-
desten, noch unbekannten Arznei an den
Tag kommen.
110.
Nicht alle einer Arznei eignen Symp-
tomen kommen schon bei Einer zum Ver-
suche gewählten Person, auch nicht alle
sogleich, oder denselben Tag zum Vor-
scheine, sondern bei der einen Person die-
G
se, bei der andern jene vorzugsweise,
doch so, daß vielleicht bei einer vierten
oder zehnten Person wieder einige oder
mehrere von denen Zufällen, welche schon
etwa bei der zweiten oder sechsten, sie-
benten Person sichtbar geworden, sich
hervorthun; auch erscheinen sie nicht ge-
nau zu derselben Stunde wieder.
111.
Der Inbegriff aller Krankheitselemen-
te, die eine Arznei hervorzubringen ver-
mag, wird erst in vielfachen, an vielen
dazu tauglichen Personen angestellten
Beobachtungen der Vollständigkeit nahe
gebracht.
112.
Ie kleiner, bis zu einer gewissen Ma-
se, die Gaben einer zu solchen Versuchen
bestimmten Arznei sind — indeß man
nur die Beobachtung durch die Wahl ei-
ner auf sich aufmerksamen, empfindli-
chen, in jeder Rücksicht gemäsigten Per-
son, so wie durch die gespannteste Auf-
merksamkeit zu erleichtern sich bestrebt —
desto deutlicher kommen fast blos die Pri-
märsymptomen, als die wissenswürdig-
sten hervor, und die Sekundärsymptomen
bleiben zurück.
113.
Bei übermäsig großen Gaben spielen
nicht nur die Sekundärsymptomen eine
große Rolle mit, sondern die Primärsymp-
tomen treten dann auch in so verwirrter
Eile und so stürmisch auf, daß sich nichts
genau beobachten läßt; der Gefahr der-
selben nicht zu gedenken, die dem, wel-
cher Achtung gegen die Menschheit hat,
und auch den geringsten im Volke für sei-
nen Bruder schätzt, nicht gleichgültig
seyn kann.
114.
Die gewählten Personen müssen ihre
Empfindung bestimmt und deutlich aus-
zudrücken fähig seyn.
G 2
115.
Bei Erkundigung dieser Arzneisymp-
tomen muß alle Suggestion, eben so sorg-
fältig vermieden werden, als nur irgend
bei Erforschung der Symptomen der Krank-
heiten. Es muß größtentheils nur frei-
willige Erzählung der zum Versuche ge-
nommenen Person seyn — nichts Erra-
thenes, nichts Vermuthetes, und so wenig
als möglich Ausgefragtes, — was man als
wahren Befund niederschreiben will; am
wenigsten aber Ausdrücke von Empfin-
dungen, die man der Versuchsperson vor-
her schon in den Mund gelegt hatte, oder
worauf sie blos IaJa, oder Nein antworten
könnte.
116.
Hier dient, um diese wichtigen Aus-
sagen möglichst zur Wahrheit zu erhe-
ben, noch der Rath, sich die schon nie-
dergeschriebnen Zufälle und Empfindun-
gen von der zum Versuche dienenden Per-
son zulezt nochmals wiederholen zu las-
sen, um das, worin sie auf einerlei Rede
bleibt, als bestimmt anzuzeichnen, wo es
aber Varianten giebt, sie ihr vorzuhalten,
damit sie den der Wahrheit angemesse-
nern Ausdruck vorziehen und nochmals
bestätigen könne und das Bild der von
ihr empfundenen Arzneikrankheit wahr,
rein und treffend werde. Der beobach-
tende Arzt setzt hiezu die Veränderungen,
die er selbst an der Versuchsperson offen-
bar wahrnimmt.
117.
Die deutlichern, und auffallendern Zu-
fälle werden, mit Bemerkung der nach
der Gabe verflossenen Stunden, der Ta-
geszeit, ihrer Dauer und aller vorgefalle-
nen Nebenumstände in dem Verzeichnisse
aufgeschrieben; die öfterer auf gleiche Art
beobachteten werden als die bestätigtern
durch Vorzugsmerkmahle ausgezeichnet,
die zweideutigen aber mit Zeichen des
Zweifels belegt oder in Klammern einge-
schlossen, bis auch sie vielleicht, nach
öfterer Bestätigung, dieser Zweideutigkeit
wieder entledigt werden.
118.
Die Versuche des fein beobachtenden,
vorurtheillosen Arztes mit Arzneien an
sich selbst bleiben die wichtigsten.
119.
Wie man aber selbst in Krankheiten,
besonders in den chronischen, unter den
Symptomen der ursprünglichen Krankheit
die Symptomen der Arznei ausfinden kön-
ne, ist ein Gegenstand höherer Kunst und
blos Meistern in der Beobachtung zu
überlassen.
120.
Hat man nun eine ansehnliche Reihe
Arzneien in gesunden Menschen so ge-
probt und alle die Krankheitselemente und
Symptomen sorgfältig und treu aufgezeich-
net, die sie vor sich als künstliche Krank-
heitspotenzen zu erzeugen fähig sind, so
hat man eine Materia medica — eine
Sammlung der wahren, positiven Wir-
kungsarten der einfachen Arzneistoffe vor
sich, einen Kodex der Natur, worin von
jeder so erforschten, kräftigen Arznei eine
ansehnliche Reihe besonderer Symptomen
und Krankheitselemente, wie sie sich der
Aufmerksamkeit des Beobachters zu Tage
legten, aufgezeichnet stehen, in denen die
Elemente mehrerer natürlichen, dereinst
durch sie zu heilenden Krankheiten in
Aehnlichkeit vorhanden sind.
121.
In einer solchen Arzneimittellehre sei
nichts Vermuthetes, Behauptetes, Erdach-
tes, Fingirtes, sondern alles reine Sprache
der befragten Natur.
122.
Freilich kann nur ein ansehnlicher
Vorrath genau nach dieser ihrer positiven
Wirkungsart gekannter Arzneimittel uns
in den Stand setzen, für jeden der unend-
lich vielen natürlichen Krankheitsfälle ein
homöopathisches Heilmittel (ein vollstän-
diges Analogon von Gegenkrankheitspo-
tenz) auszufinden.
Anm. Wenn statt eines Einzigen, wie bisher,
Tausende von genauen und zuverlässigen
Beobachtern sich mit Erforschung dieser
ersten Elemente einer rationel-
len Arzneistoff-Lehre beschäftigt
haben werden; was wird dann nicht erst
im ganzen Umfange des unendlichen Krank-
heits-Gebietes ausgerichtet werden kön-
nen! Dann wird das Heilgeschäft nicht
mehr als grundlose Vermuthungskunst (ars
conjecturalis) verspottet werden können.
123.
Indessen bleiben auch jezt — Dank
sei’s der Vielheit von Symptomen und dem
Reichthume an Krankheitselementen, wel-
che jede der kräftigen Arzneisubstanzen,
in ihrer positiven Wirkung am gesunden
Körper, schon aufgewiesen hat — doch
nur wenige Krankheitsfälle übrig, für wel-
che, selbst aus diesem geringen VorratheFragmenta de viribus medicaminum po-
sitivis, sive in sane corpore humano ob-
servatis, P. I. II. Lips. Barth. 8. 1805. Etwas
seitdem Vervollständigteres wird vielleicht noch von
mir erscheinen.,
sich nicht ein erträgliches Analogon von
Gegenkrankheitspotenz (ein Heilmittel) auf-
finden lassen sollte, was, ohne sonderliche
Beschwerde, Gesundheit sanft, schnell und
dauerhaft wiederbringt — wegen einge-
schränkter Wahl zwar noch unvollkomme-
ne Hülfsmittel, wodurch aber unglaublich
mehr und besser geheilt wird, als nach der
sogenannten allgemeinen Methode, oder
als nach allen irrationellen, paralogen,
nicht homöopathischen Methoden.
124.
In welcher Symptomenreihe einer un-
ter den so, nach ihrer positiven Wirkungs-
art durch Beobachtung am gesunden Kör-
per befragten Arzneien man nun das meiste
Aehnliche von dem Symptomenkomplexe
einer gegebnen natürlichen Krankheit an-
trifft, das wird, das muß die passendste
Gegenkrankheit zur Vertreibung und Aus-
löschung jener natürlichen Krankheit seyn;
das passendste, specifische Heilmittel ist in
dieser Arznei gefunden.
125.
Ist nun so die Gegenkrankheits-Po-
tenz (Arznei) völlig passend nach der
Symptomenähnlichkeit, das ist, homöopa-
thisch ausgesucht worden, und wird sie
gehörig angewendet, so vergeht die zu be-
zwingende natürliche, auch noch so schlim-
me, mit noch so viel Zufällen beladene
Krankheit, wenn sie unlängst entstanden
war, unvermerkt in einigen Stunden —
wenn sie älter war, in einigen wenigen
Tagen und man wird von den krankhaften
Symptomen der Arznei, das ist von der
künstlichen Gegenkrankheit fast nichts ge-
wahr; es erfolgt in schnellen, unbemerk-
lichen Uebergängen, nichts als Gesundheit,
die natürliche und die Gegenkrankheit ver-
löschen schnell beide zusammen, ohne be-
merkbare Reaktion, ganz in der Stille —
eine wahre dynamische Vernichtung.
125.
Hier kömmt es nun auf den dritten
Punkt der rationellen Heilkunde, auf die
gehörige Anwendung des homöopathi-
schen Heilmittels in Krankheiten an.
127.
Werden dem Arzte ein oder ein Paar
geringfügige Zufälle geklagt, welche seit
kurzem erst bemerkt wurden, so hat er
dieß für keine vollständige Krankheit an-
zusehen, welche arzneilicher Hülfe bedürf-
te. Eine kleine Abänderung in der Diät
und Lebensordnung reicht gewöhnlich hin,
sie zu verwischen. Sind es aber ein Paar
heftige Beschwerden, die der Kranke klagt,
so findet der forschende Arzt gewöhnlich
noch nebenbei mehrere, obschon kleinere
Zufälle, welche ein vollständiges Bild von
der Krankheit geben, wie es gemeiniglich
in chronischen Uebeln statt findet; wovon
weiter unten.
128.
Ie schlimmer eine Krankheit ist, aus
desto mehrern, aus desto auffallendern
Symptomen ist sie dann gewöhnlich zu-
sammen gesetzt; um desto gewisser läßt
sich aber auch ein passendes Heilmittel
für sie auffinden, wenn eine hinreichende
Zahl nach ihrer positiven Wirkung ge-
kannter Arzneien vorhanden ist. Unter
den Symptomenreihen vieler Arzneien
läßt sich nicht schwierig eine finden, aus
deren einzelnen Krankheitselementen sich
ein dem Symptomenkomplexe der natür-
lichen Krankheit sehr ähnliches Gegenbild,
eine passende Gegenkrankheitspotenz zu-
sammensetzen läßt; und diese ist dann
das gesuchte Heilmittel.
129.
Bei dieser Aufsuchung eines homöo-
pathisch specifischen Heilmittels, das ist,
bei dieser Gegeneinander-Haltung des Zei-
cheninbegriffs der natürlichen Krankheit
gegen die Symptomenreihen der vorhand-
nen Arzneien sind die auffallendern,
sonderlichen, charakteristischen
Zeichen der erstern vorzüglich fest ins Au-
ge zu fassen; denn vorzüglich diesen
müssen sehr ähnliche in den Krankheitsele-
menten der Symptomenreihen der gesuch-
ten Arznei entsprechen, wenn sie die pas-
sendste zur Heilung seyn soll — während
die allgemeinern Zeichen: Anorexie, Mat-
tigkeit, Unbehaglichkeit, gestörter Schlaf,
u. s. w. in dieser Allgemeinheit, und wenn
sie nicht näher bezeichnet sind,
weit weniger Aufmerksamkeit verdienen,
weil sie wie in den meisten natürlichen
Krankheiten, so auch in den Symptomen-
reihen der meisten Arzneien angetroffen
werden.
130.
Enthält nun das aus der Symptomen-
reihe der treffendsten Arznei zusammen ge-
sezte Gegenbild jene in der zu heilenden
Krankheit anzutreffenden charakteristi-
schen Zeichen in der größten Zahl und in
der größten Aehnlichkeit, so ist diese
Arznei für diesen Krankheitszustand die
passendste künstliche Gegenkrankheitspo-
tenz, das specifische Heilmittel; die Krank-
heit wird (oft schon durch die erste Gabe
desselben während der Wirkungsdauer die-
ser Arznei) ohne Beschwerde gehoben und
ausgelöscht.
131.
Ich sage ohne Beschwerde. Denn
beim Gebrauche dieser passendsten Gegen-
krankheitspotenz sind blos die, den Krank-
heitssymptomen entsprechenden Arznei-
symptomen in Wirksamkeit (indem leztere
die erstern vernichten); die, oft sehr vie-
len, übrigen Symptomen in der Sympto-
menreihe der passenden Arznei aber, wel-
che in dem vorliegenden Krankheitszu-
stande keine Anwendung finden, schwei-
gen dabei gänzlich; es läßt sich faßt
nichts von ihnen in dem Befinden des sich
stündlich bessernden Kranken bemerken —,
vermuthlich weil sich die ganze Kraft des
specifischen Heilmittels auf seine der
Krankheit ähnlichen Symptome koncentrirt,
und seine ganze Kraft im Vernichten die-
ser ähnlichen Symptomen erschöpft.
Anm. Indessen giebt es kein, auch noch so
passend gewähltes, homöopathisches Arz-
neimittel, welches nicht Eine, wenigstens
ganz kleine, ungewohnte Beschwerde, ein
kleines neues Symptom während seiner
Wirkungsdauer bei sehr reitzbaren und
feinfühlenden Kranken erregen sollte;
weil es fast unmöglich ist, daß Arznei
und Krankheit in ihren Symptomen ein-
ander so genau decken sollten, wie zwei
Triangel von gleichen Winkeln und glei-
chen Seiten. Aber diese (in gutem Falle)
unbedeutende Aberration wird von der
eignen Energie des lebenden Organisms
mehr als zulänglich ausgeglichen, und
Kranken von nicht übermäsiger Zartheit
nicht einmahl bemerkbar; die Herstellung
geht dennoch vorwärts, wenn sie nicht
durch Fehler in der Lebensordnung oder
durch Leidenschaften gehindert wird.
132.
So gewiß es aber auch ist, daß ein pas-
send homöopathisches Heilmittel ohne
Lautwerdung seiner übrigen, ihm eignen
Symptomen, das ist, ohne Erregung neuer
bedeutender Beschwerden die ihm analoge
Krankheit ruhig aufhebt und vernichtet,
so pflegt es doch gleich nach der Einnah-
me (in der ersten, oder in den ersten Paar
Stunden) eine Art kleiner Verschlimme-
rung zu bewirken, welche so viel Aehn-
lichkeit mit der ursprünglichen Krankheit
hat, daß sie dem Kranken eine Verschlim-
merung der Krankheit selbst zu seyn
deuchtet, aber nichts andres ist, als die,
die ursprüngliche Krankheit etwas an Stär-
ke übertreffende, höchst ähnliche Arznei-
krankheit. Diese kleine homöopathi-
sche Verschlimmerung in den ersten
Stunden (eine sehr gute Vorbedeutung,
daß die akute Krankheit meistens von der
ersten Gabe beendigt seyn wird) ist ganz
in der Regel, da die Arzneikrankheit na-
türlich um etwas stärker seyn muß, als
das zu heilende Uebel, wenn sie lezteres
überstimmen und auslöschen soll, so wie
auch eine analoge Krankheit die andre nur
wenn sie stärker als die andre ist, aufhe-
ben und vernichten kann (§. 28). Ie klei-
ner die Gabe des homöopathischen Mittels,
desto kleiner diese anscheinende Krank-
heitserhöhung in der ersten Stunde. Da
man jedoch die Gabe eines homöopathi-
schen Heilmittels kaum je so klein berei-
ten kann, daß sie nicht die ihr analoge
Krankheit überstimmen und bessern, ja völ-
lig heilen und vernichten könnte (§. 244.),
so wird es begreiflich, warum auch die
kleinstmögliche Gabe passend homöopa-
thischer Arznei immer noch in der ersten
Stunde nach der Einnahme eine, obgleich
sehr kleine homöopathische Verschlimme-
rung dieser Art zuwege bringt.
Anm. Diese, einer Verschlimmerung ähnliche
Erhöhung der Arzneisymptomen über die
ihr analogen Krankheitssymptomen haben
auch andre Aerzte, wo sie ein homöopathi-
sches Mittel anwendeten, beobachtet. Den
Gesichtsausschlag, den die viola tricolor
heilete, hatte sie beim Anfange ihres Ge-
brauchs verschlimmert (Leroy, Heilk. für
Mütter, S. 406.)
133.
Zuweilen findet sichs bei der noch
eingeschränkten Zahl genau nach
ihrer positiven Wirkung gekann-
ter Arzneien, daß von den Sympto-
men der zu heilenden Krankheit nur ein
mehr oder weniger großer Theil in der
Symptomenreihe einer der noch am besten
passenden Arzneien angetroffen wird, folg-
lich diese unvollkommne Gegenkrankheits-
potenz in Ermangelung einer vollkomm-
nern angewendet werden muß.
H
134.
In diesem Falle läßt sich freilich von
dieser Arznei keine vollständige, unbe-
schwerliche Heilung erwarten. Vielmehr
treten da bei ihrem Gebrauche mehrere
Zufälle am Kranken hervor, welche vor-
her in der Krankheit nicht zu finden wa-
ren. Diese hindern zwar nicht, daß ein
beträchtlicher Theil des Uebels von dieser
Arznei getilgt werde, und dadurch ein
ziemlicher Anfang der Heilung entstehe,
aber doch nicht ohne jene Nebenbeschwer-
den.
135.
Die geringe Zahl bei der nach bester
Einsicht gewählten Arznei anzutreffender
homöopathischer Symptome thut jedoch
der Heilung wenig oder keinen Eintrag,
wenn diese wenigen Symptomen
größtentheils von charakteristi-
scher, die Krankheit besonders
auszeichnender Art waren; sie er-
folgt dann dennoch bald und ziemlich un-
beschwerlich.
136.
Ist aber von den auszeichnenden, cha-
rakteristischen Symptomen der Krankheit
wenig in der Symptomenreihe der gewähl-
ten Arznei vorhanden und entspricht sie
der Krankheit meistens nur in den allgemei-
nen Krankheitszufällen (Uebelkeit, Mattig-
keit, gestörter Schlaf, Unbehaglichkeit,
u. s. w.) und findet sich keine homöopa-
thisch passendere unter den gekannten Ge-
genkrankheitspotenzen, so hat der Heil-
künstler sich keinen unmittelbar vortheil-
haften Erfolg von ihrer Anwendung zu ver-
sprechen.
137.
Indessen ist dieser Fall auch bei der
jezt noch so beschränkten Zahl nach ih-
ren positiven Wirkungen gekannter Heil-
mittel selten, und seine Nachtheile min-
dern sich, sobald ein folgendes Heilmit-
tel passender gewählt werden kann.
138.
Entstehen nämlich beim Gebrauche
dieser zuerst gewählten unvollkommen ho-
H 2
möopathischen Arznei Nebenbeschwerden
von einiger Bedeutung, so läßt man diese
erste Gabe nicht völlig auswirken, und
überläßt den Kranken nicht der vollen
Wirkungsdauer des Medicaments, sondern
untersucht den geänderten Krankheitszu-
stand aufs Neue, das ist, den Rest der
ursprünglichen Symptomen bringt man
mit den neu entstandnen zusammen in
Verbindung, um ein neues Krankheitsbild
zu entwerfen.
139.
Nun wird man leichter ein diesem
entsprechendes Analogon aus den gekann-
ten Arzneien ausfinden, dessen selbst ein-
mahliger Gebrauch die Krankheit wo nicht
gänzlich vernichten, doch der Heilung um
Vieles näher bringen wird. Und so fährt
man, wenn auch diese Arznei zur Her-
stellung der Gesundheit nicht völlig hin-
reichen sollte, mit abermahliger Untersu-
chung des noch übrigen Krankheitszustan-
des und der Wahl einer darauf möglichst
passenden, neuen homöopathischen Ge-
genkrankheitspotenz fort, bis die Absicht,
den Kranken in den vollen Besitz der Ge-
sundheit zu setzen, erreicht ist.
140.
Wenn man bei der ersten Untersu-
chung einer Krankheit und der ersten Wahl
der Arznei finden sollte, daß der Sympto-
meninbegriff der Krankheit nicht zurei-
chend von den Krankheitselementen einer
einzigen Arznei gedeckt werde — eben
der unzureichenden Zahl gekannter Arz-
neien wegen —; daß aber zwei Arzneien
um den Vorzug ihrer Paßlichkeit streiten,
so daß für den einen Theil des Sympto-
menkomplexes mehr die eine, für den an-
dern Theil aber die zweite passend sei, so
läßt sich weder anrathen, die eine Arznei
unbesehens nach der andern zu brauchen,
noch auch beide zugleich anzuwenden,
weil niemand voraussehen kann, wie sehr
die eine die andre in der Wirkung hin-
dern und umstimmen würde (§. 235. 236).
141.
Weit besser ist es hier, die für vor-
züglicher unter beiden zu achtende Gegen-
krankheitspotenz zuerst allein zu geben.
Sie wird freilich die Krankheit zum Theil
mindern können, aber dagegen einen Zu-
satz neuer Symptomen hervorbringen.
142.
In diesem Falle kann nach den Ge-
setzen der Homöopathie keine zweite Gabe
dieser ersten Arznei gereicht werden; aber
auch die bei der anfänglichen Indikation
für die zweite Hälfte der Symptomen pas-
send gefundne Arznei kann hier nicht un-
besehens an ihrer Stelle, und ohne wei-
tere Untersuchung in dem Zustande ange-
wendet werden, den die erstere Arznei
übrig gelassen hat.
143.
Vielmehr muß auch hier, wie über-
all, wo eine Aenderung des Krankheits-
zustandes vorgegangen ist, der gegenwär-
tige, noch übrige Symptomenkomplex aufs
neue ausgemittelt, und ohne Rücksicht
auf die anfänglich passend geschienene
zweite Arznei, eine dem neuen jetzigen
Zustande möglichst angemessene Gegen-
krankheitspotenz von Neuem ausgewählet
werden.
144.
Es trifft sich nicht oft, daß die an-
fänglich als zweit-beste projektirte Arznei
nun noch passen sollte; fände sich dieß
aber gleichwohl nach der neuen Untersu-
chung, daß sie auch jezt noch wenigstens
eben so gut, als irgend eine andre Arznei
paßte, so wird sie um desto mehr das Zu-
trauen verdienen, vorzugsweise angewen-
det zu werden.
145.
Nur in einigen Fällen alter, keiner
sonderlichen Veränderung unterworfener,
chronischer Krankheiten, welche gewisse
feststehende Grundsymptomen haben, las-
sen sich zuweilen zwei fast gleich homöopa-
thisch passende Heilmittel mit Erfolg ab-
wechselnd brauchen; so lange der Vorrath
der in ihrer positiven Wirkung am gesunden
Körper geprüften Arzneien keine ganz voll-
kommene Gegenkrankheitspotenz darreicht,
in deren Symptomenreihe die Gruppe von
Zufällen des chronischen Uebels völlig oder
fast völlig anzutreffen ist, die ihr dann al-
lein Genüge leistet, und sie schnell und
dauerhaft heilt, ohne Beschwerde.
146.
Eine ähnliche Schwierigkeit im
Heilen entsteht von der allzu ge-
ringen Zahl der Krankheitssympto-
me —, ein Umstand, der unsre sorgfälti-
ge Beachtung verdient, da durch seine Be-
seitigung fast alle Schwierigkeiten, die die
Heilkunde (außer dem Mangel homöopa-
thisch gekannter Arzneien) nur darbietet,
gehoben sind.
147.
Blos diejenigen Krankheiten scheinen
nur wenige Symptomen zu haben, und
deshalb Heilung schwieriger anzunehmen,
welche man einseitige nennen kann,
weil nur ein, oder ein Paar Hauptsympto-
me hervorstechen, welche fast den ganzen
Rest der übrigen Zufälle verdunkeln. Sie
gehören größtentheils zu den chronischen.
148.
Ihr Hauptsymptom kann entweder ein
inneres Leiden (z. B. ein vieljähriges Kopf-
weh, ein vieljähriger Durchfall, eine viel-
jährige Kardialgie, u. s. w.) oder ein mehr
äußeres Leiden seyn. Letztere pflegt man
vorzugsweise Lokalkrankheiten zu nennen.
149.
Bei den einseitigen Krankheiten erste-
rer Art liegt es oft blos an der Unaufmerk-
samkeit des ärztlichen Beobachters, wenn
er die Zufälle, welche zur Vervollständi-
gung des Umrisses der Krankheitsgestalt
vorhanden sind, nicht vollzählig auf-
spürt.
150.
Indeß giebt es doch einige wenige
Uebel, welche, nach aller anfänglichen
Forschung (§. 63 — 81. §. 178 — 182.),
außer einem Paar starker heftiger Zufälle,
die übrigen nur undeutlich bemerken las-
sen.
151.
Um nun auch diesem, obgleich sehr
seltnen Falle mit Glück zu begegnen
wählt man zuerst, nach Anleitung dieser
wenigen Symptomen, die hierauf nach be-
stem Ermessen ausgesuchte Gegenkrank-
heitspotenz.
152.
Es wird sich zwar wohl zuweilen tref-
fen, daß diese mit sorgfältiger Beobach-
tung des homöopathischen Gesetzes ge-
wählte Arznei auch wirklich die passende
Gegenkrankheit zur Vernichtung des ge-
genwärtigen Uebels darreiche, welches um
desto eher möglich war, wenn diese weni-
gen Krankheitssymptomen sehr auffallend,
besonders und charakteristisch sind.
153.
Im häufigern Falle aber kann die hier
zuerst gewählte Arznei nur zum Theil, das
ist, nicht genau passen, da kein Komplex
von mehrern Zeichen zur treffenden Wahl
leitete.
154.
Da wird nun die zwar so gut wie
möglich gewählte, aber dennoch nur un-
vollkommen homöopathische Arznei bei
ihrer Gegenwirkung gegen die ihr nur zum
Theil analoge Krankheit (eben so wie in
obigem Falle, wo die Armuth an Gegen-
krankheitspotenzen die Wahl unvollstän-
dig ließ) Nebenbeschwerden erregen, und
mehrere Zufälle aus ihrer eignen Sympto-
menreihe in das Befinden des Kranken ein-
mischen, die zugleich bisher noch nicht ge-
fühlte Beschwerden der Krankheit selbst
sind; es werden Zufälle sich entdecken,
oder sich in höherm Grade entwickeln, die
der Kranke vorher gar nicht, oder nicht
deutlich wahrgenommen hatte.
155.
Man werfe nicht ein, daß die jezt
erschienenen Nebenbeschwerden und neuen
Symptomen in dieser Krankheit auf Rech-
nung des eben gebrauchten Arzneimittels
kämen. Sie kommen von ihm Wenn nicht der nahe unvermeidliche Todeskampf
sie erregte, wenn keine wichtigen Fehler in der
Lebensordnung, keine Ausbrüche heftiger Leiden-
schaften sie erzeugten, oder keine stürmische Evo-
lution des Organismus durch Ausbruch oder Ab-
schied der Monatszeit, Empfängniß, Niederkunft,
u. s. w. dazwischen getreten sind.; es sind
aber doch immer nur solche Symptomen,
zu deren Erscheinung diese Krankheit
und in diesem Körper auch vor sich
schon fähig war, und welche von der ge-
brauchten Arznei — als Selbsterzeugerin
ähnlicher — blos hervorgelockt und zu
erscheinen bewogen wurden. Man hat,
mit einem Worte, den ganzen jezt sicht-
bar gewordnen Symptomenkomplex für den
der Krankheit selbst zugehörigen, für den
gegenwärtigen wahren Zustand anzuneh-
men und hienach ferner zu behandeln.
156.
So leistet die hier fast unvermeidlich
unvollkommne Wahl des Arzneimittels
dennoch den Dienst einer Vervollständi-
gung des Symptomenkomplexes und er-
leichtert so die Ausfindung einer zwei-
ten treffendern, homöopathischen Gegen-
krankheitspotenz.
157.
Es muß also nach vollbrachter Wir-
kung der einzelnen Gabe der ersten Arz-
nei (wenn die neu entstandnen Beschwerden
ihrer Heftigkeit wegen nicht eine schleuni-
gere Hülfe heischen) wieder ein neuer Be-
fund der Krankheit aufgenommen, es muß
der status morbi, wie er jezt ist, aufge-
zeichnet, und nach ihm ein zweites ho-
möopathisches Mittel gewählt werden, was
gerade auf den heutigen, auf den jetzi-
gen Zustand passet; welches nun um desto
angemessener gefunden werden kann, da
die Gruppe der Symptomen zahlreicher
und vollständiger geworden ist.
158.
Und so wird ferner, nach vollende-
ter Wirkung jeder Arzneigabe, der Zu-
stand der noch übrigen Krankheit nach
den noch übrigen Symptomen jedesmahl
von neuem aufgenommen, und nach die-
ser gefundnen Gruppe von Zufällen eine
abermahls passende Gegenkrankheitspotenz
ausgesucht, und so fort bis zur Genesung.
159.
Unter den einseitigen Krankheiten,
nehmen die sogenannten Lokalübel eine
wichtige Stelle ein.
160.
Diejenigen Lokalübel, welche nicht
seit kurzem blos von einer äußern Beschä-
digung entstanden sind, hängen stets mit
einem innern, durch den ganzen Organism
verbreiteten Uebelbefinden zusammen, und
ihre ärztliche Behandlung muß deshalb
auch auf das Ganze gehen, wenn sie ver-
nünftig (rationell), konsequent und hülf-
reich seyn soll.
161.
So wie kein aus innern Ursachen ent-
stehendes und an einer besondern Stelle
verharrendes sogenanntes Lokalübel ohne
Zustimmung des ganzen übrigen Befindens,
und ohne die Theilnahme aller übrigen em-
pfindenden und reitzbaren Theile und aller
lebenden Organe des Körpers gedacht wer-
den kann, so kann es auch blos durch die
gemeinsame, in allen Theilen des lebenden
Körpers für die arzneikräftigen Potenzen
rege und wache Perception, blos durch die-
se den ganzen Körper beseelende Theilnah-
me an der Arzneikraft möglich und erklär-
bar werden, wie durch wenige, blos an
die Zunge oder in den Magen gebrachte,
homöopathisch angemessene Arznei selbst
auf die an den entferntesten Stellen der
Haut befindlichen, anscheinend isolirten
Lokalübel heilsame Veränderungen und
selbst die vollständigsten Heilungen er-
zielet werden können.
162.
Dieß geschieht am zweckmäsigsten,
wenn bei Eruirung des Krankheitsfalles,
nächst der genauen Beschaffenheit des Lo-
kal-Leidens, zugleich alle im übrigen Be-
finden bemerkbaren Veränderungen und
Symptome in Vereinigung gezogen wer-
den zum Entwurfe eines vollständigen
Krankheitsbildes, ehe man ein dieser gan-
zen Gruppe von Zufällen entsprechende
Gegenkrankheitspotenz unter den gekann-
ten Arzneien sucht, um eine vollständig
homöopathische Wahl zu treffen.
163.
Durch diese blos innerlich eingegebne
Arznei wird dann der gemeinsame Krank-
heitszustand des Körpers mit dem Lokal-
übel zugleich aufgehoben und lezteres mit
ersterm zugleich geheilt, zum Beweise,
daß das Lokal-Leiden von einer Krank-
heit des übrigen Körpers abhängt und nur
als ein Theil des Ganzen, als eins der
größten Symptome der Gesamtkrankheit
anzusehen ist.
164.
Dieß ist so wahr, daß selbst jedes
blos äußerlich aufgelegte Lokalmittel,
wenn es allein geholfen und Gesund-
heit (wie selten) wiedergebracht hatte,
dieß nicht vermochte, ohne zugleich auf
den innern Krankheitszustand einen ho-
möopathisch heilenden Einfluß bewirkt
zu haben, und auch dieselbe Heilung zu
Stande gebracht haben würde, wenn es
blos innerlich und gar nicht äußerlich ge-
braucht worden wäre.
Anm. So werden einige Flechten durch äu-
ßerliche Auflegung der Kanthariden, und
einige andre Hautausschläge durch aufge-
legte Quecksilberpräcipitate wohl ober-
flächlich vertrieben, aber nicht so geheilt,
daß allgemeine Gesundheit drauf folgt,
wenn diese äußern Mittel den vom Lo-
kalübel unzertrennlichen, innern, krank-
haften Zustand nicht zugleich zu heben
vermocht, und nicht bei ihrer Auflegung
den ganzen Organism mit ihrer Heilkraft
afficirt hätten.
165.
Es scheint zwar, als wenn die Hei-
lung solcher Uebel beschleunigt würde,
wenn man das für den ganzen Krankheits-
komplex als homöopathisch richtig erkann-
I
te Arzneimittel nicht nur innerlich an-
wendete, sondern auch äußerlich aufle-
gete; in Hinsicht daß das Lokalübel sich
gewöhnlich zu isoliren strebet, ob es sich
gleich im lebenden Körper nie völlig iso-
liren kann, und da man wahrgenommen
hat, daß die Arzneien auf dem Orte ih-
rer Anwendung eine schnellere Wirkung
als auf die entferntern Theile bewirken.
Anm. Die Einspritzung des Kirschlorbeer-
wassers in den After der Thiere macht
seine spastische Wirkung zuerst an den
untern Extremitäten bemerklich, später
an den obern Theilen, und so umgekehrt
an den obern Theilen zuerst, wenn es
oben eingegossen wird.
166.
Indeß hat die neben dem innern
Gebrauche gleichzeitige topische
Anwendung des Heilmittels bei Krank-
heiten, welche ein stätiges Lokalübel zum
Hauptsymptome haben, den großen Nach-
theil, daß durch die örtliche Auflegung
desselben dieses Hauptsymptom (Lokal-
übel) schneller als die innere Krankheit
vernichtet wird, und uns nun die Beur-
theilung, ob auch die Totalkrankheit durch
die innere Kur vernichtet sei, durch die
vorzeitige Verschwindung dieses lokalen
Symptoms erschwert und in manchen Fäl-
len unmöglich macht.
167.
Einen ähnlichen, wo möglich noch
größern Nachtheil bringt in den meisten
Fällen die blos örtliche Auflegung
jeder wirksamen, selbst der homöopathisch
heilkräftigen Arznei auf das örtliche
Hauptsymptom (Lokalübel) hervor, wenn
sie nicht vorher von innen bis zur Be-
wirkung der gänzlichen Vernichtung der
allgemeinen Krankheit angewendet worden
war. Denn dann wird es noch weit un-
wahrscheinlicher, daß die blos örtlich auf-
gelegte Arznei unter der Hebung des Lo-
kalsymptoms, zugleich auf den innern Or-
ganism so eindringlich und vollständig
heilkräftig eingewirkt haben sollte, daß
die Totalkrankheit aufgehoben und ver-
I 2
nichtet worden wäre. Dieß wird nur in
äußerst seltenen Fällen geschehen, etwa
wo die innere Krankheit sehr gering und
neu, das äußere Uebel aber von großem
Umfange war und daher das Topikum sehr
weit auf der Oberfläche des Körpers sich
ausbreitete.
168.
In allen andern Fällen wird das in
einem kleinen Umfange blos äußerlich
aufgelegte Mittel viel zu wenig Einwir-
kung auf den innern Organism äußern,
als daß die oft alte und wichtige innere
Krankheit dadurch vernichtet werden
könnte. Wenn nun seine überwiegend
schnellere Heilkräftigkeit als Topikum das
auffallendste Symptom der innern Krank-
heit, das Lokalübel, vorzeitig hinweg
nimmt, so bleibt das innere Uebel den-
noch und der Fall ist schlimmer als vor-
her.
169.
Denn, ist das Lokalübel blos örtlich
und einseitig aufgehoben worden, so
bleibt nun die zur völligen Herstellung
unerläßliche innere Kur der Totalkrank-
heit im ungewissen Dunkel; dann sind
nur noch die andern (schwächern) Symp-
tomen übrig, welche nicht so stätig und
permanent, als das Lokalleiden, und oft
zu wenig charakteristisch sind, als daß
sie noch ein Bild der Krankheit im deut-
lichen und vollständigen Umrisse darstel-
len sollten.
170.
Der Heilkünstler wird im Verfolge
der innern Kur immer zweifelhaft bleiben,
ob das selbst anerkannt homöopathische
Heilmittel die Totalkrankheit völlig ohne
Rückstand gehoben und vernichtet habe,
da das wichtigste und permanenteste
Hauptsymptom, da das Lokalübel, schon
vorzeitig seinen Augen entzogen worden
ist. Er wird so halb im Dunkeln wirkend,
des Medikaments entweder zu wenig oder
zu viel geben, und es entweder nicht bis
zum völligen Heilpunkte, oder es allzu lan-
ge brauchen, zum Verderben des Kranken.
171.
Wenn nun vollends das der Krank-
heit angemessene Heilmittel zu der Zeit
noch nicht gefunden war, als das örtliche
Symptom durch ein beizendes oder aus-
trocknendes Topikum oder durch den
Schnitt vernichtet ward, so wird der Fall
wegen der allzu uncharakteristischen und
unstäten Erscheinung der noch übrigen
Symptome noch schwieriger, weil, was die
Wahl des treffendsten Heilmittels und seine
innere Anwendung bis zum Punkte der
Totalheilung noch am meisten hätte lei-
ten und bestimmen können, das äußere
Hauptsymptom unsrer Beobachtung ent-
zogen worden ist.
172.
Wäre es noch da, so würde seine
bleibende Gegenwart zeigen, daß die in-
nere Kur noch nicht vollendet ist; heilete
es aber bei der blos innern Kur, so be-
wiese dieß überzeugend, daß das Uebel
bis zur Wurzel ausgerottet und die Gene-
sung von der Totalkrankheit bis zum er-
wünschten Ziele gediehen ist. Ein un-
schätzbarer Vortheil!
173.
Die blos örtliche Wegnahme des Lo-
kalsymptoms wird von der Natur fast stets
durch Vergrößerung und Erweckung der
schon neben ihm bestandnen, nur noch
schlummernden übrigen Symptomen und
durch Erzeugung neuer Zufälle, das ist,
durch eine Erhöhung der übrigen Gesamt-
krankheit ersetzt, (wo man dann unrich-
tig zu sagen pflegt, das äußere Uebel sei
durch das Topikum auf die Nerven, oder
in die Säftmasse zurück getrieben worden).
174.
In einigen Krankheiten geschiehet
dieses Aufwachen der übrigen Symptome
nach Hinwegräumung des Lokalübels nur
allmählig, so daß die Verschlimmerung
erst nach geraumer Zeit in die Augen fällt.
Anm. 1. Das sprechendste Beispiel von die-
sen Sätzen liefert die venerische Krank-
heit. So bald der Schanker einige Tage
nach der Ansteckung sich sichtbar ausgebil-
det hat, giebt er auch den vollen Beweis,
daß der ganze Körper schon (durch ihn) all-
gemein venerisch geworden ist. Schon dann
erscheinen bei vielen Personen deutliche
Zeichen des allgemeinen Uebelbefindens,
die jedoch bei Einigen weniger deutlich
und nur mit Mühe auszuforschen sind.
Aber auch im leztern Falle, wo die allge-
meinen Symptomen nicht so offenbar sind,
wird die Allgemeinheit der Krankheit da-
durch unwiderleglich, daß selbst die Aus-
schneidung des noch frischen Schankers
die Krankheit nicht entfernt und das Em-
porkommen der nachgängigen venerischen,
über den Körper sich verbreitenden Symp-
tomen nicht verhütet. Sie brechen den-
noch nach mehreren Monaten hie und da
aus, zum Zeichen daß der Schanker nicht
ein bloses isolirtes Lokalübel war — so
wenig es deren überhaupt giebt — son-
dern ein bloses auffallendes Zeichen der
Existenz der venerischen Krankheit im gan-
zen Körper.
So lange der Schanker noch auf seiner
Stelle steht, bleibt er das, die innere all-
gemein venerische Krankheit zum größern
Theile vertretende Hauptsymptom, und
verhindert durch seine ungestörte Gegen-
wart, daß die übrigen Symptome vor sich
wenig oder gar nicht ausbrechen können. —
Unverrückt beharrt er auf derselben Stel-
le — wenn er nicht örtlich vertrieben
wird — bis ans Lebensende, auch bei dem
vollkräftigsten Körper, und zeugt so von
der Wichtigkeit der innern Krankheit.
Wie leicht würde er als ein so kleines Ge-
schwür durch die eigne Energie der Natur
heilen, wenn ihm nicht eine so selbststän-
dige, große, innere Krankheit, für die er
als Hauptsymptom vikarirt, zum Grunde
läge!
Verfährt man nun nach gewöhnlicher
Art und beizt den Schanker weg, oder
legt sonst ein, dieses Lokalsymptom blos
örtlich zerstörendes und vertreibendes Mit-
tel, oder selbst das schwarze Quecksilber-
oxyd auf, so wird zwar gewöhnlich, auf
der Stelle, dieses Lokalsymptom des in-
nern venerischen Leidens vernichtet; aber
zum Schaden des Kranken.
Der allgemeine Zustand bleibt dann nicht
nur eben so venerisch, als während der
Schanker noch zugegen war, sondern die
innere und allgemeine, venerische Krank-
heit ersetzt nun auch den Mangel dieses,
die Heftigkeit der innern Uebel bisher
gleichsam ableitenden und mildernden
Hauptsymptoms durch allmählige Belebung
und Verstärkung der übrigen, neben ihm
schon schlummernden Symptome, und
durch Erzeugung neuer Zufälle, welche
weit beschwerlicher als der vertriebne
Schanker sind. Es brechen nun die Lei-
den des allgemeinen Uebels über kurz (Bu-
bonen) oder über lang (oft erst nach vielen
Monaten) als Tonsillenverschwärung, als
pustulöser oder Fleckenausschlag, als fla-
che, schmerzlose, runde Geschwüre, als
krause Auswüchse am Zäpfchen oder an
den Nasenflügeln, als nächtlich schmerz-
hafte Beinhautgeschwulst, u. s. w. hervor.
Alle diese nachgehends überhand neh-
menden Symptomen sind jedoch nie so
deutlich und festständig, als der vertrieb-
ne Schanker war, vergehen leicht beim
innern Gebrauche des Quecksilbers, um
von Zeit zu Zeit entweder selbst wieder zu
kommen, oder andern venerischen Symp-
tomen unter dieser oder jener Gestalt Platz
zu machen, und man ist nun fast nie der
Heilung, der völligen Austilgung der all-
gemeinen Krankheit sicher. Giebt man zu
wenig von der Arznei, oder unheilkräftige
Präparate derselben, so wird die Krank-
heit keinesweges vernichtet, sondern bricht
mit der Zeit wieder hervor; giebt man
aber diese Merkurialpräparate in langer
Zeit fort, um dem Körper viel davon all-
mählig beizubringen, weil die Schärfe die-
ser Präparate in großen, schnellen Gaben
die Kräfte allzu schnell zerstören würde,
so weiß man doch bei der Unstätigkeit die-
ser Symptome nie, wann und ob man
das Uebel ausgetilgt hat.
Indeß wird durch den langwierigen Ge-
brauch einer so mächtigen Krankheitspo-
tenz als das Quecksilber ist, eine schlei-
chende Quecksilberkrankheit zu dem alten
Uebel gefügt, und beide verschmelzen zu
einer komplicirten, zu einer neuen, drit-
ten Krankheit (gemeiniglich verlarvte
venerische Krankheit genannt), die
sich nun nicht mehr weder durch Queck-
silber, noch durch Schwefelleber heilen
läßt, sondern sich durch das eine, so wie
durch das andre verschlimmert.
War hingegen das wichtige Lokalsymp-
tom (das permanenteste aller venerischen
Zeichen, der Schanker) noch ursprünglich
und unverlezt bei der innern Kur vorhan-
den und nicht örtlich behandelt worden
(durch eigne Hülfe der Natur kömmt es
zuweilen auch nach seiner örtlichen Ver-
treibung wieder zurück auf seine alte Stel-
le als Schanker, oder wenn dieser nur
zum Theil weggebeizt war, in jener aus-
gearteten Gestalt wieder hervor, die man
Feigwarzen nennt, welche nun glücklicher-
weise wieder als Lokalsymptome, d. i. als
das sicher leitende Zeichen, den Punkt der
Totalheilung bei einer blos innern Kur ent-
scheiden können); so heilt er beim mög-
lichst schnellen, blos innern Gebrauche
des angemessensten, und antisyphilitisch
kräftigsten Merkurialpräparats, vollstän-
dig, doch nie eher, als wenn eben die To-
talkrankheit völlig vernichtet ist. Ist durch
die blos innere Behandlung endlich
selbst der Schanker oder die Feigwarze ge-
heilt, und an ihre Stelle gesunde Haut ge-
kommen, so ist dann ohne Widerrede die
Gesamtkrankheit ausgetilgt.
Eben so geartet sind die Krankheiten,
welche, wie Brüningshausen beobach-
tete, nach Ausschneidung alter Speckge-
schwülste sich hervorthaten; so die Krank-
heiten, welche alten Schenkelgeschwüren
jederzeit zum Grunde liegen, und
wenn dieses bedeutende Lokalsymptom
durch ein austrocknendes oder beizendes
Topikum einseitig weggenommen wird,
nun allmählig als ein allgemeines, oft das
Leben befährdendes Leiden sich ent-
wickeln — und so noch eine ungeheure
Menge andrer, deren Lokalsymptomen
blos durch die innere Kur der Gesamt-
heit des Uebels ohne Topikum geheilt
werden sollten —, wenn man rationell
verfahren wollte —, durch innere An-
wendung einer dem ganzen Symptomen-
komplexe mit treffender Aehnlichkeit ent-
sprechenden arzneilichen Krankheitspo-
tenz, welche durch Vernichtung der To-
talkrankheit natürlich auch ihr Haupt-
symptom, das anscheinende Lokalübel
zugleich heilt.
Anm. 2. Die mechanischen und physischen
Beihülfen bei alten Lokalübeln (zu Ende
der innern Behandlung der Totalkrank-
heit), um den Ton der erschlafften Theile
zu unterstützen, z. B. kalte Fußeintau-
chungen oder die Cirkularbinde als Mit-
hülfe bei den, der Heilung nahen Schen-
kelgeschwüren und mehrere solche un-
schädliche äußere Veranstaltungen über-
gehe ich hier.
175.
Andre Krankheiten mit Lokalsympto-
men hingegen erhöhen, wenn durch ein
Topikum das wichtige Lokalsymptom ver-
nichtet worden ist, ihre übrigen größten-
theils innern Leiden und Zufälle oft
plötzlich und akut zu einer fürchterli-
chen Höhe, oft bis zum schleunigen Tode.
Hier scheint das Lokalleiden von der Na-
tur nicht blos, wie bei erstern, denen eine
chronische, schleichende Krankheit zum
Grunde liegt, in der Absicht, um die Her-
vortretung der innern Symptomen über-
haupt aufzuhalten, sondern auch deshalb
zum Hauptsymptome erhoben worden zu
seyn, damit es die Größe und Lebens-
gefährlichkeit der übrigen Symptome
der Totalkrankheit gleichsam absorbire und
zum Theil ihre Stelle gefahrloser vertrete.
Wie irrationell auch in solchen Krankhei-
ten (wie in erstern) die einseitige Vernich-
tung des (relativ wohlthätigen) Lokalsymp-
toms sei, lehren die traurigsten Erfah-
rungen.
Anm. Die oft höchst akuten, schrecklichen
Folgen der blos örtlichen Tilgung mehre-
rer, vorzüglich alter Fälle verschiedner
Arten von Krätze, des Grindkopfs, lang-
wieriger Schwinden, Schenkelgeschwüre,
u. s. w. zeigen, wie groß und wichtig
die diesen Lokalsymptomen zu Grunde
liegenden innern Krankheiten (die Krätz-
krankheit, die Grindkopfkrankheit u. s.
w.) seien, wenn man ihnen das die Ge-
fährlichkeit ihrer übrigen Symptomen ab-
sorbirende große Lokalsymptom raubt,
ohne die innere Krankheit selbst vorher
geheilt zu haben. Da treten dann die bis-
her nur schlummernden, ohne scharfsich-
tige Beobachtung nicht leicht bemerkba-
ren, übrigen Symptomen oft plötzlich in
ihrer wahren ursprünglichen Größe und
Heftigkeit auf; die bisher nur undeutlich
bemerkte Geistesschwäche erhöhet sich auf
einmahl zur Manie, der geringe Husten,
die wenig auffallende Brustengigkeit bricht
als schnell erstickendes Lungengeschwür,
oder als akute Lungeneiterung aus, das
bisher fast unmerkliche Anlaufen der Füße
wird schnell zur allgemeinen Wasserge-
schwulst, die bis dahin geringe Blödsich-
tigkeit und das etwas stumpfere Gehör,
ehe man sichs versieht, bis zur Amauro-
sis und Taubheit erhöhet — das ist, diese
Krankheiten erscheinen nun in ihrer eigen-
thümlichen Gestalt und Größe, wie sie
ursprünglich sind, wenn ihnen das ihre
Heftigkeit mildernde Lokalleiden fehlt.
Man kann auch gar nicht zweifeln, daß
alte Lokalsymptome dergleichen enorme
innere Krankheiten schon zum Grunde
haben.
Es ist Aberglaube, dergleichen auf Un-
terdrückung des Lokalübels erfolgende hef-
tige Krankheiten von einem sogenannten
Zurücktritt des Krankheitsstoffes in das
Innere des Körpers herzuleiten, wodurch
nun erst die innere Krankheit entstünde
und sich anspinne. Nein! sie war schon
vorhanden, wie das Lokalsymptom noch
im Gange war, nur in ihren Ausbrüchen
und ihrer Lebensgefährlichkeit von dem
Lokalsymptome bisher aufgehalten wor-
den. „Ein robust scheinender Kandi-
„dat, der die nächsten Tage predigen
„und sich deshalb von seiner Krätze be-
„freien wollte, bestrich sich den einen Mor-
„gen mit Krätzsalbe, und binnen wenigen
„Stunden war er unter Aengstlichkeiten,
„kurzem Odem und Stuhlzwang gleich nach
„der Mittagszeit verschieden; die Leichen-
„öfnung zeigte, daß die ganze Lunge von
„flüssigem Eiter ausgedehnt war (welches
„sich in diesen wenigen Stunden unmög-
lich erzeugt haben konnte, sondern schon
vorher, nur durch das Lokalsymptom des
Ausschlags bisher gemildert, da gewesen
seyn mußte). m. s. Unzers Arzt, CCC St.
S. 508.
Hinwiederum zeigt die starke Beharr-
lichkeit, oft auch große Schmerzhaftig-
keit des Lokalsymptoms, welche oft dem
jugendlichsten, und kraftvollesten Körper
zum Trotze, auf seiner Stelle zuweilen
Iahre lang quälet und wüthet: wie ent-
setzlich und fürchterlich das innere Uebel
seyn muß, dem es zum ableitenden, mil-
dernden Stellvertreter an der wenigst ge-
fährlichen Gegend des Organismus — an
den äußern Theilen — dient.
Sind die oft lebensgefährlichen, theils
akuten, theils chronischen Leiden, welche
sich nach Abschneidung des Wichtelzopfes
hervorthun, etwas andres, als die vorher
schon vorhandne, obgleich bisher nur
schlummernde, allgemeine Wichtelzopf-
krankheit? die blos wieder erwachte, als
der palliative Beschwichtiger des innern
Gesamtleidens, das vikarirende große Lo-
kalsymptom, der Wichtelzopf (jenes Zu-
sammenwachsen der in ein empfindliches
Afterorgan von ihrer Wurzel an ausgear-
teten Haare) ihr geraubt worden war.
Dieselbe allgemeine Krankheit des Kör-
pers geht auch vorher, ehe sich der Wich-
telzopf hervorthut, sie mildert sich, wenn
sich der Wichtelzopf ausbildet, und über-
trägt alle ihre Heftigkeit auf dieses Lokal-
symptom; doch, auch noch so lange Zeit
durch die ungestörte Gegenwart dieses vi-
karirenden Afterorgans beschwichtiget, er-
wacht sie gleichwohl mit aller Heftigkeit
aus ihrem bisherigen Schlummer, wenn
ihr dieß, ihre Stelle zum großen Theile
vertretende Hauptsymptom geraubt, wenn
K
der Wichtelzopf dicht am Kopfe abgeschnit-
ten wird.
176.
Zum Glücke bringt die eigne Thätig-
keit des Organismus das durch Kunst ver-
nichtete Lokalsymptom zuweilen von
selbst an seinem Orte wieder zum Vor-
scheine; künstliche Hülfe zu seiner Wie-
dereinsetzung ist dieß weniger im Stande.
Auch die Einimpfung ist oft unzureichend,
weil man gewöhnlich nicht dasselbe Lo-
kalleiden einimpfet, sondern ein andres,
blos dem Anscheine nach ähnliches.
177.
Alle solche Krankheiten können blos
durch die innere Anwendung einer ihrem
ganzen Symptomeninbegriffe (in welchem
das Lokalsymptom als das am meisten cha-
rakteristische obenan stehet) homöopa-
thisch anpassenden, arzneilichen Gegen-
krankheitspotenz rationell geheilt werden,
bei deren innerm Gebrauche und einer
überdieß zweckmäsigen Lebensordnung,
die topische Auflegung desselben specifi-
schen Heilmittels kaum je nebenbei nöthig
seyn wird.
Anm. Hierin verlangen wenigstens die ver-
schiednen Krankheiten verschiedne Masre-
geln. Am zweckwidrigsten ist z. B. die
Anwendung topischer Mittel auf Schanker,
die oft große Neigung haben, vor der
Zeit den Lokalmitteln zu weichen. Sich-
rer ist die äußere Anwendung des Schwe-
fels bei fast schon ganz durch innere ho-
möopathische Kur geheilter Wollarbeiter-
Krätze — und die topische Anwendung
des Arseniks in einigen Arten Gesichts-
krebs, wenn die innere Anwendung des-
selben Mittels sich in dem gegenwärtigen
Falle schon hülfreich erwiesen hat und
durch sie die Heilung des Lokalsymp-
toms schon weit gediehen ist.
178.
Die Schwierigkeit der homöopathi-
schen Heilung dieser einseitigen Krank-
heiten, zu denen die sogenannten Lokal-
krankheiten vorzüglich gehören, besteht,
wie gesagt, hauptsächlich darin, daß an
ihnen nicht viel mehr als ein einziges star-
K 2
kes Symptom hervortritt, wogegen die
übrigen Symptomen, welche zur Vervoll-
ständigung des Umrisses der Krankheitsge-
stalt gehören, sich in den Hintergrund zu-
rück ziehen, und dem Auge des gewöhnli-
chen Beobachters unkenntlich werden.
179.
Diese Schwierigkeit wird durch ge-
schärftere, sorgfältigere Beobachtung und
Nachforschung gehoben.
180.
Zu dieser Absicht, wenn ein solcher
Kranker seine wenigen großen Beschwer-
den geklagt und vor der Hand nichts wei-
ter anzuführen weiß, verschiebt der Arzt
am besten das Urtheil über seine Heilbar-
keit und seine Heilverordnungen, da es
fast immer chronische Fast nur diejenigen Lokalkrankheiten sind akut,
welche man Metastase nennt — d. i. ein örtli-
ches, größeres Symptom, welches die Natur in
akuten Krankheiten sich bestrebt, mehr nach auf- Krankheiten sind,
welche unbeschwerlich Aufschub leiden,
mehrere Tage hinaus, und trägt dem Kran-
ken auf, indeß noch genauer auf alle klei-
ne und größere Abweichungen seines Be-
findens vom gesunden Zustande die sorg-
fältigste Aufmerksamkeit zu richten, um
alle, auch die kleinern, bisher unbeachte-
ten Zufälle angeben und genau beschreiben
zu können.
181.
Hier wird er seine Aufmerksamkeit
von seinem Lokalleiden indeß abziehn,
sen zu, an die mindest gefährlichen Stellen des Or-
ganismus zu verlegen, um auf dasselbe die Größe
und Lebensgefährlichkeit des innern Allgemeinlei-
dens zum größern Theile überzutragen. Auch hier
vikarirt dieses Lokalsymptom für die übrigen Symp-
tome, welche leztere aber in diesem Falle leichter
aufzufassen sind aus ihrer Beschaffenheit gleich vor
Entstehung der Metastase, und mit dem Lokalsymp-
tome zusammengenommen, das Krankheitsbild lie-
fern, den Symptomeninbegriff, auf welchen das blos
innerlich anzuwendende homöopathische
Heilmittel passen muß, wenn die Herstellung gründ-
lich und rationell seyn soll. Auch hier ist die blos
örtliche Vertreibung des Lokalsymptoms mehr zum
Schaden.
und sie auf die, selbst kleinern Nebenbe-
schwerden und Zufälle richten, und auf
diese Art besondre Symptomen wahrneh-
men, die er, unerinnert, neben seinem
größern Uebel nicht bemerkt haben würde.
Anm. Wäre der Kranke jedoch störrig, behaup-
tete er nichts weiter bemerken zu können,
und wollte sich keinen Aufschub in der
Kur gefallen lassen, so dient es, ihn statt
Arznei eine unarzneiliche Flüssigkeit meh-
rere Tage lang einnehmen zu lassen und
ihm hierbei genaue Aufmerksamkeit auf
alle und jede Veränderungen in seinem
Befinden, auf alle in gesundem Zustande
nicht gewöhnliche Zeichen, Zufälle und
Ereignisse einzuschärfen — eine unschul-
dige Täuschung, die die meisten seiner
Krankheit eignen Symptomen an den Tag
bringen wird.
182.
Diese kleinern und größern Beson-
derheiten in seinem übrigen Befinden wer-
den dem Arzte nun den Krankheitsumriß
vervollständigen helfen; und behutsame
Fragen über den Zustand der verschied-
nen Funktionen, genaue Beobachtung sei-
nes Aeußern und seines ganzen Beneh-
mens, so wie die Auskunft, welche die
Angehörigen, selbst ingeheim ausgefragt,
über ihn geben können, werden die nö-
thigen Zusätze und Bestätigungen zu dem
schon Niedergeschriebenen liefern.
183.
So kann es nicht fehlen, daß dem
Heilkünstler der vollständige Zeicheninbe-
griff der auch noch so versteckten chroni-
schen Krankheit offenbar werde, um für
ihn nach den Krankheitselementen, welche
die am gesunden Menschen geprüften Arz-
neien enthalten, eine ihr möglichst ähnli-
che, das natürliche Uebel folglich zu über-
stimmen fähige Gegenkrankheitspotenz ho-
möopathisch auswählen zu können. Auch
hier müssen vorzüglich die besondern und
charakteristischen Symptomen der Krank-
heit in der Symptomenreihe des Heilmit-
tels anzutreffen seyn.
184.
Ist die zuerst gewählte Arznei wirk-
lich die den Krankheitszufällen in ihrem
Umfange angemessene, so muß sie das
Uebel heilen; hatte sie aber aus dem un-
zulänglichen Vorrathe nach ihren positi-
ven Wirkungen am gesunden Körper ge-
kannter, arzneilicher Krankheitspotenzen
nicht hinreichend homöopathisch gewählt
werden können, so wird die Arznei neue
Symptomen erregen, die zur fernern Wahl
des zunächst nöthigen und dienlichen Heil-
mittels Anleitung geben werden.
185.
Die nächste Hauptschwierigkeit in der
Heilung, scheinen die Gemüthskrank-
heiten darzubieten. Sie sind aber in der
That nicht schwieriger zu heilen, als die
andern einseitigen Krankheiten, zu denen
sie gezählet werden können.
186.
Auch machen sie gar keine, von den
übrigen scharf getrennte Klasse von Krank-
heiten aus, da in jeder der übrigen Krank-
heiten auch die Gemüths- und Geistesver-
fassung allemahl geändert ist, und in
allen zu heilenden Krankheitsfällen, von
welcher Art sie auch seyn mögen, der Ge-
müthszustand des Kranken als ein Haupt-
symptom unter den übrigen, mit in den
Inbegriff der Krankheitssymptomen aufzu-
nehmen ist, wenn man ächt rationell und
homöopathisch heilen will.
Anm. Wie oft trifft man nicht z. B. in den
schmerzhaftesten, mehrjährigen chroni-
schen Krankheiten ein mildes, sanftes Ge-
müth an, so daß der Heilkünstler Ach-
tung und Mitleid gegen die Kranken zu
hegen sich gedrungen fühlt. Besiegt er
aber die Krankheit und stellt die Kran-
ken wieder her (wie nach homöopathi-
scher Art nicht selten in kurzer Zeit mög-
lich ist), da staunt und erschrickt er oft
über die schauderhafte Veränderung des
Gemüths. Da sieht er oft Undankbarkeit,
Hartherzigkeit, raffinirte Bosheit, und die
die Menschheit entehrendsten, empörend-
sten Launen hervortreten, welche gerade
den Kranken in ihren ehemahligen gesun-
den Tagen eigen waren.
Den in gesunden Zeiten Gedultigen fin-
det man oft in Krankheiten stürmisch,
heftig, hastig, auch wohl unleidlich eigen-
sinnig, und wiederum auch wohl unge-
dultig, oder verzweifelt. Den hellen Kopf
findet man nicht selten stumpfsinnig, den
gewöhnlich Schwachsinnigen hinwiederum
gleichsam klüger, sinniger und den von
langsamer Besinnung nicht selten mit Gei-
stesgegenwart und schnell entschlossen,
u. s. w.
187.
Dieſs geht so weit, daß bei der Wahl
einer arzneilichen Gegenkrankheitspotenz
der Gemüthszustand des Kranken oft haupt-
sächlich den Ausschlag giebt, als charak-
teristisches Zeichen, was dem genau beob-
achtenden Arzte unter allen am wenigsten
verborgen bleiben kann.
188.
Auf dieses Hauptingredienz aller
Krankheiten, den veränderten Gemüths-
und Geisteszustand hat auch der Schöpfer
der Heilpotenzen vorzüglich Rücksicht ge-
nommen, indem es keine kräftige Arznei-
substanz auf der Welt giebt, welche nicht
im gesunden Menschen den Gemüths- und
Geisteszustand sehr merkbar veränderte,
jede Arznei anders.
189.
Man wird daher nie rationell und ho-
möopathisch heilen lernen, wenn man
nicht bei jedem Krankheitsfalle mit auf das
Symptom der Geistes- oder Gemüthsverän-
derung siehet, und nicht zur Hülfe eine
solche Gegenkrankheitspotenz unter den
Heilmitteln auswählt, welche einen ähn-
lichen Gemüths- oder Geisteszustand vor
sich zu erzeugen fähig ist.
Anm. So wird bei einer stillen, gleichför-
mig gelassenen Gemüthsart der Napell-
sturmhut nie eine, weder schnelle, noch
dauerhafte Heilung bewirken, eben so
wenig als die Krähenaugen bei einem mil-
den, phlegmatischen, die Küchenschelle
bei einem frohen, heitern, oder die Ignatz-
bohne bei einem gesetzten, unwandelba-
ren, weder zu Schreck noch zu Aerger-
niß geneigten Gemüthszustande.
190.
Was ich also über die Heilung der
Geistes- und Gemüthskrankheiten zu sagen
habe, wird sich auf Weniges beschränken
können, da sie auf dieselbe Art als alle
übrige Krankheiten, das ist, durch ein
Heilmittel, was eine möglichst ähnliche
Krankheitspotenz in ihren (an Leib und
Seele des gesunden Menschen zu Tage ge-
legten) Symptomen darbietet, zu heilen
ist, und gar nicht anders geheilt werden
kann.
191.
Die sogenannten Geistes- und Ge-
müthskrankheiten sind fast durchaus nichts
anders als Körperkrankheiten, bei denen
das gewöhnliche Symptom der Geistes- und
Gemüthsumstimmung sich unter Vermin-
derung der Körpersymptomen schneller
oder langsamer erhöhet, oft bis zur auf-
fallendsten Einseitigkeit, fast wie eine Lo-
kalkrankheit.
192.
Die Fälle sind nicht selten, wo eine
den Tod drohende sogenannte Körper-
krankheit — eine Lungenvereiterung oder
die Verderbniß irgend eines andern edeln
Eingeweides, oder eine akute gefährliche
Krankheit z. B. im Kindbette u. s. w. durch
schnelle Erhöhung des bisherigen Gemüths-
symptoms, in Wahnsinn, Melancholie
oder Raserei ausartet, und alle Todesge-
fahr der Körpersymptomen verschwindet;
diese bessern sich indeß fast bis zur Ge-
sundheit, oder verringern sich vielmehr
bis zu dem Grade, daß ihre dunkel fort-
währende Existenz nur von dem beharr-
lich und fein beobachtenden Arzte noch
erkannt werden kann. Sie arten mit ei-
nem Worte zur einseitigen Krankheit,
gleichsam zu einer Lokalkrankheit aus, in
welcher das in der ursprünglichen Krank-
heit gegen die übrigen Symptomen bisher
nur verhältnißmäsige, gelinde Symptom
der Gemüthsumstimmung zum Hauptsymp-
tome sich vergrößert, welches dann zum
größern Theile für die übrigen Symptome
vikarirt, und ihre Heftigkeit palliativ be-
schwichtiget, wie wir bei den großen
Hauptsymptomen der sogenannten Lokal-
krankheiten gesehen haben.
193.
Deshalb gehört wie zur Ausforschung
des Symptomenkomplexes der leztern
(§. 180. 181.), eine ähnlich große Beharr-
lichkeit, ein ähnlich feiner Beobachtungs-
geist, eine gleich sorgfältige Unterschei-
dung, und eine eben so behutsame Er-
kundigung zur Ausforschung der übrigen
Symptome des körperlichen Befindens bei
Gemüthskranken, nächst der genauen Auf-
fassung des eigentlichen Charakters ihres
individuellen, vorwaltenden Geistes- und
Gemüthszustandes, um zur Auslöschung
des Gesammtzustandes dieser Totalkrank-
heit, eine Gegenkrankheitspotenz unter den
gekannten Heilmitteln auszufinden, ein
Heilmittel, welches in seiner Symptomen-
reihe nicht nur diesen Geistes- und Ge-
müthszustand, sondern auch möglichst alle
übrigen Körpersymptomen enthält.
194.
Zur Ausforschung der leztern dient
vorzüglich eine genaue Beschreibung der
sämtlichen Zufälle der vormahligen soge-
nannten Körperkrankheit, ehe sie zur ein-
seitigen Erhöhung des Gemüthssymptoms,
zur Geistes- und Gemüthskrankheit ausar-
tete.
195.
Die Vergleichung dieser ehemahligen
Krankheitssymptome mit den davon jezt
noch übrigen obgleich unscheinbarer ge-
wordenen, wird zur Bestätigung der fort-
dauernden Gegenwart der leztern dienen,
um ein charakteristisches Symptomenbild
der Krankheit entwerfen zu können.
196.
Ist die von Körperleiden entstandne
Gemüthskrankheit noch nicht völlig aus-
gebildet, und es fände noch einiger Zwei-
fel statt, ob es nicht vielmehr Erziehungs-
fehler, schlimme Angewöhnung, oder ver-
derbte Moralität, Aberglaube oder Unwis-
senheit sei, da dient als Zeichen, daß
durch verständigendes, sorgsames Zure-
den, Vernunftgründe, Trostgründe oder
ernsthafte Vorstellung leztere nachgeben,
wahre Gemüthskrankheit aber schnell da-
durch verschlimmert, Melancholie noch
zurückgezogener, boshafter Wahnsinn da-
durch noch mehr erbittert, und thörichtes
Gewäsche offenbar noch unsinniger wird.
197.
Doch giebt es Gemüthskrankheiten,
welche nicht blos aus Körperkrankheiten
dahin ausgeartet sind, sondern, in umge-
kehrter Ordnung, bei geringer Kränklich-
keit, vom Gemüthe aus Anfang und Fort-
gang nehmen durch anhaltenden Kummer,
Kränkung, Aergerniß, und große Veran-
lassung zu Furcht und Schreck. — Diese
Art Gemüthskrankheiten verderben dann
mit der Zeit auch den körperlichen Ge-
sundheitszustand, oft in hohem Grade.
198.
Blos diese von außen herein durch
die Seele zuerst angesponnene Art von
Gemüthskrankheiten lassen sich, so lange
sie noch neu sind, und den Körperzustand
noch nicht allzu sehr zerrüttet haben, blos
durch psychische Mittel, Zutraulichkeit,
gütliches Zureden, Vernunftgründe, am
meisten aber durch wohl verdeckte Täu-
schungen schnell in Wohlbefinden der
Seele (und des Leibes) verwandeln.
Anm. Bei den durch Körperkrankheit ent-
standnen Geistes- und Gemüthskrankheiten,
welche einzig durch angemessene, homöo-
pathische Arzneien zu heilen sind, muß
allerdings auch, als beihülfliche Seelen-
diät, ein passendes psychisches Verhalten
der Angehörigen und des Arztes gegen
den Kranken sorgfältig beobachtet werden.
Dem wüthenden Wahnsinn setzt man
stille Unerschrockenheit, und kaltblüti-
gen festen Willen — dem peinlich kla-
genden Iammer stummes Bedauern in Mie-
nen, dem unsinnigen Geschwätz nicht ganz
unaufmerksames Stillschweigen, ekelhaf-
tem und gräuelvollem Benehmen und
Reden völlige Unaufmerksamkeit entge-
gen. Den Verwüstungen und Beschädi-
gungen beugt man blos vor, und verhü-
tet sie ohne Vorwürfe und richtet alles
so ein, daß durchaus alle körperliche
L
Züchtigungen wegfallen. Denn da keine
Imputation bei Gemüthskranken, nach al-
len menschlichen Rechten, statt findet,
so kann auch keine Strafe statt finden.
Dieß geht um desto leichter an, da bei dem
Einnehmen (dem einzigen Falle, wo noch
Zwang durch Entschuldigung gerechtfertigt
werden könnte) in der homöopathischen
Heilart die kleinen Gaben hülfreicher Arz-
nei dem Geschmacke nie auffallen und
dem Kranken nur unbewußt in Geträn-
ken gegeben werden können, wo dann
ebenfalls aller Zwang wegfällt. Wider-
spruch, eifrige Verständigungen, heftige
Zurechtweisungen, und Härte sind so wie
schwache, furchtsame Nachgiebigkeit am
unrechten Orte, sind gleich schädliche Be-
handlungen ihres Geistes und Gemüths.
Am meisten jedoch werden sie durch Hohn,
Betrug und Täuschungen erbittert und
in ihrer Krankheit verschlimmert. Im-
mer muß man den Schein anneh-
men, als ob man ihnen Vernunft
zutraute. Dagegen suche man alle Art
von Stöhrungen ihrer Sinne und ihres Ge-
müths von außen zu entfernen; es giebt
keine Unterhaltungen, keine wohlthätigen
Zerstreuungen, keine Belehrungen, keine
Besänftigung für ihre in den Fesseln des
kranken Körpers schmachtende oder em-
pörte Seele, als die, welche durch ihr
vom angemessenen Heilmittel zum Bessern
umgestimmtes Körperbefinden auf ihren
Geist zurückstrahlt.
Ist das für den individuellen Fall der
Geistes- oder Gemüthskrankheiten (denn
ihre Zahl ist Legion!) gewählte Heilmit-
tel dem treulich entworfenen Bilde ihres
Krankheitszustandes ganz homöopathisch
angemessen — welches um desto leichter
ist, da ihr Gemüths- und Geisteszustand
als Hauptsymptom sich zugleich so unver-
kennbar als charakteristisch zu Tage legt —
so ist oft die kleinstmögliche Gabe hin-
reichend, die auffallendste Besserung in der
kürzesten Zeit hervorzubringen, was durch
die stärksten und gehäuftesten Gaben aller
übrigen unpassenden Arzneien oft bis an
den Tod nicht zu erreichen war; ja, ich
kann behaupten, daß sich der erhabne
Vorzug der homöopathischen Heilkunde
vor allen denkbaren Kurmethoden nirgend
in einem triumphirendern Lichte zeigt,
als in alten Gemüths- und Geisteskrank-
heiten, welche aus Körperleiden ursprüng-
lich, oder auch nur gleichzeitig mit ihnen,
entstanden sind.
L 2
199.
Alle übrigen Krankheiten bedürfen zur
Heilung keiner besondern Erinnerung.
Sie folgen sämtlich dem ewigen, ausnah-
melosen Gesetze der Homöopathie.
200.
Nachdem wir also bisher gesehen ha-
ben, auf welche Umstände der Krankhei-
ten überhaupt und der abweichendsten ins-
besondre Rücksicht bei der Wahl des ho-
möopathischen Heilmittels zu nehmen sei,
so gehen wir nun zu den spe-
ciellern Gesetzen der rationellen
Heilkunde, in Absicht der Gebrauchs-
art der Heilmittel, über.
201.
Iede merklich fortgehende, und im-
mer, obschon nur um Weniges zuneh-
mende Besserung in einer akuten oder
in einer chronischen Krankheit ist ein Zu-
stand, welcher, so lange er anhält, durch-
aus jede fernere Anwendung irgend einer
Arznei ausschließt, weil alles das Gute,
was die vorige Arznei auszurichten indeß
fortfährt, noch nicht vollendet ist. Iede
neue Gabe irgend einer Arznei würde das
Besserungswerk stören.
202.
Diese Erinnerung ist um so wichti-
ger, da wir noch fast von keiner Arznei
die genauen Gränzen ihrer Wirkungs-
dauer mit Gewißheit bestimmen können.
So lange also die fortschreitende Besse-
rung auf eine zulezt gegebne Arznei dau-
ert, so lange ist auch anzunehmen, daß,
wenigstens in diesem Falle, die Wirkungs-
dauer der helfenden Arznei anhalte.
Anm. Einige Arzneien haben schon in 24
Stunden beinahe ausgewirkt (die kürzeste
Wirkungsdauer unter allen mir bekannten
Arzneien, die nur bei sehr wenigen ange-
troffen wird); andre vollenden erst in ei-
nigen, andre erst in mehrern Tagen, ei-
nige wenige sogar erst nach mehrern Wo-
chen ihren Lauf.
203.
Hiezu kömmt, daß, wenn das Mit-
tel angemessen homöopathisch wirkte, der
gebesserte Zustand auch noch nach verflos-
sener Wirkungsdauer merklich bleibt. Das
gute Werk wird nicht gleich unterbrochen,
wenn auch erst mehrere Stunden (ja, bei
chronischen Krankheiten, erst mehrere Ta-
ge) nach Verfluß der Wirkungsdauer der vo-
rigen Arzneigabe, eine zweite Gabe ge-
reicht wird. Der schon vernichtete Theil
der Krankheit kann sich indeß nicht wie-
der erneuern, und die Besserung würde
auch ohne neue Arzneigabe immer noch
eine beträchtliche Zeit auffallend sichtbar
bleiben.
204.
Wenn die fortgehende Besserung von
der ersten Gabe der homöopathisch ange-
messenen Arznei sich nicht in völlige Ge-
sundheit auflösen will (— wie doch nicht
selten —), so wird ein Zeitpunkt des Still-
standes (gewöhnlich zugleich der Gränz-
punkt der Wirkungsdauer der vorher ge-
gebnen Arznei) eintreten, vor dessen Er-
scheinung es ohne absehbaren Nutzen, oh-
ne vernünftigen Grund (irrationell) gehan-
delt, ja schädlich seyn würde, eine aber-
mahlige Gabe Arznei zu reichen.
205.
Selbst eine Gabe derselben, bis dahin
so hülfreich sich bewiesenen Arznei wird,
eher wiederholt, als die Besserung in allen
Punkten still zu stehen anfing (als Potenz
von Gegenkrankheit, welche in der Mase,
als wir von einer neuen Gabe erwarten kön-
nen, nicht mehr nöthig ist) blos verschlim-
mern; denn bei einer leicht veränderbaren,
nicht ganz chronischen Krankheit wird die
vorige Gabe der best gewählten Arznei
nach Verfluß ihrer eigenthümlichen Wir-
kungsdauer schon alles das Gute, schon al-
le die zweckmäsigen Veränderungen ausge-
führt haben, als die Arznei überhaupt für
jezt vermochte — eine Art von ihr für
jezt erreichbarer Gesundheit —, und eine
abermahlige Gabe derselben wird diesen gu-
ten Zustand ändern, also verschlimmern
müssen, und eine Arzneikrankheit mit dem
Reste der Krankheitssymptomen gemischt,
eine Artverwickelter und vermehrter Krank-
heit hervorbringen, um desto mehr, wenn
die zweite Gabe noch vor Verfluß der
Wirkungsdauer der erstern gereicht wird.
Anm. Die Vernachlässigung dieser Regel be-
straft sich allgemein durch Verschlimme-
rung der Krankheiten, vorzüglich derer
von gefährlicher Art, oder doch durch
verspätigte Genesung.
206.
Wenn die bis dahin nur vorwärts ge-
gangene, nicht zur vollen Heilung gedie-
hene Besserung Stillstand nimmt, wird
man auch bei genauer Untersuchung der
bis auf den gegenwärtigen Augenblick ge-
besserten Krankheit eine so veränderte,
wenn auch kleine Symptomengruppe an-
treffen, auf welche eine neue Gabe der vo-
rigen Arznei jezt durchaus nicht mehr ho-
möopathisch passen kann, sondern immer
eine andre, diesem Reste von Zufällen an-
gemessenere Gegenkrankheitspotenz.
207.
Hat daher die erste Gabe des möglichst
gut gewählten Arzneimittels die völlige
Herstellung der Gesundheit innerhalb ihrer
Wirkungsdauer nicht vollenden können
(wie sie es doch in den meisten Fällen schnell
entstandner neuer Uebel kann); so bleibt
für den dann noch rückständigen, ob-
gleich viel gebesserten Krankheitszustand
offenbar nichts Besseres zu thun übrig,
als eine Gabe eines andern, für den jetzi-
gen Rest von Symptomen möglichst pas-
senden Arzneimittels zu reichen.
208.
Nur wenn vor Ablauf der Wirkungs-
dauer einer Arzneigabe der Zustand einer
dringenden Krankheit sich im Ganzen um
nichts gebessert, vielmehr sich (wenig-
stens um etwas) verschlimmert hat —, die
Arznei folglich nicht nach ihren positiven
Wirkungen homöopathisch für den Fall ge-
wählt war —, muß auch noch vor Verlauf
der Wirkungsdauer der zulezt gegebnen
Arznei, eine Gabe der für den nunmehri-
gen Krankheitsbefund genauer passenden
Arznei gereicht werden.
Anm. Da nach allen Erfahrungen fast keine
Gabe einer specifisch passenden, homöo-
pathischen Arznei bereitet werden kann,
welche zur Hervorbringung einer deutli-
chen Besserung in der ihr angemessenen
Krankheit (etwa die venerische ausgenom-
men) zu klein wäre (§. 132. 244.), so
würde man zweckwidrig und schädlich
handeln, wenn man bei Nicht-Besserung,
oder einiger, obschon kleiner Verschlim-
merung dieselbe Arznei wiederholen, oder
sie wohl gar an Gabe noch verstärken
wollte. Iede Verschlimmerung durch
neue Symptomen — wenn in der übri-
gen Geistes- oder Körper-Diät nichts bö-
ses vorgefallen ist — beweiset stets nur
Unpaßlichkeit der vorigen Arznei in
diesem Krankheitsfalle, deutet aber nie
auf Schwäche der Gabe.
209.
Um so mehr, wenn dem scharfsich-
tigen, genau nach dem Krankheitszustande
forschenden Heilkünstler sich in dringen-
den Fällen schon nach Verfluß von 6, 8,
12 Stunden offenbarte, daß er bei Wäh-
lung der zulezt gegebnen Arznei eine Mis-
wahl getroffen und der Zustand des Kran-
ken sich deutlich von Stunde zu Stunde,
obgleich immer nur etwas verschlimmere,
ist es ihm nicht nur erlaubt, sondern
Pflicht gebeut es ihm, den begangenen
Misgriff durch Wahl und Reichung eines
nicht blos erträglich passenden, sondern
des dem gegenwärtigen Krankheitszustan-
de möglichst angemessenen Heilmittels
wieder gut zu machen (§. 138.).
210.
Selbst in chronischen Krankheiten ist
es selten der Fall, daß, zumahl Anfangs,
nichts Besseres zu thun wäre, als zwei-
mahl nach einander dasselbe Arzneimittel
— obgleich erst nach Verfluß der Wir-
kungsdauer der zulezt gereichten Gabe —
zu verordnen.
211.
Wo demnach nicht sogleich ein durch-
aus angemessenes, einzig specifisches Mit-
tel zu finden ist, wird es gewöhnlich noch
eine oder ein Paar für die charakteristi-
schen Ursymptomen der Krankheit nächst
beste Arzneien geben, deren (nach dem je-
desmahligen Zustande der Krankheitszu-
fälle entweder diese, oder jene) als Zwi-
schenarznei jezt am besten passen wird,
und deren mit der Hauptarznei abwech-
selnder Zwischengebrauch die Herstellung
obgleich nicht eigends bewirket, doch
weit sichtbarer fördert, als die für den
Urcharakter des Uebels anfänglich zwar
nicht vollkommen, doch unter den vor-
handnen noch am angemessensten befun-
dene Hauptarznei zweimahl oder mehr-
mahl hinter einander, allein gebraucht.
212.
Fände sichs aber, das leztere in un-
unterbrochner Folgereihe einzig und allein
fortzugeben, das beste Verfahren wäre (in
diesem Falle würde ihre Gegenkrankheits-
potenz dem chronischen Uebel sehr ähn-
lich entsprechen), so wird man sich gleich-
wohl überzeugen, daß auch dann nur je-
desmahl eine kleinere und kleinere Gabe
— nach jedesmahligem Verfluß der Wir-
kungsdauer — gereicht werden dürfe, um
die Besserung nicht zu stören und die Hei-
lung auf dem geradesten Wege zum er-
wünschten Ziele zu führen.
213.
Sobald aber die chronische Krankheit
gewichen ist durch ein einziges, völlig pas-
sendes (für den Fall specifisches), oder
durch ein dem specifischen nahe kommen-
des Heilmittel (unter eben bemerktem Zwi-
schengebrauch einer zunächst besten Arz-
nei); so muß, wenn das Uebel von altem
Datum, etwa 10, 15 oder 20 Iahr alt war,
noch wohl ein viertel oder halbes Iahr hin-
durch, in Zwischenzeiten von einigen und
zulezt von mehrern Wochen eine Gabe von
dem Hauptmittel gereicht werden — aber
immer eine kleinere und kleinere — bis
alle Neigung des Organismus zu dem chro-
nischen Siechthum vollends verschwunden
und ausgelöschet ist.
Anm. Die Vernachlässigung dieser Fürsorge
kann auch die beste Kur in übeln Ruf
bringen.
214.
Der aufmerksame Beobachter merkt
den zur Wiederholung der Gabe bestimm-
ten Zeitpunkt an dem leisen Erscheinen ei-
niger Spuren des einen oder andern Ur-
symptoms der ehemahligen Krankheit.
215.
Merkt man aber, daß dieß nicht hin-
reichend wäre, und daß der Kranke eine
gleich große, auch wohl erhöhete und öf-
tere Gabe des ihm immer wohl bekommen-
den homöopathischen Heilmittels fortbrau-
chen müßte, um keinen Rückfall zu lei-
den, so ist dieß ein gewisses Zeichen, daß
die die Krankheit erzeugende Ursache noch
fortwährt, und daß sich in der Lebensord-
nung des Kranken oder in seinen Umgebun-
gen ein Umstand befindet, welcher abge-
schafft werden muß, wenn die Heilung
dauerhaft zu Stande kommen soll.
216.
Unter den Zeichen, die in allen, be-
sonders akuten Krankheiten eine kleine,
nicht jedermann sichtbare Besserung oder
Verschlimmerung lehren, ist der Zustand
des Gemüths und des ganzen Benehmens
des Kranken das sicherste und einleuchtend-
ste. Im Falle der auch noch so kleinen
Besserung: eine größere Behaglichkeit,
eine zunehmende Selbstgelassenheit und
Freiheit des Geistes; eine Art wiederkehren-
der Natürlichkeit. Im Falle der, auch noch
so kleinen Verschlimmerung hingegen, das
Gegentheil hievon: ein befangener, genir-
ter, mehr Mitleid auf sich ziehender Zu-
stand des Gemüthes, des Geistes, des gan-
zen Benehmens und aller Stellungen und
Verrichtungen, was bei genauer Aufmerk-
samkeit sich leicht sehen oder zeigen,
nicht aber in einzelnen Worten beschrei-
ben läßt.
217.
Die übrigen theils neuen, theils er-
höheten oder verminderten Zufälle werden
dem scharf beobachtenden und forschen-
den Heilkünstler an der Verschlimmerung
oder Besserung bald keinen Zweifel mehr
übrig lassen; indessen giebt es doch Per-
sonen, welche theils die Besserung, theils
die Verschlimmerung entweder anzugeben
unfähig, oder sie zu gestehen, nicht ge-
artet sind.
218.
Dem ungeachtet wird man hierüber
leicht zur Ueberzeugung gelangen, sobald
man weiß, daß, wenn beim Gebrauche
der lezten Arznei sich keine neuen Be-
schwerden hervorthaten, und der Kranke
keine neuen, in seiner Krankheit vorher
ungewöhnlichen Zufälle klagen kann, die
Arznei auch durchaus reelle Besserung her-
vorgebracht haben muß, oder wenn die
Zeit zu kurz dazu war, bald hervorbrin-
gen muß. Auf der andern Seite, wenn
der Kranke diese oder jene neu entstand-
nen Zufälle und Symptomen von Erheb-
lichheit erzählt (als Merkmahle der nicht
homöopathisch passend gewählten Arznei),
so mag er noch so gutmüthig versichern:
er befinde sich in der Besserung; so hat
man ihm in dieser Versicherung dennoch
nicht zu glauben, sondern seinen Zustand
als verschlimmert anzusehen, wie es denn
ebenfalls der Augenschein bald lehren wird.
219.
Da einige Symptomen der Arzneien
am gesunden menschlichen Körper (wie
man bei Beobachtung ihrer positiven Wir-
kungen abnehmen kann) um mehrere Stun-
den, ja wohl mehrere Tage später, als an-
dre erscheinen, so können die in Krank-
heiten ihnen entsprechenden Symptomen,
wenn auch die übrigen schon vernichtet
waren, doch nicht eher, als um diese Zeit
der Kur auslöschen; welches daher nicht
befremden darf.
Anm. Z. B. das Quecksilber, was seine Nei-
gung, runde Geschwüre mit hohem, ent-
zündetem, schmerzhaftem Rande zu erre-
gen, erst nach mehrern Tagen, bei ge-
wissen Körpern aber erst nach einigen
Wochen zum Vorscheine bringt, kann
M
auch beim innern Gebrauche in der ve-
nerischen Krankheit, die Schanker nicht
gleich in den ersten Tagen der Kur hei-
len.
220.
Hat man die Wahl, so sind zur Hei-
lung chronischer Krankheiten, Arzneien
von langer Wirkungsdauer, hingegen zur
Heilung schneller, akuter Fälle, das ist,
in solchen Krankheiten, die schon vor sich
zu öfterer Veränderung ihres Zustandes
geartet sind, Arzneien von kurzer Wir-
kungsdauer vorzuziehen.
221.
Der rationelle Arzt wird es zu ver-
meiden wissen, sich Arzneien vorzugs-
weise zu Lieblingsmitteln zu machen, de-
ren Gebrauch er, zufälligerweise, vielleicht
öfter mit Passendheit und gutem Erfolge
anzuwenden Gelegenheit gehabt hatte. Da-
bei werden seltner angewendete, welche
angemessener wären, oft hintangesezt.
222.
So wird der rationelle Arzt auch die,
wegen unpassender Wahl hie und da mit
Nachtheil angewendeten Arzneien nicht
aus mistrauischer Schwäche beim Heilge-
schäfte hintansetzen, und ohne ächte Grün-
de (irrationell) vermeiden, eingedenk der
Wahrheit, daß immer blos diejenige un-
ter den Gegenkrankheitspotenzen Achtung
und Vorzug verdient, welche, in dem je-
desmahligen Falle, dem Symptomenkom-
plexe am treffendsten entspricht, und daß
keine kleinlichen Leidenschaften sich in
diese ernste Wahl mischen dürfen.
223.
Bei der so nöthigen als zweckmäsi-
gen Kleinheit der Gaben im homöopathi-
schen Verfahren läßt sich leicht denken,
daß bei der Kur alles übrige aus der Diät
entfernt werden müsse, was nur irgend
arzneilich wirken könnte, damit die feine
Gabe nicht durch fremden Reitz über-
stimmt oder verlöschet werde.
M 2
224.
Für chronische Kranke ist die sorg-
fältige Aufsuchung solcher Hindernisse der
Heilung, um so nöthiger, da ihre Krank-
heit gewöhnlich durch dergleichen Schäd-
lichkeiten und andre krankhaft wirkende,
oft unerkannte Fehler in der Lebensord-
nung theils entstanden war, theils verlän-
gert zu werden pflegt.
Anm. Koffee, chinesischer und andrer Thee,
Biere mit arzneilichen, für den Zustand
des Kranken unangemessenen Kräutern an-
gemacht, sogenannte feine, mit arzneilich
wirkenden Gewürzen bereitete Liqueure,
gewürzte Schokolade, Riechwasser und
Parfümerien mancher Art, hochgewürzte
Speisen und Saucen, gewürztes Backwerk,
Gemüse aus Kräutern und Wurzeln, wel-
che Arzneikraft besitzen, alter Käse, und
Thierspeisen, welche verdorben sind, oder
arzneiliche Nebenwirkungen haben, sind
eben so sehr von ihnen zu entfernen, als
jede Uebermase der Genüsse, Misbrauch
geistiger Getränke überhaupt, Stubenhitze,
sitzende Lebensart in eingesperrter Luft,
Kindersäugen, langer Mittagsschlaf (in
Betten), Nachtleben, Unreinlichkeit, un-
natürliche Wohllust, Entnervung durch
Lesen schlüpfriger Schriften, Gegenstände
des Zornes, des Grames und Aergernis-
ses, leidenschaftliches Spiel, sumpfige
Wohngegend, dumpfige Gebäude, über-
mäsige Anstrengung des Geistes und Kör-
pers, karges Darben, u. s. w. Alle diese
Dinge müssen möglichst vermieden oder
entfernt werden, wenn die Heilung nicht
gehindert oder unmöglich gemacht werden
soll.
225.
Die beim Arzneigebrauche in chroni-
schen Krankheiten zweckmäsigste Lebens-
ordnung beruht auf Entfernung solcher
Genesungs-Hindernisse und dem Zusatze
des hie und da nöthigen Gegentheiles:
Aufheiterung des Geistes, Bewegung in
freier Luft, angemessene unarzneiliche
Speisen und Getränke u. s. w.
226.
In akuten Krankheiten hingegen (den
Zustand des vollen Deliriums ausgenom-
men) entscheidet der feine untrügliche
Takt des hier erwachten Lebenserhaltungs-
Triebes so deutlich und bestimmt, daß
der Arzt blos die Angehörigen und die
Krankenwärter zu bedeuten hat, dieser
Stimme der Natur kein Hinderniß in den
Weg zu legen durch Versagung des Gefo-
derten oder durch schädliche Anerbietun-
gen, oder Ueberredungen.
227.
Zwar geht das Verlangen des akut
Kranken an Genüssen und Getränken auf
blos palliative Erleichterungsdinge; sie
sind gewöhnlich aber nicht eigentlich arz-
neilicher Art, und blos einer Art Bedürf-
niß angemessen. Die geringen Hinder-
nisse, welche diese in mäsigen Schran-
ken gehaltene Befriedigung etwa der
gründlichen Entfernung der Krankheit in
den Weg legen könnte, wird durch die
homöopathisch passende Arznei und die
durch sie entfesselte Lebenskraft reichlich
wieder gut gemacht und überwogen.
228.
Der rationelle Heilkünstler muß die
vollkräftigsten, ächtesten Arzneien in den
Händen haben, wenn er sich auf sie als
Gegenkrankheitspotenzen (Heilmittel) will
verlassen können. Er muß ihre Aechtheit
selbst kennen.
229.
Es ist Gewissenssache, in jedem Falle
untrüglich überzeugt zu seyn, daß der
Kranke die wahre rechte Arznei eingenom-
men hat.
230.
Der Kräfte der einheimischen oder
frisch zu erhaltenden Pflanzen bemächtigt
man sich am vollständigsten und gewis-
sesten, wenn ihr ganz frisch ausgepreßter
Saft sogleich mit gleichen Theilen Wein-
geist gemischt wird; so erhält sich ihre
ganze Kraft vollständig und unverdorben
auf immer, in wohlverstopften Gläsern
vor dem Sonnenlichte bewahrt.
Anm. Obwohl gleiche Theile Weingeist und
frisch ausgepreßter Saft gewöhnlich das
angemessenste Verhältniß ist, um die Ab-
setzung des Eiweißstoffes zu erleichtern,
(und alle mögliche Gährung und Verder-
bung auf immer unmöglich zu machen);
so hat man doch für Pflanzen, welche
viel zähen Schleim oder ein Uebermas an
Eiweißstoff enthalten (z. B. Beinwell-
wurzel, Freisamveilchen, Hundsdillgleiß,
Schwarznachtschatten, u. s. w.) gewöhn-
lich ein doppeltes Verhältniß an Wein-
geist zu dieser Absicht nöthig. — Von
dem, nach Tag und Nacht in verstopften
Gläsern abgesetzten Eiweißstoffe wird das
Helle abgegossen zum Verwahren für den
arzneilichen Gebrauch.
231.
Die übrigen, nicht frisch zu erlangen-
den und ausländischen Gewächse wird der
rationelle Arzt nie in Pulverform auf Treu
und Glauben annehmen, sondern sich von
ihrer Aechtheit in ihrem rohen, ganzen
Zustande vorher überzeugen, ehe er die
mindeste arzneiliche Anwendung von ih-
nen macht.
Anm. Um sie als Pulver zu verwahren, be-
darf man Vorsicht. Die auch völlig trock-
nen, ganzen, rohen Gewächssubstanzen
enthalten doch noch immer innerhalb ih-
rer Substanz Feuchtigkeit, welche zwar
die ganze, ungepülverte Drogue nicht hin-
dert, in einem so trocknen Zustande zu
existiren, als zu ihrer Unverderblichkeit
hinreicht, für eben dieselbe aber, im Zu-
stande des feinen Pulvers viel zu viel ist.
Wird dieses nun nicht von der durch
diese Zerkleinerung überschüssig gewordnen
Feuchtigkeit befreiet, so muß es durch
sie in Schimmel und Verderbniß gera-
then. Deshalb kann selbst die älteste, im
ganzen Zustande auch noch so trockne ve-
getabilische und animalische Drogue nicht
so gerade zu, ohne inneres Verderbniß
zu leiden, in Gestalt eines Pulvers in ver-
stopften Gefäßen aufgehoben werden,
wenn sie von ihrer, durchs Zerkleinen
überschüssig gewordnen Feuchtigkeit nicht
vorher befreiet worden ist. Dieß ge-
schiehet am besten, wenn die Pulver im
Wasserbade so weit getrocknet werden,
daß alle kleinen Theile desselben (nicht
mehr klümperig zusammenhängen, sondern)
wie trockner feiner Sand sich leicht von
einander entfernen und leicht verstieben.
In diesem Zustande lassen sie sich, auf
immer unverderblich, in versiegelten Glä-
sern aufbewahren in ihrer ursprünglichen
vollen Arzneikraft, und ohne je mietig
oder schimmlicht zu werden. In nicht
luftdicht verschlossenen Behältnissen ver-
lieren alle vegetabilischen und thierischen
Arzneisubstanzen an ihren Kräften immer
mehr und mehr.
232.
Da jede Arznei am bestimmtesten und
vergleichbarsten in Auflösung wirkt, so
wendet der rationelle Heilkünstler in Auf-
lösung alle Arzneien an, deren Natur nicht
ausdrücklich verlangt, in Pulverform an-
gewendet zu werden. Alle andre Formen,
außer diesen, machen die Vergleichung
der Beobachtungen und die Gabe jeder
kräftigen Arznei unsicher.
Anm. Die Auflösung der blos trocken zu er-
langenden, gepülverten Thier- und Ge-
wächs-Substanzen in geistigen Flüssigkei-
ten, namentlich in Weingeiste von be-
stimmter, gleicher Stärke ist die einzige,
nicht durch Gährung verderbliche; sie er-
hält die Arzneikräfte derselben am voll-
ständigsten. Blos die mehligen Samen aus
der Gras- und Schmetterlingsblumen-Fa-
milie lassen ihre Arzneikräfte durch Wein-
geist am wenigsten ausziehn, und sind als
Pulver anzuwenden. Einige wenige Sub-
stanzen verlangen zur Auflösung durch-
aus versüßten Salpetergeist oder Naphthe.
233.
Die Metall-die Salz- und andern Be-
reitungen dieser Art, deren Aechtheit nicht
gleich beim ersten Anblicke, einleuchtet
und unverkennlich ist, läßt der rationelle,
gewissenhafte Heilkünstler blos unter sei-
nen eignen Augen entstehen.
234.
In keinem Falle von Heilung ist es
nöthig, mehr als eine einzige, einfa-
che Arzneisubstanz auf einmahl an-
zuwenden.
235.
Es ist nicht einzusehen, wie es nur
dem mindesten Zweifel unterworfen seyn
könne, ob es rationeller und vernünftiger
sei, einen einzelnen gekannten Arznei-
stoff in einer Krankheit zu verordnen,
statt eines Gemisches von mehrern.
236.
Da der rationelle Heilkünstler in ganz
einfachen, einzeln angewendeten Arznei-
stoffen schon findet, was er nur irgend
wünschen kann: künstliche Krankheitspo-
tenzen, welche die natürlichen Krankhei-
ten durch homöopathische Kraft zu über-
stimmen, auszulöschen und dauerhaft zu
heilen vermögen, so wird es ihm nach dem
allgemeinen Weisheitsspruche: quod fieri
potest per pauca, non debet fieri per plura,
nie einfallen, je etwas andres, als einen
einzelnen, einfachen Arzneistoff als Heil-
mittel zu geben, auch schon deshalb, weil
es völlig unbekannt ist, wie sich zwei und
mehrere zusammengesezte Arzneistoffe ein-
ander in ihren Wirkungen auf den mensch-
lichen Körper hindern und abändern mö-
gen, und weil hingegen ein einfacher Arz-
neistoff bei seinem Gebrauche in Krank-
heiten, deren Symptomenkomplex genau
bekannt ist, selbst in dem schlimmsten
Falle, daß er nicht homöopathisch ange-
messen gewählt werden konnte und also
nicht hülfe, doch dadurch nüzt und die
Heilmittel-Kenntniß befördert, daß die
in solchem Falle von ihm erregten neuen
Beschwerden diejenigen Symptomen bestä-
tigen helfen, welche dieser Arzneistoff
sonst schon in Versuchen am gesunden
menschlichen Körper gezeigt hatte.
Anm. Bei der treffend homöopathisch für
den wohl überdachten Krankheitsfall ge-
wählten und innerlich gegebnen Arznei,
nun noch einen aus andern Arzneistoffen
gewählten Thee trinken, ein Kräutersäck-
chen oder eine Bähung aus mancherlei
Kräutern auflegen, oder ein andersartiges
Klystir einspritzen zu lassen, wird der ra-
tionelle Arzt der irrationellen Empirie
überlassen.
237.
Giebt man eine allzu starke Gabe
einer für den gegenwärtigen Krankheitsfall
auch völlig homöopathisch, völlig ange-
messen und specifisch gewählten Arznei, so
wird sie zwar allerdings für die ursprüng-
liche Krankheit wohlthätig seyn, doch ab-
gerechnet den hier unnöthigen, überstar-
ken Eindruck, den sie auf den Organismus
macht durch allzu große Menge und Hef-
tigkeit.
238.
Denn, wird diese von der allzu vie-
len Arznei herrührende stärkere, obgleich
der ursprünglichen Krankheit sehr ähnli-
che Umstimmung des Organisms allzustark
durch die stärker als nöthig gewählte Ga-
be — so erfolgt außer der erhöheten ho-
möopathischen Verschlimmerung (§. 132),
wenigstens eine unnöthige Entkräftung
nach Verfluß der Wirkungsdauer des Me-
dikaments, und wenn die Gabe ganz über-
mäsig war, so erfolgen außer den erhöhe-
ten primären Arzneisymptomen (§. 132),
noch Symptomen ihrer Nachwirkung, eine
Art Arznei-Nachkrankheit, der erstern an
Art entgegen gesezt.
239.
Da nun noch überdem fast keine Arz-
nei so vollkommen homöopathisch gewählt
werden kann, daß sie dem Symptomenin-
begriffe der Krankheit in allen und jeden
Punkten mathematisch genau (§. 131, Anm.)
und vollkommen entspräche, so steigen
die, bei angemessen kleinen Gaben unbe-
deutenden neuen Symptomen zu hohen
Beschwerden mancherlei Art, wenn die
Menge Arznei so übermäsig groß ist.
240.
Nach diesen und vielen andern Be-
weggründen wird der rationelle Heilkünst-
ler (welcher stets nur das Beste zur Richt-
schnur seines Verfahrens befolgt, weil
es das Beste ist, und sich davon nicht
durch blinde Observanz abhalten läßt) die
dem Uebel blos so eben nur angemessene
Gabe des angemessenen Heilmittels wäh-
len, die kaum einen Anschein von Krank-
heitsverschlimmerung (§. 132.) zu erregen,
das ist, kaum im mindesten seine Gegen-
krankheitspotenz über die zu heilende
Krankheit zu erheben vermag.
241.
Man darf diese anscheinende Ver-
schlimmerung und Erhöhung der gegen-
wärtigen Krankheit durch das homöopa-
thische Mittel kaum merken, und dieß
auch nur in den ersten Paar Stunden nach
der Einnahme. —
242.
Eins der Hauptgesetze der homöopa-
thischen Heilkunde besteht nämlich darinn:
die zur Aufhebung einer natürli-
chen Krankheit möglichst ange-
messen gewählte Gegenkrankheits-
potenz (das Heilmittel) nur so stark
einzurichten, daß sie nur so eben
zur Absicht hinreiche, und durch
unnöthige Stärke den Körper nicht
im mindesten angreife.
243.
Da nun die kleinste Menge Arznei den
Organismus, natürlich, am wenigsten an-
greift, so würde man die allerkleinsten
Gaben zu wählen haben, wenn sie nur stets
der Krankheit gewachsen wären.
244.
Hier zeigt nun die Erfahrung durch-
gängig, daß auf homöopathischem Wege
die kleinsten Gaben der Krankheit jederzeit
gewachsen sind. Denn liegt der Krankheit
nicht offenbar eine beträchtliche Verderb-
niß eines wichtigen Eingeweides zum Grun-
de, so kann fast keine Gabe des ho-
möopathisch gewählten Heilmit-
tels so klein seyn, daß sie nicht
stärker als die natürliche Krank-
heit wäre, und sie nicht besiegen
könnte.
245.
Wie sehr sich in Krankheiten die Em-
pfindlichkeit des Körpers gegen Arzneien,
vorzüglich die homöopathisch angewende-
ten erhöhe, hievon hat nicht der gewöhn-
liche, nur der genaue Beobachter hat hie-
von einen Begriff. Sie übersteigt allen
Glauben, wenn die Krankheit einen hohen
Grad erreicht hat.
Anm. Ein gefühllos da liegender, komatöser
Typhuskranker mit brennend heißer Haut
von Schweiße bedeckt, mit schnarchen-
dem, stoßweise unterbrochnem Athem aus
N
offen stehendem Munde, u. s. w. wird von
der kleinsten Gabe Mohnsaft binnen weni-
gen Stunden zur Besinnung gebracht und
binnen noch einigen Stunden zur Gesund-
heit wieder hergestellt, wenn auch die
Gabe millionmahl kleiner war, als sie je
ein Arzt auf der Welt verordnete. Die
Empfindlichkeit des kranken oder kränk-
lichen Körpers steigt in vielen Fällen so
hoch, daß äußere Potenzen auf ihn zu
wirken und ihn zu erregen anfangen, de-
ren Existenz sogar oft geleugnet ward,
weil sie auf den gesunden, festen Körper
und in manchen dazu nicht geeigneten
Krankheiten keine in die Augen fal-
lende Wirkung zeigen, wie z. B. der
thierische Magnetism (Animalism),
jene bei gewissen Arten der Berührung oder
Fast-Berührung von einem lebenden Kör-
per auf den andern influirende Kraft, wel-
che in schwächlichen, zärtlichen und em-
pfindlichen Personen beider Geschlechter
eine erstaunenswürdige Erregung hervor-
bringt. Wie unbegreiflich klein werden
hienach die immer noch materiellen Gaben
homöopathischer Arznei bereitet werden
können, um doch noch in dem so empfind-
lichen kranken Körper erstaunenswürdige
Erregung hervorzubringen!
246.
So ist auch jeder Kranker besonders
im Punkte seiner Krankheit von den pas-
senden arzneikräftigen Potenzen höchst
umstimmbar, und es giebt keinen, selbst
noch so robusten, auch nur mit einem
chronischen oder sogenannten Lokalübel
behafteten Menschen, welcher in dem lei-
denden Theile nicht bald die erwünschteste
Veränderung spürte, wenn er die hülfreiche
und homöopathisch passende Arznei in
der erdenklich kleinsten Gabe eingenom-
men, welcher mit einem Worte nicht weit
mehr dadurch umgestimmt werden sollte,
als der einen Tag alte, aber gesunde Säug-
ling.
Anm. Man setze dieser Wahrheit nicht die
oft ungeheuern Gaben von Arzneien in der
gemeinen Praxis entgegen. Diese stehen
nämlich (um hier nur einige Gründe an-
zugeben, da ich weiter unten noch etliche
anzuführen, Veranlassung habe,) höchst
selten in Homöopathie mit der Krankheit
(in welcher die Arzneien unendlich wirk-
samer, als auf andre Art gebraucht, das
Befinden umändern) und werden immer
N 2
entweder blos in Zusammensetzung mit
andern starken Arzneien, oder so ge-
braucht, daß noch daneben und dazwi-
schen andre Arzneien von heftiger Wir-
kung eingegeben werden, in welcher Mi-
schung nicht mehr jedes nach seiner ei-
genthümlichen Art wirkt, sondern abge-
ändert durch die Wirkung des zweiten,
dritten, oder vierten Ingredienzes. Die
Kräfte der mehrern Arzneien in einer Mi-
schung heben einander zum größten Theile
auf, so daß sie oft ohne großen Erfolg
eingenommen werden. Ein einzelnes die-
ser heftigen Ingredienzen, wenn es ächt
und vollkräftig ist, würde in derselben
Gabe, allein gereicht, sehr oft den Tod
bringen; ein fürchterlicher Umstand, wel-
cher die Aerzte stillschweigend, und wie
durch Instinkt mit dazu bewogen zu ha-
ben scheint, die nach ihren positiven Wir-
kungen bisher ungekannten Arzneien durch
vielfältige Zusammenmischung in Eine For-
mel weniger gefährlich zu machen. (eine
Veranstaltung, die ihnen bei dem Aus-
drucke corrigentia undeutlich vorgeschwebt
zu haben scheint) In dieser Rücksicht
ist es fast ein Glück zu nennen, daß viele
Arzneien in der gemeinen Praxis, beson-
ders die Extrakte durch die bisherige Ver-
fertigung fast völlig kraftlos zu werden
pflegten.
247.
Um nun ächt rationell zu verfahren,
wird der wahre Heilkünstler seine wohl-
gewählte homöopathische Arznei genau
nur in so kleiner Gabe verordnen, als zur
Ueberstimmung und Vernichtung der ge-
genwärtigen Krankheit zureicht — in ei-
ner Kleinheit von Gabe, welche, wenn ihn
die menschliche Schwäche je verleitet hätte,
eine unpassendere Arznei gewählet zu ha-
ben, den Nachtheil ihrer Unpassendheit in
der Krankheit bis zur Geringfügigkeit ver-
mindert, welcher von der möglichst klein-
sten Gabe auch viel zu schwach ist, als daß
er durch die eigne Energie der Natur und
durch schnelle Entgegensetzung des nun
angemessener gewählten, homöopathischen
Heilmittels, ebenfalls in kleinster Gabe,
nicht alsbald wieder ausgelöscht und gut
gemacht werden könnte.
Anm. Wenn ich von möglichster Kleinheit
der Gabe in der homöopathischen Heil-
kunde, spreche, so kann ich hier, auch
schon deshalb, weil die Arzneien selbst
an Kraft so verschieden sind, keine Ta-
belle von Maas und Gewicht der Arzneien
hersetzen. Nur anmerken will ich, daß
die Menschen nach dem Umfange der Kul-
tur ihres Geistes höchst verschiedne Maas-
stäbe zur Schätzung der Größen und
Kleinheiten haben, daß Manchem die Zahl
Meilen, von der unsre kleine Erde um-
spannt wird, schon etwas Ungeheures
deuchtet, und daß man ihm von den Qua-
drillion und Quintillion Erdmessern, in
denen die zahllosen Sonnen in der unend-
lichen Schöpfung von einander abstehen,
gar nichts vorreden darf. Eben so be-
schränkte Menschen findet man, welche
nichts achtenswerth schätzen, als was die
Faust füllt, und die Dinge nicht nach ih-
rer wahren inwohnenden Kraft, sondern
nach dem plumpen Handelsgewicht wä-
gen —, deren kleinstes Gewicht bei Arz-
neien sich nicht unter Einen Gran er-
streckt, während ein Zehntelgran ihnen
schon eine unbedeutende Kleinigkeit zu
seyn deuchtet.
Wie sollte man diesen Menschen mit
so kurzen Maasstäben zumuthen, sich Be-
griffe zu machen von der nöthigen Thei-
lung und Verkleinerung der Arzneigaben
zu homöopathischer Absicht in die niedrig-
sten Bruchtheile eines Grans? Vergeblich!
ihr beschränkter Geist schwindelt vor Zah-
len und Theilungen, die in der Spanne
ihres Wirkungskreises nie gehört, nie ge-
dacht worden waren. Und doch ist es
nur allzuwahr, daß in der Unendlichkeit
der Schöpfung alles, was wir schwachen
Menschen uns als groß, sehr groß den-
ken, noch lange nicht groß — alles was
wir uns als möglichst klein denken, noch
lange nicht klein zu achten ist. Zerlege,
wenn du kannst, die Bestandtheile der Or-
gane des Infusionsthierchens; und du bist
kaum zum Anfange der Dinge herabge-
stiegen, welche in der Schöpfung klein
zu nennen sind. Und welche Kraft be-
sitzt nicht jedes der zahllosen Organe, die
den Körper des Infusionsthierchens ver-
kürzen, verlängern und seine Bewegung
in Flüssigkeiten so gewaltig beschleunigen,
außer was sie sonst noch zu seinem Le-
ben, zu seiner Bestimmung, zu seinen Ge-
müssen und zu seiner Fortpflanzung, uns
unwissend, beitragen! Welche unermeß-
lich große Energie in diesen nach unsern
eingeschränkten Begriffen für so klein ge-
achteten Theilen! Kurzsichtiger! wie willst
du den wundersamen, fast geistigen Kräf-
ten der Arzneien eine Gränze abstecken,
ihnen ein Gewicht aus deinen alltäglichen
Gewichten vorschreiben, unter welchem
sie aufhören sollen, etwas Wirksames zu
seyn!
Es liegt schon im Begriffe der Thei-
lung, daß kein Theil so klein von uns
gemacht werden kann, daß er aufhöre,
Etwas zu seyn, und daß er nicht von
den sämtlichen Eigenschaften des Gan-
zen participirte. Wie, wenn nun dieser
möglichst kleinste Theil noch so kräftig
wäre, als du ihn nur irgend zu deinem
Behufe bedarfst; wolltest du ihn dann wi-
der deinen Zweck größer machen, blos
um der Observanz und den Menschen mit
den kurzen Maasstäben nicht zu nahe zu
treten?
Und was bedarf es beträchtlicher Ge-
wichtsgaben zu arzneilichen Potenzen,
wenn sie bei der homöopathischen Anwen-
dungsart schon in der möglichst kleinsten
Menge die Krankheiten auf die schnellste
und dauerhafteste Art zu besiegen im
Stande sind? Wozu Bedenklichkeiten über
die Kräftigkeit so kleiner, doch noch im-
mer materieller, obgleich nach dem klein-
sten Gewichte zu berechnender Gaben ho-
möopathischer Heilmittel, da gerade die
kräftigsten Gegenkrankheitspotenzen völ-
lig unwiegbar sind, und mit ganz inpon-
derabeln Stoffen Einwirkung auf das Be-
finden des Menschen machen? Wer kennt
die arzneilichen Kräfte der Kälte und
Wärme nicht? Wer will die der Elektri-
sität und des Galvanismus miskennen?
Wer will die heroischen, oft allzu star-
ken Kräfte des thierischen Einflusses (thie-
rischen Magnetisms) in Umänderung des
menschlichen Befindens leugnen? Und was
geht über die mächtige Gegenkrankheits-
potenz, die der Stahlmagnet nach der ver-
einigten Beobachtung einer großen Menge
scharfsichtiger und redlicher Beobachter
in einer Menge von Krankheiten klärlich
bewiesen hat? — der Stahlmagnet, des-
sen unablässig ausströmender, inponderab-
ler Stoff in keinen unsrer Sinne fällt und
dennoch das Befinden selbst des gesunde-
sten Menschen in hohem Grade umändert,
wie jeder an sich selbst sich überzeugen
kann, wenn er mit dem Nordpole eines
größern Magnetstabes, welcher zehn bis
zwölfmahl sein eignes Gewicht zu ziehn
vermag, nur Eine Stunde lang irgend ei-
nen Theil seines Körpers berühren läßt,
oder nur bedenkt, was schon die Erfah-
rungen glaubwürdiger Beobachter an ge-
sunden Personen hierüber gelehrt haben
(m. s. Andry und Thouret Beob. und Unters.
üb. d. Gebr. d. Magn. Leipz. 1785. S. 155.)
248.
Aus der Thatsache, daß eine gewisse,
homöopathisch gewählte Arznei den für sie
geeigneten Krankheitszustand durch ge-
wöhnlich nicht vielmehr als Eine einzige
Gabe überstimmt und erschöpft, und jede
überflüssig stärkere Gabe den Körper mehr
als nöthig angreift, erklärt sich jene wich-
tige, allgemein gültige Bemerkung: daß
jede Gaben-Zertheilung (auf mehrere Ein-
nehmungs-Zeiten vertheilt) eine weit stär-
kere Wirkung thut, als die ganze, auf ein-
mahl gereichte Gabe.
249.
Acht Tropfen irgend einer Arzneitink-
tur auf Eine Gabe thun wohl viermal gerin-
gere Wirkung, als eben diese acht Tropfen
auf achtmahl, alle Stunden, oder alle zwei
Stunden zu einem Tropfen gegeben.
250.
Nimmt man nun noch Verdünnung
dazu (wodurch die Gabe eine größere Aus-
breitungsfähigkeit gewinnt), so kann man
den Effekt leicht bis zur Uebermase erhö-
hen; wiewohl auch hierin noch ein nicht
geringer Unterschied statt findet, ob die
Vermischung mit einer Flüssigkeit nur so
obenhin, oder so gleichförmig und innig
geschehen ist, daß der kleinste Theil der
Flüssigkeit auch einen verhältnißmäsigen
Theil der aufgelöseten Arznei in sich auf-
genommen hat; denn dann ist erstere weit
weniger kräftig als diese.
251.
So wird ein einzelner Tropfen jener
Tinktur mit einem Pfunde Wasser durch
starkes Umschütteln innig gemischt
und alle zwei Stunden zu zwei Unzen ein-
genommen, wohl viermahl mehr Wirkung
thun, als alle acht Tropfen auf einmahl
gegeben.
252.
Aus lezterm Erfahrungssatze — daß
die Kraft der flüssigen Arznei durch das
größere Volumen Flüssigkeit, womit sie
innig gemischt werden, ansehnlich zu-
nimmt — folgt unleugbar, daß um die
Gabe des homöopathischen Heilmittels so
klein, als möglich und nöthig ist, einzu-
richten, sie auch in möglichst kleinsten
Volumen gereicht werden müsse, damit so
wenig als möglich Nerven von ihr berühret
werden, wenn sie eingenommen wird.
Anm. Daher auch die Unnöthigkeit und
Zweckwidrigkeit des Nachtrinkens auf ei-
ne mit Fleiß so klein eingerichtete Gabe.
253.
So steigert und mindert sich auch die
Wirkung der Gabe nicht in gleicher Pro-
gression mit ihrer intensiven Quantität.
Acht Tropfen Tinktur von einem Arznei-
stoffe auf die Gabe wirken nicht vier-
mahl mehr Effekt als zwei Tropfen der-
selben auf die Gabe, sondern nur etwa
doppelt soviel als zwei Tropfen auf die
Gabe. Eine Mischung von einem einzi-
gen Tropfen der Tinktur mit zehn Tropfen
einer unarzneilichen Flüssigkeit gemischt,
wird, zu Einem Tropfen eingenommen,
nichtzehnmahl größere Wirkung thun,
als ebenfalls Ein Tropfen einer noch zehn-
mahl dünnern Mischung, sondern nur et-
wa (kaum) eine doppelt stärkere Wir-
kung, und so weiter herab nach
demselben Gesetze — so daß ein Tro-
pfen der höchsten Verdünnung immer
noch eine sehr beträchtliche Wirkung
äußern muß, und wirklich äußert.
Anm. Gesetzt 1 Tropfen einer Mi-
schung, welcher ⅒ Gran des
Arzneistoffs enthält,
thue eine Wirkung = a;
so wird 1 Tropfen einer ver-
dünntern Mischung,
welcher \frac{1}{100} Gran des Arz-
neistoffs enthält, =
und wenn er \frac{1}{10000} Gran des Arz-
neistoffs enthält, = u.s.w.
so daß, bei gleichem Volumen der Gaben,
durch jede (vielleicht mehr als) quadratische
Verkleinerung des Arzneigehaltes die Wir-
kung sich doch nur etwa zur Hälfte mindert.
254.
Die Wirkung der heilenden Gegen-
krankheitspotenzen, die man Arzneien
nennt, auf den lebenden menschlichen Kör-
per geschieht auf eine so eindringliche Art,
verbreitet sich von dem Punkte der mit
Nerven begabten, empfindlichen Faser aus,
worauf die Arznei zuerst angebracht wird,
mit einer so unbegreiflichen Schnelligkeit
und Allgemeinheit durch alle Theile des
lebenden Individuums, daß man diese
Wirkung fast geistig nennen könnte, fast
so geistig als die Vitalität selbst, von wel-
cher ihre Wirkung auf den Organism re-
flektirt wird; der ihren specifiken Eindruck
percipirende, von Reitzbarkeit und Em-
pfindung belebte Körper leiht dieser Wir-
kung eine Art Leben.
255.
Ieder Theil unsers Körpers, der nur
Tastsinn besitzt, ist auch fähig, die Ein-
wirkung der Arzneien aufzunehmen, und
die Kraft derselben auf alle übrigen Theile
fortzupflanzen.
256.
Am empfänglichsten für die arzneili-
chen Eindrücke sind freilich Zunge, Mund
und Magen, und die an diesen Stellen,
Nachricht für den Buchbinder: Diese 4 Blä
vorzüglich in aufgelöster Gestalt aufgenom-
menen Arzneien wirken in der vollesten
Mase und mit der größten Schnelligkeit
durch sie auf alle Punkte des Organismus
hin.
257.
Indessen ist auch die innere Nase (die
Lungen), die empfindlichsten Stellen der
Zeugungstheile und der Mastdarm nicht
viel weniger empfänglich für ihre Einwir-
kung —, so wie hautlose und verwun-
dete oder geschwürige Stellen den Kräften
der aufgelegten Arzneien eine fast eben
so eindringliche Einwirkung auf den gan-
zen Organismus verstatten, als wenn die
Arznei durch den Mund eingenommen
worden wäre.
Anm. Ia sogar diejenigen Theile, welche
den ihnen eigenthümlichen Sinn verloren
haben (z. B. eine Zunge, die den Ge-
schmack, oder eine Nase, die den Ge-
ruch verloren hat) theilen die blos auf sie
zunächst einwirkende Kraft der Arznei in
nicht geringerer Vollständigkeit der Ge-
samtheit aller Organe und Theile des übri-
gen Körpers mit.
258.
Dagegen sind die äußern mit Haut
und Oberhaut umkleideten Theile des Kör-
pers weit weniger zur Aufnahme der Arz-
neikraft geschickt, so jedoch, daß unter
ihnen wiederum diejenigen Stellen, wel-
che die empfindlichsten sind (die Haut des
Unterleibes der Herzgrube, und der innern
Biegungen der Gelenke) auch mehr Ein-
druck der Arzneien auf die Nerven, und
durch sie auf den ganzen übrigen Orga-
nismus verstatten, obschon weit weniger,
als wenn dieselben Arzneien durch den
Mund eingenommen, oder in den Mast-
darm eingespritzt worden wären.
259.
In Fällen also, wo wir gehindert wer-
den, das Nöthige durch den Mund einzu-
geben — (wiewohl das Verweilen der pas-
senden homöopathischen Arznei blos im
Munde, und wenn sie auch gar nicht hin-
tergeschluckt werden könnte, doch den
vollen Effekt auf die Gesamtheit aller
übrigen Organe ausrichtet —) auch wo
man sie nicht füglich durch den After ein-
bringen könnte, oder wollte —, in diesen
Fällen kann man durch bloses Auflegen der
aufgelösten Arznei auf die empfindlichsten
äußern Theile z. B. auf den Unterleib, die
Herzgrube, u. s. w. nicht viel weniger bei
empfindlichen Personen ausrichten, als
durch das Einnehmen; doch muß eine
kräftigere Arzneiform hiezu gewählt und
eine größere Fläche damit belegt, und,
wenn die Kraft noch stärker seyn soll, das
Einreiben noch mit zu Hülfe genommen,
auch wohl die Arznei (in stärkerer Menge)
im halben oder ganzen Bade angewendet
werden.
Anm. Das Einreiben scheint die Einwirkung
der Arzneien nur dadurch zu befördern, in
wiefern das Reiben an sich die Haut em-
pfindlicher und so die lebende Faser em-
pfänglicher für die Perception der eigen-
thümlichen, durch sie auf den ganzen Or-
ganismus hinstrahlenden Arzneikraft macht.
Das vorgängige Reiben der innern Stellen
O
des Oberschenkels macht die nachgängige
blose Auflegung der Quecksilbersalbe eben
so heilkräftig, als wenn die Salbe selbst
eingerieben worden wäre.
260.
Unter andern Ursachen, welche in der
gemeinen Praxis zu den hohen Gaben An-
laß gegeben haben, ragt vorzüglich die
palliative Anwendung der Arzneien her-
vor.
Anm. Unter andern liegt der ganz entgegen
gesetzte Abstand der palliativen von der
homöopathischen Heilart mit darin, daß
zu ersterer möglichst große, zu letzterer
hingegen möglichst kleine Gaben erforder-
lich sind.
261.
In der palliativen Anwendung
der Arzneien, die nur ein Widerschein und
das gerade Widerspiel der homöopathischen
Heilart ist, suchte man durch einige be-
kannt gewordene Symptomen der Arzneien
ganz entgegen gesetzte Symptomen der
Krankheit zu vertreiben.
262.
Da hier durch die Arznei nichts Aehnli-
ches vom gegenwärtigen Krankheitszustan-
de (wie in der homöopathischen Heilart),
sondern das gerade Gegentheil desselben im
Organism erregt wird, so bemerkt man
auch bei solchen Palliativkuren nicht nur
nicht das Mindeste von anfänglicher (an-
scheinender) Verschlimmerung des Krank-
heitszustandes wie bei der homöopathi-
schen (§. 132.), sondern im Gegentheile ei-
ne fast augenblickliche anscheinende Min-
derung desselben. In der ersten Stunde
nach der Einnahme des Palliativs befindet
sich der Kranke am meisten erleichtert,
welches nach der Einnahme des homöopa-
thischen Heilmittels nie geschieht.
263.
Während in der homöopathischen
Heilart der ganze Krankheitszu-
O 2
stand durch die sehr ähnliche künstliche
Gegenkrankheits-Potenz des specifischen
Heilmittels im Organismus in kurzer Zeit
(nur nicht in der ersten Stunde, sondern
allmählig von Stunde zu Stunde immer
mehr) überstimmt, ausgelöscht und ver-
nichtet wird, wird in der Palliation, de-
ren Norm ist: contraria contrariis
curentur — ein einzelnes gegenwär-
tiges Krankheitssymptom durch das
ganz entgegen gesetzte, der Arznei eigne
Symptom schnell nur besänftigt; viel-
leicht indem sich die Gegensätze durch eine
Art wechselseitiger Ineinander-Schmel-
zung, so zu sagen, dynamisch (aber nur
temporär) neutralisiren, und auf diese Art
ihren Einfluß auf den Organism so lange
verlieren, als die Wirkungsdauer
des opponirten Arzneisymptoms
anhält.
264.
Das vorige Uebel scheint gleich im An-
fange der Palliativkur wie verschwunden;
aber es wird nicht aufgehoben, nicht aus-
gelöscht — es kehrt, so wie die entgegen
gesetzte Wirkungstendenz des Palliativs zu
wirken nachläßt und ausgewirkt hat, wel-
ches in einigen Stunden oder Tagen ge-
schieht, wieder zurück, nicht nur in glei-
cher Mase, sondern sogar verstärkt durch
Hinzutritt der Nachwirkungstendenz (Se-
kundärsymptomen) des Palliativs, die (als
Gegensatz der Primärwirkungen) dem
ursprünglichen Krankheitssymptome sehr
ähnlich ist, und es so, als Zusatz, wesent-
lich und dauerhaft verschlimmert.
265.
Dem homöopathischen Heilungspro-
cesse ganz entgegengesetzt, befindet sich
in der ersten Stunde des palliativen Arznei-
gebrauchs der Kranke am meisten erleich-
tert, in der zweiten Stunde weniger, in der
dritten noch weniger und so fort, bis nach
Verfluß der opponirten Primärwirkung der
Arznei, die Tendenz der Sekundärwirkung
hinzutritt und dann befindet sich der Kran-
ke schlechter, als vor der Einnahme des
Palliativs.
Anm. Da der Zutritt einer neuen Krankheit
zu einer schon vorhandnen ganz die Natur
einer Arznei besitzt, und man sich einer sol-
chen Krankheit, wenn diese neue der ältern
an Symptomen ähnlich ist, als eines voll-
kommen homöopathischen Heilmittels be-
dienen und die ältere Krankheit damit ver-
nichten und auslöschen kann (§. 28. 30.
36.); so kann man sich auch der Krankhei-
ten fehlerhaft als Palliative bedienen, wie
auch schon geschehen ist.
So glaubte Leroy, der diesen Unter-
schied und seine Bedeutung nicht kannte
(Heilk. für Mütter, S. 383.) die skrophulö-
sen Drüsenverhärtungen des ganzen Kör-
pers bei einem Kinde durch Einimpfung
der Menschenpocken heben zu können.
Beim Ausbruche der Pocken waren auch
alle Drüsenverhärtungen gleich wie ver-
schwunden; aber sechs Wochen hernach
— länger dauerte die palliative Suspension
des alten Uebels nicht — erschienen die
Drüsenverhärtungen alle wieder —
ganz natürlich, da die Drüsenverhärtun-
gen, welche auf Menschenpocken zu pfle-
gen, nicht in ihrer Primärwirkung, das
ist, nicht in ihrem akuten Stadium, son-
dern in ihrer Nachkrankheit (Sekundärwir-
kung) enthalten sind, folglich schon am
Körper vorhandne Drüsenverhärtungen
nicht homöopathisch heilen, aufheben und
vernichten können.
266.
Um nun die schmeichelhafte Erleich-
terung zu erneuern, ist man genöthigt, das
Palliativ in jedesmahl verstärkten, oft an-
sehnlich verstärkten Gaben zu reichen, weil
jede Gabe außer dem zu bestreitenden
Krankheitssymptome, auch noch die durch
die Sekundärsymptomen der vorigen Gabe
erzeugte Verschlimmerung des Krankheits-
zustandes mit zu verdecken hat. Ein starkes Beispiel dieser Art sehe man in J. H.
Schulze, Diss. qua corporis humani momen-
tanearum alterationum specimina quae-
dam expenduntur, Halae, 1741. §. 28.
267.
Ohne Verstärkung der Gabe des Pallia-
tivs wird die (temporäre) Erleichterung im-
mer geringer, zuletzt unbemerklich und zu
Nichts (und dann erfolgt eine desto stärke-
re Verschlimmerung des Krankheitszustan-
des hinterdrein).
268.
Iede blos in immer verstärkter Gabe
erleichternde (in ihrer Wirkung einem
Hauptsymptome der Krankheit antiloge
und opponirte) Arznei, ist ein Palliativ.
Anm. Das Irrationelle der palliativen Ver-
fahrungsart leuchtet von selbst ein, da der
Kranke ja nicht eine täuschende, tempo-
räre Erleichterung, welche im
Erfolge das Uebel verstärkt, son-
dern gründliche Heilung bedarf, und sie
ist auch schon deshalb fehlerhaft, weil
man nur ein einzelnes Symptom — oft nur
den zwanzigsten Theil der Krankheit und
ihres Symptomeninbegriffs dadurch zu be-
streiten vermag, das ist, nur symptoma-
tisch, und dennoch nicht hülfreich ver-
fährt.
Doch war es noch ein Glück, daß man
die den Arzneien eignen Symptome zu we-
nig kannte, als daß man zur Bestreitung
gegenseitiger Zustände gar zu häufig von
ihnen hätte Misbrauch machen können.
Es blieb nur bei einigen Operationen dieser
Art: habitueller Neigung zur Schläfrigkeit
setzte man Kaffee — den, selbst chronischen
Durchfällen die Leib verstopfende primäre
Kraft des Mohnsafts, die betäubten, dum-
men Schlaf machende Wirkung desselben
der, oft langwierigen Nachtmunterkeit,
und allen erdenklichen Arten Schmerzen
den Stupor und die Fühllosigkeit entgegen,
welche diese Substanz über das ganze Sen-
sorium verbreitet —; mit den in starker
Gabe die Därme zu häufiger Ausleerung
reitzenden Purgirarzneien und Laxirsalzen
wollte man die Neigung zur Leibesversto-
pfung aufheben, durch erhitzende Gewür-
ze und geistige Getränke dem Mangel an
Blutwärme, und der sogenannten Magen-
schwäche abhelfen, durch Niesemittel
langwierigen Stockschnupfen heilen, mit
kühlenden Dingen der Verbrennungs-Ent-
zündung steuern, mit Blutausleerung jede
Hitze mindern, mit den die Harnauslee-
rung so mächtig aufreitzenden Kanthariden
die fast vollendete Blasenlähmung selbst in
chronischen Fällen zur Thätigkeit erwe-
cken, alte Lähmungen verschiedner Art
mit der in der Primärwirkung die Muskeln
in Bewegung setzenden Elektrisität und
galvanischen Kraft vertreiben, u. s. w.
Wie selten man aber Gesundheit, wie oft
man verstärkte Krankheit und noch etwas
Schlimmeres damit erreichte, lehrte die
oft zu späte Ueberzeugerin, Erfahrung.
269.
Blos bei höchst dringenden Gefahren
z. B. bei Asphyxien und dem Scheintode
vom Blitze, vom Ersticken, Erfrieren, u.
s. w. ist es erlaubt und zweckmäsig, durch
ein Palliativ z. B. durch gelinde elektrische
Erschütterungen durch starken Kaffee,
durch ein excitirendes Riechmittel u. s. w.
vorerst wenigstens die Empfindung und
Reitzbarkeit (das physische Leben) wieder
in Gang zu bringen, bis man weiter, wo
nöthig, homöopathisch verfahren kann.
Hieher gehören auch verschiedne Antidote
jählinger Vergiftungen.
270.
Auch ist eine homöopathische Arznei
in Heilung der Krankheiten deshalb noch
nicht unpassend gewählt, wenn einige
Arzneisymptomen einigen mittlern und klei-
nern Krankheitssymptomen nur palliativ
entsprechen, wenn nur die übrigen, vor-
züglich die stärkern, besondern und cha-
rakteristischen Hauptsymptomen der Krank-
heit durch dasselbe Arzneimittel homöopa-
thisch (durch Symptomenähnlichkeit) ge-
deckt und befriedigt werden.
271.
Es erfolgt in diesem Falle nichts von
den Nachtheilen der gewöhnlichen einseiti-
gen Palliation eines einzelnen Krankheits-
symptoms; es erfolgt vollständige Heilung
ohne Nebenbeschwerden oder Nachwehen,
doch so, daß die Symptomen, welche hier
nur durch entgegengesetzte, in der Kraft
der Arzneisubstanz liegende Symptomen
(palliativ) bestritten werden, gewöhnlich
nicht eher vergehen, als nach gänzlich
vollendeter Wirkungsdauer des Medika-
ments.
Anm. 1. Eine andre, sehr häufige Methode,
Arzneien in der niedern Praxis anzuwen-
den, welche den Wahn von der Nöthigkeit
großer Arzneigaben hervorgebracht und
unterhalten hat, ist die, durch heftige
Arzneien einen (weder analogen, noch op-
ponirten, sondern) andersartigen Reitz im
Organismus anzubringen, um, so zu sagen,
die Krankheit durch die Stärke des Arz-
neisturms zu überwältigen. Während nun
so die andersartig reitzenden Mittel den
Organism, oder vorzüglich den einen Theil
desselben in einer stärkern, andersartigen
Krankheitsstimmung erhalten, schweigt in-
deß die ursprüngliche Krankheit, kömmt
aber sogleich wieder, wenn der Kranke
solche Arzneien zu nehmen aufhört. Die
meisten sogenannten Revulsionen gehören
in diese Kategorie.
So wenn der gemeine Praktiker z. B. die
Krätze mit Purgirmitteln zu bestürmen
anfängt, fängt auch die Krätze an, von der
Haut zu verschwinden, verläßt, wenn mit
den Purganzen gestiegen wird, die Haut
fast ganz, und bleibt so lange fast ganz weg,
als der Darmkanal durch die Purgirmittel
recht krank und kränker erhalten wird,
als die Krätze die Haut zu machen pflegte.
Muß aber der Praktiker endlich dennoch
mit den Purganzen nachlassen, so kömmt
der Ausschlag in voller Mase wieder auf
die Haut — weil von einem andersartigen
Krankheitsreitze keine Krankheit geheilt,
sondern nur (fast wie bei Palliativen; nur
nicht so schnell und mit noch angreifende-
rer Heftigkeit) suspendirt und die Zeit über
als die Uebermacht des künstlichen unpas-
senden Reitzes anhält, nur zum Schwei-
gen gebracht wird (§. 22. 24. 26. 27.).
So wirken die Haarseile, die Fontanelle
die Exutorien, u. s. w.
Anm. 2. Neben der homöopathischen Heilart
wird der rationelle Arzt höchst selten Ur-
sache finden, jene revolutionirende Metho-
de, Ausleerungsmittel von oben oder unten,
anzuwenden, außer wenn ganz unverdau-
liche oder fremdartige, sehr schädliche
Substanzen in den Magen oder in die Ge-
därme gerathen sind.
Außerdem findet zuweilen die Anwen-
dung einiger undynamischen Mittel statt.
salze, Seife und Schwefel, welche die
ätzenden Säuren und Metallsalze in oder
an dem menschlichen Körper chemisch zu
zersetzen, zu neutralisiren und unschädli-
cher zu machen im Stande sind und Säuren
und Laugensalze, welche die verschieden-
artigen Harnsteine in der Blase aufzulösen
vermögen — so das physisch zerstörende
glühende Eisen, die chemisch wegätzenden
Dinge mancher Art, u. s. w. — des blos
minorativen, selten rationell anzuwenden-
den Blutlassens, der Blutigel, u. s. w. hier
nicht zu erwähnen.