III.
Die Stadt Lukka.
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Lachen muß ich immer uͤber die Englaͤnder, die dieſen
ihren zweiten Dichter (denn nach Shakeſpear gebuͤhrt Byron
die Palme) ſo jaͤmmerlich ſpießbuͤrgerlich beurtheilen, weil
er ihre Pedanterie verſpottete, ſich ihren Kraͤhwinkelſitten
nicht fuͤgen, ihren kalten Glauben nicht theilen wollte, ihre
Nuͤchternheit ihm ekelhaft war, und er ſich uͤber ihren Hoch¬
muth und ihre Heucheley beklagte. Viele machen ſchon ein
Kreuz, wenn ſie nur von ihm ſprechen, und ſelbſt die
Frauen, obgleich ihre Wangen von Enthuſiasmus gluͤhen,
wenn ſie ihn leſen, nehmen oͤffentlich heftig Partey gegen
den heimlichen Liebling —
Briefe eines Verſtorbenen. Ein fragmentariſches
Tagebuch aus England. Muͤnchen 1830.
Capitel I.
Die umgebende Natur wirkt auf den Menſchen —
warum nicht auch der Menſch auf die Natur, die
ihn umgiebt? In Italien iſt ſie leidenſchaftlich
wie das Volk, das dort lebt; bei uns in Deutſch¬
land iſt ſie ernſter, ſinniger und geduldiger. Hatte
einſt wie die Menſchen auch die Natur mehr in¬
neres Leben? Die Gemuͤthskraft eines Orpheus,
ſagt man, konnte Baͤume und Steine nach begei¬
ſterten Rythmen bewegen. Koͤnnte noch jetzt der¬
gleichen geſchehen? Menſchen und Natur ſind
pflegmatiſch geworden und gaͤhnen ſich einander an.
Ein koͤnigl. Preuß. Poet wird nimmermehr, mit
1 *
den Klaͤngen ſeiner Leyer, den Templower Berg
oder die Berliner Linden zum Tanzen bringen
koͤnnen.
Auch die Natur hat ihre Geſchichte und das
iſt eine andere Naturgeſchichte als wie die, welche
in Schulen gelehrt wird. Irgend eine von jenen
grauen Eydechſen, die ſchon ſeit Jahrtauſenden in
den Felſenſpalten des Apennins leben, ſollte man
als ganz außerordentliche Profeſſorinn bey einer
unſerer Univerſitaͤten anſtellen, und man wuͤrde
ganz außerordentliche Dinge zu hoͤren bekommen.
Aber der Stolz einiger Herren von der juriſtiſchen
Fakultaͤt wuͤrde ſich gegen eine ſolche Anſtellung
auflehnen. Hegt doch einer von ihnen ſchon jetzt
eine geheime Eiferſucht gegen den armen Fido Sa¬
vant, fuͤrchtend daß dieſer ihn einſt im gelehrten
Apportiren erſetzen koͤnnte.
Die Eydechſen mit ihren klugen Schwaͤnzchen
und ſpitzfuͤndigen Aeuglein, haben mir wunderbare
Dinge erzaͤhlt, wenn ich einſam zwiſchen den Fel¬
ſen der Apenninen umherkletterte. Wahrlich, es
giebt Dinge zwiſchen Himmel und Erde, die nicht
bloß unſere Philoſophen, ſondern ſogar die gewoͤhn¬
lichſten Dummkoͤpfe nicht begreifen.
Die Eydechſen haben mir erzaͤhlt, es gehe
eine Sage unter den Steinen, daß Gott einſt
Stein werden wolle, um ſie aus ihrer Starrheit
zu erloͤſen. Eine alte Eydechſe meinte aber, dieſe
Steinwerdung wuͤrde nur dann ſtatt finden, wenn
Gott bereits in alle Thier- und Pflanzenarten ſich
verwandelt und ſie erloͤſt habe.
Nur wenige Steine haben Gefuͤhl, und nur
im Mondſchein athmen ſie. Aber dieſe wenige
Steine, die ihren Zuſtand fuͤhlen, ſind ſchrecklich
elend. Die Baͤume ſind viel beſſer daran, ſie
koͤnnen weinen. Die Thiere aber ſind am meiſten
beguͤnſtigt, denn ſie koͤnnen ſprechen, jedes nach
ſeiner Art und die Menſchen am beſten. Einſt,
wenn die ganze Welt erloͤſt iſt, werden alle ande¬
ren Erſchaffniſſe ebenfalls ſprechen koͤnnen, wie in
jenen uralten Zeiten, wovon die Dichter ſingen.
Die Eydechſen ſind ein ironiſches Geſchlecht,
und bethoͤren gern die anderen Thiere. Aber ſie
waren gegen mich ſo demuͤthig, ſie ſeufzten ſo
ehrlich, ſie erzaͤhlten mir Geſchichten von Atlantis,
die ich naͤchſtens aufſchreiben will, zu Nutz und
Frommen der Welt. Es ward mir ſo innig zu
Muthe bey den kleinen Weſen, die gleichſam die
geheimen Annalen der Natur aufbewahren. Sind
es etwa verzauberte Prieſterfamilien, gleich denen
des alten Egyptens, die ebenfalls naturbelauſchend
in labyrinthiſchen Felſengrotten wohnten? Auf
ihren Koͤpfchen, Leibchen und Schwaͤnzchen bluͤhen
ſo wunderbare Zeichenbilder, wie auf egyptiſchen
Hieroglyphenmuͤtzen und Hierophantenroͤcken.
Meine kleinen Freunde haben mich auch eine
Zeichenſprache gelehrt, vermittelſt welcher ich mit
der ſtummen Natur zu ſprechen vermag. Dieſes
erleichtert mir oft die Seele, beſonders gegen Abend,
wenn die Berge in ſchaurig ſuͤßen Schatten gehuͤllt
ſtehen, und die Waſſerfaͤlle rauſchen, und alle
Pflanzen duften, und haſtige Blitze hin und her
zucken. —
O Natur! du ſtumme Jungfrau! wohl ver¬
ſtehe ich dein Wetterleuchten, den vergeblichen Re¬
deverſuch, der uͤber dein ſchoͤnes Antlitz dahinzuckt,
und du dauerſt mich foſo tief, daß ich weine. Aber
alsdann verſtehſt du auch mich, und du heiterſt
dich auf, und lachſt mich an aus goldnen Augen.
Schoͤne Jungfrau, ich verſtehe deine Sterne und
du verſtehſt meine Thraͤnen!
Capitel II.
Nichts in der Welt will ruͤckwaͤrts gehen, ſagte
mir ein alter Eydechs, Alles ſtrebt vorwaͤrts, und
am Ende wird ein großes Naturavanzement ſtatt¬
finden. Die Steine werden Pflanzen, die Pflan¬
zen werden Thiere, die Thiere werden Menſchen
und die Menſchen werden Goͤtter werden.
Aber, rief ich, was ſoll denn aus dieſen guten
Leuten aus den armen alten Goͤttern werden?
Das wird ſich finden, lieber Freund, antwor¬
tete jener; wahrſcheinlich danken ſie ab, oder wer¬
den auf irgend eine ehrende Art in den Ruheſtand
verſetzt.
Ich habe von meinem hieroglyphenhaͤutigen
Naturphiloſophen noch manches andre Geheimniß
erfahren; aber ich gab mein Ehrenwort, nichts zu
enthuͤllen. Ich weiß jetzt mehr als Schelling und
Hegel.
Was halten Sie von dieſen beiden? frug mich
der alte Eydechs mit einem hoͤhniſchen Laͤcheln,
als ich mal dieſe Namen gegen ihn erwaͤhnte.
Wenn man bedenkt, antwortete ich, daß ſie bloß
Menſchen und keine Eydechſen ſind, ſo muß man
uͤber das Wiſſen dieſer Leute ſehr erſtaunen. Im
Grunde lehren ſie eine und dieſelbe Lehre, die
Ihnen wohlbekannte Identitaͤtsphiloſophie, nur in
der Darſtellungsart unterſcheiden ſie ſich. Wenn
Hegel die Grundſaͤtze ſeiner Philoſophie aufſtellt,
ſo glaubt man jene huͤbſchen Figuren zu ſehen,
die ein geſchickter Schulmeiſter, durch eine kuͤnſt¬
liche Zuſammenſtellung von allerley Zahlen, zu
bilden weiß, dergeſtalt, daß ein gewoͤhnlicher Be¬
ſchauer nur das Oberflaͤchliche, nur das Haͤuschen
oder Schiffchen oder abſolute Soldaͤtchen ſieht, das
aus jenen Zahlen formirt iſt, waͤhrend ein den¬
kender Schulknabe in der Figur ſelbſt vielmehr die
Aufloͤſung eines tiefen Rechenexempels erkennen
kann. Die Darſtellungen Schellings gleichen mehr
jenen indiſchen Thierbildern, die aus allerley ande¬
ren Thieren, Schlangen, Voͤgeln, Elephanten und
dergleichen lebendigen Ingredienzen, durch aben¬
theuerliche Verſchlingungen, zuſammengeſetzt ſind.
Dieſe Darſtellungsart iſt viel anmuthiger, heiterer,
pulſirend waͤrmer, alles darinn lebt, ſtatt daß die
abſtrakt hegelſchen Chiffern uns ſo grau, ſo kalt
und todt anſtarren.
Gut, gut, erwiederte der alte Eydechſerich,
ich merke ſchon was Sie meinen; aber ſagen
Sie mir, haben dieſe Philoſophen viele Zuhoͤrer?
Ich ſchilderte ihm nun, wie in der gelehrten
Caravanſerai zu Berlin die Kameele ſich ſammeln
um den Brunnen hegelſcher Weißheit, davor nie¬
derknien, ſich die koſtbaren Schlaͤuche aufladen
laſſen, und damit weiter ziehen durch die Maͤrkſche
Sandwuͤſte. Ich ſchilderte ihm ferner, wie die
neuen Athener um den Springquell des ſchelling¬
ſchen Geiſtestranks ſich draͤngen, als waͤr es das
beſte Bier, Breyhahn des Lebens, Geſoͤffe der
Unſterblichkeit. —
Den kleinen Naturphiloſophen uͤberlief der gelbe
Neid, als er hoͤrte, daß ſeine Collegen ſich ſo
großen Zuſpruchs erfreuen, und aͤrgerlich frug er:
welchen von beiden halten Sie fuͤr den groͤßten?
Das kann ich nicht entſcheiden, gab ich zur Ant¬
wort, eben ſo wenig wie ich entſcheiden koͤnnte,
ob die Schechner groͤßer ſey als die Sonntag, und
ich denke —
Denke! rief der Eydechs mit einem ſchar¬
fen, vornehmen Tone der tiefſten Geringſchaͤtzung,
denken! wer von Euch denkt? Mein weiſer
Herr, ſchon an die dreytauſend Jahre mache ich
Unterſuchungen uͤber die geiſtigen Funkzionen der
Thiere, ich habe beſonders Menſchen, Affen und
Schlangen zum Gegenſtand meines Studiums ge¬
macht, ich habe ſo viel Fleiß auf dieſe ſeltſamen
Geſchoͤpfe verwendet, wie Lyonnet auf ſeine Wei¬
denraupen, und als Reſultat aller meiner Beob¬
achtungen, Experimente und anatomiſchen Verglei¬
chungen, kann ich Ihnen beſtimmt verſichern: kein
Menſch denkt, es faͤllt nur dann und wann den
Menſchen etwas ein, ſolche ganz unverſchuldete
Einfaͤlle nennen ſie Gedanken, und das Aneinan¬
derreihen derſelben nennen ſie Denken. Aber in
meinem Namen koͤnnen Sie es wiederſagen: kein
Menſch denkt, kein Philoſoph denkt, weder Schel¬
ling noch Hegel denkt, und was gar ihre Philo¬
ſophie betrifft, ſo iſt ſie eitel Luft und Waſſer,
wie die Wolken des Himmels; ich habe ſchon un¬
zaͤhlige ſolcher Wolken, ſtolz und ſicher, uͤber mich
hin ziehen ſehen, und die naͤchſte Morgenſonne
hat ſie aufgeloͤſt in ihr urſpruͤngliches Nichts; —
es giebt nur eine einzige wahre Philoſophie, und
dieſe ſteht, in ewigen Hieroglyphen, auf meinem
eigenen Schwanze.
Bei dieſen Worten, die mit einem dedaignan¬
ten Pathos geſprochen wurden, drehte mir der
alte Eydechs den Ruͤcken, und indem er langſam
fortſchwaͤnzelte, ſah ich darauf die wunderlichſten
Charaktere, die ſich in bunter Bedeutſamkeit bis
uͤber den ganzen Schwanz hinabzogen.
Capitel III.
Auf dem Wege zwiſchen den Baͤdern von
Lukka und der Stadt dieſes Namens, unweit von
dem großen Kaſtanienbaume, deſſen wildgruͤne
Zweige den Bach uͤberſchatten, und in Gegenwart
eines alten, weißbaͤrtigen Ziegenbocks, der dort
einſiedleriſch weidete, wurde das Geſpraͤch gefuͤhrt,
das ich im vorigen Capitel mitgetheilt habe. Ich
ging nach der Stadt Lukka, um Franſcheska und
Mathilde zu ſuchen, die ich unſerer Verabredung
gemaͤß, ſchon vor acht Tagen dort treffen ſollte.
Ich war aber, zur beſtimmten Zeit, vergebens hin¬
gereiſt, und ich hatte mich jetzt zum zweitenmahle
auf den Weg gemacht. Ich ging zu Fuße, laͤngs
den ſchoͤnen Bergen und Baumgruppen, wo die
goldnen Orangen, wie Sterne des Tages, aus dem
dunklen Gruͤn hervorleuchteten, und Guirlanden
von Weinreben, in feſtlichen Windungen, ſich mei¬
lenweit hinzogen. Das ganze Land iſt dort ſo
gartenhaft und geſchmuͤckt, wie bei uns die laͤnd¬
lichen Scenen, die auf dem Theater dargeſtellt
werden; auch die Landleute ſelbſt gleichen jenen
bunten Geſtalten, die uns dann als ſingende,
laͤchelnde und tanzende Staffage ergoͤtzen. Nir¬
gends Philiſtergeſichter. Und gibt es hier auch
Philiſter, ſo ſind es doch italieniſche Orangenphi¬
liſter und keine plump deutſchen Kartoffelphiliſter.
Pitoresk und idealiſch wie das Land ſind auch die
Leute, und dabey traͤgt jeder Mann einen ſo indi¬
viduellen Ausdruck im Geſicht, und weiß in Stel¬
lung, Faltenwurf des Mantels, und noͤthigenfalls
in Handhabung des Meſſers, ſeine Perſoͤnlichkeit
geltend zu machen. Dagegen bey uns zu Lande
lauter Menſchen mit allgemeinen, gleichfoͤrmlichen
Phiſionomien; wenn ihrer zwoͤlf beyſammen ſind
bilden ſie ein Dutzend, und wenn einer ſie dann
angreift rufen ſie die Polizey.
Auffallend war mir, im Lukkeſiſchen, wie im
groͤßten Theile Toskanas, tragen die Frauenzimmer
große ſchwarze Filzhuͤte mit herabwallend ſchwarzen
Straußfedern; ſogar die Strohflechterinnen tragen
dergleichen ſchwere Hauptbedeckung. Die Maͤnner
hingegen tragen meiſtens einen leichten Strohhut,
und junge Burſchen erhalten ſolchen zum Geſchenk
von einem Maͤdchen, das ihn ſelbſt verfertigt,
ihre Liebesgedanken und vielleicht auch manchen
Seufzer hineingeflochten. So ſaß einſt Fran¬
ſcheska unter den Maͤdchen und Blumen des Ar¬
nothals, und flocht einen Hut, fuͤr ihren caro
Cecco, und kuͤßte jeden Strohhalm, den ſie dazu
nahm, und trillerte ihr huͤbſches Occhie, Stelle
mortale; — das lockigte Haupt, das den huͤb¬
ſchen Hut nachher ſo huͤbſch trug, hat jetzt eine
Tonſur, und der Hut ſelbſt haͤngt, alt und ab¬
genutzt, im Winkel eines truͤben Abbateſtuͤbchens
zu Bologna.
Ich gehoͤre zu den Leuten, die immer gern
einen kuͤrzeren Weg nehmen, als die Landſtraße
bietet, und denen es alsdann wohl begegnet, daß
ſie ſich auf engen Holz- und Felſenpfaden verirren.
Das geſchah auch hier, und ich habe, zu meiner
Reiſe nach Lukka, gewiß doppelt ſo viel Zeit ge¬
braucht als gewoͤhnliche Landſtraßmenſchen. Ein
Sperling, den ich um den Weg frug, zwitſcherte
und zwitſcherte, und konnte mir doch keinen rechten
Beſcheid geben. Vielleicht auch wußte er ihn ſelbſt
nicht. Den Schmetterlingen und Libellen, die auf
großen Glockenblumen ſaßen, konnte ich kein Wort
abgewinnen; ſie waren ſchon davon geflattert, ehe
ſie noch meine Fragen vernommen, und die Blu¬
men ſchuͤttelten ihre tonloſen Glockenhaͤupter. Manch¬
mal weckten mich die wilden Myrten, die, mit fei¬
nen Stimmchen, aus der Ferne kicherten. Haſtig
erklomm ich dann die hoͤchſten Felſenſpitzen, und
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rief: Ihr Wolken des Himmels! Segler der
Luͤfte! ſagt mir, wo geht der Weg nach Fran¬
ſcheska? Iſt ſie in Lukka? Sagt mir was thut
ſie? was tanzt ſie? Sagt mir alles, und wenn
Ihr mir alles geſagt habt, ſo ſagt es mir noch¬
mals!
Bey ſolcher Ueberfuͤlle von Thorheit konnte es
wohl geſchehen, daß ein ernſter Adler, den mein
Ruf aus ſeinen einſamen Traͤumen aufgeſtoͤrt, mich
mit geringſchaͤtzendem Unmuthe anſah. Aber ich
verzieh's ihm gerne; denn er hatte niemals Fran¬
ſcheska geſehen, und daher konnte er noch immer
ſo erhabenmuͤthig auf ſeinem feſten Felſen ſitzen,
und ſo ſeelenfrey zum Himmel emporſtarren, oder
ſo impertinent ruhig auf mich herabglotzen. So
ein Adler hat einen unertraͤglich ſtolzen Blick, und
ſieht einen an, als wollte er ſagen: Was biſt
du fuͤr ein Vogel? Weißt du wohl, daß ich noch
immer ein Koͤnig bin, eben ſo gut wie in jenen
Heldenzeiten, als ich Jupiters Blitze trug und
Napoleons Fahnen ſchmuͤckte? Biſt du etwa ein
gelehrter Papagoy, der die alten Lieder auswendig
gelernt hat und pedantiſch nachplappert? Oder
eine vermuͤffte Turteltaube, die ſchoͤn fuͤhlt und
miſerabel gurrt? Oder eine Almanachsnachtigall?
Oder ein abgeſtandener Gaͤnſerich, deſſen Vorfah¬
ren das Capitol gerettet? Oder gar ein ſerviler
Haushahn, dem man, aus Ironie, das Emblem
des kuͤhnen Fliegens, naͤmlich mein Miniaturbild,
um den Hals gehaͤngt hat, und der ſich deßhalb
ſo maͤchtig ſpreitzt, als waͤre er nun ſelbſt ein Ad¬
ler? Du weißt, lieber Leſer, wie wenig Urſache
ich habe, mich beleidigt zu fuͤhlen, wenn ein Adler
dergleichen von mir dachte. Ich glaube, der Blick,
den ich ihm zuruͤckwarf, war noch ſtolzer als der
ſeinige, und wenn er ſich bey dem erſten beſten
Lorbeerbaume erkundigt hat, ſo weiß er jetzt, wer
ich bin.
Ich war wirklich im Gebirge verirrt, als ſchon
die Daͤmmerung hereinbrach, und die bunten
2 *
Waldlieder allmaͤlig verſtummten und die Baͤume
immer ernſthafter rauſchten. Eine erhabene Heim¬
lichkeit und innige Feyer zog, wie der Odem Got¬
tes, durch die verklaͤrte Stille. Hie und da, aus
dem Boden, blickte ein ſchoͤnes dunkles Auge zu
mir herauf, und verſchwand im ſelben Augenblick.
Zaͤrtliches Fluͤſtern taͤndelte mir ums Herz, und
unſichtbare Kuͤſſe beruͤhrten luftig meine Wangen.
Das Abendroth umhuͤllte die Berge wie mit Pur¬
purmaͤnteln, und die letzten Sonnenſtralen beleuch¬
teten ihre Gipfel, daß es ausſah, als waͤren ſie
Koͤnige mit goldenen Kronen auf den Haͤuptern.
Ich aber ſtand, wie ein Kaiſer der Welt, in der
Mitte dieſer gekroͤnten Vaſallen, die ſchweigend
mir huldigten.
Capitel IV.
Ich weiß nicht, ob der Moͤnch, der mir unfern
Lukka begegnete, ein frommer Mann iſt. Aber ich
weiß, ſein alter Leib ſteckt arm und nackt in einer
groben Kutte, jahraus jahrein; die zerriſſenen San¬
dalen koͤnnen ſeine bloßen Fuͤße nicht genug ſchuͤ¬
tzen, wenn er, durch Dorn und Geſtrippe, die
Felſen hinauf klimmt, um droben, in den Berg¬
doͤrfern, Kranke zu troͤſten oder Kinder beten zu
lehren; — und er iſt zufrieden, wenn man ihm
dafuͤr ein Stuͤckchen Brod in den Sack ſteckt, und
ihm ein Bischen Stroh gibt, um darauf zu ſchlafen.
„Gegen den Mann will ich nicht ſchreiben,“
ſprach ich zu mir ſelbſt. „Wenn ich wieder zu
Hauſe in Deutſchland, auf meinem Lehnſeſſel, am
kniſternden Oefchen, bei einer behaglichen Taſſe
Thee, wohlgenaͤhrt und warm ſitze, und gegen
die katholiſchen Pfaffen ſchreibe — gegen den
Mann will ich nicht ſchreiben.“ —
Um gegen die katholiſchen Pfaffen zu ſchrei¬
ben, muß man auch ihre Geſichter kennen. Die
Originalgeſichter ſieht man aber nur in Italien.
Die deutſchen katholiſchen Prieſter und Moͤnche
ſind bloß ſchlechte Nachahmungen, oft ſogar Paro¬
dien der italieniſchen; eine Vergleichung derſelben
wuͤrde eben ſo ausfallen, als wenn man roͤmiſche
oder florentiniſche Heiligenbilder vergleichen wollte
mit jenen heuſchrecklichen, frommen Fratzen, die
etwa dem ſpießbuͤrgerlichen Pinſel eines nuͤrrenber¬
ger Stadtmalers, oder gar der lieben Einfalt eines
Gemuͤthsbefliſſenen aus der langhaarig kriſtlich
neudeutſchen Schule, ihr trauriges Daſeyn ver¬
danken.
Die Pfaffen in Italien haben ſich ſchon laͤngſt
mit der oͤffentlichen Meinung abgefunden, das Volk
dort iſt laͤngſt daran gewoͤhnt, die geiſtliche Wuͤrde
von der unwuͤrdigen Perſon zu unterſcheiden, jene
zu ehren, wenn auch dieſe veraͤchtlich iſt. Eben
der Contraſt, den die idealen Pflichten und An¬
ſpruͤche des geiſtlichen Standes und die unabweis¬
lichen Beduͤrfniſſe der ſinnlichen Natur bilden muͤſ¬
ſen, jener uralte, ewige Conflikt zwiſchen dem
Geiſte und der Materie, macht die italieniſchen
Pfaffen zu ſtehenden Charakteren des Volks-Hu¬
mors, in Satyren, Liedern und Novellen. Aehn¬
liche Erſcheinungen zeigen ſich uns uͤberall, wo ein
aͤhnlicher Prieſterſtand vorhanden iſt, z. B. in
Hindoſtan. In den Komoͤdien dieſes urfrommen
Landes, wie wir ſchon in der Sakontala bemerkt
und in der neulich uͤberſetzten Vaſantaſena beſtaͤ¬
tigt finden, ſpielt immer ein Bramine die komiſche
Rolle, ſo zu ſagen den Prieſtergrazioſo, ohne daß
dadurch die Ehrfurcht, die man ſeinen Opferver¬
richtungen und ſeiner privilegirten Heiligkeit ſchul¬
dig iſt, im mindeſten beeintraͤchtigt wird, — eben
ſo wenig wie ein Italiener mit minderer Andacht
bey einem Prieſter Meſſe hoͤrt oder beichtet, den
er noch Tags zuvor betrunken im Straßenkothe
gefunden hat. In Deutſchland iſt das anders,
der katholiſche Prieſter will da nicht bloß ſeine
Wuͤrde durch ſein Amt, ſondern auch ſein Amt
durch ſeine Perſon repraͤſentiren; und weil er es
vielleicht Anfangs mit ſeinem Berufe wirklich ganz
ernſthaft gemeint hat, und er nachher, wenn ſeine
Keuſchheits und Demuthsgeluͤbde etwas mit dem
alten Adam kollidiren, ſie dennoch nicht oͤffentlich
verletzen will, beſonders auch weil er unſerem
Freunde Krug in Leipzig keine Bloͤße geben will,
ſo ſucht er wenigſtens den Schein eines heiligen
Wandels zu bewahren. Daher Scheinheiligkeit,
Heucheley und gleißendes Froͤmmeln bey deutſchen
Pfaffen; bey den italieniſchen hingegen viel mehr
Durchſichtigkeit der Maske, und eine gewiſſe feiſte
Ironie und behagliche Weltverdauung.
Doch was helfen ſolche allgemeine Reflexionen!
Sie koͤnnen dir wenig nutzen, lieber Leſer, wenn
du etwa Luſt haͤtteſt gegen das katholiſche Pfaffen¬
thum zu ſchreiben. Zu dieſem Zwecke muß man,
wie geſagt, mit eignen Augen die Geſichter ſehen,
die dazu gehoͤren. Wahrlich, es iſt nicht einmal
hinreichend, wenn man ſie im koͤniglichen Opern¬
hauſe zu Berlin geſehen hat. Der vorige Gene¬
ralintendant that zwar immer das Seinige, um
den Kroͤnungszug in der Jungfrau von Orleans
ſo taͤuſchend treu als moͤglich darzuſtellen, ſeinen
Landsleuten die Idee einer Prozeſſion zu veran¬
ſchaulichen und ihnen Pfaffen von allen Couleuren
vor Augen zu bringen. Doch das getreueſte Co¬
ſtume kann nicht die Originalgeſichter erſetzen, und
vertroͤdelte man ſogar noch extra 100,000 Thaler
fuͤr goldne Biſchofsmuͤtzen, feſtonnirte Chorhemden,
buntgeſtickte Meßgewaͤnder, und aͤhnlichen Kram —
ſo wuͤrden doch die proteſtantiſch vernuͤnftigen Na¬
ſen, die unter jenen Biſchofsmuͤtzen hervorproteſti¬
ren, die duͤnnen denkglaͤubigen Beine, die aus
2 **
den weißen Spitzen dieſer Chorhemden herausgucken,
die aufgeklaͤrten Baͤuche, denen jene Meßgewaͤnder
viel zu weit, Alles wuͤrde unſer Einen daran er¬
innern, daß keine katholiſche Geiſtliche, ſondern
berliner Weltliche uͤber die Buͤhne wandeln.
Ich habe oft daruͤber nachgedacht, ob der Ge¬
neralintendant jenen Zug nicht viel beſſer darſtellen
und uns das Bild einer Prozeſſion viel treuer vor
Augen bringen koͤnnte, wenn er die Rollen der
katholiſchen Pfaffen nicht mehr von den gewoͤhn¬
lichen Statiſten, ſondern von jenen proteſtantiſchen
Geiſtlichen ſpielen ließe, die in der theologiſchen
Fakultaͤt, in der Kirchenzeitung und auf den Kan¬
zeln am orthodoxeſten gegen Vernunft, Weltluſt,
Geſenius und Teufelthum zu predigen wiſſen. Es
wuͤrden dann Geſichter zum Vorſchein kommen,
deren pfaͤffiſches Gepraͤge gewiß jenen Rollen viel
taͤuſchender entſpraͤche. Iſt es doch eine bekannte
Bemerkung, daß die Pfaffen in der ganzen Welt,
Rabinen, Muftis, Dominikaner, Conſiſtorialraͤthe,
Popen, Bonzen, kurz das ganze diplomatiſche
Corps Gottes, im Geſichte eine gewiſſe Familien¬
aͤhnlichkeit haben, wie man ſie immer findet bey
Leuten, die ein und daſſelbe Gewerbe treiben.
Schneider, in der ganzen Welt, zeichnen ſich aus
durch Zartheit der Glieder, Metzger und Soldaten
tragen wieder uͤberall denſelben farouſchen Anſtrich,
Juden haben ihre eigenthuͤmlich ehrliche Miene,
nicht weil ſie von Abraham, Iſaak und Jakob
abſtammen, ſondern weil ſie Kaufleute ſind, und
der Frankfurter chriſtliche Kaufmann ſieht dem
frankfurter juͤdiſchen Kaufmanne eben ſo aͤhnlich,
wie ein faules Ey dem andern. Die geiſtlichen
Kaufleute, ſolche die von Religionsgeſchaͤften ihren
Unterhalt gewinnen, erlangen daher auch im Ge¬
ſichte eine Aehnlichkeit. Freylich, einige Nuͤanzen
entſtehen durch die Art und Weiſe wie ſie ihr Ge¬
ſchaͤft treiben. Der katholiſche Pfaffe treibt es
mehr wie ein Commis, der in einer großen Hand¬
lung angeſtellt iſt; die Kirche, das große Haus,
deſſen Chef der Pabſt iſt, giebt ihm beſtimmte
Beſchaͤftigung und dafuͤr ein beſtimmtes Salair;
er arbeitet laͤſſig, wie jeder, der nicht fuͤr eigne
Rechnung arbeitet und viele Collegen hat, und
im großen Geſchaͤftstreiben leicht unbemerkt bleibt
— nur der Credit des Hauſes liegt ihm am Her¬
zen, und noch mehr deſſen Erhaltung, da er bey
einem etwaigen Bankerotte ſeinen Lebensunterhalt
verloͤre. Der proteſtantiſche Pfaffe hingegen iſt
uͤberall ſelbſt Prinzipal, und er treibt die Reli¬
gionsgeſchaͤfte fuͤr eigene Rechnung. Er treibt
keinen Großhandel wie ſein katholiſcher Gewerbe¬
genoſſe, ſondern nur einen Kleinhandel; und da
er demſelben allein vorſtehen muß, darf er nicht
laͤſſig ſeyn, er muß ſeine Glaubensartikel den Leu¬
ten anruͤhmen, die Artikel ſeiner Conkurrenten
herabſetzen, und als aͤchter Kleinhaͤndler ſteht er
in ſeiner Ausſchnittbude, voll von Gewerbsneid
gegen alle großen Haͤuſer, abſonderlich gegen das
große Haus in Rom, das viele tauſend Buchhalter
und Packknechte beſoldet und ſeine Faktoreyen hat
in allen vier Welttheilen.
Solches hat nun freylich auch ſeine phyſionomi¬
ſche Wirkungen, aber dieſe ſind doch nicht vom Par¬
terre aus bemerkbar, die Familienaͤhnlichkeit in den
Geſichtern katholiſcher und proteſtantiſcher Pfaffen
bleibt doch in ihren Hauptzuͤgen unveraͤndert, und
wenn der Generalintendant die obenerwaͤhnten
Herren gut bezahlt, ſo werden ſie ihre Rolle,
wie immer, recht taͤuſchend ſpielen. Auch ihr
Gang wird zur Illuſion beytragen; obgleich ein
feines, geuͤbtes Auge wohl merkt, daß er ſich von
dem Gange katholiſcher Prieſter und Moͤnche eben¬
falls durch feine Nuͤanzen unterſcheidet.
Ein katholiſcher Pfaffe wandelt einher als
wenn ihm der Himmel gehoͤre; ein proteſtantiſcher
Pfaffe hingegen geht herum als wenn er den
Himmel gepachtet habe.
Capitel V.
Es war ſchon Nacht als ich die Stadt Lukka
erreichte.
Wie ganz anders erſchien ſie mir die Woche
vorher, als ich am Tage, durch die wiederhallend
oͤden Straßen wandelte, und mich in eine jener
verwunſchenen Staͤdte verſetzt glaubte, wovon mir
einſt die Amme ſo viel erzaͤhlt. Da war die
ganze Stadt ſtill wie das Grab, alles war ſo
verblichen und verſtorben, auf den Daͤchern ſpielte
der Sonnenglanz, wie Goldflitter auf dem Haupte
einer Leiche, hie und da aus den Fenſtern eines
altverfallenen Hauſes hingen Epheuranken, wie
vertrocknet gruͤne Thraͤnen, uͤberall glimmernder
Moder und aͤngſtlich ſtockender Tod, die Stadt
ſchien nur das Geſpenſt einer Stadt, ein ſteiner¬
ner Spuk am hellen Tage. Da ſuchte ich lange
vergebens die Spur eines lebendigen Weſens. Ich
erinnere mich nur, vor einem alten Pallazzo lag
ein ſchlafender Bettler mit ausgeſtreckt offner
Hand. Auch erinnere ich mich, oben am Fenſter
eines ſchwaͤrzlich morſchen Haͤuslein ſah ich einen
Moͤnch, der den rothen Hals mit dem feiſten
Glatzenhaupt recht lang aus der braunen Kutte
hervorreckte, und neben ihm kam ein vollbuſig
nacktes Weibsbild zum Vorſchein; unten, in die
halb offne Hausthuͤre ſah ich einen kleinen Jungen
hineingehen, der als ein ſchwarzer Abbate gekleidet
war, und mit beiden Haͤnden eine maͤchtig gro߬
baͤuchige Weinflaſche trug. — In demſelben Au¬
genblick laͤutete unfern ein feines ironiſches Gloͤck¬
lein, und in meinem Gedaͤchtniſſe kicherten die
Novellen des Boccaccio. Dieſe Klaͤnge konnten
aber keineswegs das ſeltſame Grauen, das meine
Seele durchſchauerte, ganz verſcheuchen. Es hielt
mich vielleicht um ſo gewaltiger befangen, da die
Sonne, ſo warm und hell, die unheimlichen Ge¬
baͤude beleuchtete; und ich merkte wohl, Geſpenſter
ſind noch furchtbarer, wenn ſie den ſchwarzen
Mantel der Nacht abwerfen, und ſich im hellen
Mittagslichte ſehen laſſen.
Als ich jetzt, acht Tage ſpaͤter, wieder nach
Lukka kam, wie erſtaunte ich uͤber den veraͤnderten
Anblick dieſer Stadt! Was iſt das? rief ich, als
die Lichter mein Auge blendeten und die Men¬
ſchenſtroͤme durch die Gaſſen ſich waͤlzten. Iſt
ein ganzes Volk als naͤchtliches Geſpenſt aus dem
Grabe geſtiegen, um im tollſten Mummenſchanz
das Leben nachzuaͤffen? Die hohen, truͤben Haͤuſer
ſind mit Lampen verziert, uͤberall aus den Fen¬
ſtern haͤngen bunte Teppiche, die morſchgrauen
Waͤnde faſt bedeckend, und daruͤber lehnen ſich
holde Maͤdchengeſichter, ſo friſch, ſo bluͤhend, daß
ich wohl merke, es iſt das Leben ſelbſt, das ſein
Vermaͤhlungsfeſt mit dem Tode feyert und Schoͤn¬
heit und Jugend dazu eingeladen hat. Ja, es
war ſo ein lebendes Todtenfeſt, ich weiß nicht wie
es im Kalender genannt wird, auf jeden Fall ſo
ein Schindungstag irgend eines geduldigen Mar¬
tyrers, denn ich ſah nachher einen heiligen Todten¬
ſchaͤdel und noch einige Extra-Knochen, mit Blu¬
men und Edelſteinen geziert, und unter hochzeitli¬
cher Muſik herumtragen. Es war eine ſchoͤne
Prozeſſion.
Voran gingen die Kapuziner, die ſich von den
anderen Moͤnchen durch lange Baͤrte auszeichneten,
und gleichſam die Sapeurs dieſer Glaubensarmee
bildeten. Darauf folgten Kapuziner ohne Baͤrte,
worunter viele maͤnnlich edle Geſichter, ſogar
manch jugendlich ſchoͤnes Geſicht, das die breite
Tonſur ſehr gut kleidete, weil der Kopf dadurch
wie mit einem zierlichen Haarkranz umflochten
ſchien, und ſammt dem bloßen Nacken recht
anmuthig aus der braunen Kutte hervortrat.
3
Hierauf folgten Kutten von anderen Farben,
ſchwarz, weiß, gelb, panaché, auch herabgeſchla¬
gene dreyeckige Huͤthe‚ kurz all jene Kloſterkoſtuͤme,
womit wir durch die Bemuͤhungen unſeres Gene¬
ralintendanten laͤngſt bekannt ſind. Nach den
Moͤnchsorden kamen die eigentlichen Prieſter, weiße
Hemde uͤber ſchwarze Hoſen, und farbige Kaͤpp¬
chen; hinter ihnen kamen noch vornehmere Geiſt¬
liche, in buntſeidne Decken gewickelt, und auf dem
Haupte eine Art hoher Muͤtzen, die wahrſcheinlich
aus Egypten ſtammen, und die man auch aus
dem Denonſchen Werke, aus der Zauberfloͤte und
aus dem Belzoni kennen lernt; es waren altge¬
diente Geſichter, und ſie ſchienen eine Art von
alter Garde zu bedeuten. Zuletzt kam der eigent¬
liche Stab, ein Thronhimmel und darunter ein
alter Mann mit einer noch hoͤheren Muͤtze, und
in einer noch reicheren Decke, deren Zipfel von
zwei eben ſo gekleideten alten Maͤnnern, nach Pa¬
genart, getragen wurden.
Die vorderen Moͤnche gingen mit gekreuzten
Armen, ernſthaft ſchweigend; aber die mit den
hohen Muͤtzen ſangen einen gar ungluͤcklichen Ge¬
ſang, ſo naͤſelnd, ſo ſchluͤrfend, ſo kollerend, daß
ich uͤberzeugt bin: waͤren die Juden die groͤßere
Volksmenge, und ihre Religion waͤre die Staats¬
religion, ſo wuͤrde man obiges Geſinge mit dem
Namen „Mauſcheln“ bezeichnen. Gluͤcklicherweiſe
konnte man es nur zur Haͤlfte vernehmen, indem
hinter der Prozeſſion, mit lautem Trommeln und
Pfeifen, mehrere Compagnien Militaͤr einherzogen,
ſo wie uͤberhaupt an beiden Seiten neben den
wallenden Geiſtlichen, auch immer je zwey und
zwey Grenadiere marſchierten. Es waren faſt mehr
Soldaten als Geiſtliche; aber zur Unterſtuͤtzung
der Religion gehoͤren heut zu Tage viel Bajo¬
nette, und wenn gar der Segen gegeben wird,
dann muͤſſen in der Ferne auch die Kanonen be¬
deutungsvoll donnern.
Wenn ich eine ſolche Prozeſſion ſehe, wo
3 *
unter ſtolzer Militaͤr-Eskorte, die Geiſtlichen ſo
gar truͤbſeelig und jammervoll einherwandeln, ſo
ergreift es mich immer ſchmerzhaft, und es iſt
mir als ſaͤhe ich unſeren Heiland ſelbſt, umringt
von Lanzentraͤgern, zur Richtſtaͤtte abfuͤhren. Die
Sterne zu Lukka dachten gewiß wie ich, und als
ich ſeufzend nach ihnen hinaufblickte, ſahen ſie
mich ſo uͤbereinſtimmend an mit ihren frommen
Augen, ſo hell, ſo klar. Aber man bedurfte nicht
ihres Lichtes, tauſend und abertauſend Lampen
und Kerzen und Maͤdchengeſichter flimmerten aus
allen Fenſtern, an den Straßenecken ſtanden lo¬
dernde Pechkraͤnze aufgepflanzt, und dann hatte
auch jeder Geiſtliche noch ſeinen beſonderen Ker¬
zentraͤger zur Seite. Die Kapuziner hatten mei¬
ſtens kleine Buben, die ihnen die Kerze trugen,
und die jugendlich friſchen Geſichtchen ſchauten
bisweilen recht neugierig vergnuͤgt hinauf nach den
alten, ernſten Baͤrten; ſo ein armer Kapuziner
kann keinen großen Kerzentraͤger beſolden, und
der Knabe, den er das Ave Maria lehrt, oder
deſſen Muhme ihm beichtet, muß bey Prozeſſionen
wohl gratis dieſes Amt uͤbernehmen, und es wird
darum gewiß nicht mit geringerer Liebe verrichtet.
Die folgenden Moͤnche hatten nicht viel groͤßere
Buben, einige vornehmere Orden hatten ſchon er¬
wachſene Rangen, und die hochmuͤthigen Prieſter
hatten wirkliche Buͤrgersleute zu Kerzentraͤgern.
Aber endlich gar der Herr Erzbiſchof — denn
das war wohl der Mann, der in vornehmer De¬
muth unter dem Thronhimmel ging und ſich die
Gewandzipfel von greiſen Pagen nachtragen ließ —
dieſer hatte an jeder Seite einen Lakeyen, die
beide in blauen Livreen mit gelben Treſſen prang¬
ten, und zeremonioͤs, als ſervirten ſie bey Hof,
die weißen Wachskerzen trugen.
Auf jeden Fall ſchien mir ſolche Kerzentraͤgerey
eine gute Einrichtung, denn ich konnte dadurch
um ſo heller die Geſichter beſehen, die zum Ka¬
tholizismus gehoͤren. Und ich habe ſie jetzt geſehen,
und zwar in der beſten Beleuchtung. Und was
ſah ich denn? Nun ja, der klerikale Stempel
fehlte nirgends. Aber dieſes abgerechnet, waren
die Geſichter unter einander eben ſo verſchieden,
wie andre Geſichter. Das eine war blaß, das
andre roth, dieſe Naſe erhob ſich ſtolz, jene war
niedergeſchlagen, hier ein funkelnd ſchwarzes dort
ein ſchimmernd graues Auge — aber in allen die¬
ſen Geſichtern lagen die Spuren derſelben Krank¬
heit, einer ſchrecklichen, unheilbaren Krankheit, die
wahrſcheinlich Urſache ſeyn wird, daß mein Enkel,
wenn er hundert Jahr ſpaͤter die Prozeſſion in
Lukka zu ſehen bekommt, kein einziges von jenen
Geſichtern wieder findet. Ich fuͤrchte, ich bin
ſelbſt angeſteckt von dieſer Krankheit, und eine
Folge derſelben iſt jene Weichheit, die mich wun¬
derbar beſchleicht, wenn ich ſo ein ſieches Moͤnchs¬
geſicht betrachte, und darauf die Symptome jener
Leiden ſehe, die ſich unter der groben Kutte ver¬
ſtecken: — gekraͤnkte Liebe, Podagra, getaͤuſchter
Ehrgeitz, Ruͤckendarre, Reue, Hamorrhoiden, die
Herzwunden die uns vom Undank der Freunde,
von der Verlaͤumdung der Feinde, und von der
eignen Suͤnde geſchlagen worden, alles dieſes und
noch viel mehr, was eben ſo leicht unter einer
groben Kutte wie unter einem feinen Modefrack
ſeinen Platz zu finden weiß. O! es iſt keine Ue¬
bertreibung, wenn der Poet in ſeinem Schmerze
ausruft: das Leben iſt eine Krankheit, die ganze
Welt ein Lazareth!
„Und der Tod iſt unſer Arzt —“ Ach! ich
will nichts boͤſes von ihm reden, und nicht Andre
in ihrem Vertrauen ſtoͤren; denn da er der einzige
Arzt iſt, ſo moͤgen ſie immerhin glauben er ſey
auch der beſte, und das einzige Mittel, das er
anwendet, ſeine ewige Erdkur, ſey auch das beſte.
Wenigſtens kann man von ihm ruͤhmen, daß er
immer gleich bey der Hand iſt, und trotz ſeiner
großen Praxis nie lange auf ſich warten laͤßt,
wenn man ihn verlangt. Manchmal folgt er ſeinen
Pazienten ſogar zur Prozeſſion, und traͤgt ihnen
die Kerze. Es war gewiß der Tod ſelbſt, den ich
an der Seite eines blaſſen, bekuͤmmerten Prieſters
gehen ſah; in duͤnnen zitternden Knochenhaͤnden
trug er dieſem die flimmernde Kerze, nickte dabey
gar gutmuͤthig beſaͤnftigend mit dem aͤngſtlich kah¬
len Koͤpfchen, und ſo ſchwach er ſelbſt auf den
Beinen war, ſo unterſtuͤtzte er doch noch zuweilen
den armen Prieſter, der bey jedem Schritte noch
bleicher wurde und umſinken wollte. Er ſchien
ihm Muth einzuſprechen: warte nur noch einige
Stuͤndchen, dann ſind wir zu Hauſe, und ich
loͤſche die Kerze aus, und ich lege dich aufs
Bett, und die kalten, muͤden Beine koͤnnen aus¬
ruhen, und du ſollſt ſo feſt ſchlafen, daß du das
wimmernde Sankt Michaelsgloͤckchen nicht hoͤren
wirſt.
„Gegen den Mann will ich auch nicht ſchrei¬
ben“ dacht ich, als ich den armen, bleichen Prie¬
ſter ſah, dem der leibhaftige Tod zu Bette leuchtete.
Ach! man ſollte eigentlich gegen niemanden
in dieſer Welt ſchreiben. Jeder iſt ſelbſt krank
genug in dieſem großen Lazareth, und manche
polemiſche Lektuͤre erinnert mich unwillkuͤrlich an
ein widerwaͤrtiges Gezaͤnk, in einem kleineren La¬
zareth zu Krakau, wobey ich mich als zufaͤlliger
Zuſchauer befand, und wo entſetzlich anzuhoͤren
war, wie die Kranken ſich einander ihre Gebrechen
ſpottend vorrechneten, wie ausgedoͤrrte Schwind¬
ſuͤchtige den aufgeſchwollenen Waſſerſuͤchtling ver¬
hoͤhnten, wie der Eine lachte uͤber den Naſenkrebs
des Andern, und dieſer wieder uͤber Maulſperre
und Augenverdrehung ſeiner Nachbaren, bis am
Ende die Fiebertollen nackt aus den Betten ſpran¬
gen, und den andern Kranken die Decken und
Laken von den wunden Leibern riſſen, und nichts
als ſcheußliches Elend und Verſtuͤmmlung zu ſehen
war.
Capitel VI.
Jener ſchenkte nunmehr auch der uͤbrigen Goͤtterver¬
ſammlung,
Rechtshin, lieblichen Nektar dem Miſchkrug emſig ent¬
ſchoͤpfend.
Doch unermeßliches Lachen erſcholl den ſeeligen Goͤttern,
Als ſie ſahn, wie Hefaͤſtos im Saal ſo gewandt um¬
herging.
Alſo den ganzen Tag bis ſpaͤt zur ſinkenden Sonne
Schmauſten ſie; und nicht mangelt ihr Herz des gemein¬
ſamen Mahles,
Nicht des Saitengetoͤns von der lieblichen Leyer Apollons,
Noch des Geſangs der Muſen mit holdantwortender
Stimme.
(Vulgata)
Da ploͤtzlich keuchte heran ein bleicher, blut¬
triefender Jude, mit einer Dornenkrone auf dem
Haupte, und mit einem großen Holzkreuz auf der
Schulter; und er warf das Kreuz auf den hohen
Goͤttertiſch, daß die goldnen Pokale zitterten, und
die Goͤtter verſtummten und erblichen, und immer
bleicher wurden, bis ſie endlich ganz in Nebel
zerrannen.
Nun gabs eine traurige Zeit, und die Welt
wurde grau und dunkel. Es gab keine gluͤcklichen
Goͤtter mehr, der Olymp wurde ein Lazareth wo
geſchundene, gebratene und geſpießte Goͤtter lang¬
weilig umherſchlichen, und ihre Wunden verban¬
den und triſte Lieder ſangen. Die Religion ge¬
waͤhrte keine Freude mehr, ſondern Troſt; es war
eine truͤbſelige, blutruͤnſtige DeliquentenreligionDelinquentenreligion.
War ſie vielleicht noͤthig fuͤr die erkrankte und
zertretene Menſchheit? Wer ſeinen Gott leiden
ſieht, traͤgt leichter die eignen Schmerzen. Die
vorigen heiteren Goͤtter, die ſelbſt keine Schmerzen
fuͤhlten, wußten auch nicht wie armen gequaͤlten
Menſchen zu Muthe iſt, und ein armer gequaͤlter
Menſch koͤnnte auch, in ſeiner Noth, kein rechtes
Herz zu ihnen faſſen. Es waren Feſttagsgoͤtter,
um die man luſtig herum tanzte, und denen man
nur danken konnte. Sie wurden deßhalb auch nie
ſo ganz von ganzem Herzen geliebt. Um ſo ganz
von ganzem Herzen geliebt zu werden — muß
man leidend ſeyn. Das Mitleid iſt die letzte
Weihe der Liebe, vielleicht die Liebe ſelbſt. Von
allen Goͤttern, die jemals gelebt haben, iſt daher
Chriſtus derjenige Gott, der am meiſten geliebt
worden. Beſonders von den Frauen — —
Dem Menſchengewuͤhl entfliehend, habe ich
mich in eine einſame Kirche verloren, und was
du, lieber Leſer, eben geleſen haſt, ſind nicht ſo
ſehr meine eignen Gedanken, als vielmehr einige
unwillkuͤhrliche Worte, die in mir laut geworden,
waͤhrend ich, dahingeſtreckt auf einer der alten
Betbaͤnke, die Toͤne einer Orgel durch meine
Bruſt ziehen ließ. Da liege ich, mit phantaſie¬
render Seele, der ſeltſamen Muſik noch ſeltſamere
Texte unterdichtend; dann und wann ſchweifen
meine Blicke durch die daͤmmernden Bogengaͤnge,
und ſuchen die dunkeln Klangfiguren, die zu jenen
Orgelmelodien gehoͤren. Wer iſt die Verſchleyerte,
die dort kniet vor dem Bilde einer Madonna?
Die Ampel, die davor haͤngt, beleuchtet grauen¬
haft ſuͤß die ſchoͤne Schmerzenmutter einer gekreu-
zigten Liebe, die Venus doloroſa; doch kuppleriſch
geheimnißvolle Lichter fallen zuweilen, wie verſtolen,
auf die ſchoͤnen Formen der verſchleyerten Bete¬
rin. Dieſe liegt zwar regungslos auf den ſteiner¬
nen Altarſtufen, doch in der wechſelnden Beleuch¬
tung bewegt ſich ihr Schatten, laͤuft manchmal
zu mir heran, zieht ſich wieder haſtig zuruͤck, wie
ein ſtummer Mohr, der aͤngſtliche Liebesbote in
einem Harem — und ich verſtehe ihn. Er ver¬
kuͤndet mir die Gegenwart ſeiner Herrinn, der
Sultaninn meines Herzens.
Es wird aber allmaͤhlig immer dunkler im lee¬
ren Hauſe, hie und da huſcht eine unbeſtimmte
Geſtalt den Pfeilern entlang, dann und wann
ſteigt leiſes Murmeln aus einer Seitenkapelle, und
ihre langen, langgezogenen Toͤne ſtoͤhnt die Orgel,
wie ein ſeufzendes Rieſenherz —
Es war aber als ob jene Orgeltoͤne niemals
aufhoͤren, als ob jene Sterbelaute, jener lebende
Tod ewig dauern wollte, ich fuͤhlte ſo unſaͤgliche
Beklommenheit, ſo namenloſe Angſt, als waͤre ich
ſcheintodt begraben worden, ja als waͤre ich, ein
Laͤngſtverſtorbener, aus dem Grabe geſtiegen, und
ſey, mit unheimlichen Nachtgeſellen, in die Ge¬
ſpenſterkirche gegangen, um die Todtengebete zu
hoͤren, und Leichenſuͤnden zu beichten. Manchmal
war mir, als ſaͤhe ich ſie wirklich neben mir ſitzen,
in geiſterhaftem Daͤmmerlichte, die abgeſchiedene
Gemeinde, in verſchollen altflorentiniſchen Trach¬
ten, mit langen, blaſſen Geſichtern, goldbeſchla¬
gene Gebetbuͤcher in duͤnnen Haͤnden, heimlich
wispernd, und melancholiſch einander zunickend.
Der wimmernde Ton eines fernen Sterbegloͤckchens
mahnte mich wieder an den kranken Prieſter, den
ich bey der Prozeſſion geſehen, und ich ſprach zu
mir ſelber: der iſt jetzt auch geſtorben, und kommt
hierher um die erſte Nachtmeſſe zu leſen und da
beginnt erſt recht der traurige Spuk. Ploͤtzlich
aber erhob ſich, von den Stufen des Altars, die
holde Geſtalt der verſchleyerten Beterinn —
Ja, ſie war es, ſchon ihr lebendiger Schatten
verſcheuchte die weißen Geſpenſter, ich ſah jetzt
nur ſie, ich folgte ihr raſch zur Kirche hinaus,
und als ſie vor der Thuͤre den Schleyer zuruͤck¬
ſchlug, ſah ich in Franſcheskas bethraͤntes Antlitz.
Es glich einer ſehnſuͤchtig weißen Roſe, angeperlt
vom Thau der Nacht und beglaͤnzt vom Strahl
des Mondes. Franſcheska liebſt du mich? Ich
frug viel und ſie antwortete wenig. Ich begleitete
ſie nach dem Hotel Crotſche di Malta, wo ſie
und Mathilde logirten. Die Straßen waren leer
geworden, die Haͤuſer ſchliefen mit geſchloſſenen
Fenſteraugen, nur hie und da, durch die hoͤlzernen
Wimpern, blinzelte ein Lichtchen. Oben am Him¬
mel aber trat ein breiter hellgruͤner Raum aus den
Wolken hervor, und darin ſchwamm der Halb¬
mond, wie eine ſilberne Gondel in einem Meer
von Smaragden. Vergebens bat ich Franſcheska
nur ein einziges Mahl hinauf zu ſehen zu unſe¬
rem alten, lieben Vertrauten; ſie hielt aber das
Koͤpfchen traͤumend geſenkt. Ihr Gang, der ſonſt
ſo heiter dahinſchwebend, war jetzt wie kirchlich
gemeſſen, ihr Schritt war duͤſter katholiſch, ſie be¬
wegte ſich wie nach dem Takte einer feyerlichen
Orgel, und wie in fruͤheren Naͤchten die Suͤnde,
ſo war ihr jetzt die Religion in die Beine gefah¬
ren. Unterwegs vor jedem Heiligenbilde bekreuzte
ſie ſich Haupt und Buſen; vergebens verſuchte ich
ihr dabey zu helfen. Als wir aber auf dem Markte,
der Kirche Sant Mitſchiele vorbeykamen, wo die
marmorne Schmerzensmutter mit den vergoldeten
Schwertern im Herzen und mit der Laͤmpchenkrone
auf dem Haupte, aus der dunkeln Niſche hervor¬
leuchtete, da ſchlang Franſcheska ihren Arm um
meinen Hals, kuͤßte mich, und fluͤſterte: Cecco,
Cecco, caro Cecco!
Ich nahm dieſe Kuͤſſe ruhig in Empfang, ob¬
gleich ich wohl wußte, daß ſie im Grunde einem
bologneſiſchen Abbate, einem Diener der roͤmiſch
katholiſchen Kirche, zugedacht waren. Als Pro¬
teſtant machte ich mir kein Gewiſſen daraus, mir
die Guͤter der katholiſchen Geiſtlichkeit zuzueignen,
und auf der Stelle ſaͤkulariſirte ich die frommen
Kuͤſſe Franſcheskas. Ich weiß, die Pfaffen wer¬
den hieruͤber wuͤthend ſeyn, ſie ſchreyen gewiß
uͤber Kirchenraub, und wuͤrden gern das franzoͤſi¬
ſche Sakrilegiengeſetz auf mich anwenden. Leider
muß ich geſtehen, daß beſagte Kuͤſſe das einzige
waren, was ich in jener Nacht erbeuten konnte.
Franſcheska hatte beſchloſſen dieſe Nacht nur zum
Heile ihrer Seele, kniend und betend, zu benutzen.
Vergebens erboth ich mich ihre Andachtsuͤbungen
zu theilen; — als ſie ihr Zimmer erreichte, ſchloß
4
ſie mir die Thuͤre vor der Naſe zu. Vergebens
ſtand ich draußen noch eine ganze Stunde, und
bat um Einlaß, und ſeufzte alle moͤglichen Seuf¬
zer, und heuchelte fromme Thraͤnen, und ſchwor
die heiligſten Eide — verſteht ſich, mit geiſtlichem
Vorbehalte, ich fuͤhlte wie ich allmaͤhlig ein Jeſuit
wurde, ich wurde ganz ſchlecht und erbot mich
endlich ſogar, katholiſch zu werden fuͤr dieſe einzige
Nacht —
Franſcheska! rief ich, Stern meiner Gedan¬
ken! Gedanke meiner Seele! vita della mia vita!
meine ſchoͤne, oftgekuͤßte, ſchlanke, katholiſche
Franſcheska! fuͤr dieſe einzige Nacht, die du mir
noch gewaͤhrſt, will ich ſelbſt katholiſch werden —
aber auch nur fuͤr dieſe einzige Nacht! O, die
ſchoͤne, ſeelige, katholiſche Nacht! Ich liege in
deinen Armen, ſtrengkatholiſch glaube ich an den
Himmel deiner Liebe, von den Lippen kuͤſſen wir
uns das holde Bekenntniß, das Wort wird Fleiſch,
der Glaube wird verſinnlicht, in Form und Ge¬
ſtalt, welche Religion! Ihr Pfaffen! jubelt un¬
terdeſſen Eur Kyrie Eleiſon, klingelt, raͤuchert,
laͤutet die Glocken, laßt die Orgel brauſen, laßt
die Meſſe von Paleſtrina erklingen — das iſt der
Leib! — ich glaube, ich bin ſeelig, ich ſchlafe ein
— aber ſobald ich des anderen Morgens erwache,
reibe ich mir den Schlaf und den Katholizismus
aus den Augen, und ſehe wieder klar in die Sonne
und in die Bibel, und bin wieder proteſtantiſch
vernuͤnftig und nuͤchtern, nach wie vor.
4 *
Capitel VII.
Als am anderen Tage die Sonne wieder herz¬
lich vom Himmel herablachte, erloſchen gaͤnzlich
die truͤbſeligen Gedanken und Gefuͤhle, die von
der Prozeſſion des vorhergehenden Abends in mir
erregt worden, und mir das Leben wie eine Krank¬
heit und die Welt wie ein Lazareth anſehen ließen.
Die ganze Stadt wimmelte von heiterem Volk.
Geputzt bunte Menſchen, dazwiſchen huͤpfte hie
und da ein ſchwarz Pfaͤfflein. Das brauſte und
lachte und ſchwatzte, man hoͤrte faſt nicht das
Glockengebimmel, das zu einer großen Meſſe ein¬
lud, in die Cathedrale. Dieſe iſt eine ſchoͤne, ein¬
fache Kirche, deren buntmarmorne Façade mit
jenen kurzen, uͤber einander gebauten Saͤulchen
geziert iſt, die uns ſo witzig truͤbe anſehen. In¬
wendig waren Pfeiler und Waͤnde mit rothem
Tuche uͤberkleidet, und heitere Muſik ergoß ſich
uͤber die wogende Menſchenmenge. Ich fuͤhrte
Signora Franſcheska am Arm, und als ich ihr
beim Eintritt das Weihwaſſer reichte, und durch
die ſuͤßfeuchte Fingerberuͤhrung unſere Seelen elek¬
triſirt wurden, bekam ich auch zu gleicher Zeit
einen elektriſchen Schlag ans Bein, daß ich vor
Schreck faſt hinpurzelte uͤber die knienden Baͤu¬
rinnen, die ganz weiß gekleidet und mit langen
Ohrringen, und Halsketten von gelbem Golde
belaſtet, in dichten Haufen den Boden bedeckten.
Als ich mich umſah, erblickte ich ein ebenfalls
kniendes Frauenzimmer, das ſich faͤcherte, und
hinter dem Faͤcher erſpaͤhte ich Myladys kichernde
Augen. Ich beugte mich zu ihr hinab, und ſie
hauchte mir ſchmachtend ins Ohr: delightfull!
Um Gottes willen! fluͤſterte ich ihr zu, bleiben
Sie ernſthaft, lachen Sie nicht; ſonſt werden wir
wahrhaftig hinausgeſchmiſſen!
Aber da half kein Bitten und Flehen. Zum
Gluͤck verſtand man unſre Sprache nicht. Denn
als Mylady aufſtand, und uns durch das Ge¬
draͤnge zum Hauptaltar folgte, uͤberließ ſie ſich
ihren tollen Launen, ohne die mindeſte Ruͤckſicht,
als ſtuͤnden wir allein auf den Apenninen. Sie
moquirte ſich uͤber alles, ſogar die armen gemal¬
ten Bilder an den Waͤnden waren vor ihren Pfei¬
len nicht ſicher.
Sieh da! rief ſie, auch Lady Eva, Geborne
von Rippe, wie ſie mit der Schlange diskurirt!
Es iſt ein guter Einfall des Malers, daß er der
Schlange einen menſchlichen Kopf mit einem
menſchlichen Geſichte gab; es waͤre jedoch noch
weit ſinnreicher geweſen, wenn er dieſes Verfuͤh¬
rungsgeſicht mit einem militaͤriſchen Schnurbart
verziert haͤtte. Sehen Sie, Doktor, dort den
Engel, welcher der hochgebenedeiten Jungfrau
ihren geſegneten Zuſtand verkuͤndigt und dabey ſo
ironiſch laͤchelt? Ich weiß was dieſer Ruffiano
denkt! Und dieſe Maria, zu deren Fuͤßen die
heilige Allianz des Morgenlandes, mit Gold- und
Weihrauchgaben, niederkniet, ſieht ſie nicht aus
wie die Catalani?
Signora Franſcheska, welche von dieſem Ge¬
ſchwaͤtz, wegen ihrer Unkenntniß des Engliſchen,
nichts verſtand als das Wort Catalani, bemerkte
haſtig: daß die Dame, wovon unſre Freundinn
ſpreche, jetzt wirklich den groͤßten Theil ihrer Re¬
nommee verloren habe. Unſre Freundinn aber
ließ ſich nicht ſtoͤren und kommentirte auch die
Paſſionsbilder, bis zur Kreuzigung, einem uͤber¬
aus ſchoͤnen Gemaͤlde, worauf unter anderen drey
dumme unthaͤtige Geſichter abgebildet waren, die
dem Gottesmaͤrtyrthum gemaͤchlich zuſahen, und
von denen Mylady durchaus behauptete, es ſeyen
die bevollmaͤchtigten Commiſſarien von Oeſtreich,
Rußland und Frankreich.
Indeſſen, die alten Freskos, die zwiſchen den
rothen Decken der Waͤnde zum Vorſchein kamen,
vermochten einigermaßen mit ihrem inwohnenden
Ernſte die brittiſche Spottluſt abzuwehren. Es
waren darauf Geſichter aus jener heldenmuͤthigen
Zeit Lukkas, wovon in den Geſchichtsbuͤchern
Machiavells, des romantiſchen Salluſts, ſo viel
die Rede iſt, und deren Geiſt uns aus den Ge¬
ſaͤngen Dantes, des katholiſchen Homers, ſo feu¬
rig entgegenweht. Wohl ſprechen aus jenen Mie¬
nen die ſtrengen Gefuͤhle und barbariſchen Gedan¬
ken des Mittelalters; wenn auch auf manchem
ſtummen Juͤnglingsmunde das laͤchelnde Bekennt¬
niß ſchwebt, daß damals nicht alle Roſen ſo ganz
ſteinern und umflort geweſen ſind, und wenn auch
durch die fromm geſenkten Augenwimpern mancher
Madonna aus jener Zeit ein ſo ſchalkhafter Lie¬
beswink blinzelt, als ob ſie uns gern noch ein
zweites Chriſtkindlein ſchenken moͤchte. Jedenfalls
iſt es aber ein hoher Geiſt, der uns aus jenen
altflorentiniſchen Gemaͤlden anſpricht, es iſt das
eigentlich Heroiſche, das wir auch in den marmor¬
nen Goͤtterbildern der Alten erkennen, und das
nicht, wie unſre Aeſthetiker meinen, in einer ewi¬
gen Ruhe ohne Leidenſchaft, ſondern in einer ewi¬
gen Leidenſchaft ohne Unruhe beſteht. Auch durch
einige ſpaͤtere Oehlbilder, die im Dome von Lukka
haͤngen, zieht ſich, vielleicht als tradizioneller Nach¬
hall, jener altflorentiniſche Sinn. Beſonders fiel
mir auf eine Hochzeit zu Canan, von einem
Schuͤler des Andrea del Sarto, etwas hart ge¬
malt und ſchroff geſtaltet. Der Heiland ſitzt zwi¬
ſchen der weichen ſchoͤnen Braut und einem Pha¬
riſaͤer, deſſen ſteinernes Geſetztafelgeſicht ſich wun¬
dert uͤber den genialen Propheten, der ſich heiter
miſcht in die Reihen der Heiteren, und die Ge¬
ſellſchaft mit Wundern regalirt, die noch groͤßer
ſind als die Wunder des Moſes; denn dieſer
konnte, wenn er noch ſo ſtark gegen den Felſen
ſchlug, nur Waſſer hervorbringen, jener aber
brauchte nur ein Wort zu ſprechen, und die Kruͤge
fuͤllten ſich mit dem beſten Wein. Viel weicher,
faſt venezianiſch kolorirt, iſt das Gemaͤlde von ei¬
nem Unbekannten, das daneben haͤngt, und worinn
der freundlichſte Farbenſchmelz von einem durchbe¬
benden Schmerze gar ſeltſam gedaͤmpft wird. Es
ſtellt dar wie Maria ein Pfund Salbe nahm, von
ungefaͤlſchter koͤſtlicher Narde, und damit die Fuͤße
Jeſu ſalbte, und ſie mit ihren Haaren trocknete.
Chriſtus ſitzt da, im Kreiſe ſeiner Juͤnger, ein
ſchoͤner, geiſtreicher Gott, menſchlich wehmuͤthig
fuͤhlt er eine ſchaurige Pietaͤt gegen ſeinen eignen
Leib, der bald ſo viel dulden wird, und dem die
ſalbende Ehre, die man den Geſtorbenen erweißt,
ſchon jetzt gebuͤhrt und ſchon jetzt wiederfaͤhrt; er
laͤchelt geruͤhrt hinab auf das kniende Weib, das
getrieben von ahnender Liebesangſt, jene barmher¬
zige That verrichtet, eine That, die nie vergeſſen
wird, ſo lange es leidende Menſchen giebt, und
die zur Erquickung aller leidenden Menſchen durch
die Jahrtauſende duftet. Außer dem Juͤnger, der
am Herzen Chriſti lag, und der auch dieſe That
verzeichnet hat, ſcheint keiner von den Apoſteln
ihre Bedeutung zu fuͤhlen, und der mit dem ro¬
then Barte ſcheint ſogar, wie in der Schrift ſteht,
die verdrießliche Bemerkung zu machen: warum
iſt dieſe Salbe nicht verkauft um dreyhundert Gro¬
ſchen, und den Armen gegeben? Dieſer oͤkono¬
miſche Apoſtel iſt eben derjenige, der den Beutel
fuͤhrt, die Gewohnheit der Geldgeſchaͤfte hat ihn
abgeſtumpft gegen alle uneigennuͤtzigen Narden¬
duͤfte der Liebe, er moͤchte Groſchen dafuͤr ein¬
wechſeln zu einem nuͤtzlichen Zweck, und eben er,
der Groſchenwechſler, er war es, der den Heiland
verrieth — um dreyzig Silberlinge. So hat das
Evangelium auch ſymboliſch, in der Geſchichte des
Banquiers unter den Apoſteln, die unheimliche
Verfuͤhrungsmacht, die im Geldſacke lauert, offen¬
bart, und vor der Treuloſigkeit der Geldgeſchaͤfts¬
leute gewarnt. Jeder Reiche iſt ein Judas Iſcharioth.
Sie ſchneiden ja ein verbiſſen glaͤubiges Geſicht,
theurer Doktor, fluͤſterte Mylady, ich habe Sie
eben beobachtet, und verzeihen Sie mir, wenn ich
Sie etwa beleidige, Sie ſahen aus wie ein guter
Chriſt.
Unter uns geſagt, das bin ich; ja, Chriſtus —
Glauben Sie vielleicht ebenfalls, daß er ein Gott
ſey?
Das verſteht ſich, meine gute Mathilde. Es
iſt der Gott, den ich am meiſten liebe — nicht
weil er ſo ein legitimer Gott iſt, deſſen Vater
ſchon Gott war und ſeit undenklicher Zeit die
Welt beherrſchte: ſondern weil er, obgleich ein
geborener Dauphin des Himmels, dennoch, demo¬
kratiſch geſinnt, keinen hoͤfiſchen Ceremonialprunk
liebt, weil er kein Gott einer Ariſtokratie von
geſchorenen Schriftgelehrten und gallonirten Lan¬
zenknechten, und weil er ein beſcheidener Gott
des Volks iſt, ein Buͤrger-Gott, un bon dieu
citoyen. Wahrlich, wenn Chriſtus noch kein
Gott waͤre, ſo wuͤrde ich ihn dazu waͤhlen, und
viel lieber als einem aufgezwungenen abſoluten
Gotte, wuͤrde ich ihm gehorchen, ihm, dem
Wahlgotte, dem Gotte meiner Wahl.
Capitel VIII.
Der Erzbiſchof, ein ernſter Greis, las ſelber
Meſſe, und ehrlich geſtanden, nicht bloß ich, ſon¬
dern einigermaßen auch Mylady, wir wurden
heimlich beruͤhrt von dem Geiſte, der in dieſer
heiligen Handlung wohnt, und von der Weihe
des alten Mannes, der ſie vollzog; — iſt ja
doch jeder alte Mann, an und fuͤr ſich, ein Prie¬
ſter und die Ceremonien der katholiſchen Meſſe
ſind ſie doch ſo uralt, daß ſie vielleicht das Ein¬
zige ſind, was ſich aus dem Kindesalter der Welt
erhalten hat, und als Erinnerung an die erſten
Vorfahren aller Menſchen unſere Pietaͤt in An¬
ſpruch nimmt. Sehen Sie, Mylady, ſagte ich,
jede Bewegung, die Sie hier erblicken, die Art
des Zuſammenlegens der Haͤnde und des Ausbrei¬
tens der Arme, dieſes Knixen, dieſes Haͤndewa¬
ſchen, dieſes Beraͤuchertwerden, dieſer Kelch, ja
die ganze Kleidung des Mannes, von der Mythra
bis zum Saume der Stohla, Alles dieſes iſt alt¬
egyptiſch und Ueberbleibſel eines Prieſterthums,
von deſſen wunderſamem Weſen nur die aͤlteſten
Urkunden etwas weniges berichten, eines fruͤheſten
Prieſterthums, das die erſte Weisheit erforſchte,
die erſten Goͤtter erfand, die erſten Symbole be¬
ſtimmte, und die junge Menſchheit —
Zuerſt betrog, ſetzte Mylady bitteren Tones
hinzu, und ich glaube, Doktor, aus dem fruͤheſten
Weltalter iſt uns nichts uͤbrig geblieben als einige
triſte Formeln des Betrugs. Und ſie ſind noch
immer wirkſam. Denn ſehen Sie dort die ſtock¬
finſteren Geſichter? und gar jenen Kerl, der dort
auf ſeinen dummen Knien liegt und mit ſeinem
aufgeſperrten Maule ſo ultradumm ausſieht?
Um des lieben Himmels willen! beguͤtigte ich
leiſe, was iſt daran gelegen, daß dieſer Kopf ſo
wenig von der Vernunft erleuchtet iſt? Was geht
das uns an? Was irritirt Sie dabey? Sehen
Sie doch taͤglich Ochſen, Kuͤhe, Hunde, Eſel,
die eben ſo dumm ſind, ohne daß Sie durch ſol¬
chen Anblick aus Ihrem Gleichmuth aufgeſtoͤrt
und zu unmuthigen Aeußerungen angeregt werden?
Ach, das iſt was Anderes, fiel mir Mylady
in die Rede, dieſe Beſtien tragen hinten Schwaͤnze,
und ich aͤrgre mich eben, daß ein Kerl, der eben
ſo beſtialiſch dumm iſt, dennoch hinten keinen
Schwanz hat.
Ja, das iſt was andres, Mylady.
Capitel IX.
Nach der Meſſe gabs noch allerley zu ſchauen
und zu hoͤren, beſonders die Predigt eines großen,
vierſtaͤmmigen Moͤnchs, deſſen befehlend kuͤhnes,
altroͤmiſches Geſicht gegen die grobe Bettelkutte
gar wunderſam abſtach, ſo daß der Mann ausſah
wie ein Imperator der Armuth. Er predigte von
Himmel und Hoͤlle, und gerieth zuweilen in die
wuͤthendſte Begeiſtrung. Seine Schilderung des
Himmels war ein bischen barbariſch uͤberladen,
und es gab da viel Gold, Silber, Edelſteine,
koͤſtliche Speiſen, und Weine von den beſten
Jahrgaͤngen; dabey machte er ein ſo verklaͤrt
ſchluͤrfendes Geſicht, und er ſchob ſich vor Wonne
5
in der Kutte hin und her, wenn er, unter den
Englein mit weißen Fluͤglein ſich ſelber dachte als
ein Englein mit weißen Fluͤglein. Minder ergoͤtz¬
lich, ja ſogar ſehr praktiſch ernſthaft war ſeine
Schilderung der Hoͤlle. Hier war der Mann weit
mehr in ſeinem Ellemente. Er eiferte beſonders
uͤber die Suͤnder, die nicht mehr ſo recht kriſtlich
ans alte Feuer der Hoͤlle glauben, und ſogar
waͤhnen, ſie habe ſich in neuerer Zeit etwas abge¬
kuͤhlt und werde naͤchſtens ganz und gar erloͤſchen.
„Und waͤre auch,“ rief er, „die Hoͤlle am Erloͤ¬
ſchen, ſo wuͤrde ich, ich mit meinem Athem, die
letzten glimmenden Kohlen wieder anfachen, daß
ſie wieder auflodern ſollten zu ihrer alten Flam¬
mengluth.“ Hoͤrte man nun die Stimme, die
gleich dem Nordwind dieſe Worte hervorheulte,
ſah man dabey das brennende Geſicht, den rothen,
buͤffelſtarken Hals, und die gewaltigen Faͤuſte des
Mannes, ſo hielt man jene hoͤlliſche Drohung fuͤr
keine Hyperbel.
I like this man, ſagte Mylady.
Da haben Sie Recht, antwortete ich, auch
mir gefaͤllt er beſſer als mancher unſerer ſanften,
homoͤopathiſchen Seelenaͤrzte, die \frac{1}{10,000} Ver¬
nunft in einem Eimer Moralwaſſer ſchuͤtten, und
uns damit des Sonntags zur Ruhe predigen.
Ja, Doktor, fuͤr ſeine Hoͤlle habe ich Reſpekt;
aber zu ſeinem Himmel hab ich kein rechtes Ver¬
trauen. Wie ich mich denn uͤberhaupt in Anſe¬
hung des Himmels ſchon ſehr fruͤh in geheimen
Zweifel verfing. Als ich noch klein war, in Du¬
blin, lag ich oft auf dem Ruͤcken im Gras,
und ſah in den Himmel, und dachte nach: ob
wohl der Himmel wirklich ſo viele Herrlichkeiten
enthalten mag, wie man davon ruͤhmt? Aber,
dacht ich, wie kommts, daß von dieſen Herrlich¬
keiten niemals etwas herunterfaͤllt, etwa ein bril¬
lantener Ohrring, oder eine Schnur Perlen oder
wenigſtens ein Stuͤckchen Ananaskuchen, und daß
immer nur Hagel oder Schnee oder gewoͤhnlicher
5 *
Regen uns von oben herabbeſchert wird? Das
iſt nicht ganz richtig, dacht ich —
Warum ſagen Sie das, Mylady? Warum
dieſe Zweifel nicht lieber verſchweigen? Unglaͤu¬
bige, die keinen Himmel glauben, ſollten nicht
Proſeliten machen; minder tadelnswerth, ſogar
lobenswerth iſt die Proſelitenmacherey derjenigen
Leute, die einen ſuͤperben Himmel haben, und
deſſen Herrlichkeiten nicht ſelbſtſuͤchtig allein genie¬
ßen wollen, und deßhalb ihre Nebenmenſchen ein¬
laden dran Theil zu nehmen, und ſich nicht eher
zufrieden geben, bis dieſe ihre guͤtige Einladung
angenommen.
Ich habe mich aber immer gewundert, Doktor,
daß manche reiche Leute dieſer Gattung, die wir,
als Praͤſidenten, Vicepraͤſidenten, oder Sekretaͤre
von Bekehrungsgeſellſchaften, eifrigſt bemuͤht ſehen,
etwa einen alten verſchimmelten Betteljuden him¬
melfaͤhig zu machen und ſeine einſtige Genoſſen¬
ſchaft im Himmelreich zu erwerben, dennoch nie
dran denken, ihn ſchon jetzt auf Erden an ihren
Genuͤſſen Theil nehmen zu laſſen, und ihn z. B.
nie des Sommers auf ihre Landhaͤuſer einladen,
wo es gewiß Leckerbiſſen giebt, die den armen
Schelm eben ſo gut ſchmecken wuͤrden, als genoͤſſe
er ſie im Himmel ſelbſt.
Das iſt erklaͤrlich, Mylady, die himmliſchen
Genuͤſſe koſten ſie nichts, und es iſt ein doppeltes
Vergnuͤgen, wenn wir ſo wohlfeilerweiſe unſre
Nebenmenſchen begluͤcken koͤnnen. Zu welchen
Genuͤſſen aber kann der Unglaͤubige jemanden
einladen?
Zu nichts, Doktor, als zu einem langen ruhi¬
gen Schlafe, der aber zuweilen fuͤr einen Ungluͤck¬
lichen ſehr wuͤnſchenswerth ſeyn kann, beſonders
wenn er vorher mit zudringlichen Himmelseinla¬
dungen gar zu ſehr geplagt worden.
Dieſes ſprach das ſchoͤne Weib mit ſtechend
bitteren Akzenten, und nicht ganz ohne Ernſt ant¬
wortete ich ihr: Liebe Mathilde, bey meinen
Handlungen auf dieſer Welt kuͤmmert mich nicht
einmal die Exiſtenz von Himmel und Hoͤlle, ich
bin zu groß und zu ſtolz, als daß der Geitz nach
himmliſchen Belohnungen, oder die Furcht vor
hoͤlliſchen Strafen mich leiten ſollten. Ich ſtrebe
nach dem Guten, weil es ſchoͤn iſt und mich un¬
widerſtehlich anzieht, und ich verabſcheue das
Schlechte, weil es haͤßlich und mir zuwider iſt.
Schon als Knabe, wenn ich den Plutarch las —
und ich leſe ihn noch jetzt alle Abend im Bette
und moͤchte dabey manchmal aufſpringen, und
gleich Extra-Poſt nehmen und ein großer Mann
werden — ſchon damals gefiel mir die Erzaͤhlung
von dem Weibe, das durch die Straßen Alexan¬
driens ſchritt, in der einen Hand einen Waſſer¬
ſchlauch, in der andern eine brennende Fackel tra¬
gend, und den Menſchen zurief, daß ſie mit dem
Waſſer die Hoͤlle ausloͤſchen und mit der Fackel
den Himmel in Brand ſtecken wolle, damit das
Schlechte nicht mehr aus Furcht vor Strafe un¬
terlaſſen, und das Gute nicht mehr aus Begierde
nach Belohnung ausgeuͤbt werde. Alle unſre Hand¬
lungen ſollen aus dem Quell einer uneigennuͤtzi¬
gen Liebe hervorſprudeln, gleichviel ob es eine
Fortdauer nach dem Tode giebt oder nicht.
Sie glauben alſo auch nicht an Unſterblich¬
keit. O Sie ſind ſchlau, Mylady! Ich daran
zweifeln? Ich, deſſen Herz in die entfernteſten
Jahrtauſende der Vergangenheit und der Zukunft
immer tiefer und tiefer Wurzel ſchlaͤgt, ich, der
ich ſelbſt einer der ewigſten Menſchen bin, jeder
Athemzug ein ewiges Leben, jeder Gedanke ein
ewiger Stern — ich ſollte nicht an Unſterblichkeit
glauben?
Ich denke, Doktor, es gehoͤrt eine betraͤchlichebetraͤtchliche
Porzion Eitelkeit und Anmaßung dazu, nachdem
wir ſchon ſo viel Gutes und Schoͤnes auf dieſer
Erde genoſſen, noch obendrein vom lieben Gott
die Unſterblichkeit zu verlangen! Der Menſch, der
Ariſtokrat unter den Thieren, der ſich beſſer duͤnkt,
als alle ſeine Mitgeſchoͤpfe, moͤchte ſich auch dieſes
Ewigkeitsvorrecht, am Throne des Weltkoͤnigs,
durch hoͤfiſche Lob- und Preisgeſaͤnge und knien¬
des Bitten auswirken. — O, ich weiß was die¬
ſes Zucken mit den Lippen bedeutet, unſterblicher
Herr!
Capitel X .
Signora bat uns mit ihr nach dem Kloſter zu
gehn, worin das wunderthaͤtige Kreuz, das Merk¬
wuͤrdigſte in ganz Toskana, bewahrt wird. Und
es war gut, daß wir den Dom verließen, denn
Myladys Tollheiten wuͤrden uns doch zuletzt in
Verlegenheiten geſtuͤrzt haben. Sie ſprudelte von
witziger Laune; lauter lieblich naͤrriſche Gedanken,
ſo uͤbermuͤthig wie junge Kaͤtzchen, die in der
Mayſonne herumſpringen. Am Ausgang des Doms
tunkte ſie den Zeigefinger dreymahl ins Weihwaſſer,
beſprengte mich jedesmahl und murmelte: Dem
Zefardeyim Kinnim; welches nach ihrer Behaup¬
tung die arabiſche Formel iſt, womit die Zaube¬
5 * *
rinnen einen Menſchen in einen Eſel verwan¬
deln.
Auf der Piazza vor dem Dome manoeuvrirte
eine Menge Militaͤr, beynah ganz oͤſtreichiſch uni¬
formirt und nach deutſchem Commando. Wenig¬
ſtens hoͤrte ich die deutſchen Worte: Praͤſentirts
Gewehr! Fuß Gewehr! Schulters Gewehr!
Rechtsum! Halt! Ich glaube bey allen Italie¬
nern, wie noch bey einigen andern europaͤiſchen
Voͤlkern, wird auf Deutſch kommandirt. Sollen
wir Deutſchen uns etwas darauf zu Gute thun?
Haben wir in der Welt ſo viel zu befehlen, daß
das Deutſche ſogar die Sprache Befehlens
geworden? Oder wird uns ſo viel befohlen, daß
der Gehorſam am beſten die deutſche Sprache
verſteht?
Mylady ſcheint von Paraden und Revuͤen keine
Freundinn zu ſeyn. Sie zog uns mit ironiſcher
Furchtſamkeit von dannen. Ich liebe nicht, ſprach
ſie, die Naͤhe von ſolchen Menſchen mit Saͤbeln
und Flinten, beſonders wenn ſie in großer An¬
zahl, wie bey außerordentlichen Manoeuvern, in
Reih und Glied aufmarſchiren. Wenn nun einer
von dieſen tauſenden ploͤtzlich verruͤckt wird, und
mit der Waffe, die er ſchon in der Hand hat,
mich auf der Stelle niederſticht? Oder wenn er
gar ploͤtzlich vernuͤnftig wird und nachdenkt: „was
haſt du zu riskiren? zu verlieren? ſelbſt wenn ſie
dir das Leben nehmen? Mag auch jene andre
Welt, die uns nach dem Tode verſprochen wird,
nicht ſo ganz brillant ſeyn, wie man ſie ruͤhmt,
mag ſie noch ſo ſchlecht ſeyn, weniger als man
dir jetzt giebt, weniger als ſechs Kreuzer per Tag,
kann man dir auch dort nicht geben — drum mach
dir den Spaß und erſtich jene kleine Englaͤnderin
mit der impertinenten Naſe!“ Bin ich da nicht
in der groͤßten Lebensgefahr? Wenn ich Koͤnig
waͤre, ſo wuͤrde ich meine Soldaten in zwey
Claſſen theilen. Die Einen ließe ich an Unſterb¬
lichkeit glauben, um in der Schlacht Muth zu
haben und den Tod nicht zu fuͤrchten, und ich
wuͤrde ſie bloß im Kriege gebrauchen. Die andern
aber wuͤrde ich zu Paraden und Revuͤen beſtim¬
men, und damit es ihnen nie in den Sinn komme,
daß ſie nichts riskiren, wenn ſie des Spaßes wegen
jemanden umbraͤchten, ſo wuͤrde ich ihnen bey To¬
desſtrafe verbieten an Unſterblichkeit zu glauben,
ja, ich wuͤrde ihnen ſogar noch etwas Butter zu
ihrem Kommisbrod geben, damit ſie das Leben
recht lieb gewinnen. Erſtern hingegen, jenen
unſterblichen Helden, wuͤrde ich das Leben ſehr
ſauer machen, damit ſie es recht verachten lernen
und die Muͤndung der Kanonen fuͤr einen Ein¬
gang in eine beſſere Welt anſehen.
Mylady, ſprach ich, Sie waͤren ein ſchlechter
Regent. Sie wiſſen wenig vom Regieren und
von der Politik verſtehen Sie gar nichts. Haͤtten
Sie die politiſchen Annalen geleſen —
Ich verſtehe dergleichen vielleicht beſſer als Sie,
theurer Doktor. Schon fruͤh ſuchte ich mich dar¬
uͤber zu unterrichten. Als ich noch klein war, in
Dublin —
Und auf dem Ruͤcken lag, im Gras — und
nachdachte, oder auch nicht, wie in Ramsgate —
Ein Blick, wie leiſer Vorwurf der Undankbar¬
keit, fiel aus Myladys Augen, dann aber lachte
ſie wieder, und fuhr fort: Als ich noch klein
war, in Dublin, und auf einem Eckchen von dem
Schemel ſitzen konnte, worauf Mutters Fuͤße ruh¬
ten, da hatte ich immer allerley zu fragen, was
die Schneider, die Schuſter, die Baͤcker, kurz
was die Leute in der Welt zu thun haben? Und
die Mutter erklaͤrte dann: die Schneider machen
Kleider, die Schuſter machen Schuhe, die Baͤcker
backen Brod — Und als ich nun frug: was
thun denn die Koͤnige? da gab die Mutter zur
Antwort: die regieren. Weißt du wohl, liebe
Mutter, ſagte ich da, wenn ich Koͤnig waͤre, ſo
wuͤrde ich mahl einen ganzen Tag gar nicht regie¬
ren, bloß um zu ſehen, wie es dann in der Welt
ausſieht. Liebes Kind, antwortete die Mutter,
das thun auch manche Koͤnige, und es ſieht auch
dann danach aus.
Wahrhaftig, Mylady, Ihre Mutter hatte Recht.
Beſonders hier in Italien giebt es ſolche Koͤ¬
nige, und man merkt es wohl in Piemont und
Neapel —
Aber, lieber Doktor, es iſt ſo einem italieni¬
ſchen Koͤnig nicht zu verargen, wenn er manchen
Tag gar nicht regiert, wegen der allzugroßen Hitze.
Es iſt nur zu befuͤrchten, daß die Carbonari ſo
einen Tag benutzen moͤchten; denn in der neueſten
Zeit iſt es mir beſonders aufgefallen, daß die Re¬
volutionen immer an ſolchen Tagen ausgebrochen
ſind, wo nicht regiert wurde. Irrten ſich ein¬
mahl die Carbonari, und glaubten ſie, es waͤre
ſo ein unregierter Tag, und gegen alle Erwar¬
tung wurde dennoch regiert, ſo verloren ſie die
Koͤpfe. Die Carbonari koͤnnen daher nie vorſichtig
genug ſeyn, und muͤſſen ſich genau die rechte Zeit
merken. Dagegen aber iſt es die hoͤchſte Politik
der Koͤnige, daß ſie es ganz geheim halten, an
welchen Tagen ſie nicht regieren, daß ſie ſich an
ſolchen Tagen wenigſtens einige Mahl auf den
Regierſtuhl ſetzen, und etwa Federn ſchneiden,
oder Briefkouverts verſiegeln oder weiße Blaͤtter
liniiren, Alles zum Schein, damit das Volk drau¬
ßen, das neugierig in die Fenſter des Palais hin¬
einguckt, ganz ſicher glaube es werde regiert.
Waͤhrend ſolche Bemerkungen aus Myladys
feinem Muͤndchen hervorgaukelten, ſchwamm eine
laͤchelnde Zufriedenheit um die vollen Roſenlippen
Franſcheskas. Sie ſprach wenig. Ihr Gang
war jedoch nicht mehr ſo ſeufzend entſagungsſelig,
wie am verfloſſenen Abend, ſie trat vielmehr ſieg¬
reich einher, jeder Schritt ein Trompetenton; es
war indeſſen mehr ein geiſtlicher Sieg, als ein
weltlicher, der ſich in ihren Bewegungen kund
gab, ſie war faſt das Bild einer triumphirenden
Kirche, und um ihr Haupt ſchwebte eine unſicht¬
bare Glorie. Die Augen aber, wie aus Thraͤnen
hervorlachend, waren wieder ganz weltkindlich, und
in dem bunten Menſchenſtrom, der uns vorbey
flutete, iſt auch kein einziges Kleidungsſtuͤck ihrem
Forſcherblick entgangen. Ekko! war dann ihr
Ausruf, welcher Shawl! der Markeſe ſoll mir
eben ſolchen Kaſchemir zu einem Turbane kaufen,
wenn ich die Roxelane tanze. Ach! er hat mir
auch ein Kreuz mit Diamanten verſprochen!
Armer Gumpelino! zu dem Turbane wirſt du
dich leicht verſtehen, jedoch das Kreuz wird dir
noch manche ſaure Stunde machen; aber Signora
wird dich ſo lange quaͤlen und auf die Folter
ſpannen, bis du dich endlich dazu bequemſt.
Capitel XI.
Die Kirche, worinn das wunderthaͤtige Kreuz
von Lukka zu ſehen iſt, gehoͤrt zu einem Kloſter,
deſſen Namen mir dieſen Augenblick nicht im Ge¬
daͤchtniſſe.
Bey unſerem Eintritt in die Kirche, lagen vor
dem Hauptaltare ein Dutzend Moͤnche auf den
Knien, in ſchweigendem Gebet. Nur dann und
wann, wie im Chor, ſprachen ſie einige abgebro¬
chene Worte, die in den einſamen Saͤulengaͤngen
etwas ſchauerlich wiederhallten. Die Kirche war
dunkel, nur durch kleine gemalte Fenſter fiel ein
buntes Licht auf die kahlen Haͤupter und braunen
Kutten. Glanzloſe Kupferlampen beleuchteten ſpaͤr¬
6
lich die geſchwaͤrzten Freskos und Altarbilder, aus
den Waͤnden traten hoͤlzerne Heiligenkoͤpfe, grell
bemalt und bey dem zweifelhaften Lichte wie leben¬
dig grinſend — Mylady ſchrie laut auf, und
zeigte zu unſeren Fuͤßen einen Grabſtein, worauf
in relief das ſtarre Bild eines Biſchofs mit My¬
thra und Hirtenſtab, gefalteten Haͤnden und abge¬
tretener Naſe. Ach! fluͤſterte ſie, ich ſelbſt trat ihm
unſanft auf die ſteinerne Naſe, und nun wird er
mir dieſe Nacht im Traume erſcheinen und da
giebts eine Naſe.
Der Sakriſtan, ein bleicher, junger Moͤnch,
zeigte uns das wunderthaͤtige Kreuz, und erzaͤhlte
dabey die Mirakel, die es verrichtet. Launiſch,
wie ich bin, habe ich vielleicht kein unglaͤubiges
Geſicht dazu gemacht; ich habe dann und wann
Anfaͤlle von Wunderglauben, beſonders wo, wie
hier, Ort und Stunde denſelben beguͤnſtigt. Ich
glaube dann, daß alles in der Welt ein Wunder
ſey, und die ganze Weltgeſchichte eine Legende.
War ich angeſteckt von dem Wunderglauben Fran¬
ſcheskas, die das Kreuz mit wilder Begeiſterung
kuͤßte? Verdrießlich wurde mir die eben ſo wilde
Spottluſt der witzigen Brittinn. Vielleicht ver¬
letzte mich ſolche um ſo mehr, da ich mich
ſelbſt nicht davon frey fuͤhlte, und ſie keineswegs
als etwas Lobenswerthes erachtete. Es iſt nun
mahl nicht zu laͤugnen, daß die Spottluſt, die
Freude am Widerſpruch der Dinge, etwas Boͤs¬
artiges in ſich traͤgt, ſtatt daß der Ernſt mehr
mit den beſſeren Gefuͤhlen verwandt iſt — die
Tugend, der Freiheitsſinn und die Liebe ſelbſt ſind
ſehr ernſthaft. Indeſſen, es giebt Herzen, worin
Scherz und Ernſt, Boͤſes und Heiliges, Glut und
Kaͤlte ſich ſo abentheuerlich verbinden, daß es
ſchwer wird daruͤber zu urtheilen. Ein ſolches
Herz ſchwamm in der Bruſt Mathildens; manchmahl
war es eine frierende Eisinſel, aus deren glattem
Spiegelboden die ſehnſuͤchtig gluͤhendſten Palmen¬
waͤlder hervorbluͤhten, manchmahl war es wieder ein
6 *
enthuſiaſtiſch flammender Vulkan, der ploͤtzlich von
einer lachenden Schneelavine uͤberſchuͤttet wird.
Sie war durchaus nicht ſchlecht, bey all ihrer
Ausgelaſſenheit, nicht einmal ſinnlich; ja, ich
glaube von der Sinnlichkeit hatte ſie nur die wi¬
tzige Seite aufgefaßt, und ergoͤtzte ſich daran wie
an einem naͤrriſchen Puppenſpiele. Es war ein
humoriſtiſches Geluͤſte, eine ſuͤße Neugier, wie ſich
der oder jener bunte Kautz in verliebten Zuſtaͤnden
gebehrden wuͤrde. Wie ganz anders war Fran¬
ſcheska! In ihren Gedanken, Gefuͤhlen war eine
katholiſche Einheit. Am Tage war ſie ein ſchmach¬
tend blaſſer Mond, des Nachts war ſie eine gluͤ¬
hende Sonne — Mond meiner Tage! Sonne
meiner Naͤchte! ich werde dich niemals wieder¬
ſehen!
Sie haben Recht, ſagte Mylady, ich glaube
auch an die Wunderthaͤtigkeit eines Kreuzes. Ich
bin uͤberzeugt, wenn der Markeſe an den Brillan¬
ten des verſprochenen Kreuzes nicht zu ſehr kni¬
ckert, ſo bewirkt es gewiß bey Signoren ein bril¬
lantes Wunder; ſie wird am Ende noch ſo ſehr
davon geblendet werden, daß ſie ſich in ſeine Naſe
verliebt. Auch habe ich oft gehoͤrt von der Wun¬
derthaͤtigkeit einiger Ordenskreuze, die einen ehr¬
lichen Mann zum Schufte machen konnten.
So ſpoͤttelte die huͤbſche Frau uͤber Alles, ſie
kokettirte mit dem armen Sakriſtan, machte dem
Biſchof mit der abgetretenen Naſe noch drollige
Exkuͤſen, wobey ſie ſich ſeinen etwaigen Gegenbe¬
ſuch hoͤflichſt verbat, und als wir an den Weih¬
keſſel gelangten, wollte ſie mich durchaus wieder
in einen Eſel verwandeln.
War es nun wirkliche Stimmung, die der Ort
einfloͤßte, oder wollte ich dieſen Spaß, der mich
im Grunde verdroß, ſo ſcharf als moͤglich ableh¬
nen, genug ich warf mich in das gehoͤrige Pathos
und ſprach:
Mylady, ich liebe keine Religionsveraͤchterin¬
nen. Schoͤne Frauen, die keine Religion haben,
ſind wie Blumen ohne Duft; ſie gleichen jenen
kalten, nuͤchternen Tulpen, die uns aus ihren
chineſiſchen Porzelantoͤpfen ſo porzelanhaft anſehen,
und wenn ſie ſprechen koͤnnten, uns gewiß ausein¬
ander ſetzen wuͤrden, wie ſie ganz natuͤrlich aus
einer Zwiebel entſtanden ſind, wie es hinreichend
ſey, wenn man hienieden nur nicht uͤbel riecht,
und wie uͤbrigens, was den Duft betrifft, eine
vernuͤnftige Blume gar keines Duftes bedarf.
Schon bey dem Wort Tulpe gerieth Mylady
in die heftigſten Bewegungen, und waͤhrend ich
ſprach, wirkte ihre Idioſynkraſie gegen dieſe Blu¬
me ſo ſtark, daß ſie ſich verzweiflungsvoll die Oh¬
ren zuhielt. Zur Haͤlfte war es wohl Comoͤdie,
zur Haͤlfte aber auch wohl pikirter Ernſt, daß
ſie mich mit bitterem Blicke anſah und aus Her¬
zensgrund ſpottſcharf mich frug: Und Sie, theure
Blume, welche von den vorhandenen Religionen
haben Sie?
Ich, Mylady, ich habe ſie alle, der Duft
meiner Seele ſteigt in den Himmel und betaͤubt
ſelbſt die ewigen Goͤtter!
Capitel XII.
Indem Signora unſer Geſpraͤch, das wir groͤ¬
ſtentheils auf Engliſch fuͤhrten, nicht verſtehen
konnte, gerieth ſie, Gott weiß wie! auf den Ge¬
danken, wir ſtritten uͤber die Vorzuͤglichkeit unſerer
reſpektiven Landsleute. Sie lobte nun die Eng¬
laͤnder eben ſo wie die Deutſchen, obgleich ſie im
Herzen die erſteren fuͤr nicht klug und die letzteren
fuͤr dumm hielt. Sehr ſchlecht dachte ſie von den
Preußen, deren Land, nach ihrer Geographie,
noch weit uͤber England und Deutſchland hinaus¬
liegt, beſonders ſchlecht dachte ſie vom Koͤnige von
Preußen, dem großen Federigo, den ihre Feindin,
Signora Seraphina, in ihrem Benefizballette
vorig Jahr getanzt hatte; wie denn ſonderbar
genug, dieſer Koͤnig, naͤmlich Friedrich der Große,
auf den italieniſchen Theatern und im Gedaͤchtniſſe
des italieniſchen Volks noch immer lebt.
Nein, ſagte Mylady, ohne auf Signoras
ſuͤßes Gekoſe hinzuhoͤren, nein, dieſen Menſchen
braucht man nicht erſt in einen Eſel zu verwan¬
deln; nicht nur, daß er jede zehn Schritte ſeine
Geſinnung wechſelt, und ſich beſtaͤndig widerſpricht,
wird er jetzt ſogar ein Bekehrer, und ich glaube
gar er iſt ein verkappter Jeſuit. Ich muß, mei¬
ner Sicherheit wegen, jetzt devote Geſichter ſchnei¬
den, ſonſt giebt er mich an bey ſeinen Mitheuch¬
lern in Chriſto, bey den heiligen Inquiſizions¬
dilettanten, die mich in Effigie verbrennen, da
ihnen die Polizey noch nicht erlaubt, die Perſo¬
nen ſelbſt ins Feuer zu werfen. Ach, ehrwuͤrdiger
Herr! glauben Sie nur nicht, daß ich ſo klug ſey
wie ich ausſehe, es fehlt mir durchaus nicht an
Religion, ich bin keine Tulpe, bey Leibe keine
Tulpe, nur um des Himmels Willen keine Tulpe,
ich will lieber alles glauben! Ich glaube jetzt ſchon
das Hauptſaͤchlichſte, was in der Bibel ſteht, ich
glaube, daß Abraham den Iſaak, und Iſaak den
Jakob, und Jakob wieder den Juda gezeugt hat,
ſo wie auch, daß dieſer wieder ſeine Schnur Ta¬
mar auf der Landſtraße erkannt hat. Ich glaube
auch, daß Loth mit ſeinen Toͤchtern zu viel ge¬
trunken. Ich glaube, daß die Frau des Potiphar
den Rock des frommen Joſephs in Haͤnden behal¬
ten. Ich glaube, daß die beiden Alten, die Su¬
ſannen im Bade uͤberraſchten, ſehr alt geweſen
ſind. Außerdem glaub ich noch, daß der Erzvater
Jakob erſt ſeinen Bruder und dann ſeinen Schwie¬
gervater betrogen, daß Koͤnig David dem Uria
eine gute Anſtellung bey der Armee gegeben, daß
Salomo ſich tauſend Weiber angeſchafft und nach¬
her gejammert es ſey alles eitel. Auch an die
zehn Gebothe glaube ich und halte ſogar die mei¬
ſten; ich laß mich nicht geluͤſten meines Naͤchſten
Ochſen, noch ſeiner Magd, noch ſeiner Kuh, noch
ſeines Eſels. Ich arbeite nicht am Sabath, dem
ſiebenten Tage, wo Gott geruht; ja, aus Vor¬
ſicht, da man nicht mehr genau weiß, welcher die¬
ſer ſiebente Ruhetag war, thue ich oft die ganze
Woche nichts. Was aber gar die Gebothe Chriſti
betrifft, ſo uͤbte ich immer das wichtigſte, naͤmlich
daß man ſogar ſeine Feinde lieben ſoll — denn
ach! diejenigen Menſchen, die ich am meiſten ge¬
liebt habe, waren immer, ohne daß ich es wußte,
meine ſchlimmſten Feinde.
Um Gottes Willen, Mathilde, weinen Sie
nicht! rief ich als wieder ein Ton der ſchmerzhaf¬
teſten Bitterkeit aus der heiterſten Neckerey, wie
eine Schlange aus einem Blumenbeete, hervor¬
ſchoß. Ich kannte ja dieſen Ton, wobey das wi¬
tzige Criſtallherz der wunderbaren Frau zwar im¬
mer gewaltig, aber nicht lange erzitterte, und ich
wußte, daß er eben ſo leicht, wie er entſteht, auch
wieder verſcheucht wird, durch die erſte beſte la¬
chende Bemerkung, die man ihr mittheilte, oder
die ihr ſelbſt durch den Sinn flog. Waͤhrend ſie
gelehnt an das Portal des Kloſterhofes, die gluͤ¬
hende Wange an die kalten Steine preßte, und
ſich mit ihren langen Haaren die Thraͤnenſpur
aus den Augen wiſchte, ſuchte ich ihre gute Laune
wieder zu erwecken, indem ich, in ihrer eignen
Spottweiſe, die arme Franſcheska zu myſtifiziren
ſuchte, und ihr die wichtigſten Nachrichten mit¬
theilte uͤber den ſiebenjaͤhrigen Krieg, der ſie ſo
ſehr zu intereſſiren ſchien, und den ſie noch im¬
mer unbeendigt glaubte. Ich erzaͤhlte ihr viel
Intereſſantes von dem großen Federigo, dem wi¬
tzigen Kamaſchengott von Sansſouci, der die preu¬
ßiſche Monarchie erfunden, und in ſeiner Jugend
recht huͤbſch die Floͤte bließ, und auch franzoͤſiſche
Verſe gemacht hat. Franſcheska frug mich, ob
die Preußen oder die Deutſchen ſiegen werden?
Denn, wie ſchon oben bemerkt, ſie hielt erſtere
fuͤr ein ganz anderes Volk, und es iſt auch ge¬
woͤhnlich, daß in Italien unter dem Namen Deut¬
ſche nur die Oeſtreicher verſtanden werden. Sig¬
nora wunderte ſich nicht wenig, als ich ihr ſagte,
daß ich ſelbſt lange Zeit in der Capitale della
Prussia gelebt habe, naͤmlich in Berelino, einer
Stadt, die ganz oben in der Geographie liegt,
unſern vom Eispol. Sie ſchauderte, als ich
ihr die Gefahren ſchilderte, denen man dort zu¬
weilen ausgeſetzt iſt, wenn einem die Eisbaͤren
auf der Straße begegnen. Denn, liebe Fran¬
ſcheska, erklaͤrte ich ihr, in Spitzbergen liegen gar
zu viele Baͤren in Garniſon, und dieſe kommen
zuweilen auf einen Tag nach Berlin, um etwa
aus Patriotismus den Baͤr und den Baſſa zu ſe¬
hen, oder einmahl bey Beyerman, im Caffé royal,
gut zu eſſen und Champagner zu trinken, was
ihnen oft mehr Geld koſtet, als ſie mitgebracht; in
welchem Falle einer von den Baͤren ſolange dort
angebunden wird, bis ſeine Cammeraden zuruͤck¬
kehren und bezahlen, woher auch der Ausdruck
„einen Baͤren anbinden“ entſtanden iſt. Viele
Baͤren wohnen in der Stadt ſelbſt, ja man ſagt
Berlin verdanke ſeine Entſtehung den Baͤren, und
hieße eigentlich Baͤrlin. Die Stadtbaͤren ſind
aber uͤbrigens ſehr zahm und einige darunter ſo
gebildet, daß ſie die ſchoͤnſten Tragoͤdien ſchreiben
und die herrlichſte Muſik komponiren. Die Woͤlfe
ſind dort ebenfalls haͤufig, und da ſie, der Kaͤlte
wegen, warſchauer Schafpelze tragen, ſind ſie
nicht ſo leicht zu erkennen. Schneegaͤnſe flattern
dort umher und ſingen Bravourarien, und Renn¬
thiere rennen da herum als Kunſtkenner. Uebri¬
gens leben die Berliner ſehr maͤßig und fleißig,
und die meiſten ſitzen bis am Nabel im Schnee
und ſchreiben Dogmatiken, Erbauungsbuͤcher, Re¬
ligionsgeſchichten fuͤr Toͤchter gebildeter Staͤnde,
Kathechismen, Predigten fuͤr alle Tage im Jahr,
Elohagedichte, und ſind dabey ſehr moraliſch, denn
ſie ſitzen bis am Nabel im Schnee.
Sind die Berliner denn Chriſten? rief Sig¬
nora voller Verwundrung.
Es hat eine eigne Bewandtniß, mit ihrem
Chriſtenthum. Dieſes fehlt ihnen im Grunde
ganz und gar, und ſie ſind auch viel zu vernuͤnf¬
tig, um es ernſtlich auszuuͤben. Aber da ſie wiſ¬
ſen, daß das Chriſtenthum im Staate noͤthig iſt,
damit die Unterthanen huͤbſch demuͤthig gehorchen,
und auch außerdem nicht zu viel geſtohlen und ge¬
mordet wird, ſo ſuchen ſie mit großer Beredſam¬
keit wenigſtens ihre Nebenmenſchen zum Chriſten¬
thume zu bekehren, ſie ſuchen gleichſam Rempla¬
çants in einer Religion, deren Aufrechthaltung
ſie wuͤnſchen und deren ſtrenge Ausuͤbung ihnen
ſelbſt zu muͤhſam wird. In dieſer Verlegenheit
benutzen ſie den Dienſteifer der armen Juden,
dieſe muͤſſen jetzt fuͤr ſie Chriſten werden, und da
dieſes Volk, fuͤr Geld und gute Worte alles aus
ſich machen laͤßt, ſo haben ſich die Juden ſchon
ſo ins Chriſtenthum hineinexerzirt, daß ſie ordent¬
lich ſchon uͤber Unglauben ſchreyen, auf Tod und
Leben die Dreyeinigkeit verfechten, in den Hunds¬
tagen ſogar daran glauben, gegen die Razionali¬
ſten wuͤthen, als Miſſionaͤre und Glaubensſpione
im Lande herumſchleichen und erbauliche Traktaͤt¬
chen verbreiten, in den Kirchen am beſten die Au¬
gen verdrehen, die ſcheinheiligſten Geſichter ſchnei¬
den, und mit ſo viel hohem Beyfalle froͤmmeln,
daß ſich ſchon hie und da der Gewerbsneid regt,
und die aͤlteren Meiſter des Handwerks ſchon heim¬
lich klagen: das Chriſtenthum ſey jetzt ganz in
den Haͤnden der Juden.
Capitel XIII.
Wenn mich Signora nicht verſtand, ſo wirſt
du, lieber Leſer, mich gewiß beſſer verſtehen.
Auch Mylady verſtand mich, und dies Verſtaͤnd¬
niß weckte wieder ihre gute Laune. Doch als
ich — ich weiß nicht mehr ob mit ernſthaftem
Geſichte — der Meinung beypflichten wollte, daß
das Volk einer beſtimmten Religion beduͤrfe, konnte
ſie wieder nicht umhin, mir in ihrer Weiſe entge¬
gen zu ſtreiten.
Das Volk muß eine Religion haben! rief ſie.
Eifrig hoͤre ich dieſen Satz predigen von tauſend
dummen und abertauſend ſcheinheiligen Lippen —
Und dennoch iſt es wahr, Mylady. Wie die
7
Mutter nicht alle Fragen des Kindes mit der
Wahrheit beantworten kann, weil ſeine Faſſungs¬
kraft es nicht erlaubt, ſo muß auch eine poſitive
Religion, eine Kirche vorhanden ſeyn, die alle
uͤberſinnlichen Fragen des Volks, ſeiner Faſſungs¬
kraft gemaͤß, recht ſinnlich beſtimmt beantworten
kann.
O weh! Doktor, eben Ihr Gleichniß bringt
mir eine Geſchichte ins Gedaͤchtniß, die am Ende
nicht guͤnſtig fuͤr Ihre Meinung ſprechen wuͤrde.
Als ich noch klein war, in Dublin —
Und auf dem Ruͤcken lag —
Aber, Doktor, man kann doch mit Ihnen
kein vernuͤnftig Wort ſprechen. Laͤcheln Sie nicht
ſo unverſchaͤmt und hoͤren Sie: Als ich noch
klein war, in Dublin, und zu Mutters Fuͤßen ſaß,
frug ich ſie einſt: was man mit den alten Voll¬
monden anfange? Liebes Kind, ſagte die Mut¬
ter, die alten Vollmonde ſchlaͤgt der liebe Gott
mit dem Zuckerhammer in Stuͤcke, und macht
daraus die kleinen Sterne. Man kann der Mut¬
ter dieſe offenbar falſche Erklaͤrung nicht verdenken,
denn mit den beſten aſtronomiſchen Kenntniſſen
haͤtte ſie doch nicht vermocht, mir das ganze
Sonne-, Mond- und Sterneſyſtem aus einander
zu ſetzen, und die uͤberſinnlichen Fragen beantwor¬
tete ſie ſinnlich beſtimmt. Es waͤre aber doch
beſſer geweſen, ſie haͤtte die Erklaͤrung fuͤr ein
reiferes Alter verſchoben, oder wenigſtens keine
Luͤge ausgedacht. Denn als ich mit der kleinen
Lucie zuſammen kam und der Vollmond am Him¬
mel ſtand, und ich ihr erklaͤrte, wie man bald
kleine Sterne draus machen werde, lachte ſie mich
aus, und ſagte, daß ihre Großmutter, die alte
O' Meara ihr erzaͤhlt habe: die Vollmonde wuͤr¬
den in der Hoͤlle als Feuermelonen verzehrt,
und da man dort keinen Zucker habe, muͤſſe man
Pfeffer und Salz drauf ſtreuen. Hatte Lucie
vorher uͤber meine Meinung, die etwas naiv evan¬
geliſch war, mich ausgelacht, ſo lachte ich noch
7*
mehr uͤber ihre duͤſter katholiſche Anſicht, vom
Auslachen kam es zu ernſtem Streit, wir pufften
uns, wir kratzten uns blutig, wir beſpuckten uns
polemiſch, bis der kleine O'Donnel aus der Schule
kam, und uns aus einander riß. Dieſer Knabe
hatte dort beſſeren Unterricht in der Himmels¬
kunde genoſſen, verſtand ſich auf Mathematik,
und belehrte uns ruhig uͤber unſere beiderſeitigen
Irrthuͤmer und die Thorheit unſeres Streits. Und
was geſchah? Wir beiden Maͤdchen unterdruͤckten
vor der Hand unſeren Meynungsſtreit, und ver¬
einigten uns gleich, um den kleinen ruhigen Ma¬
thematikus durchzupruͤgeln.
Mylady, ich bin verdrießlich, denn Sie haben
Recht. Aber es iſt nicht zu aͤndern, die Menſchen
werden immer ſtreiten uͤber die Vorzuͤglichkeit der¬
jenigen Religionsbegriffe, die man ihnen fruͤh bey¬
gebracht, und der Vernuͤnftige wird immer doppelt
zu leiden haben. Einſt war es freylich anders, da
ließ ſich keiner einfallen, die Lehre und die Feyer
ſeiner Religion beſonders anzupreiſen, oder gar ſie
jemanden aufzudringen. Die Religion war eine
liebe Tradizion, heilige Geſchichten, Erinnerungs¬
feyer und Myſterien, uͤberliefert von den Vorfah¬
ren, gleichſam Familienſakra des Volks, und ei¬
nem Griechen waͤre es ein Greuel geweſen, wenn
ein Fremder, der nicht von ſeinem Geſchlechte,
eine Religionsgenoſſenſchaft mit ihm verlangt haͤtte;
noch mehr wuͤrde er es fuͤr eine Unmenſchlichkeit
gehalten haben, irgend jemand, durch Zwang oder
Liſt, dahinzubringen, ſeine angeborene Religion
aufzugeben und eine fremde dafuͤr anzunehmen.
Da kam aber ein Volk aus Egypten, dem Vater¬
land der Krokodille und des Prieſterthums, und
außer den Hautkrankheiten und den geſtohlenen
Gold- und Silbergeſchirren, brachte es auch eine
ſogenannte poſitive Religion mit, eine ſogenannte
Kirche, ein Geruͤſte von Dogmen, an die man
glauben, und heiliger Ceremonien, die man feyern
mußte, ein Vorbild der ſpaͤteren Staatsreligio¬
nen. Nun entſtand „die Menſchenmaͤkeley“ das
Proſelitenmachen, der Glaubenszwang, und all
jene heiligen Greul, die dem Menſchengeſchlechte
ſo viel Blut und Thraͤnen gekoſtet.
Goddamm! dieſes Uruͤbelvolk!
O, Mathilde, es iſt laͤngſt verdammt, und
ſchleppt ſeine Verdammnißqualen durch die Jahr¬
tauſende. O, dieſes Egypten! ſeine Fabrikate tro¬
tzen der Zeit, ſeine Pyramiden ſtehen noch immer
unerſchuͤtterlich, ſeine Mumien ſind noch ſo unzer¬
ſtoͤrbar wie ſonſt, und eben ſo unverwuͤſtlich iſt
jene Volkmumie, die uͤber die Erde wandelt, ein¬
gewickelt in ihren uralten Buchſtabenwindeln, ein
verhaͤrtet Stuͤck Weltgeſchichte, ein Geſpenſt, das
zu ſeinem Unterhalte mit Wechſeln und alten Ho¬
ſen handelt — Sehen Sie, Mylady, dort jenen
alten Mann, mit dem weißen Barte, deſſen
Spitze ſich wieder zu ſchwaͤrzen ſcheint, und mit
den geiſterhaften Augen —
Sind dort nicht die Ruinen der alten Roͤmer¬
graͤber?
Ja, eben da ſitzt der alte Mann, und vielleicht,
Mathilde, verrichtet er eben ſein Gebet, ein ſchau¬
riges Gebet, worinn er ſeine Leiden bejammert,
und Voͤlker anklagt, die laͤngſt von der Erde ver¬
ſchwunden ſind, und nur noch in Ammenmaͤhrchen
leben — er aber, in ſeinem Schmerze, bemerkt
kaum, daß er auf den Graͤbern derjenigen Feinde
ſitzt, deren Untergang er vom Himmel erfleht.
Capitel XIV.
Ich ſprach im vorigen Capitel von den poſiti¬
ven Religionen nur in ſo fern ſie als Kirchen,
unter den Namen Staatsreligionen, noch beſonders
vom Staate privilegirt werden. Es giebt aber
eine fromme Dialektik, lieber Leſer, die dir aufs
buͤndigſte beweiſen wird, daß ein Gegner des Kirch¬
thums einer ſolchen Staatsreligion auch ein Feind
der Religion und des Staats ſey, ein Feind Got¬
tes und des Koͤnigs, oder, wie die gewoͤhnliche
Formel lautet: ein Feind des Throns und des Al¬
tars. Ich aber ſage dir, das iſt eine Luͤge, ich ehre
die innere Heiligkeit jeder Religion und unterwerfe
mich den Intereſſen des Staates. Wenn ich auch
dem Antropomorphismus nicht ſonderlich huldige,
ſo glaube ich doch an die Herrlichkeit Gottes, und
wenn auch die Koͤnige ſo thoͤrigt ſind, dem Geiſte
des Volks zu widerſtreben, oder gar ſo unedel
ſind, die Organe deſſelben durch Zuruͤckſetzungen
und Verfolgungen zu kraͤnken: ſo bleibe ich doch,
meiner tiefſten Ueberzeugung nach, ein Anhaͤnger
des Koͤnigthums, des monarchiſchen Princips. Ich
haſſe nicht den Thron, ſondern nur das windige
Adelgeziefer, das ſich in die Ritzen der alten
Throne eingeniſtet, und deſſen Charakter uns Mon¬
tesquieu ſo genau ſchildert mit den Worten: „Ehr¬
geiz im Bunde mit dem Muͤſſiggange, die Ge¬
meinheit im Bunde mit dem Hochmuthe, die Be¬
gierde, ſich zu bereichern ohne Arbeit, die Abnei¬
gung gegen die Wahrheit, die Schmeicheley, der
Verrath, die Treuloſigkeit, der Wortbruch, die
Verachtung der Buͤrgerpflichten, die Furcht vor
Fuͤrſtentugend und das Intereſſe an Fuͤrſtenlaſter!“
Ich haſſe nicht den Altar, ſondern ich haſſe die
Schlangen, die unter dem Geruͤlle der alten Al¬
taͤre lauern; die argklugen Schlangen, die unſchul¬
dig wie Blumen zu laͤcheln wiſſen, waͤhrend ſie
heimlich ihr Gift ſpritzen in den Kelch des Lebens,
und Verlaͤumdung ziſchen in das Ohr des from¬
men Beters, die gleißenden Wuͤrmer mit weichen
Worten —
Mel in ore, verba lactis,
Fel in corde, fraus in factis.
Eben weil ich ein Freund des Staats und
der Religion bin, haſſe ich jene Mißgeburt, die
man Staatsreligion nennt, jenes Spottgeſchoͤpf,
das aus der Buhlſchaft der weltlichen und der
geiſtlichen Macht entſtanden, jenes Maulthier, das
der Schimmel des Antichriſts mit der Eſelinn
Chriſti gezeugt hat. Gaͤbe es keine ſolche Staats¬
religion, keine Bevorrechtung eines Dogmas und
eines Cultus, ſo waͤre Deutſchland einig und ſtark
und ſeine Soͤhne waͤren herrlich und frey. So
aber iſt unſer armes Vaterland zerriſſen durch
Glaubenszwieſpalt, das Volk iſt getrennt in feind¬
liche Religionspartheyen, proteſtantiſche Untertha¬
nen hadern mit ihren katholiſchen Fuͤrſten oder
umgekehrt, uͤberall Mißtrauen ob Kryptokatholizis¬
mus oder Kryptoproteſtantismus, uͤberall Verketze¬
rung, Geſinnungsſpionage, Pietismus, Myſtizis¬
mus, Kirchenzeitungsſchnuͤffeleyen, Sektenhaß, Be¬
kehrungsſucht, und waͤhrend wir uͤber den Himmel
ſtreiten, gehen wir auf Erden zu Grunde. Ein
Indifferentismus in religioͤſen Dingen waͤre viel¬
leicht allein im Stande uns zu retten, und durch
Schwaͤcherwerden im Glauben koͤnnte Deutſchland
politiſch erſtarken.
Fuͤr die Religion ſelber, fuͤr ihr heiliges We¬
ſen, iſt es eben ſo verderblich, wenn ſie mit Pri¬
vilegien bekleidet iſt, wenn ihre Diener vom Staate
vorzugsweiſe dotirt werden, und zur Erhaltung die¬
ſer Dotazionen ihrerſeits verpflichtet ſind, den Staat
zu vertreten, und ſolchermaßen eine Hand die an¬
dere waͤſcht, die geiſtliche die weltliche, und umge¬
kehrt, und ein Wiſchwaſch entſteht, der dem lieben
Gott eine Thorheit und den Menſchen ein Greul
iſt. Hat nun der Staat Gegner, ſo werden dieſe
auch Feinde der Religion, die der Staat bevorrech¬
tet und die deßhalb ſeine Alliirte iſt; und ſelbſt der
harmloſe Glaͤubige wird mißtrauiſch, wenn er in
der Religion auch politiſche Abſicht wittert. Am
widerwaͤrtigſten aber iſt der Hochmuth der Prieſter,
wenn ſie fuͤr die Dienſte, die ſie dem Staate zu
leiſten glauben, auch auf deſſen Unterſtuͤtzung rech¬
nen duͤrfen, wenn ſie fuͤr die geiſtige Feſſel, die ſie
ihm, um die Voͤlker zu binden, geliehen haben, auch
uͤber ſeine Bajonette verfuͤgen koͤnnen. Die Reli¬
gion kann nie ſchlimmer ſinken als wenn ſie ſolcher¬
maßen zur Staatsreligion erhoben wird, es geht
dann gleichſam ihre innere Unſchuld verloren, und
ſie wird ſo oͤffentlich ſtolz, wie eine deklarirte Maͤ¬
treſſe. Freilich werden ihr dann mehr Huldigungen
und Ehrfurchtsverſicherungen dargebracht, ſie feyert
taͤglich neue Siege, in glaͤnzenden Prozeſſionen, bey
ſolchen Triumphen tragen ſogar bonapartiſtiſche Ge¬
nerale ihr die Kerzen vor, die ſtolzeſten Geiſter
ſchwoͤren zu ihrer Fahne, taͤglich werden Unglaͤu¬
bige bekehrt und getauft — aber dies viele Waſſer¬
aufgießen macht die Suppe nicht fetter, und die
neuen Rekruten der Staatsreligion gleichen den
Soldaten, die Fallſtaf geworben — ſie fuͤllen die
Kirche. Von Aufopfrung iſt gar nicht mehr die
Rede, wie Kaufmannsdiener mit ihren Muſterkar¬
ten, ſo reiſen die Miſſionaͤre mit ihren Tractaͤtchen
und Bekehrungsbuͤchlein, es iſt keine Gefahr mehr
bey dieſem Geſchaͤfte, und es bewegt ſich ganz in
merkantiliſch oͤkonomiſchen Formen.
Nur ſo lange die Religionen mit anderen zu
rivaliſiren haben, und weit mehr verfolgt werden
als ſelbſt verfolgen, ſind ſie herrlich und ehrenwerth,
nur da giebts Begeiſterung, Aufopferung, Maͤrtyrer
und Palmen. Wie ſchoͤn, wie heilig lieblich, wie
heimlich ſuͤß, war das Chriſtenthum der erſten Jahr¬
hunderte, als es ſelbſt noch ſeinem goͤttlichen Stif¬
ter glich im Heldenthum des Leidens. Da wars
noch die ſchoͤne Legende von einem heimlichen Gotte,
der in ſanfter Juͤnglingsgeſtalt unter den Palmen
Palaͤſtinas wandelte, und Menſchenliebe predigte,
und jene Freiheit- und Gleichheitslehre offenbarte,
die auch ſpaͤter die Vernunft der groͤßten Denker
als wahr erkannt hat, und die, als franzoͤſiſches
Evangelium, unſere Zeit begeiſtert. Mit jener Re¬
ligion Chriſti vergleiche man die verſchiedenen Chri¬
ſtenthuͤmer, die in den verſchiedenen Laͤndern als
Staatsreligionen konſtituirt worden, z. B. die roͤ¬
miſch apoſtoliſch katholiſche Kirche, oder gar jenen
Katholizismus ohne Poeſie, den wir als High Church
of England herrſchen ſehen, jenes klaͤglich morſche
Glaubensſkelet, worin alles bluͤhende Leben erloſchen
iſt! Wie den Gewerben iſt auch den Religionen
das Monopolſyſtem ſchaͤdlich, durch freye Conkurenz
bleiben ſie kraͤftig, und ſie werden erſt dann zu ih¬
rer urſpruͤnglichen Herrlichkeit wieder erbluͤhen, ſo¬
bald die politiſche Gleichheit der Gottesdienſte, ſo
zu ſagen die Gewerbefreyheit der Goͤtter eingefuͤhrt
wird.
Die edelſten Menſchen in Europa haben es
laͤngſt ausgeſprochen, daß dieſes das einzige Mittel
iſt, die Religion vor gaͤnzlichem Untergang zu be¬
wahren; doch die Diener derſelben werden eher den
Altar ſelbſt aufopfern, als daß ſie von dem was
darauf geopfert wird, das Mindeſte verlieren moͤch¬
ten; eben ſo wie der Adel eher den Thron ſelbſt
und Hochdenjenigen, der hochdarauf ſitzt, dem ſicher¬
ſten Verderben uͤberlaſſen wuͤrde, als daß er mit
ernſtlichem Willen die ungerechteſte ſeiner Gerecht¬
ſame aufgaͤbe. Iſt doch das affektirte Intereſſe fuͤr
Thron und Altar nur ein Poſſenſpiel, das dem
Volke vorgegaukelt wird! Wer das Zunftgeheimniß
belauert hat, weiß, daß die Pfaffen viel weniger
als die Layen den Gott reſpektiren, den ſie zu ih¬
rem eignen Nutzen, nach Willkuͤhr, aus Brod und
Wort zu kneten wiſſen, und daß die Adligen viel
weniger als es ein Roturier vermoͤchte, den Koͤnig
reſpektiren, und ſogar eben das Koͤnigthum, dem
ſie oͤffentlich ſo viele Ehrfurcht zeigen, und dem ſie
ſo viel Ehrfurcht bey Anderen zu erwerben ſuchen,
in ihrem Herzen verhoͤhnen und verachten: — wahr¬
lich, ſie gleichen jenen Leuten, die dem gaffenden
Publikum, in den Marktbuden, irgend einen Her¬
kules oder Rieſen, oder Zwerg, oder Wilden, oder
Feuerfreſſer, oder ſonſtig merkwuͤrdigen Mann fuͤr
Geld zeigen, und deſſen Staͤrke Erhabenheit, Kuͤhn¬
heit, Unverletzlichkeit, oder, wenn er ein Zwerg iſt,
deſſen Weisheit, mit der uͤbertriebenſten Ruhmre¬
digkeit auspreiſen, und dabey in die Trompete ſto¬
ßen, und eine bunte Jacke tragen, waͤhrend ſie dar¬
unter, im Herzen, die Leichtglaͤubigkeit des ſtaunen¬
den Volkes verlachen und den armen Hochgeprieſe¬
nen verſpotten, der ihnen aus Gewohnheit des taͤg¬
lichen Anblicks ſehr unintereſſant geworden, und
deſſen Schwaͤchen und nur andreſſirte Kuͤnſte ſie
all zu genau kennen.
Ob der liebe Gott es noch lange dulden wird,
daß die Pfaffen einen leidigen Popanz fuͤr ihn
ausgeben und damit Geld verdienen, das weiß ich
nicht; — wenigſtens wuͤrde ich mich nicht wundern,
wenn ich mahl im Hamb. Unpart. Correſpondenten
laͤſe: daß der alte Jehova jedermann warne, kei¬
nem Menſchen, es ſey wer es wolle, nicht einmal
ſeinem Sohne, auf ſeinen Namen Glauben zu
ſchenken. Ueberzeugt bin ich aber, wir werden's
mit der Zeit erleben, daß die Koͤnige ſich nicht mehr
hergeben wollen zu einer Schaupuppe ihrer adligen
Veraͤchter, daß ſie die Etiquetten brechen, ihren mar¬
mornen Buden entſpringen, und unwillig von ſich
werfen den glaͤnzenden Plunder, der dem Volke
imponiren ſollte, den rothen Mantel, der ſcharfrich¬
terlich abſchreckte, den diamantenen Reif, den man
ihnen uͤber die Ohren gezogen, um ſie den Volks¬
ſtimmen zu verſperren, den goldnen Stock, den
man ihnen als Scheinzeichen der Herrſchaft in die
Hand gegeben — und die befreyten Koͤnige, wer¬
8
den frey ſeyn wie andre Menſchen, und frey un¬
ter ihnen wandeln, und frey fuͤhlen und frey heu¬
rathen, und frey ihre Meinung bekennen, und das
iſt die Emanzipazion der Koͤnige.
Capitel XV.
Was bleibt aber den Ariſtokraten uͤbrig, wenn
ſie der gekroͤnten Mittel ihrer Subſiſtenz beraubt
werden, wenn die Koͤnige ein Eigenthum des
Volks ſind, und ein ehrliches und ſicheres Regi¬
ment fuͤhren, durch den Willen des Volks, der
alleinigen Quelle aller Macht? Was werden die
Pfaffen beginnen, wenn die Koͤnige einſehen,
daß ein bischen Salboͤhl keinen menſchlichen Kopf
guillotinenfeſt machen kann, eben ſo wie das Volk
taͤglich mehr und mehr einſieht, daß man von
Oblaten nicht ſatt wird? Nun freilich, da bleibt
der Ariſtokratie und der Cleriſey nichts uͤbrig als
ſich zu verbuͤnden, und gegen die neue Weltord¬
nung zu kabaliren und zu intriguiren.
8 *
Vergebliches Bemuͤhen! Eine flammende Rie¬
ſinn, ſchreitet die Zeit ruhig weiter, unbekuͤmmert
um das Geklaͤffe biſſiger Pfaͤffchen und Junkerlein
da unten. Wie heulen ſie jedesmahl, wenn ſie
ſich die Schnautze verbrannt an einem Fuße jener
Rieſinn, oder wenn dieſe ihnen mahl unverſehens
auf die Koͤpfe trat, daß das obſcure Gift her¬
ausſpritzte! Ihr Grimm wendet ſich dann um ſo
tuͤckiſcher gegen einzelne Kinder der Zeit, und,
ohnmaͤchtig gegen die Maſſe, ſuchen ſie an Indi¬
viduen ihr feiges Muͤthchen zu kuͤhlen.
Ach! wir muͤſſen es geſtehen, manch armes
Kind der Zeit fuͤhlt darum nicht minder die Stiche,
die ihm lauernde Pfaffen und Junker im Dun¬
keln beyzubringen wiſſen, und ach! wenn auch eine
Glorie ſich zieht um die Wunden des Siegers,
ſo bluten ſie dennoch, und ſchmerzen dennoch!
Es iſt ein ſeltſames Martyrthum, das ſolche Sie¬
ger in unſeren Tagen erdulden, es iſt nicht abge¬
than mit einem kuͤhnen Bekenntniſſe, wie in fruͤ¬
heren Zeiten, wo die Blutzeugen ein raſches Scha¬
fott fanden oder den jubelnden Holzſtoß. Das
Weſen des Martyrthums, alles Irdiſche aufzu¬
opfern fuͤr den himmliſchen Spaß, iſt noch immer
daſſelbe; aber es hat viel verloren von ſeiner in¬
nern Glaubensfreudigkeit, es wurde mehr ein re¬
ſignirendes Ausdauern, ein beharrliches Ueberdul¬
den, ein lebenslaͤngliches Sterben, und da geſchieht
es ſogar, daß in grauen kalten Stunden auch
die heiligſten Maͤrtyrer vom Zweifel beſchlichen
werden. Es giebt nichts Entſetzlicheres als jene
Stunden, wo ein Markus Brutus zu zweifeln
begann an der Wirklichkeit der Tugend fuͤr die
er alles geopfert! Und ach! jener war ein Roͤmer
und lebte in der Bluͤthenzeit der Stoa; wir aber
ſind modern weicheren Stoffes, und dazu ſehen
wir noch das Gedeihen einer Philoſophie, die
aller Begeiſterung nur eine relative Bedeutung zu¬
ſpricht, und ſie ſomit in ſich ſelbſt vernichtet, oder
ſie allenfalls zu einer ſelbſtbewußten Donquixoterie
neutraliſirt!
Die kuͤhlen und klugen Philoſophen! Wie mit¬
leidig laͤcheln ſie herab auf die Selbſtquaͤlereyen
und Wahnſinnigkeiten eines armen Don Quixote,
und in all ihrer Schulweisheit merken ſie nicht,
daß jene Donquixoterie dennoch das Preiſenswer¬
theſte des Lebens, ja das Leben ſelbſt iſt, und daß
dieſe Donquixoterie die ganze Welt, mit allem was
darauf philoſophirt, muſizirt, ackert und gaͤhnt, zu
kuͤhnerem Schwunge befluͤgelt! Denn die große
Volksmaſſe, mitſammt den Philoſophen, iſt, ohne
es zu wiſſen, nichts anders als ein koloſſaler Sancho
Panſa, der, trotz all ſeiner nuͤchternen Pruͤgelſcheu
und hausbackner Verſtaͤndigkeit, dem wahnſinnigen
Ritter in allen ſeinen gefaͤhrlichen Abentheuern
folgt, gelockt von der verſprochenen Belohnung, an
die er glaubt, weil er ſie wuͤnſcht, mehr aber noch
getrieben von der myſtiſchen Gewalt, die der En¬
thuſiasmus immer ausuͤbt auf den großen Haufen —
wie wir es in allen politiſchen und religioͤſen Re¬
voluzionen, und vielleicht taͤglich im kleinſten Er¬
eigniſſe ſehen koͤnnen.
So, z. B. du, lieber Leſer, biſt unwillkuͤhrlich
der Sancho Panſa des verruͤckten Poeten, dem
du, durch die Irrfahrten dieſes Buches, zwar mit
Kopfſchuͤtteln folgſt, aber dennoch folgſt.
Capitel XVI.
Seltſam! „Leben und Thaten des ſcharfſinni¬
gen Junkers Don Quixote von La Mancha, be¬
ſchrieben von Miguel de Cervantes Saavedra“
war das erſte Buch, das ich geleſen habe, nachdem
ich ſchon in ein verſtaͤndiges Knabenalter getreten,
und des Buchſtabenweſens einigermaßen kundig
war. Ich erinnere mich noch ganz genau jener
kleinen Zeit, wo ich mich eines fruͤhen Morgens
von Hauſe wegſtahl, und nach dem Hofgarten
eilte, um dort ungeſtoͤrt den Don Quixote zu
leſen. Es war ein ſchoͤner Maytag, lauſchend
im ſtillen Morgenlichte lag der bluͤhende Fruͤhling,
und ließ ſich loben von der Nachtigall, ſeiner ſuͤßen
Schmeichlerinn, und dieſe ſang ihr Loblied ſo
kareſſirend weich, ſo ſchmelzend enthuſiaſtiſch, daß
die verſchaͤmteſten Knospen aufſprangen, und die luͤ¬
ſternen Graͤſer und die duftigen Sonnenſtralen ſich
haſtiger kuͤßten, und Baͤume und Blumen ſchauer¬
ten, vor eitelem Entzuͤcken. Ich aber ſetzte mich
auf eine alte moſige Steinbank in der ſogenann¬
ten Seufzerallee unfern des Waſſerfalls, und er¬
goͤtzte mein kleines Herz an den großen Aben¬
theuern des kuͤhnen Ritters. In meiner kindiſchen
Ehrlichkeit nahm ich alles fuͤr baaren Ernſt; ſo
laͤcherlich auch dem armen Helden von dem Ge¬
ſchicke mitgeſpielt wurde, ſo meinte ich doch, das
muͤſſe ſo ſeyn, das gehoͤre nun mahl zum Helden¬
thum, das Ausgelachtwerden eben ſo gut wie die
Wunden des Leibes, und jenes verdroß mich eben
ſo ſehr, wie ich dieſe in meiner Seele mitfuͤhlte.
Ich war ein Kind und kannte nicht die Ironie,
die Gott in die Welt hineingeſchaffen, und die
8 * *
der große Dichter, in ſeiner gedruckten Kleinwelt
nachgeahmt hatte — und ich konnte die bitterſten
Thraͤnen vergießen, wenn der edle Ritter, fuͤr all
ſeinen Edelmuth, nur Undank und Pruͤgel genoß;
und da ich, noch ungeuͤbt im Leſen, jedes Wort
laut ausſprach, ſo konnten Voͤgel und Baͤume,
Bach und Blumen alles mit anhoͤren, und da
ſolche unſchuldige Naturweſen, eben ſo wie die
Kinder, von der Weltironie nichts wiſſen, ſo hiel¬
ten ſie gleichfalls alles fuͤr baaren Ernſt, und
weinten mit uͤber die Leiden des armen Ritters,
ſogar eine alte ausgediente Eiche ſchluchzte, und
der Waſſerfall ſchuͤttelte heftiger ſeinen weißen
Bart, und ſchien zu ſchelten auf die Schlechtig¬
keit der Welt. Wir fuͤhlten, daß der Heldenſinn
des Ritters darum nicht mindere Bewundrung
verdient, wenn ihm der Loͤwe ohne Kampfluſt den
Ruͤcken kehrte, und daß ſeine Thaten um ſo prei¬
ſenswerther, je ſchwaͤcher und ausgedorrter ſein Leib,
je morſcher die Ruͤſtung, die ihn ſchuͤtzte, und je
armſeliger der Klepper, der ihn trug. Wir ver¬
achteten den niedrigen Poͤbel, der den armen Hel¬
den ſo pruͤgelroh behandelte, noch mehr aber den
hohen Poͤbel, der, geſchmuͤckt mit buntſeidnen
Maͤnteln, vornehmen Redensarten und Herzogs¬
titeln, einen Mann verhoͤhnte, der ihm an Gei¬
ſteskraft und Edelſinn ſo weit uͤberlegen war.
Dulcineas Ritter ſtieg immer hoͤher in meiner
Achtung, und gewann immer mehr meine Liebe
je laͤnger ich in dem wunderſamen Buche las,
was in demſelben Garten taͤglich geſchah, ſo daß
ich ſchon im Herbſte das Ende der Geſchichte
erreichte, — und nie werde ich den Tag vergeſſen,
wo ich von dem kummervollen Zweykampfe las,
worinn der Ritter ſo ſchmaͤhlig unterliegen mußte!
Es war ein truͤber Tag, haͤßliche Nebelwolken
zogen dem grauen Himmel entlang, die gelben
Blaͤtter fielen ſchmerzlich von den Baͤumen, ſchwere
Thraͤnentropfen hingen an den letzten Blumen,
die gar traurig welk die ſterbenden Koͤpfchen ſenk¬
ten, die Nachtigallen waren laͤngſt verſchollen, von
allen Seiten ſtarrte mich an das Bild der Ver¬
gaͤnglichkeit, — und mein Herz wollte ſchier bre¬
chen, als ich las, wie der edle Ritter betaͤubt und
zermalmt am Boden lag, und ohne das Viſir zu
erheben, als wenn er aus dem Grabe geſprochen
haͤtte, mit ſchwacher kranker Stimme zu dem Sie¬
ger hinaufſprach: „Dulcinea iſt das ſchoͤnſte Weib
der Welt und ich der ungluͤcklichſte Ritter auf
Erden, aber es ziemt ſich nicht, daß meine Schwaͤche
dieſe Wahrheit verlaͤugne — ſtoßt zu mit der
Lanze, Ritter!“
Ach! dieſer leuchtende Ritter vom ſilbernen
Monde, der den muthigſten und edelſten Mann
der Welt beſiegte, war ein verkappter Barbier!
Capitel XVII.
Das iſt nun lange her. Viele neue Lenze ſind
unterdeſſen hervorgebluͤht, doch mangelte ihnen
immer ihr maͤchtigſter Reitz, denn ach! ich glaube
nicht mehr den ſuͤßen Luͤgen der Nachtigall, der
Schmeichlerinn des Fruͤhlings, ich weiß wie ſchnell
ſeine Herrlichkeit verwelkt, und wenn ich die juͤngſte
Roſenknospe erblicke, ſehe ich ſie im Geiſte ſchmerz¬
roth aufbluͤhen, erbleichen und von den Win¬
den verweht. Ueberall ſehe ich einen verkappten
Winter.
In meiner Bruſt aber bluͤht noch jene flam¬
mende Liebe, die ſich ſehnſuͤchtig uͤber die Erde
emporhebt, abentheuerlich herumſchwaͤrmt in den
weiten, gaͤhnenden Raͤumen des Himmels, dort
zuruͤckgeſtoßen wird von den kalten Sternen, und
wieder heimſinkt zur kleinen Erde, und mit Seuf¬
zen und Jauchzen geſtehen muß, daß es doch in
der ganzen Schoͤpfung nichts Schoͤneres und Beſ¬
ſeres giebt als das Herz der Menſchen. Dieſe
Liebe iſt die Begeiſterung, die immer goͤttlicher
Art, gleichviel ob ſie thoͤrigte oder weiſe Handlun¬
gen veruͤbt — Und ſo hat der kleine Knabe kei¬
neswegs unnuͤtz ſeine Thraͤnen verſchwendet, die
er uͤber die Leiden des naͤrriſchen Ritters vergoß,
eben ſo wenig wie ſpaͤterhin der Juͤngling, als
er manche Nacht im Studierſtuͤbchen weinte uͤber
den Tod der heiligſten Freyheitshelden, uͤber Koͤnig
Agis von Sparta, uͤber Cajus und Tiberius Grac¬
chus von Rom, uͤber Jeſus von Jeruſalem, und
uͤber Robespierre und Saint Juſt von Paris.
Jetzt, wo ich die Toga virilis angezogen, und
ſelbſt ein Mann ſeyn will, hat das Weinen ein
Ende, und es gilt zu handeln wie ein Mann,
nachahmend die großen Vorgaͤnger und wills Gott!
kuͤnftig ebenfalls beweint von Knaben und Juͤng¬
lingen. Ja, dieſe ſind es, auf die man noch
rechnen kann in unſerer kalten Zeit; denn dieſe
werden noch entzuͤndet von dem gluͤhenden Hauche,
der ihnen aus den alten Buͤchern entgegenweht,
und deßhalb begreifen ſie auch die Flammenherzen
der Gegenwart. Die Jugend iſt uneigennuͤtzig
im Denken und Fuͤhlen, und denkt und fuͤhlt de߬
halb die Wahrheit am tiefſten, und geizt nicht
wo es gilt eine kuͤhne Theilnahme an Bekenntniß
und That. Die aͤlteren Leute ſind ſelbſtſuͤchtig
und kleinſinnig; ſie denken mehr an die Intereſſen
ihrer Capitalien als an die Intereſſen der Menſch¬
heit; ſie laſſen ihr Schifflein ruhig fortſchwimmen
im Rinnſtein des Lebens, und kuͤmmern ſich
wenig um den Seemann, der auf hohem Meere
gegen die Wellen kaͤmpft; oder ſie erkriechen, mit
klebrigter Beharrlichkeit die Hoͤhe des Buͤrgermei¬
ſterthums oder der Praͤſidentſchaft ihres Clubs,
und zucken die Achſel uͤber die Heroenbilder, die
der Sturm hinabwarf von der Saͤule des Ruhms,
und dabey erzaͤhlen ſie vielleicht: daß ſie ſelbſt in
ihrer Jugend ebenfalls mit dem Kopf gegen die
Wand gerennt ſeyen, daß ſie ſich aber nachher
mit der Wand wieder verſoͤhnt haͤtten, denn die
Wand ſey das Abſolute, das Geſetzte, das an
und fuͤr ſich Seyende, das weil es iſt, auch ver¬
nuͤnftig iſt, weßhalb auch derjenige unvernuͤnftig
iſt, welcher einen allerhoͤchſt vernuͤnftigen, unwi¬
derſprechbar ſeyenden, feſtgeſetzten Abſolutismus
nicht ertragen will. Ach! dieſe Verwerflichen, die
uns in eine gelinde Knechtſchaft hineinphiloſophi¬
ren wollen, ſind immer noch achtenswerther als
jene Verworfenen, die bey der Vertheidigung des
Despotismus, ſich nicht einmahl auf vernuͤnftige
Vernunftgruͤnde einlaſſen, ſondern ihn geſchichts¬
kundig als ein Gewohnheitsrecht verfechten, woran
ſich die Menſchen im Laufe der Zeit allmaͤhlig
gewoͤhnt haͤtten, und das alſo rechtsguͤltig und
geſetzkraͤftig unumſtoͤßlich ſey.
Ach! ich will nicht wie Ham die Decke auf¬
heben von der Schaam des Vaterlandes, aber es
iſt entſetzlich, wie man's bey uns verſtanden hat,
die Sklaverey ſogar geſchwaͤtzig zu machen, und
wie deutſche Philoſophen und Hiſtoriker ihr Ge¬
hirn abmartern, um jeden Despotismus, und ſey
er noch ſo albern und toͤlpelhaft, als vernuͤnftig
oder als rechtsguͤltig zu vertheidigen. Schweigen iſt
die Ehre der Sklaven, ſagt Tazitus; jene Philoſo¬
phen und Hiſtoriker behaupten das Gegentheil und
zeigen auf die Ehrenbaͤndchen in ihrem Knopfloch.
Vielleicht habt Ihr doch Recht, und ich bin
nur ein Donquichote und das Leſen von allerley
wunderbaren Buͤchern hat mir den Kopf verwirrt,
eben ſo wie den Junker von La Mancha, und
Jean Jaques Rouſſeau war mein Amadis von
Gallien, Mirabeau war mein Roldan oder Agra¬
9
manth, und ich habe mich zu ſehr hineinſtudiert
in die Heldenthaten der franzoͤſiſchen Paladine und
der Tafelrunde des Nazionalkonvents. Freylich,
mein Wahnſinn und die fixen Ideen, die ich aus
jenen Buͤchern geſchoͤpft, ſind von entgegengeſetzter
Art, als der Wahnſinn und die fixen Ideen des
Manchaners; dieſer wollte die untergehende Ritter¬
zeit wieder herſtellen, ich hingegen will Alles,
was aus jener Zeit noch uͤbrig geblieben iſt, jetzt
vollends vernichten, und da handeln wir alſo mit
ganz verſchiedenen Anſichten. Mein College ſah
Windmuͤhlen fuͤr Rieſen an, ich hingegen kann
in unſeren heutigen Rieſen nur pralende Wind¬
muͤhlen ſehen, jener ſah lederne Weinſchlaͤuche fuͤr
maͤchtige Zauberer an, ich aber ſehe in unſeren
jetzigen Zauberern nur den ledernen Weinſchlauch,
jener hielt Bettlerherbergen fuͤr Caſtele, Eſeltreiber
fuͤr Cavaliere, Stalldirnen fuͤr Hofdamen, ich
hingegen halte unſre Caſtele nur fuͤr Lumpenher¬
bergen, unſre Cavaliere nur fuͤr Eſelstreiber, unſere
Hofdamen nur fuͤr gemeine Stalldirnen, wie jener
eine Puppenkomoͤdie fuͤr eine Staatsakzion hielt,
ſo halte ich unſre Staatsakzionen fuͤr leidige Pup¬
penkomoͤdien — doch eben ſo tapfer wie der tap¬
fere Manchaner ſchlage ich drein in die hoͤlzerne
Wirthſchaft. Ach! ſolche Heldenthat bekoͤmmt mir
oft eben ſo ſchlecht wie ihm, und ich muß, eben
ſo wie er, viel erdulden fuͤr die Ehre meiner Dame.
Wollte ich ſie verlaͤugnen, aus eitel Furcht oder
ſchnoͤder Gewinnſucht, ſo koͤnnte ich behaglich leben
in dieſer ſeyenden vernuͤnftigen Welt, und ich
wuͤrde eine ſchoͤne Maritorne zum Altare fuͤhren,
und mich einſegnen laſſen von feiſten Zauberern,
und mit edlen Eſeltreibern banquettiren, und ge¬
fahrloſe Novellen und ſonſtige kleine Sklaͤvchen
zeugen! Statt deſſen, geſchmuͤckt mit den drey
Farben meiner Dame, muß ich beſtaͤndig auf der
Menſur liegen, und mich durch unſaͤgliches Drang¬
ſal durchſchlagen, und ich erfechte keinen Sieg,
der mich nicht auch etwas Herzblut koſtet. Tag
9 *
und Nacht bin ich in Noͤthen; denn jene Feinde
ſind ſo tuͤckiſch, daß manche, die ich zu Tode ge¬
troffen, ſich noch immer ein Air gaben als ob ſie
lebten, und in alle Geſtalten ſich verwandelnd,
mir Tag und Nacht verleiden konnten. Wie viel
Schmerzen habe ich, durch ſolchen fatalen Spuk,
ſchon erdulden muͤſſen! Wo mir etwas Liebes
bluͤhte, da ſchlichen ſie hin, die heimtuͤckiſchen
Geſpenſter, und knickten ſogar die unſchuldigſten
Knospen. Ueberall, und wo ich es am wenigſten
vermuthen ſollte, entdecke ich am Boden ihre
ſilbrigte Schleimſpur, und nehme ich mich nicht
in Acht, ſo kann ich verderblich ausgleiten, ſogar
im Hauſe der naͤchſten Lieben. Ihr moͤgt laͤcheln,
und ſolche Beſorgniß fuͤr eitel Einbildungen, gleich
denen des Don Quixote, halten. Aber eingebil¬
dete Schmerzen thun darum nicht minder weh,
und bildet man ſich ein etwas Schirling genoſſen
zu haben, ſo kann man die Auszehrung bekom¬
men, auf keinen Fall wird man davon fett. Und
daß ich fett geworden ſey, iſt eine Verlaͤumdung,
wenigſtens habe ich noch keine fette Sinekur erhal¬
ten, und ich haͤtte doch die dazu gehoͤrigen Ta¬
lente. Auch iſt von dem Fett der Vetterſchaft
nichts an mir zu verſpuͤren. Ich bilde mir ein,
man habe alles moͤgliche angewendet um mich ma¬
ger zu halten; als mich hungerte da fuͤtterte man
mich mit Schlangen, als mich duͤrſtete da traͤnkte
man mich mit Wermuth, man goß mir die Hoͤlle
ins Herz, daß ich Gift weinte und Feuer ſeufzte,
man kroch mir nach bis in die Traͤume meiner
Naͤchte — und da ſehe ich ſie die grauenhaften
Larven, die noblen Lakayengeſichter mit fletſchenden
Zaͤhnen, die drohenden Banquiernaſen, die toͤdt¬
lichen Augen, die aus den Kaputzen hervorſtechen,
die bleichen Manſchettenhaͤnde mit blanken Meſ¬
ſern —
Auch die alte Frau, die neben mir wohnt,
meine Wandnachbarin, haͤlt mich fuͤr verruͤckt, und
behauptet ich ſpraͤche im Schlafe das wahnſinnigſte
Zeug, und die vorige Nacht habe ſie deutlich ge¬
hoͤrt, daß ich rief: „Dulcinea iſt das ſchoͤnſte
Weib der Welt und ich der ungluͤcklichſte Ritter
auf Erden, aber es ziemt ſich nicht, daß meine
Schwaͤche dieſe Wahrheit verlaͤugne — ſtoßt zu
mit der Lanze, Ritter!“
Spaͤtere Nachſchrift.
(November 1830.)
Ich weiß nicht welche ſonderbare Pietaͤt mich
davon abhielt, einige Ausdruͤcke, die mir bey ſpaͤ¬
terer Durchſicht der vorſtehenden Blaͤtter etwas
allzuherbe erſchienen, im mindeſten zu aͤndern.
Das Manuſkript war ſchon ſo gelb verblichen,
wie ein Todter, und ich hatte Scheu es zu ver¬
ſtuͤmmeln. Alles verjaͤhrt Geſchriebene hat ſolch
inwohnendes Recht der Unverletzlichkeit, und gar
dieſe Blaͤtter, die gewiſſermaßen einer dunkeln
Vergangenheit angehoͤren. Denn ſie ſind faſt ein
Jahr vor der dritten bourboniſchen Hedſchira ge¬
ſchrieben, zu einer Zeit, die weit herber war als
der herbſte Ausdruck, zu einer Zeit, wo es den
Anſchein gewann, als koͤnnte der Sieg der Frey¬
heit noch um ein Jahrhundert verzoͤgert werden.
Es war wenigſtens bedenklich, wenn man ſah,
wie unſere Ritter ſo ſichere Geſichter bekamen,
wie ſie die verblaßten Wappen wieder friſchbunt
anſtreichen ließen, wie ſie mit Schild und Speer
zu Muͤnchen und Potsdam turnierten, wie ſie ſo
ſtolz auf ihren hohen Roſſen ſaßen, als wollten ſie
nach Quedlinburg reiten, um ſich neu auflegen
zu laſſen bey Gottfried Baſſen. Noch unertraͤg¬
licher waren die triumphirend tuͤckiſchen Aeugelein
unſerer Pfaͤffelein, die ihre langen Ohren ſo
ſchlau unter der Kaputze zu verbergen wußten,
daß wir die verderblichſten Kniffe erwarteten. Man
konnte gar nicht vorher wiſſen, daß die edlen
Ritter ihre Pfeile ſo klaͤglich verſchießen wuͤrden,
und meiſtens anonym, oder wenigſtens im Da¬
vonjagen, mit abgewendetem Geſichte, wie flie¬
hende Baſchkiren. Eben ſo wenig konnte man
vorher wiſſen, daß die Schlangenliſt unſerer Pfaͤffe¬
lein ſo zu Schanden werde — ach! es iſt faſt
Mitleiden erregend, wenn man ſieht, wie ſchlecht
ſie ihr beſtes Gift zu brauchen wiſſen, da ſie uns,
aus Wuth, in großen Stuͤcken den Arſenik an den
Kopf werfen, ſtatt ihn lothweis und liebevoll in
unſere Suppen zu ſchuͤtten, wenn man ſieht, wie
ſie aus der alten Kinderwaͤſche die verjaͤhrten Win¬
deln ihrer Feinde hervorkramen, um Unrath zu
erſchnuͤffeln, wie ſie ſogar die Vaͤter ihrer Feinde
aus dem Grabe hervorwuͤhlen, um nachzuſehen,
ob ſie etwa beſchnitten waren — O der Thoren!
die da meinen entdeckt zu haben, der Loͤwe gehoͤre
eigentlich zum Katzengeſchlecht, und die mit dieſer
naturgeſchichtlichen Entdeckung noch ſo lang her¬
umziſchen werden, bis die große Katze das ex
ungue leonem an ihrem eignen Fleiſche bewaͤhrt!
O der obſcuren Wichte, die nicht eher erleuchtet
werden, bis ſie ſelbſt an der Laterne haͤngen!
Mit den Gedaͤrmen eines Eſels moͤchte ich meine
Leyer beſaiten, um ſie nach Wuͤrden zu beſingen,
die geſchorenen Dummkoͤpfe!
Eine gewaltige Luſt ergreift mich! Waͤhrend
ich ſitze, und ſchreibe, erklingt Muſik unter mei¬
nem Fenſter, und an dem elegiſchen Grimm der
langezogenen Melodie, erkenne ich jene marſeiller
Hymne, womit der ſchoͤne Barbaroux und ſeine
Gefaͤhrten die Stadt Paris begruͤßten, jener Kuh¬
reigen der Freyheit, bey deſſen Toͤnen die Schwei¬
tzer in den Tuilerien das Heimweh bekamen, jener
triumphirende Todesgeſang der Gironde, das alte,
ſuͤße Wiegenlied —
Welch ein Lied! Es durchſchauert mich mit
Feuer und Freude, und entzuͤndet in mir die gluͤ¬
henden Sterne der Begeiſterung und die Raketen
des Spottes. Ja, dieſe ſollen nicht fehlen, bey
dem großen Feuerwerk der Zeit. Klingende Flam¬
menſtroͤme des Geſanges ſollen ſich ergießen von
der Hoͤhe der Freyheitsluſt, in kuͤhnen Kaskaden,
wie ſich der Ganges herabſtuͤrzt vom Himalaya!
Und du, holde Satyra, Tochter der gerechten
Themis und des bocksfuͤßigen Pan, leih mir deine
Huͤlfe, Du biſt ja muͤtterlicher Seite dem Tita¬
nengeſchlechte entſproſſen, und haſſeſt gleich mir die
Feinde deiner Sippſchaft, die ſchwaͤchlichen Uſur¬
patoren des Olymps. Leih mir das Schwert dei¬
ner Mutter, damit ich ſie richte, die verhaßte
Brut, und gieb mir die Pickelfloͤte deines Vaters,
damit ich ſie zu Tode pfeife —
Schon hoͤren ſie das toͤdtliche Pfeifen, und es
ergreift ſie der paniſche Schrecken, und ſie entflie¬
hen wieder, in Thiergeſtalten, wie damals, als
wir den Pelion ſtuͤlpten auf den Oſſa —
Aux armes citoyens!
Man thut uns armen Titanen ſehr Unrecht,
als man die duͤſtre Wildheit tadelte, womit wir,
bey jenem Himmelsſturm, herauftobten — ach, da
unten im Tartaros, da war es grauenhaft und
dunkel, und da hoͤrten wir nur Cerberusgeheul
und Kettengeklirr, und es iſt verzeihlich, wenn wir
etwas ungeſchlacht erſchienen, in Vergleichung mit
jenen Goͤttern comme il faut, die fein und geſit¬
tet, in den heiteren Salons des Olymps, ſo viel
lieblichen Nektar und ſuͤße Muſenkonzerte genoſſen.
Ich kann nicht weiter ſchreiben, denn die
Muſik unter meinem Fenſter berauſcht mir den
Kopf, und immer gewaltiger greift herauf der
Refrain:
Aux armes citoyens!
Engliſche Fragmente.
1828.
Gluͤckſeliges Albion! luſtiges Alt-England! warum ver¬
ließ ich Dich? — Um die Geſellſchaft von Gentlemen zu
fliehen, und unter Lumpengeſindel der Einzige zu ſeyn, der
mit Bewußtſeyn lebt und handelt?
Die ehrlichen Leute von W. Alexis.
I.
Geſpraͤch auf der Themſe.
— — — Der gelbe Mann ſtand neben mir
auf dem Verdeck, als ich die gruͤnen Ufer der Themſe
erblickte, und in allen Winkeln meiner Seele die
Nachtigallen erwachten. „Land der Freyheit,“ rief
ich, „ich gruͤße dich! — Sey mir gegruͤßt, Frey¬
heit, junge Sonne der verjuͤngten Welt! Jene aͤl¬
tere Sonnen, die Liebe und der Glaube, ſind welk
und kalt geworden, und koͤnnen nicht mehr leuch¬
ten und waͤrmen. Verlaſſen ſind die alten Myr¬
tenwaͤlder, die einſt ſo uͤberbevoͤlkert waren, und
nur noch bloͤde Turteltauben niſten in den zaͤrtlichen
Buͤſchen. Es ſinken die alten Dome, die einſt von
einem uͤbermuͤthig frommen Geſchlechte, das ſeinen
Glauben in den Himmel hineinbauen wollte, ſo
rieſenhoch aufgethuͤrmt wurden; ſie ſind morſch und
verfallen und ihre Goͤtter glauben an ſich ſelbſt
nicht mehr. Dieſe Goͤtter ſind abgelebt, und un¬
ſere Zeit hat nicht Phantaſie genug neue zu ſchaf¬
fen. Alle Kraft der Menſchenbruſt wird jetzt zu
Freyheitsliebe und die Freyheit iſt vielleicht die Re¬
ligion der neuen Zeit, und es iſt wieder eine Re¬
ligion, die nicht den Reichen gepredigt wurde, ſon¬
dern den Armen, und ſie hat ebenfalls ihre Evan¬
geliſten, ihre Martyrer und ihre Iſchariots!“
„Junger Enthuſiaſt,“ ſprach der gelbe Mann,
„Sie werden nicht finden, was Sie ſuchen. Sie
moͤgen Recht haben, daß die Freyheit eine neue
Religion iſt, die ſich uͤber die ganze Erde verbrei¬
tet. Aber wie einſt jedes Volk, indem es das Chri¬
ſtenthum annahm, ſolches nach ſeinen Beduͤrfniſſen
und ſeinem eigenen Charakter modelte, ſo wird je¬
des Volk von der neuen Religion, von der Frey¬
heit, nur dasjenige annehmen was ſeinen Lokalbe¬
duͤrfniſſen und ſeinem Nationalcharakter gemaͤß iſt.“
„Die Englaͤnder ſind ein haͤusliches Volk, ſie
leben ein begrenztes, umfriedetes Familienleben; im
Kreiſe ſeiner Angehoͤrigen ſucht der Englaͤnder jenes
Seelenbehagen, das ihm ſchon durch ſeine angebo¬
rene geſellſchaftliche Unbeholfenheit außer dem Hauſe
verſagt iſt. Der Englaͤnder iſt daher mit jener
Freyheit zufrieden, die ſeine perſoͤnlichſten Rechte
verbuͤrgt und ſeinen Leib, ſein Eigenthum, ſeine
Ehe, ſeinen Glauben und ſogar ſeine Grillen un¬
bedingt ſchuͤtzt. In ſeinem Hauſe iſt niemand freier
als ein Englaͤnder, um mich eines beruͤhmten Aus¬
drucks zu bedienen, er iſt Koͤnig und Biſchof in
ſeinen vier Pfaͤhlen, und nicht unrichtig iſt ſein
gewoͤhnlicher Wahlſpruch: my house is my castle.“
„Iſt nun bey den Englaͤndern das meiſte Be¬
duͤrfniß nach perſoͤnlicher Freyheit, ſo moͤchte wohl
der Franzoſe im Nothfall dieſe entbehren koͤnnen,
wenn man ihm nur jenen Theil der allgemeinen
10
Freyheit, den wir Gleichheit nennen, vollauf genie¬
ßen laſſen. Die Franzoſen ſind kein haͤusliches
Volk, ſondern ein geſelliges, ſie lieben kein ſchwei¬
gendes Beyſammenſitzen, welches ſie une conversa¬
tion anglaise nennen, ſie laufen plaudernd vom
Kaffeehaus nach dem Caſſino, vom Caſſino nach den
Salons, ihr leichtes Champagnerblut und angebo¬
renes Umgangstalent treibt ſie zum Geſellſchaftsle¬
ben, und deſſen erſte und letzte Bedingung, ja deſ¬
ſen Seele iſt: die Gleichheit. Mit der Ausbildung
der Geſellſchaftlichkeit in Frankreich mußte daher
auch das Beduͤrfniß der Gleichheit entſtehen, und
wenn auch der Grund der Revolution im Budget
zu ſuchen iſt, ſo wurde ihr doch zuerſt Wort und
Stimme verliehen, von jenen geiſtreichen Roturiers,
die in den Salons von Paris mit der hohen No¬
bleſſe ſcheinbar auf einem Fuße der Gleichheit leb¬
ten, und doch dann und wann, ſey es auch nur
durch ein kaum bemerkbares, aber deſto tiefer ver¬
letzendes Feudallaͤcheln, an die große, ſchmachvolle
Ungleichheit erinnert wurden; — und wenn die
Canaille roturière ſich die Freyheit nahm, jene hohe
Nobleſſe zu koͤpfen, ſo geſchah dieſes vielleicht we¬
niger um ihre Guͤter als um ihre Ahnen zu erben,
und ſtatt der buͤrgerlichen Ungleichheit eine adliche
Gleichheit einzufuͤhren. Daß dieſes Streben nach
Gleichheit das Hauptprinzip der Revolution war,
duͤrfen wir um ſo mehr glauben, da die Franzoſen ſich
bald gluͤcklich und zufrieden fuͤhlten unter der Herrſchaft
ihres großen Kaiſers, der, ihre Unmuͤndigkeit beachtend,
all ihre Freyheit unter ſeiner ſtrengen Curatel hielt,
und ihnen nur die Freude einer voͤlligen, ruhmvol¬
len Gleichheit uͤberließ.“
„Weit geduldiger als der Franzoſe ertraͤgt da¬
her der Englaͤnder den Anblick einer bevorrechteten
Ariſtokratie; er troͤſtet ſich, daß er ſelbſt Rechte be¬
ſitzt, die es jener unmoͤglich machen, ihn in ſeinen
haͤuslichen Comforts und in ſeinen Lebensanſpruͤ¬
chen zu ſtoͤren. Auch traͤgt jene Ariſtokratie nicht
jene Rechte zur Schau, wie auf dem Continente.
10*
In den Straßen und oͤffentlichen Vergnuͤgungsſaͤlen
Londons ſieht man bunte Baͤnder nur auf den
Hauben der Weiber und goldne und ſilberne Ab¬
zeichen nur auf den Roͤcken der Lakaien. Auch jene
ſchoͤne, bunte Livree, die bey uns einen bevorrechte¬
ten Wehrſtand ankuͤndigt, iſt in England nichts
weniger als eine Ehrenauszeichnung; wie ein Schau¬
ſpieler ſich nach der Vorſtellung die Schminke ab¬
wiſcht, ſo eilt auch der engliſche Offizier, ſich ſeines
rothen Rocks zu entledigen, ſobald die Dienſtſtunde
voruͤber iſt, und im ſchlichten Rock eines Gentle¬
man iſt er wieder ein Gentleman. Nur auf dem
Theater zu St. James gelten jene Decorationen
und Koſtume, die aus dem Kehricht des Mittelal¬
ters aufbewahrt worden; da flattern die Ordens¬
baͤnder, da blinken die Sterne, da rauſchen die ſei¬
denen Hoſen und Atlasſchleppen, da knarren die
goldnen Sporen und altfranzoͤſiſchen Redensarten,
da blaͤht ſich der Ritter, da ſpreizt ſich das Fraͤu¬
lein. — Aber was kuͤmmert einen freyen Englaͤnder
die Hofkomoͤdie zu St. James! wird er doch nie
davon belaͤſtigt und verwehrt es ihm ja niemand,
wenn er in ſeinem Hauſe ebenfalls Komoͤdie ſpielt,
und ſeine Hausofficianten vor ſich knieen laͤßt, und
mit dem Strumpfband der Koͤchin taͤndelt — honny
soit qui mal y pense.“
„Was die Deutſchen betrifft, ſo beduͤrfen ſie
weder der Freyheit noch der Gleichheit. Sie ſind
ein ſpeculatives Volk, Ideologen, Vor- und Nach¬
denker, Traͤumer, die nur in der Vergangenheit und
in der Zukunft leben, und keine Gegenwart haben.
Englaͤnder und Franzoſen haben eine Gegenwart,
bei ihnen hat jeder Tag ſeinen Kampf und Gegen¬
kampf und ſeine Geſchichte. Der Deutſche hat
nichts, wofuͤr er kaͤmpfen ſollte, und da er zu muth¬
maßen begann, daß es doch Dinge geben koͤnne,
deren Beſitz wuͤnſchenswerth waͤre, ſo haben wohl,
weiſe ſeine Philoſophen ihn gelehrt, an der Exiſtenz
ſolcher Dinge zu zweifeln. Es laͤßt ſich nicht laͤug¬
nen, daß auch die Deutſchen die Freyheit lieben.
Aber anders wie andere Voͤlker. Der Englaͤnder
liebt die Freyheit wie ſein rechtmaͤßiges Weib, er
beſitzt ſie, und wenn er ſie auch nicht mit abſon¬
derlicher Zaͤrtlichkeit behandelt, ſo weiß er ſie doch
im Nothfall wie ein Mann zu vertheidigen, und
wehe dem rothgeroͤckten Burſchen, der ſich in ihr
heiliges Schlafgemach draͤngt — ſey es als Gallant
oder als Scherge. Der Franzoſe liebt die Freyheit
wie ſeine erwaͤhlte Braut. Er gluͤht fuͤr ſie, er
flammt, er wirft ſich zu ihren Fuͤßen mit den uͤber¬
ſpannteſten Betheuerungen, er ſchlaͤgt ſich fuͤr ſie
auf Tod und Leben, er begeht fuͤr ſie tauſenderley
Thorheiten. Der Deutſche liebt die Freyheit wie
ſeine alte Großmutter.“
Gar wunderlich ſind doch die Menſchen! Im
Vaterlande brummen wir, jede Dummheit, jede
Verkehrtheit dort verdrießt uns, wie Knaben moͤch¬
ten wir taͤglich davon laufen in die weite Welt;
ſind wir endlich wirklich in die weite Welt gekom¬
men, ſo iſt uns dieſe wieder zu weit, und heimlich
ſehnen wir uns oft wieder nach den engen Dumm¬
heiten und Verkehrtheiten der Heimath, und wir
moͤchten wieder dort in der alten, wohlbekannten
Stube ſitzen, und uns, wenn es anginge, ein Haus
hinter den Ofen bauen, und warm drin hocken, und
den allgemeinen Anzeiger der Deutſchen leſen. So
ging es auch mir auf der Reiſe nach England.
Kaum verlor ich den Anblick der deutſchen Kuͤſte,
ſo erwachte in mir eine kurioſe Nachliebe fuͤr jene
teutoniſchen Schlafmuͤtzen- und Peruͤckenwaͤlder,
die ich eben noch mit Unmuth verlaſſen, und als
ich das Vaterland aus den Augen verloren hatte,
fand ich es im Herzen wieder.
Daher mochte wohl meine Stimme etwas weich
klingen, als ich dem gelben Mann antwortete:
„Lieber Herr, ſcheltet mir nicht die Deutſchen! Wenn
ſie auch Traͤumer ſind, ſo haben doch manche un¬
ter ihnen ſo ſchoͤne Traͤume getraͤumet, daß ich ſie
kaum vertauſchen moͤchte gegen die wachende Wirk¬
lichkeit unſerer Nachbaren. Da wir alle ſchlafen
und traͤumen, ſo koͤnnen wir vielleicht die Freyheit
entbehren; denn unſere Tyrannen ſchlafen ebenfalls
und traͤumen blos ihre Tyrannei. Nur damals
ſind wir erwacht, als die katholiſchen Roͤmer unſere
Traumfreyheit geraubt hatten; da handelten wir und
ſiegten und legten uns wieder hin und traͤumten.
O Herr! ſpottet nicht unſerer Traͤumer, dann und
wann, wie Somnambuͤle ſprechen ſie Wunderbares
im Schlafe, und ihr Wort wird Saat der Frey¬
heit. Keiner kann abſehen die Wendung der Dinge.
Der ſpleenige Britte, ſeines Weibes uͤberdruͤſſig,
legt ihr vielleicht einſt einen Strick um den Hals,
und bringt ſie zum Verkauf nach Smithfield. Der
flatterhafte Franzoſe wird ſeiner geliebten Braut
vielleicht treulos und verlaͤßt ſie, und taͤnzelt ſin¬
gend nach den Hofdamen (courtisanes) ſeines koͤ¬
niglichen Palaſtes (palais royal). Der Deutſche
wird aber ſeine alte Großmutter nie ganz vor die
Thuͤre ſtoßen, er wird ihr immer ein Plaͤtzchen am
Heerde goͤnnen, wo ſie den horchenden Kindern
ihre Maͤhrchen erzaͤhlen kann. — Wenn einſt, was
Gott verhuͤte, in der ganzen Welt die Freyheit ver¬
ſchwunden iſt, ſo wird ein deutſcher Traͤumer ſie
in ſeinen Traͤumen wieder entdecken.“
Waͤhrend nun das Dampfboot, und auf dem¬
ſelben unſer Geſpraͤch, den Strom hinaufſchwamm,
war die Sonne untergegangen, und ihre letzten
Strahlen beleuchteten das Hoſpital zu Greenwich,
ein impoſantes palaſtgleiches Gebaͤude, das eigent¬
lich aus zwei Fluͤgeln beſteht, deren Zwiſchenraum
leer iſt, und einen mit einem artigen Schloͤßlein
gekroͤnten, waldgruͤnen Berg den Vorbeifahrenden
ſehen laͤßt. Auf dem Waſſer nahm jetzt das Ge¬
wuͤhl der Schiffe immer zu, und ich wunderte mich,
wie geſchickt dieſe großen Fahrzeuge ſich einander
ausweichen. Da gruͤßt im Begegnen manch ernſt¬
haft freundliches Geſicht, das man nie geſehen hat,
und vielleicht auch nie wieder ſehen wird. Man
faͤhrt ſich ſo nahe vorbei, daß man ſich die Haͤnde
reichen koͤnnte zum Willkomm und Abſchied zu
gleicher Zeit. Das Herz ſchwillt beim Anblick ſo
vieler ſchwellenden Segel, und wird wunderbar auf¬
geregt, wenn vom Ufer her das verworrene Sum¬
men und die ferne Tanzmuſik und der dumpfe Ma¬
troſenlaͤrm herandroͤhnt. Aber im weißen Schleyer
des Abendnebels verſchwimmen allmaͤhlig die Con¬
touren der Gegenſtaͤnde, und ſichtbar bleibt nur ein
Wald von Maſtbaͤumen, die lang und kahl empor¬
ragen.
Der gelbe Mann ſtand noch immer neben mir,
und ſchaute ſinnend in die Hoͤhe, als ſuche er im
Nebelhimmel die bleichen Sterne. Noch immer
in die Hoͤhe ſchauend, legte er die Hand auf meine
Schulter, und in einem Tone, als wenn geheime
Gedanken unwillkuͤrlich zu Worten werden, ſprach
er: „Freyheit und Gleichheit! man findet ſie nicht
hier unten und nicht einmal dort oben. Dort jene
Sterne ſind nicht gleich, einer iſt groͤßer und leuch¬
tender als der andere, keiner von ihnen wandelt
frey, alle gehorchen ſie vorgeſchriebenen, eiſernen
Geſetzen — Sclaverey iſt im Himmel wie auf
Erden.“
„Das iſt der Tower!“ rief ploͤtzlich einer un¬
ſerer Reiſegefaͤhrten, indem er auf ein hohes Ge¬
baͤude zeigte, das, aus dem nebelbedeckten London,
wie ein geſpenſtiſch dunkler Traum, hervorſtieg.
II.
London.
Ich habe das Merkwuͤrdigſte geſehen, was
die Welt dem ſtaunenden Geiſte zeigen kann,
ich habe es geſehen und ſtaune noch immer —
noch immer ſtarrt in meinem Gedaͤchtniſſe dieſer
ſteinerne Wald von Haͤuſern und dazwiſchen der
draͤngende Strom lebendiger Menſchengeſichter mit
all ihren bunten Leidenſchaften, mit all ihrer grauen¬
haften Haſt der Liebe, des Hungers und des Haſ¬
ſes — ich ſpreche von London.
Schickt einen Philoſophen nach London; bei
Leibe keinen Poeten! Schickt einen Philoſo¬
phen hin und ſtellt ihn an eine Ecke von Cheap¬
ſide, er wird hier mehr lernen, als aus allen Buͤ¬
chern der letzten leipziger Meſſe; und wie die Men¬
ſchenwogen ihn umrauſchen, ſo wird auch ein
Meer von neuen Gedanken vor ihm aufſteigen,
der ewige Geiſt, der daruͤber ſchwebt, wird ihn
anwehen, die verborgenſten Geheimniſſe der geſell¬
ſchaftlichen Ordnung werden ſich ihm ploͤtzlich offen¬
baren, er wird den Pulsſchlag der Welt hoͤrbar
vernehmen und ſichtbar ſehen — denn wenn Lon¬
don die rechte Hand der Welt iſt, die thaͤtige,
maͤchtige rechte Hand, ſo iſt jene Straße, die
von der Boͤrſe nach Downingſtreet fuͤhrt, als die
Pulsader der Welt zu betrachten.
Aber ſchickt keinen Poeten nach London! Die¬
ſer baare Ernſt aller Dinge, dieſe koloſſale Ein¬
foͤrmigkeit, dieſe maſchinenhafte Bewegung, dieſe
Verdrießlichkeit der Freude ſelbſt, dieſes uͤbertrie¬
bene London erdruͤckt die Phantaſie und zerreißt
das Herz. Und wolltet Ihr gar einen deutſchen
Poeten hinſchicken, einen Traͤumer, der vor jeder
einzelnen Erſcheinung ſtehen bleibt, etwa vor einem
zerlumpten Bettelweib oder einem blanken Gold¬
ſchmiedladen — o! dann geht es ihm erſt recht
ſchlimm, und er wird von allen Seiten fortgeſcho¬
ben oder gar mit einem milden God damn! nie¬
dergeſtoßen. God damn! das verdammte Stoßen!
Ich merkte bald, dieſes Volk hat Viel zu thun.
Es lebt auf einem großen Fuße, es will, obgleich
Futter und Kleider in ſeinem Lande theurer ſind
als bei uns, dennoch beſſer gefuͤttert und beſſer
gekleidet ſeyn als wir; wie zur Vornehmheit gehoͤrt,
hat es auch große Schulden, dennoch aus Gro߬
pralerei wirft es zuweilen ſeine Guineen zum Fen¬
ſter hinaus, bezahlt andere Voͤlker, daß ſie ſich
zu ſeinem Vergnuͤgen herumboxen, giebt dabey
ihren reſpektiven Koͤnigen noch außerdem ein gutes
Douceur — und deshalb hat John Bull Tag und
Nacht zu arbeiten, um Geld zu ſolchen Ausgaben
anzuſchaffen, Tag und Nacht muß er ſein Gehirn
anſtrengen zur Erfindung neuer Maſchinen, und
er ſitzt und rechnet im Schweiße ſeines Angeſichts,
und rennt und laͤuft, ohne ſich viel umzuſehen,
vom Hafen nach der Boͤrſe, von der Boͤrſe nach
dem Strand, und da iſt es ſehr verzeihlich, wenn
er an der Ecke von Cheapſide einen armen deut¬
ſchen Poeten, der einen Bilderladen angaffend
ihm in dem Wege ſteht, etwas unſanft auf die
Seite ſtoͤßt. „God damn!“
Das Bild aber, welches ich an der Ecke von
Cheapſide angaffte, war der Uebergang der Fran¬
zoſen uͤber die Bereſina.
Als ich, aus dieſer Betrachtung aufgeruͤttelt,
wieder auf die toſende Straße blickte, wo ein
buntſcheckiger Knaͤul von Maͤnnern, Weibern,
Kindern, Pferden, Poſtkutſchen, darunter auch
ein Leichenzug, ſich brauſend, ſchreiend, aͤchzend
und knarrend dahinwaͤlzte: da ſchien es mir, als
ſey ganz London ſo eine Bereſinabruͤcke, wo jeder
in wahnſinniger Angſt, um ſein Bischen Leben
zu friſten, ſich durchdraͤngen will, wo der kecke
Reuter den armen Fußgaͤnger niederſtampft, wo
derjenige, der zu Boden faͤllt, auf immer verloren
iſt, wo die beſten Kameraden fuͤhllos einer uͤber
die Leiche des andern dahineilen, und Tauſende,
die, ſterbensmatt und blutend, ſich vergebens an
den Planken der Bruͤcke feſtklammern wollten, in
die kalte Eisgrube des Todes hinabſtuͤrzen.
Wie viel heiterer und wohnlicher iſt es dage¬
gen in unſerem lieben Deutſchland! Wie traum¬
haft gemach, wie ſabathlich ruhig bewegen ſich
hier die Dinge! Ruhig zieht die Wache auf, im
ruhigen Sonnenſchein glaͤnzen die Uniformen und
Haͤuſer, an den Flieſen flattern die Schwalben,
aus den Fenſtern laͤcheln dicke Juſtizraͤthinnen,
auf den hallenden Straßen iſt Platz genug: die
Hunde koͤnnen ſich gehoͤrig anriechen, die Men¬
ſchen koͤnnen bequem ſtehen bleiben und uͤber das
Theater diskuriren und tief, tief gruͤßen, wenn
irgend ein vornehmes Luͤmpchen oder Viceluͤmpchen,
mit bunten Baͤndchen auf dem abgeſchabten Roͤck¬
chen, oder ein gepudertes, vergoldetes Hofmar¬
ſchaͤlkchen gnaͤdig wiedergruͤßend vorbeytaͤnzelt!
Ich hatte mir vorgenommen uͤber die Großar¬
tigkeit Londons, wovon ich ſo viel gehoͤrt, nicht
zu erſtaunen. Aber es ging mir wie dem armen
Schulknaben, der ſich vornahm, die Pruͤgel, die
er empfangen ſollte, nicht zu fuͤhlen. Die Sache
beſtand eigentlich in dem Umſtande, daß er die
gewoͤhnlichen Hiebe mit dem gewoͤhnlichen Stocke,
wie gewoͤhnlich, auf dem Ruͤcken erwartete, und
ſtatt deſſen eine ungewoͤhnliche Tracht Schlaͤge,
auf einem ungewoͤhnlichen Platze, mit einem duͤn¬
nen Roͤhrchen empfing. Ich erwartete große Pa¬
laͤſte und ſah nichts als lauter kleine Haͤuſer.
Aber eben die Gleichfoͤrmigkeit derſelben und ihre
unabſehbare Menge imponirt ſo gewaltig.
Dieſe Haͤuſer von Ziegelſteinen bekommen durch
feuchte Luft und Kohlendampf gleiche Farbe, naͤm¬
lich braͤunliches Olivengruͤn; ſie ſind alle von der¬
11
ſelben Bauart, gewoͤhnlich zwey oder drey Fenſter
breit, drey hoch, und oben mit kleinen rothen
Schornſteinen geziert, die wie blutig ausgeriſſene
Zaͤhne ausſehen, dergeſtalt, daß die breiten, regel¬
rechten Straßen, die ſie bilden, nur zwey unend¬
lich lange kaſernenartige Haͤuſer zu ſeyn ſcheinen.
Dieſes hat wohl ſeinen Grund in dem Umſtande,
daß jede engliſche Familie, und beſtaͤnde ſie auch
nur aus zwey Perſonen, dennoch ein ganzes Haus,
ihr eignes Caſtell, bewohnen will, und reiche,
Spekulanten, ſolchem Beduͤrfniß entgegenkommend,
ganze Straßen bauen, worin ſie die Haͤuſer ein¬
zeln wieder verhoͤkern. In den Hauptſtraßen der
City, demjenigen Theil Londons, wo der Sitz des
Handels und der Gewerke, wo noch alterthuͤmliche
Gebaͤude zwiſchen den neuen zerſtreut ſind, und
wo auch die Vorderſeite der Haͤuſer mit ellenlan¬
gen Namen und Zahlen, gewoͤhnlich goldig und
relief bis ans Dach bedeckt ſind: da iſt jene cha¬
rakteriſtiſche Einfoͤrmigkeit der Haͤuſer nicht ſo auf¬
fallend, um ſo weniger, da das Auge des Frem¬
den unaufhoͤrlich beſchaͤftigt wird, durch den wun¬
derbaren Anblick neuer und ſchoͤner Gegenſtaͤnde,
die an den Fenſtern der Kauflaͤden ausgeſtellt ſind.
Nicht bloß dieſe Gegenſtaͤnde ſelbſt machen den
groͤßten Effekt, weil der Englaͤnder Alles, was er
verfertigt, auch vollendet liefert, und jeder Luxus¬
artikel, jede Aſtrallampe und jeder Stiefel, jede
Theekanne und jeder Weiberrock uns ſo finished
und einladend entgegenglaͤnzt: ſondern auch die
Kunſt der Aufſtellung, Farbenkontraſt und Man¬
nigfaltigkeit giebt den engliſchen Kauflaͤden einen
eignen Reiz; ſelbſt die alltaͤglichſten Lebensbeduͤrf¬
niſſe erſcheinen in einem uͤberraſchenden Zauber¬
glanze, gewoͤhnliche Eßwaaren locken uns durch
ihre neue Beleuchtung, ſogar rohe Fiſche liegen
ſo wohlgefaͤllig appretirt, daß uns der regenbogen¬
farbige Glanz ihrer Schuppen ergoͤtzt, rohes Fleiſch
liegt wie gemalt auf ſaubern, bunten Porzellan¬
tellerchen mit lachender Peterſilie umkraͤnzt, ja
11 *
Alles erſcheint uns wie gemalt und mahnt uns an
die glaͤnzenden und doch ſo beſcheidenen Bilder
des Franz Mieris. Nur die Menſchen ſind nicht
ſo heiter, wie auf dieſen hollaͤndiſchen Gemaͤlden,
mit den ernſthafteſten Geſichtern verkaufen ſie die
luſtigſten Spielſachen, und Zuſchnitt und Farbe
ihrer Kleidung iſt gleichfoͤrmig wie ihre Haͤuſer.
Auf der entgegengeſetzten Seite Londons, die
man das Weſtende nennt, the west end of the
town, und wo die vornehmere und minder beſchaͤf¬
tigte Welt lebt, iſt jene Einfoͤrmigkeit noch vor¬
herrſchender; doch giebt es hier ganze lange, gar
breite Straßen, wo alle Haͤuſer groß wie Palaͤſte,
aber aͤußerlich nichts weniger als ausgezeichnet ſind,
außer daß man hier, wie an allen nicht ganz ordi¬
naͤren Wohnhaͤuſern Londons, die Fenſter der er¬
ſten Etage mit eiſengittrigen Balkonen verziert
ſieht und auch au rez de chaussée ein ſchwarzes
Gitterwerk findet, wodurch eine in die Erde gegra¬
bene Kellerwohnung geſchuͤtzt wird. Auch findet
man in dieſem Theile der Stadt große Squares:
Reihen von Haͤuſern gleich den obenbeſchriebenen,
die ein Viereck bilden, in deſſen Mitte ein von
ſchwarzem Eiſengitter verſchloſſener Garten mit
irgend einer Statue befindlich iſt. Auf allen die¬
ſen Plaͤtzen und Straßen wird das Auge des
Fremden nirgends beleidigt von baufaͤlligen Huͤtten
des Elends. Ueberall ſtarrt Reichthum und Vor¬
nehmheit, und hineingedraͤngt in abgelegene Gaͤ߬
chen und dunkle, feuchte Gaͤnge wohnt die Armuth
mit ihren Lumpen und ihren Thraͤnen.
Der fremde, der die großen Straßen Londons
durchwandert und nicht juſt in die eigentlichen
Poͤbelquartiere geraͤth, ſieht daher Nichts oder
ſehr Wenig von dem vielen Elend, das in Lon¬
don vorhanden iſt. Nur hie und da, am Ein¬
gange eines dunklen Gaͤßchens, ſteht ſchweigend
ein zerfetztes Weib, mit einem Saͤugling an der
abgehaͤrmten Bruſt, und bettelt mit den Augen.
Vielleicht wenn dieſe Augen noch ſchoͤn ſind, ſchaut
man einmal hinein — und erſchrickt ob der Welt
von Jammer, die man darin geſchaut hat. Die
gewoͤhnlichen Bettler ſind alte Leute, meiſtens
Mohren, die an den Straßenecken ſtehen, und,
was im kothigen London ſehr nuͤtzlich iſt, einen
Pfad fuͤr Fußgaͤnger kehren und dafuͤr eine Kupfer¬
muͤnze verlangen. Die Armuth in Geſellſchaft
des Laſters und des Verbrechens ſchleicht erſt des
Abends aus ihren Schlupfwinkeln. Sie ſcheut das
Tageslicht um ſo aͤngſtlicher, je grauenhafter ihr
Elend kontraſtirt mit dem Uebermuthe des Reich¬
thums, der uͤberall hervorprunkt; nur der Hunger
treibt ſie manchmal um Mittagszeit aus dem dun¬
keln Gaͤßchen, und da ſteht ſie mit ſtummen, ſpre¬
chenden Augen und ſtarrt flehend empor zu dem rei¬
chen Kaufmann, der geſchaͤftig-geldklimpernd vor¬
uͤbereilt, oder zu dem muͤßigen Lord, der, wie
ein ſatter Gott, auf hohem Roß einherreitet und
auf das Menſchengewuͤhl unter ihm dann und
wann einen gleichguͤltig vornehmen Blick wirft,
als waͤren es winzige Ameiſen, oder doch nur ein
Haufen niedriger Geſchoͤpfe, deren Luſt und
Schmerz mit ſeinen Gefuͤhlen Nichts gemein hat
— denn uͤber dem Menſchengeſindel, das am
Erdboden feſtklebt, ſchwebt Englands Nobility,
wie Weſen hoͤherer Art, die das kleine England
nur als ihr Abſteigequartier, Italien als ihren
Sommergarten, Paris als ihren Geſellſchaftsſaal,
ja die ganze Welt als ihr Eigenthum betrachten.
Ohne Sorgen und ohne Schranken ſchweben ſie
dahin, und ihr Gold iſt ein Talisman, der ihre
tollſten Wuͤnſche in Erfuͤllung zaubert.
Arme Armuth! wie peinigend muß dein Hun¬
ger ſeyn, dort wo Andere im hoͤhnenden Ueber¬
fluſſe ſchwelgen! Und hat man dir auch mit
gleichguͤltiger Hand eine Brodkruſte in den Schoß
geworfen, wie bitter muͤſſen die Thraͤnen ſeyn, womit
du ſie erweichſt! Du vergifteſt dich mit deinen eig¬
nen Thraͤnen. Wohl haſt du Recht, wenn du dich
zu dem Laſter und dem Verbrechen geſellſt. Aus¬
geſtoßene Verbrecher tragen oft mehr Menſchlich¬
keit im Herzen, als jene kuͤhlen, untadelhaften
Staatsbuͤrger der Tugend, in deren bleichen Her¬
zen die Kraft des Boͤſen erloſchen iſt, aber auch
die Kraft des Guten. Und gar das Laſter iſt nicht
immer Laſter. Ich habe Weiber geſehen, auf
deren Wangen das rothe Laſter gemahlt war und
in ihrem Herzen wohnte himmliſche Reinheit. Ich
habe Weiber geſehen — ich wollt' ich ſaͤhe ſie
wieder! —
III.
Die Englaͤnder.
Unter den Bogengaͤngen der Londoner Boͤrſe
hat jede Nation ihren angewieſenen Platz, und
auf hochgeſteckten Taͤfelchen lieſt man die Namen:
Ruſſen, Spanier, Schweden, Deutſche, Malteſer,
Juden, Hanſeaten, Tuͤrken u. ſ. w. Vormals
ſtand jeder Kaufmann unter dem Taͤfelchen, wor¬
auf der Name ſeiner Nation geſchrieben. Jetzt
aber wuͤrde man ihn vergebens dort ſuchen; die
Menſchen ſind fortgeruͤckt, wo einſt Spanier ſtan¬
den, ſtehen jetzt Hollaͤnder, die Hanſeaten traten
an die Stelle der Juden, wo man Tuͤrken ſucht,
11 **
findet man jetzt Ruſſen, die Italiener ſtehen, wo
einſt die Franzoſen geſtanden, ſogar die Deutſchen
ſind weiter gekommen.
Wie auf der Londoner Boͤrſe, ſo auch in der
uͤbrigen Welt ſind die alten Taͤfelchen ſtehen ge¬
blieben, waͤhrend die Menſchen darunter wegge¬
ſchoben worden und andere an ihrer Stelle gekom¬
men ſind, deren neue Koͤpfe ſehr ſchlecht paſſen
zu der alten Aufſchrift. Die alten ſtereotypen
Charakteriſtiken der Voͤlker, wie wir ſolche in ge¬
lehrten Kompendien und Bierſchenken finden, koͤn¬
nen uns nichts mehr nutzen und nur zu troſtloſen
Irrthuͤmern verleiten. Wie wir unter unſern Au¬
gen in den letzten Jahrzehnten den Charakter unſe¬
rer weſtlichen Nachbaren ſich allmaͤhlich umgeſtalten
ſahen, ſo koͤnnen wir, ſeit Aufhebung der Kon¬
tinentalſperre, eine aͤhnliche Umwandlung jenſeits
des Kanales wahrnehmen. Steife, ſchweigſame
Englaͤnder wallfahren ſchaarweis nach Frankreich,
um dort ſprechen und ſich bewegen zu lernen, und
bey ihrer Ruͤckkehr ſieht man mit Erſtaunen, daß
Ihnen die Zunge geloͤſt iſt, daß ſie nicht mehr
wie ſonſt zwey linke Haͤnde haben, und nicht mehr
mit Beefſteak und Plumppudding zufrieden ſind.
Ich ſelbſt habe einen ſolchen Englaͤnder geſehen,
der in Taviſtock-Tavern etwas Zucker zu ſeinem
Blumenkohl verlangt hat, eine Ketzerey gegen die
ſtrenge anglikaniſche Kuͤche, woruͤber der Kellner
faſt ruͤcklings fiel, indem gewiß ſeit der roͤmiſchen
Invaſion der Blumenkohl in England nie anders
als in Waſſer abgekocht und ohne ſuͤße Zuthat
verzehrt worden. Es war derſelbe Englaͤnder, der,
obgleich ich ihn vorher nie geſehen, ſich zu mir
ſetzte und einen ſo zuvorkommend franzoͤſiſchen
Discours anfing, daß ich nicht umhin konnte,
ihm zu geſtehen, wie ſehr es mich freue, einmal
einen Englaͤnder zu finden, der nicht gegen den
Fremden zuruͤckhaltend ſey, worauf er, ohne Laͤ¬
cheln, eben ſo freymuͤthig entgegnete, daß er mit
mir ſpraͤche, um ſich in der franzoͤſiſchen Sprache
zu uͤben.
Es iſt auffallend, wie die Franzoſen taͤglich
nachdenklicher, tiefer und ernſter werden, in eben
dem Maaße, wie die Englaͤnder dahin ſtreben,
ſich ein legeres, oberflaͤchliches und heiteres We¬
ſen anzueignen; wie im Leben ſelbſt, ſo auch in
der Literatur. Die Londoner Preſſen ſind vollauf
beſchaͤftigt mit faſhionablen Schriften, mit Roma¬
nen, die ſich in der glaͤnzenden Sphaͤre des High
Life bewegen oder daſſelbe abſpiegeln, wie z. B.
Almalks, Vivian Grey, Tremaine, the Guards,
Flirtation, welcher letztere Roman die beſte Bezeich¬
nung waͤre fuͤr die ganze Gattung, fuͤr jene Ko¬
ketterie mit auslaͤndiſchen Manieren und Redens¬
arten, jene plumpe Feinheit, ſchwerfaͤllige Leichtig¬
keit, ſaure Suͤßeley, gezierte Rohheit, kurz fuͤr
das ganze unerquickliche Treiben jener hoͤlzernen
Schmetterlinge, die in den Saͤlen Weſt-Londons
herumflattern.
Dagegen welche Literatur bietet uns jetzt die
franzoͤſiſche Preſſe, jene aͤchte Repraͤſentantin des
Geiſtes und Willens der Franzoſen! Wie ihr
großer Kaiſer die Muße ſeiner Gefangenſchaft
dazu anwandte, ſein Leben zu diktiren, uns die
geheimſten Rathſchluͤſſe ſeiner goͤttlichen Seele zu
offenbaren, und den Felſen von St. Helena in
einen Lehrſtuhl der Geſchichte zu verwandeln, von
deſſen Hoͤhe die Zeitgenoſſen gerichtet und die ſpaͤ¬
teſten Enkel belehrt werden: ſo haben auch die
Franzoſen ſelbſt angefangen, die Tage ihres Mi߬
geſchicks, die Zeit ihrer politiſchen Unthaͤtigkeit ſo
ruͤhmlich als moͤglich zu benutzen; auch ſie ſchrei¬
ben die Geſchichte ihrer Thaten; jene Haͤnde, die
ſo lange das Schwerdt gefuͤhrt, werden wieder
ein Schrecken ihrer Feinde, indem ſie zur Feder
greifen, die ganze Nation iſt gleichſam beſchaͤftigt
mit der Herausgabe ihrer Memoiren, und folgt
ſie meinem Rathe, ſo veranſtaltet ſie noch eine
ganz beſondere Ausgabe ad usum Delphini, mit
huͤbſch colorirten Abbildungen von der Einnahme
der Baſtille, dem Tuilerienſturm u. drgl. m.
Habe ich aber oben angedeutet, wie heut zu
Tage die Englaͤnder leicht und frivol zu werden
ſuchen, und in jene Affenhaut hineinkriechen, die
jetzt die Franzoſen von ſich abſtreifen, ſo muß ich
nachtraͤglich bemerken, daß ein ſolches Streben
mehr aus der Nobility und Gentry, der vorneh¬
men Welt, als aus dem Buͤrgerſtande hervorgeht.
Im Gegentheil, der gewerbtreibende Theil der Na¬
tion, beſonders die Kaufleute in den Fabrikſtaͤdten
und faſt alle Schotten, tragen das aͤußere Gepraͤge
des Pietismus, ja ich moͤchte ſagen Puritanis¬
mus, ſo daß dieſer gottſelige Theil des Volkes
mit den weltlichgeſinnten Vornehmen auf dieſelbe
Weiſe kontraſtirt wie die Kavaliere und Stutz¬
koͤpfe, die Walter Scott in ſeinen Romanen ſo
wahrhaft ſchildert. Man erzeigt dem ſchottiſchen
Barden zu viele Ehre, wenn man glaubt, ſein
Genius habe die aͤußere Erſcheinung und innere
Denkweiſe dieſer beiden Partheyen der Geſchichte
nachgeſchaffen, und es ſey ein Zeichen ſeiner Dich¬
tergroͤße, daß er, vorurtheilsfrei wie ein richtender
Gott, beyden ihr Recht anthut und beyde mit
gleicher Liebe behandelt. Wirft man nur einen
Blick in die Betſtuben von Liverpool oder Man¬
cheſter, und dann in die faſhionablen Saloons
von Weſt-London, ſo ſieht man deutlich, daß
Walter Scott blos ſeine eigene Zeit abgeſchrieben
und ganz heutige Geſtalten in alte Trachten ge¬
kleidet hat. Bedenkt man gar, daß er von der
einen Seite ſelbſt als Schotte, durch Erziehung
und Nationalgeiſt, eine puritaniſche Denkweiſe
eingeſogen hat, auf der andern Seite, als Tory,
der ſich gar ein Sproͤßling der Stuarts duͤnkt,
von ganzer Seele recht koͤniglich und adelthuͤmlich
geſinnt ſeyn muß, und daher ſeine Gefuͤhle und
Gedanken beyde Richtungen mit gleicher Liebe
umfaſſen, und zugleich durch deren Gegenſatz neu¬
traliſirt werden: ſo erklaͤrt ſich ſehr leicht ſeine
Unpartheilichkeit bey der Schilderung der Ariſto¬
kraten und Demokraten aus Cromwell's Zeit, eine
Unpartheylichkeit, die uns zu dem Irrthume ver¬
leitete, als duͤrften wir in ſeiner Geſchichte Napo¬
leons eine eben ſo treue fair play-Schilderung
der franzoͤſiſchen Revolutionshelden von ihm er¬
warten.
Wer England aufmerkſam betrachtet, findet
jetzt taͤglich Gelegenheit, jene beiden Tendenzen,
die frivole und puritaniſche, in ihrer widerwaͤrtig¬
ſten Bluͤthe, und, wie ſich von ſelbſt verſteht, in
ihrem Zweykampf zu beobachten. Eine ſolche Ge¬
legenheit gab ganz beſonders der famoͤſe Proceß
des Herrn Wakefield, eines luſtigen Kavaliers, der
gleichſam aus dem Stegreif die Tochter des rei¬
chen Herrn Tourner, eines Liverpooler Kaufmanns,
entfuͤhrt, und zu Gretna Green, wo ein Schmied
wohnt, der die ſtaͤrkſten Feſſeln ſchmiedet, gehei¬
rathet hatte. Die ganze kopfhaͤngeriſche Sipp¬
ſchaft, das ganze Volk der Auserleſenen Gottes,
ſchrie Zeter uͤber ſolche Verruchtheit, in den Bet¬
ſtuben Liverpools erflehte man die Strafe des Him¬
mels uͤber Wakefield und ſeinen bruͤderlichen Hel¬
fer, die der Abgrund der Erde verſchlingen ſollte
wie die Rotte des Korah, Dathan und Abiram,
und um der heiligen Rache noch ſicherer zu ſeyn,
wurde zu gleicher Zeit in den Gerichtsſaͤlen Lon¬
dons der Zorn der Kings-Bench, des Großkanz¬
lers und ſelbſt des Oberhauſes auf die Entweiher
des heiligſten Sakramentes herabplaidirt — waͤhrend
man in den faſhionablen Saloons uͤber den kuͤhnen
Maͤdchenraͤuber gar tolerant zu ſcherzen und zu lachen
wußte. Am ergoͤtzlichſten zeigte ſich mir dieſer
Kontraſt beyder Denkweiſen, als ich einſt in der
großen Oper neben zwey dicken Mancheſternen
Damen ſaß, die dieſen Verſammlungsort der vor¬
12
nehmen Welt zum Erſtenmahle in ihrem Leben
beſuchten, und den Abſcheu ihres Herzens nicht
ſtark genug kund geben konnten, als das Ballet
begann, und die hochgeſchuͤrzten ſchoͤnen Taͤnzerin¬
nen ihre uͤppiggrazioͤſen Bewegungen zeigten, ihre
lieben, langen, laſterhaften Beine ausſtreckten,
und ploͤtzlich bachantiſch den entgegenhuͤpfenden
Taͤnzern in die Arme ſtuͤrzten; die warme Muſik,
die Urkleider von fleiſchfarbigem Tricot, die Natu¬
ralſpruͤnge, Alles vereinigte ſich, den armen Da¬
men Angſtſchweiß auszupreſſen, ihre Buſen erroͤ¬
theten vor Unwillen, shocking! for shame, for
shame! aͤchzten ſie beſtaͤndig, und ſie waren ſo
ſehr von Schrecken gelaͤhmt, daß ſie nicht einmal
das Perſpektiv vom Auge fortnehmen konnten,
und bis zum letzten Augenblicke, bis der Vorhang
fiel, in dieſer Situation ſitzen blieben.
Trotz dieſen entgegengeſetzten Geiſtes- und
Lebensrichtungen, findet man doch wieder im eng¬
liſchen Volke eine Einheit der Geſinnung, die
eben darin beſteht, daß es ſich als ein Volk fuͤhlt;
die neueren Stutzkoͤpfe und Kavaliere moͤgen ſich
immerhin wechſelſeitig haſſen und verachten, den¬
noch hoͤren ſie nicht auf, Englaͤnder zu ſeyn;
als ſolche ſind ſie einig und zuſammen gehoͤrig,
wie Pflanzen, die aus demſelben Boden hervor¬
gebluͤht und mit dieſem Boden wunderbar verwebt
ſind. Daher die geheime Uebereinſtimmung des
ganzen Lebens und Webens in England, das uns
beim erſten Anblick nur ein Schauplatz der Ver¬
wirrung und Widerſpruͤche duͤnken will. Ueber¬
reichthum und Miſere, Orthodoxie und Unglauben,
Freiheit und Knechtſchaft, Grauſamkeit und Milde,
Ehrlichkeit und Gaunerey, dieſe Gegenſaͤtze in
ihren tollſten Extremen, daruͤber der graue Nebel¬
himmel, von allen Seiten ſummende Maſchinen,
Zahlen, Gaslichter, Schornſteine, Zeitungen,
Porterkruͤge, geſchloſſene Maͤuler, alles dieſes
haͤngt ſo zuſammen, daß wir uns keins ohne das
andere denken koͤnnen, und was vereinzelt unſer
12 *
Erſtaunen oder Lachen erregen wuͤrde, erſcheint
uns als ganz gewoͤhnlich und ernſthaft in ſeiner
Vereinigung.
Ich glaube aber, ſo wird es uns uͤberall ge¬
hen, ſogar in ſolchen Laͤndern, wovon wir noch
ſeltſamere Begriffe hegen, und wo wir noch rei¬
chere Ausbeute des Lachens und Staunens erwar¬
ten. Unſere Reiſeluſt, unſere Begierde fremde
Laͤnder zu ſehen, beſonders wie wir ſolche im
Knabenalter empfinden, entſteht uͤberhaupt durch
jene irrige Erwartung außerordentlicher Kontraſte,
durch jene geiſtige Maskeradeluſt, wo wir Men¬
ſchen und Denkweiſe unſerer Heimath in jene
fremde Laͤnder hineindenken, und ſolchermaßen un¬
ſere beſten Bekannten in die fremden Koſtuͤme und
Sitten vermummen. Denken wir z. B. an die
Hottentotten, ſo ſind es die Damen unſerer Va¬
terſtadt, die ſchwarz angeſtrichen und mit gehoͤriger
Hinterfuͤlle in unſerer Vorſtellung umhertanzen,
waͤhrend unſere jungen Schoͤngeiſter als Buſch¬
klepper auf die Palmbaͤume hinaufklettern; denken
wir an die Bewohner der Nordpollaͤnder, ſo ſehen
wir dort ebenfalls die wohlbekannten Geſichter,
unſere Muhme faͤhrt in ihrem Hundeſchlitten uͤber
die Eisbahn, der duͤrre Herr Konrektor liegt auf
der Baͤrenhaut und ſaͤuft ruhig ſeinen Morgen¬
thran, die Frau Acciſe-Einnehmerinn, die Frau
Inſpektorinn und die Frau Infibulationsraͤthinn
hocken beiſammen und kauen Talglichter u. ſ. w.
Sind wir aber in jene Laͤnder wirklich gekommen,
ſo ſehen wir bald, daß dort die Menſchen mit
Sitten und Koſtuͤm gleichſam verwachſen ſind, daß
die Geſichter zu den Gedanken und die Kleider
zu den Beduͤrfniſſen paſſen, ja daß Pflanzen,
Thiere, Menſchen und Land ein zuſammenſtim¬
mendes Ganze bilden.
IV.
The life of Napoleon Buonaparte
by
Walter Scott.
Armer Walter Scott! Waͤreſt du reich ge¬
weſen, du haͤtteſt jenes Buch nicht geſchrieben,
und waͤreſt kein armer Walter Scott geworden!
Aber die Curatores der Conſtable'ſchen Maſſe ka¬
men zuſammen, und rechneten und rechneten, und
nach langem Subtrahiren und Dividiren ſchuͤttel¬
ten ſie die Koͤpfe — und dem armen Walter
Scott blieb nichts uͤbrig als Lorbeeren und Schul¬
den. Da geſchah das Außerordentliche: der Saͤn¬
ger großer Thaten wollte ſich auch einmahl im
Heroismus verſuchen, er entſchloß ſich zu einer
Cessio bonorum, der Lorbeer des großen Unbe¬
kannten wurde taxirt, um große bekannte Schul¬
den zu decken — und ſo entſtand, in hungriger
Geſchwindigkeit, in bankrotter Begeiſterung, das
Leben Napoleons, ein Buch, das von den Beduͤrf¬
niſſen des neugierigen Publicums im Allgemeinen,
und des engliſchen Miniſteriums insbeſondere, gut
bezahlt werden ſollte.
Lobt ihn, den braven Buͤrger! lobt ihn, ihr
ſaͤmmtlichen Philiſter des ganzen Erdballs! lob ihn,
du liebe Kraͤmertugend, die Alles aufopfert, um
die Wechſel am Verfalltage einzuloͤſen — nur
Mir muthet nicht zu, daß auch ich ihn lobe.
Seltſam! der todte Kaiſer iſt im Grabe noch
das Verderben der Britten, und durch ihn hat
jetzt Britanniens groͤßter Dichter ſeinen Lorbeer
verloren!
Es war Britanniens groͤßter Dichter, man
mag ſagen und einwenden, was man will. Zwar die
Kritiker ſeiner Romane maͤkelten an ſeiner Groͤße und
warfen ihm vor: er dehne ſich zu ſehr ins Breite, er
gehe zu ſehr ins Detail, er ſchaffe ſeine großen Geſtal¬
ten nur durch Zuſammenſetzung einer Menge von klei¬
nen Zuͤgen, er beduͤrfe unzaͤhlig vieler Umſtaͤndlich¬
keiten, um die ſtarken Effecte hervorzubringen —
Aber die Wahrheit zu ſagen, er glich hierinn
einem Millionaͤr, der ſein ganzes Vermoͤgen in
lauter Scheidemuͤnze liegen hat, und immer drei
bis vier Wagen mit Saͤcken voll Groſchen und
Pfenningen herbeifahren muß, wenn er eine große
Summe zu bezahlen hat, und der dennoch, ſobald
man ſich uͤber ſolche Unart und das muͤhſame
Schleppen und Zaͤhlen beklagen will, ganz richtig
entgegnen kann: gleichviel wie, ſo gaͤbe er doch
immer die verlangte Summe, er gaͤbe ſie doch,
und er ſey im Grunde eben ſo zahlfaͤhig, und
auch wohl eben ſo reich wie etwa ein Anderer,
der nur blanke Goldbarren liegen hat, ja er habe
ſogar den Vortheil des erleichterten Verkehrs, in¬
dem jener ſich auf dem großen Gemuͤſemarkte, mit
ſeinen großen Goldbarren, die dort keinen Curs
haben, nicht zu helfen weiß, waͤhrend jedes Kram¬
weib mit beiden Haͤnden zugreift, wenn ihr gute
Groſchen und Pfenninge geboten werden. Mit
dieſem populaͤren Reichthume des brittiſchen Dich¬
ters hat es jetzt ein Ende, und er, deſſen Muͤnze
ſo courant war, daß die Herzoginn und die Schnei¬
dersfrau ſie mit gleichem Intereſſe annahmen, er
iſt jetzt ein armer Walter Scott geworden. Sein
Schickſal mahnt an die Sage von den Berg-
Elfen, die neckiſch wohlthaͤtig, den armen Leuten
Geld ſchenken, das huͤbſch blank und gedeihlich
bleibt, ſo lange ſie es gut anwenden, das ſich
aber unter ihren Haͤnden in eitel Staub verwan¬
delt, ſobald ſie es zu nichtswuͤrdigen Zwecken mi߬
brauchen. Sack nach Sack oͤffnen wir Walter
Scotts neue Zufuhr, und ſiehe da! ſtatt der bli¬
tzenden, lachenden Groͤſchlein finden wir nichts
als Staub und wieder Staub. Ihn beſtraften
die Berg-Elfen des Parnaſſus, die Muſen,
die, wie alle edelſinnigen Weiber, leidenſchaftliche
Napoleoniſtinnen ſind, und daher doppelt empoͤrt
waren uͤber den Mißbrauch der verliehenen Gei¬
ſtesſchaͤtze.
Werth und Tendenz des Scottſchen Werks
ſind in allen Zeitſchriften Europa's beleuchtet wor¬
den. Nicht blos die erbitterten Franzoſen, ſondern
auch die beſtuͤrzten Landsleute des Verfaſſers haben
das Verdammungsurtheil ausgeſprochen. In dieſen
allgemeinen Weltunwillen mußten auch die Deut¬
ſchen einſtimmen; mit ſchwerverhaltenem Feuer¬
eifer ſprach das Stuttgarter Literaturblatt, mit
kalter Ruhe aͤußerten ſich die Berliner Jahrbuͤcher
fuͤr wiſſenſchaftliche Kritik, und der Recenſent,
der jene kalte Ruhe um ſo wohlfeiler erſchwang,
je weniger theuer ihm der Held des Buches ſeyn
muß, charakteriſirt daſſelbe mit den trefflichen
Worten:
„In dieſer Erzaͤhlung iſt weder Gehalt noch
Farbe, weder Anordnung noch Lebendigkeit zu
finden. Verworren in oberflaͤchlicher, nicht in
tiefer Verwirrung, ohne Hervortreten des Eigen¬
thuͤmlichen, unſicher und wandelbar, zieht der
gewaltige Stoff traͤge voruͤber; kein Vorgang er¬
ſcheint in ſeiner beſtimmten Eigenheit, nirgends
werden die ſpringenden Punkte ſichtbar, kein Er¬
eigniß wird deutlich, keines tritt in ſeiner Noth¬
wendigkeit hervor, die Verbindung iſt nur aͤußer¬
lich, Gehalte und Bedeutung kaum geahnet. In
ſolcher Darſtellung muß alles Licht der Geſchichte
erloͤſchen, und ſie ſelbſt wird zum, nicht wunder¬
baren, ſondern gemeinen Maͤhrchen. Die Ueber¬
legungen und Betrachtungen, welche ſich oͤfters
dem Vortrag einſchieben, ſind von einer entſpre¬
chenden Art. Solch duͤnnlicher philoſophiſcher
Bereitung iſt unſre Leſewelt laͤngſt entwachſen.
Der duͤrftige Zuſchnitt einer am Einzelnen haften¬
den Moral reicht nirgend aus. — —“
Dergleichen und noch ſchlimmere Dinge, die
der ſcharfſinnige Berliner Recenſent, Varnhagen
von Enſe, ausſpricht, wuͤrde ich dem Walter
Scott gern verzeihen. Wir ſind alle Men¬
ſchen, und der beſte von uns kann einmal ein
ſchlechtes Buch ſchreiben. Man ſagt alsdann,
es ſey unter aller Kritik, und die Sache iſt abge¬
macht. Verwunderlich bleibt es zwar, daß wir
in dieſem neuen Werke nicht einmal Scotts ſchoͤ¬
nen Styl wiederfinden. In die farbloſe, wochen¬
taͤgliche Rede werden vergebens hie und da etliche
rothe, blaue und gruͤne Worte eingeſtreut, verge¬
bens ſollen glaͤnzende Laͤppchen aus den Poeten
die proſaiſche Bloͤße bedecken, vergebens wird die
ganze Arche Noaͤ gepluͤndert, um beſtialiſche Ver¬
gleichungen zu liefern, vergebens wird ſogar das
Wort Gottes citirt, um die dummen Gedanken
zu uͤberſchilden. Noch verwunderlicher iſt es, daß
es dem Walter Scott nicht einmal gelang, ſein
angeborenes Talent der Geſtaltenzeichnung auszu¬
uͤben, und den aͤußern Napoleon aufzufaſſen. Wal¬
ter Scott lernte nichts aus jenen ſchoͤnen Bildern,
die den Kaiſer in der Umgebung ſeiner Generale
und Staatsleute darſtellen, waͤhrend doch jeder,
der ſie unbefangen betrachtet, tief betroffen wird
von der tragiſchen Ruhe und antiken Gemeſſenheit
jener Geſichtszuͤge, die gegen die modern aufgereg¬
ten, pittoresken Tagsgeſichter ſo ſchauerlich erhaben
contraſtiren, und etwas herabgeſtiegen Goͤttliches
beurkunden. Konnte aber der ſchottiſche Dichter
nicht die Geſtalt, ſo konnte er noch viel weniger
den Charakter des Kaiſers begreifen, und gern
verzeih ich ihm auch die Laͤſterung eines Gottes,
den er nicht kennt. Ich muß ihm ebenfalls ver¬
zeihen, daß er ſeinen Wellington fuͤr einen Gott
haͤlt, und bei der Apotheoſe deſſelben ſo ſehr in
Andacht geraͤth, daß er, der doch ſo ſtark in Vieh¬
bildern iſt, nicht weiß, womit er ihn vergleichen ſoll.
Bin ich aber tolerant gegen Walter Scott,
und verzeihe ich ihm die Gehaltloſigkeit, Irrthuͤ¬
mer, Laͤſterungen und Dummheiten ſeines Buches,
verzeih ich ihm ſogar die lange Weile, die es
mir verurſacht — ſo darf ich ihm doch nimmer¬
mehr die Tendenz deſſelben verzeihen. Dieſe iſt
nichts Geringeres als die Exculpation des engli¬
ſchen Miniſteriums in Betreff des Verbrechens von
St. Helena. „In dieſem Gerichtshandel zwiſchen
dem engliſchen Miniſterium und der oͤffentlichen
Meinung,“ wie der Berliner Rec. ſich ausdruͤckt,
„macht Walter Scott den Sachwalter,“ er verbin¬
det Advocatenkniffe mit ſeinem poetiſchen Talente,
um den Thatbeſtand und die Geſchichte zu verdre¬
hen, und ſeine Clienten, die zugleich ſeine Patrone
ſind, duͤrften ihm wohl, außer ſeinen Sporteln,
noch extra ein Douceur in die Hand druͤcken.
Die Englaͤnder haben den Kaiſer blos ermor¬
det, aber Walter Scott hat ihn verkauft. Es iſt
ein rechtes Schottenſtuͤck, ein aͤcht ſchottiſches Na¬
tionalſtuͤckchen, und man ſieht, daß ſchottiſcher Geiz
noch immer der alte, ſchmutzige Geiſt iſt, und ſich
nicht ſonderlich veraͤndert hat ſeit den Tagen von
Naſeby, wo die Schotten ihren eigenen Koͤnig,
der ſich ihrem Schutze anvertraut, fuͤr die Summe
von 400,000 Pf. St. an ſeine engliſchen Henker
verkauft haben. Jener Koͤnig iſt derſelbe Karl
Stuart, den jetzt Caledonias Barden ſo herrlich
beſingen, — der Englaͤnder mordet, aber der
Schotte verkauft und beſingt.
Das engliſche Miniſterium hat ſeinem Advoka¬
ten zu obigem Behufe das Archiv des foreign of¬
fice geoͤffnet, und dieſer hat, im neunten Bande
ſeines Werks, die Actenſtuͤcke, die ein guͤnſtiges
Licht auf ſeine Parthey und einen nachtheiligen
Schatten auf deren Gegner werfen konnten, ge¬
wiſſenhaft benutzt. Deshalb gewinnt dieſer neunte
Band, bey all ſeiner aͤſthetiſchen Werthloſigkeit,
worinn er den vorgehenden Baͤnden nichts nachgibt,
dennoch ein gewiſſes Intereſſe: man erwartet be¬
deutende Actenſtuͤcke, und da man deren keine fin¬
det, ſo iſt das ein Beweis, daß deren keine vor¬
handen waren, die zu Gunſten der engliſchen Mi¬
niſter ſprechen — und dieſer negative Inhalt des
Buches iſt ein wichtiges Reſultat.
Alle Ausbeute, die das engliſche Archiv liefert,
beſchraͤnkt ſich auf einige glaubwuͤrdige Communi¬
cationen des edeln Sir Hudſon Lowe und deſſen
Myrmidionen und einige Ausſagen des General
Gourgaud, der, wenn ſolche wirklich von ihm ge¬
macht worden, als ein ſchamloſer Verraͤther ſeines kai¬
ſerlichen Herrn und Wohlthaͤters ebenfalls Glauben
verdient. Ich will das Factum dieſer Ausſagen nicht
unterſuchen, es ſcheint ſogar wahr zu ſeyn, da es der
Baron Stuͤrmer, einer von den drei Statiſten der
großen Tragoͤdie, conſtatirt hat; aber ich ſehe nicht
ein, was im guͤnſtigſten Falle dadurch bewieſen
wird, außer daß Sir Hudſon Lowe nicht der ein¬
zige Lump auf St. Helena war. Mit Huͤlfsmit¬
teln ſolcher Art und erbaͤrmlichen Suggeſtionen
behandelt Walter Scott die Gefangenſchaftsgeſchichte
Napoleons, und bemuͤht ſich, uns zu uͤberzeugen:
daß der Exkaiſer — ſo nennt ihn der Exdichter —
nichts Kluͤgeres thun konnte, als ſich den Eng¬
laͤndern zu uͤbergeben, obgleich er ſeine Abfuͤhrung
nach St. Helena voraus wiſſen mußte, daß er
dort ganz ſcharmant behandelt worden, indem er
vollauf zu eſſen und zu trinken hatte, und daß er
endlich, friſch und geſund, und als ein guter
Chriſt, an einem Magenkrebſe, geſtorben.
Walter Scott, indem er ſolchermaßen den
Kaiſer vorausſehen laͤßt, wie weit ſich die Gene¬
roſitaͤt der Englaͤnder erſtrecken wuͤrde, naͤmlich bis
St. Helena, befreyt ihn von dem gewoͤhnlichen
Vorwurf: die tragiſche Erhabenheit ſeines Ungluͤcks
habe ihn ſelbſt ſo gewaltig begeiſtert, daß er civi¬
liſirte Englaͤnder fuͤr perſiſche Barbaren und die
Beefſteakkuͤche von St. James fuͤr den Heerd
eines großen Koͤnigs anſah — und eine heroiſche
Dummheit beging. Auch macht Walter Scott
den Kaiſer zu dem groͤßten Dichter, der jemals
auf dieſer Welt gelebt hat, indem er uns ganz
13
ernſthaft inſinuirt, daß alle jene denkwuͤrdigen
Schriften, die ſeine Leiden auf St. Helena berich¬
ten, ſaͤmmtlich von ihm ſelbſt dictirt worden.
Ich kann nicht umhin, hier die Bemerkung
zu machen, daß dieſer Theil des Walter Scott'¬
ſchen Buches, ſo wie uͤberhaupt die Schriften
ſelbſt, wovon er hier ſpricht, abſonderlich die Me¬
moiren von O'Meara, auch die Erzaͤhlung des
Capitain Maitland, mich zuweilen an die poſſen¬
hafteſte Geſchichte von der Welt erinnert, ſo daß
der ſchmerzlichſte Unmuth meiner Seele ploͤtzlich
in muntre Lachluſt uͤbergehen will. Dieſe Ge¬
ſchichte iſt aber keine andere als „die Schickſale
des Lemuel Guilliver,“ ein Buch, woruͤber ich
einſt als Knabe ſo viel gelacht, und worin gar
ergoͤtzlich zu leſen iſt: wie die kleinen Lilliputaner
nicht wiſſen, was ſie mit dem großen Gefangenen
anfangen ſollen, wie ſie tauſendweiſe an ihm her¬
umklettern und ihn mit unzaͤhligen duͤnnen Haͤr¬
chen feſt binden, wie ſie mit großen Anſtalten ihm
ein eigenes großes Haus errichten, wie ſie uͤber
die Menge Lebensmittel klagen, die ſie ihm taͤglich
verabreichen muͤſſen, wie ſie ihn im Staatsrath
anſchwaͤrzen und beſtaͤndig jammern, daß er dem
Lande zu viel koſte, wie ſie ihn gern umbringen
moͤchten, ihn aber noch im Tode fuͤrchten, da ſein
Leichnam eine Peſt hervorbringen koͤnne, wie ſie
ſich endlich zur glorreichſten Großmuth entſchließen
und ihm ſeinen Titel laſſen, und nur ſeine Augen
ausſtechen wollen u. ſ. w. Wahrlich, uͤberall iſt
Lilliput, wo ein großer Menſch unter kleine Men¬
ſchen geraͤth, die unermuͤdlich und auf die klein¬
lichſte Weiſe ihn abquaͤlen, und die wieder durch
ihn genug Qual und Noth ausſtehen; aber haͤtte
der Dechant Swift in unſerer Zeit ſein Buch
geſchrieben, ſo wuͤrde man in deſſen ſcharfgeſchlif¬
fenem Spiegel nur die Gefangenſchaftsgeſchichte
des Kaiſers erblicken, und bis auf die Farbe des
Rocks und des Geſichts die Zwerge erkennen, die
ihn gequaͤlt haben.
13 *
Nur der Schluß des Maͤhrchens von St.
Helena iſt anders, der Kaiſer ſtirbt an einem
Magenkrebs, und Walter Scott verſichert uns,
das ſey die alleinige Urſache ſeines Todes. Darin
will ich ihm auch nicht widerſprechen. Die Sache
iſt nicht unmoͤglich. Es iſt moͤglich, daß ein
Mann, der auf der Folterbank geſpannt liegt,
ploͤtzlich ganz natuͤrlich an einem Schlagfluß ſtirbt.
Aber die boͤſe Welt wird ſagen: die Folterknechte
haben ihn hingerichtet. Die boͤſe Welt hat ſich
nun einmal vorgenommen, die Sache ganz anders
zu betrachten, wie der gute Walter Scott. Wenn
dieſer gute Mann, der ſonſt ſo bibelfeſt iſt, und
gern das Evangelium citirt, in jenem Aufruhr der
Elemente, in jenem Orcane, der beym Tode Na¬
poleons ausbrach, nichts anders ſieht als ein Er¬
eigniß, daß auch beym Tode Cromwells ſtatt fand:
ſo hat doch die Welt daruͤber ihre eigenen Gedan¬
ken. Sie betrachtet den Tod Napoleons als die
entſetzlichſte Unthat, losbrechendes Schmerzgefuͤhl
wird Anbetung, vergebens macht Walter Scott
den Advocatum Diaboli, die Heiligſprechung des
todten Kaiſers ſtroͤmt aus allen edeln Herzen, alle
edeln Herzen des europaͤiſchen Vaterlandes verach¬
ten ſeine kleinen Henker und den großen Barden,
der ſich zu ihrem Complizen geſungen, die Muſen
werden beſſere Saͤnger zur Feyer ihres Lieblings
begeiſtern, und wenn einſt Menſchen verſtummen
ſo ſprechen die Steine, und der Martyrfelſen St.
Helena ragt ſchauerlich aus den Meereswellen, und
erzaͤhlt den Jahrtauſenden ſeine ungeheure Ge¬
ſchichte.
V.
Old Bailey.
Schon der Name Old Bailey erfuͤllt die
Seele mit Grauen. Man denkt ſich gleich ein
großes, ſchwarzes, mißmuͤthiges Gebaͤude, einen
Palaſt des Elends und des Verbrechens. Der
linke Fluͤgel, der das eigentliche Newgate bildet,
dient als Criminalgefaͤngniß, und da ſieht man
nur eine hohe Wand von wetterſchwarzen Qua¬
dern, worin zwei Niſchen mit eben ſo ſchwarzen
allegoriſchen Figuren, und, wenn ich nicht irre,
ſtellt eine von ihnen die Gerechtigkeit vor, indem,
wie gewoͤhnlich, die Hand mit der Wage abge¬
brochen iſt, und Nichts als ein blindes Weibsbild
mit einem Schwerte uͤbrig blieb. Ungefaͤhr gegen
die Mitte des Gebaͤudes iſt der Altar dieſer Goͤt¬
tin, naͤmlich das Fenſter, wo das Galgengeruͤſt
zu ſtehen kommt, und endlich rechts befindet ſich
der Criminalgerichtshof, worin die vierteljaͤhrlichen
Seſſionen gehalten werden. Hier iſt ein Thor,
das gleich den Pforten der Danteſchen Hoͤlle die
Inſchrift tragen ſollte:
Per me si va ne la città dolente,
Per me si va ne l' eterno dolore,
Per me si va tra la perduta gente.
Durch dieſes Thor gelangt man auf einen klei¬
nen Hof, wo der Abſchaum des Poͤbels verſam¬
melt iſt, um die Verbrecher durchpaſſiren zu ſehen;
auch ſtehen hier Freunde und Feinde derſelben,
Verwandte, Bettelkinder, Bloͤdſinnige, beſonders
alte Weiber, die den Rechtsfall des Tages abhan¬
deln, und vielleicht mit mehr Einſicht als Richter
und Jury, trotz all' ihrer kurzweiligen Feierlichkeit
und langweiligen Jurisprudenz. Hab' ich doch
draußen vor der Gerichtsthuͤre eine alte Frau
geſehen, die im Kreiſe ihrer Gevatterinnen den
armen ſchwarzen William beſſer vertheidigte, als
drinnen im Saale deſſen grundgelehrter Advocat —
wie ſie die letzte Thraͤne mit der zerlumpten
Schuͤrze aus den rothen Augen wegwiſchte, ſchien
auch Williams ganze Schuld vertilgt zu ſeyn.
Im Gerichtsſaale ſelbſt, der nicht beſonders
groß, iſt unten, vor der ſogenannten Bar (Schran¬
ken) wenig Platz fuͤr das Publikum; dafuͤr giebt
es aber oben, an beyden Seiten, ſehr geraͤumige
Gallerien mit erhoͤheten Baͤnken, wo die Zuſchauer,
Kopf uͤber Kopf, geſtapelt ſtehen.
Als ich Old Bailey beſuchte, fand auch ich
Platz auf einer ſolchen Gallerie, die mir von einer
alten Pfoͤrtnerin gegen Gratification eines Schil¬
lings erſchloſſen wurde. Ich kam in dem Augen¬
blick, wo die Jury ſich erhob, um zu urtheilen:
ob der ſchwarze William des angeklagten Verbre¬
chens ſchuldig oder nicht ſchuldig ſey.
Auch hier, wie in den andern Gerichtshoͤfen
Londons, ſitzen die Richter in blauſchwarzer Toga,
die hellviolett gefuͤttert iſt, und ihr Haupt bedeckt
die weißgepuderte Perucke, womit oft die ſchwar¬
zen Augenbraunen und ſchwarzen Backenbaͤrte gar
drollig contraſtiren. Sie ſitzen an einem langen
gruͤnen Tiſche, auf erhabenen Stuͤhlen, am ober¬
ſten Ende des Saales, wo an der Wand mit
goldenen Buchſtaben eine Bibelſtelle, die vor un¬
gerechtem Richterſpruch warnt, eingegraben ſteht.
An beyden Seiten ſind Baͤnke fuͤr die Maͤnner
der Jury, und Plaͤtze zum Stehen fuͤr Klaͤger
und Zeugen. Den Richtern gerade gegenuͤber iſt
der Platz der Angeklagten; dieſe ſitzen nicht auf
einem Armeſuͤnderbaͤnkchen, wie bey den oͤffentli¬
chen Gerichten in Frankreich und Rheinland, ſon¬
dern aufrecht ſtehen ſie hinter einem wunderlichen
Brette, das oben wie ein ſchmalgebogenes Thor
ausgeſchnitten iſt. Es ſoll dabey ein kuͤnſtlicher
Spiegel angebracht ſeyn, wodurch der Richter im
Stande iſt, jede Miene der Angeklagten deutlich
zu beobachten. Auch liegen einige gruͤne Kraͤuter
vor letzteren, um ihre Nerven zu ſtaͤrken, und das
mag zuweilen noͤthig ſeyn, wo man angeklagt
ſteht auf Leib und Leben. Auch auf dem Tiſche
der Richter ſah ich dergleichen gruͤne Kraͤuter und
ſogar eine Roſe liegen. Ich weiß nicht wie es
kommt, der Anblick dieſer Roſe hat mich tief
bewegt. Die rothe bluͤhende Roſe, die Blume
der Liebe und des Fruͤhlings, lag auf dem ſchreck¬
lichen Richtertiſche von Old Bailey! Es war im
Saale ſo ſchwuͤl und dumpfig. Es ſchaute Alles
ſo unheimlich muͤrriſch, ſo wahnſinnig ernſt. Die
Menſchen ſahen aus als kroͤchen ihnen graue
Spinnen uͤber die bloͤden Geſichter. Hoͤrbar klirr¬
ten die eiſernen Wagſchalen uͤber dem Haupte des
armen ſchwarzen Williams.
Auch auf der Gallerie bildete ſich eine Jury.
Eine dicke Dame, aus deren rothaufgedunſenem
Geſicht die kleinen Aeuglein wie Gluͤhwuͤrmchen
hervorglimmten, machte die Bemerkung, daß der
ſchwarze William ein ſehr huͤbſcher Burſche ſey.
Indeſſen ihre Nachbarin, eine zarte, piepſende
Seele in einem Koͤrper von ſchlechtem Poſtpapier,
behauptete: Er truͤge das ſchwarze Haar zu lang
und zottig, und blitze mit den Augen wie Herr
Kean im Othello — „dagegen,“ fuhr ſie fort,
„iſt doch der Thomſon ein ganz anderer Menſch,
mit hellem Haar und glatt gekaͤmmt nach der
Mode, und er iſt ein ſehr geſchickter Menſch, er
blaͤſ't ein Bischen die Floͤte, er malt ein Bischen,
er ſpricht ein Bischen Franzoͤſiſch“ — „Und ſtiehlt
ein Bischen“ fuͤgte die dicke Dame hinzu. „Ei
was ſtehlen,“ verſetzte die duͤnne Nachbarin, „das
iſt doch nicht ſo barbariſch wie Faͤlſchung; denn
ein Dieb, es ſey denn er habe ein Schaf geſtohlen,
wird nach Botany Bay transportirt, waͤhrend der
Boͤſewicht, der eine Handſchrift verfaͤlſcht hat,
ohne Gnad und Barmherzigkeit gehenkt wird.“
„Ohne Gnad und Barmherzigkeit!“ ſeufzte neben
mir ein magerer Mann in einem verwirrten ſchwar¬
zen Rock, „Haͤngen! kein Menſch hat das Recht
einen andern umbringen zu laſſen, am allerwenig¬
ſten ſollten Chriſten ein Todesurtheil faͤllen, da
ſie doch daran denken ſollten, daß der Stifter ihrer
Religion, unſer Herr und Heiland, unſchuldig
verurtheilt und hingerichtet worden!“ „Ei was,“
rief wieder die duͤnne Dame, und laͤchelte mit
ihren duͤnnen Lippen, „wenn ſo ein Faͤlſcher nicht
gehenkt wuͤrde, waͤre ja kein reicher Mann ſeines
Vermoͤgens ſicher, z. B. der dicke Jude in Lom¬
bard Street, Saint Swinthins Lane, oder unſer
Freund Herr Scott, deſſen Handſchrift ſo taͤu¬
ſchend nachgemacht worden. Und Herr Scott hat
doch ſein Vermoͤgen ſo ſauer erworben, und man
ſagt ſogar, er ſey dadurch reich geworden, daß er
fuͤr Geld die Krankheiten Anderer auf ſich nahm,
ja die Kinder laufen ihm jetzt noch auf der Straße
nach, und rufen: ich gebe Dir ein Sixpens, wenn
Du mir mein Zahnweh abnimmſt, wir geben Dir
einen Schilling, wenn Du Gottfriedchens Buckel
nehmen willſt“ — „Kurios!“ fiel ihr die dicke
Dame in die Rede, „es iſt doch kurios, daß der
ſchwarze William und der Thomſon fruͤherhin
die beſten Spießgeſellen geweſen ſind, und zuſam¬
men gewohnt und gegeſſen und getrunken haben,
und jetzt Edward Thomſon ſeinen alten Freund
der Faͤlſchung anklagt! Warum iſt aber die Schwe¬
ſter von Thomſon nicht hier, da ſie doch ſonſt
ihrem ſuͤßen William uͤberall nachgelaufen?“ Ein
junges ſchoͤnes Frauenzimmer, uͤber deſſen holdem
Geſichte eine dunkle Betruͤbniß verbreitet lag, wie
ein ſchwarzer Flor uͤber einem bluͤhenden Roſen¬
ſtrauch, fluͤſterte jetzt eine ganz lange, verweinte
Geſchichte, wovon ich nur ſo viel verſtand, daß
ihre Freundinn, die ſchoͤne Mary, von ihrem Bru¬
der gar bitterlich geſchlagen worden und todtkrank
zu Bette liege. „Nennt ſie doch nicht die ſchoͤne
Mary!” brummte verdrießlich die dicke Dame,
„viel zu mager, ſie iſt viel zu mager, als daß
man ſie ſchoͤn nennen koͤnnte, und wenn gar ihr
William gehenkt wird —”
In dieſem Augenblick erſchienen die Maͤnner
der Jury, und erklaͤrten: Daß der Angeklagte der
Faͤlſchung ſchuldig ſey. Als man hierauf den
ſchwarzen William aus dem Saale fortfuͤhrte,
warf er einen langen, langen Blick auf Edward
Thomſon.
Nach einer Sage des Morgenlandes war Sa¬
tan einſt ein Engel, und lebte im Himmel mit
den andern Engeln, bis er dieſe zum Abfall ver¬
leiten wollte, und deßhalb von der Gottheit hin¬
untergeſtoßen wurde in die ewige Nacht der Hoͤlle.
Waͤhrend er aber vom Himmel hinabſank, ſchaute
er immer noch in die Hoͤhe, immer nach dem
Engel, der ihn angeklagt hatte; je tiefer er ſank,
deſto entſetzlicher und immer entſetzlicher wurde
ſein Blick — Und es muß ein ſchlimmer Blick
geweſen ſeyn; denn jener Engel, den er traf‚
wurde bleich, niemals trat wieder Roͤthe in ſeine
Wangen, und er heißt ſeitdem der Engel des
Todes.
Bleich wie der Engel des Todes wurde Edward
Thomſon.
VI.
Das neue Miniſterium.
In Bedlam habe ich vorigen Sommer einen
Philoſophen kennen gelernt, der mir, mit heim¬
lichen Augen und fluͤſternder Stimme, viele wich¬
tige Aufſchluͤſſe uͤber den Urſprung des Uebels
gegeben hat. Wie mancher andere ſeiner Collegen
meinte auch er, daß man hierbey etwas Hiſtori¬
ſches annehmen muͤſſe. Was mich betrifft, ich
neigte mich ebenfalls zu einer ſolchen Annahme,
und erklaͤrte das Grunduͤbel der Welt aus dem
Umſtand: daß der liebe Gott zu wenig Geld
erſchaffen habe.
„Du haſt gut reden,“ antwortete der Philo¬
ſoph, „der liebe Gott war ſehr knapp bey Caſſa,
als er die Welt erſchuf. Er mußte das Geld dazu
vom Teufel borgen, und ihm die ganze Schoͤpfung
als Hypothek verſchreiben. Da ihm nun der liebe
Gott von Gott und Rechtswegen die Welt noch
ſchuldig iſt, ſo darf er ihm auch aus Delicateſſe
nicht verwehren, ſich darin herum zu treiben und
Verwirrung und Unheil zu ſtiften. Der Teufel
aber iſt ſeinerſeits wieder ſehr ſtark dabey intereſſirt,
daß die Welt nicht ganz zu Grunde und folglich
ſeine Hypothek verloren gehe; er huͤtet ſich daher
es allzu toll zu machen, und der liebe Gott, der
auch nicht dumm iſt, und wohl weiß, daß er im
Eigennutz des Teufels ſeine geheime Garantie hat,
geht oft ſo weit, daß er ihm die ganze Herrſchaft
der Welt anvertraut, d. h. dem Teufel den Auf¬
trag giebt, ein Miniſterium zu bilden. Dann
geſchieht, was ſich von ſelbſt verſteht, Samiel
erhaͤlt das Commando der hoͤlliſchen Heerſchaaren,
14
Belzebub wird Kanzler, Vizliputzli wird Staats¬
ſekretair, die alte Großmutter bekommt die Kolo¬
nien u. ſ. w. Dieſe Verbuͤndeten wirthſchaften
dann in ihrer Weiſe, und indem ſie, trotz des
boͤſen Willens ihrer Herzen, aus Eigennutz gezwun¬
gen ſind, das Heil der Welt zu befoͤrdern, ent¬
ſchaͤdigen ſie ſich fuͤr dieſen Zwang dadurch, daß
ſie zu den guten Zwecken immer die niedertraͤch¬
tigſten Mittel anwenden. Sie trieben es juͤngſt¬
hin ſo arg, daß Gott im Himmel ſolche Greuel
nicht laͤnger anſehen konnte, und einem guten
Engel den Auftrag gab ein neues Miniſterium zu
bilden. Dieſer ſammelte nun um ſich her alle
guten Geiſter. Freudige Waͤrme durchdrang wie¬
der die Welt, es wurde Licht, und die boͤſen
Geiſter entwichen. Aber ſie legten doch nicht ru¬
hig die Klauen in den Schoos; heimlich wirken
ſie gegen alles Gute, ſie vergiften die neuen Heil¬
quellen, ſie zerknicken haͤmiſch jede Roſenknoſpe
des neuen Fruͤhlings, mit ihren Amendements zer¬
ſtoͤren ſie den Baum des Lebens, chaotiſches Ver¬
derben droht, Alles zu verſchlingen, und der liebe
Gott wird am Ende wieder dem Teufel die Herr¬
ſchaft der Welt uͤbergeben muͤſſen, damit ſie, ſey
es auch durch die ſchlechteſten Mittel, wenigſtens
erhalten werde. Siehſt du, das iſt die ſchlimme
Nachwirkung einer Schuld.“
Dieſe Mittheilung meines Freundes in Bedlam
erklaͤrte vielleicht den jetzigen engliſchen Miniſter¬
wechſel. Erliegen muͤſſen die Freunde Cannings,
die ich die guten Geiſter Englands nenne, weil
ihre Gegner deſſen Teufel ſind; dieſe, den dum¬
men Teufel Wellington an ihrer Spitze, erheben
jetzt ihr Siegesgeſchrei. Schelte mir keiner den
armen Georg, er mußte den Umſtaͤnden nachgeben.
Man kann nicht laͤugnen, daß nach Cannings
Tode die Whigs nicht im Stande waren, die
Ruhe in England zu erhalten, da die Maßregeln,
die ſie deshalb zu ergreifen hatten, beſtaͤndig von
den Tories vereitelt wurden. Der Koͤnig, dem
14 *
die Erhaltung der oͤffentlichen Ruhe, d. h. die
Sicherheit ſeiner Krone, als das Wichtigſte er¬
ſcheint, mußte daher den Tories ſelbſt wieder die
Verwaltung des Staates uͤberlaſſen. — Und, O!
ſie werden jetzt wieder, nach wie vor, alle Fruͤchte
des Volksfleißes in ihren eigenen Saͤckel hineinver¬
walten, ſie werden als regierende Kornjuden die
Preiſe ihres Getreides in die Hoͤhe treiben, John
Bull wird vor Hunger mager werden, er wird
endlich fuͤr einen Biſſen Brod ſich leibeigen ſelbſt
den hohen Herren verkaufen, ſie werden ihn vor
den Pflug ſpannen und peitſchen, er wird nicht
einmal brummen duͤrfen, denn auf der einen
Seite droht ihm der Herzog von Wellington mit
dem Schwerte, und auf der andern Seite ſchlaͤgt
ihn der Erzbiſchof von Canterbury mit der Bibel
auf den Kopf — und es wird Ruhe im Lande
ſeyn.
Die Quelle jener Uebel iſt die Schuld, the
national debt, oder wie Cobbet ſagt, the kings
debt. Cobbet bemerkt naͤmlich mit Recht: waͤh¬
rend man allen Inſtituten den Namen des Koͤnigs
voranſetzt, z. B. the kings army, the kings
navy, the kings courts, the kings prisons etc.,
wird doch die Schuld, die eigentlich aus jenen
Inſtituten hervorging, niemals the kings debt
genannt, und ſie iſt das Einzige, wobey man
der Nation die Ehre erzeigt, etwas nach ihr zu
benennen.
Der Uebel groͤßtes iſt die Schuld. Sie be¬
wirkt zwar, daß der engliſche Staat ſich erhaͤlt,
und daß ſogar deſſen aͤrgſte Teufel ihn nicht zu
Grunde richten; aber ſie bewirkt auch, daß ganz
England eine große Tretmuͤhle geworden, wo das
Volk Tag und Nacht arbeiten muß, um ſeine
Glaͤubiger zu fuͤttern, daß England vor lauter
Zahlungsſorgen alt und grau und aller heiteren
Jugendgefuͤhle entwoͤhnt wird, daß England, wie
bey ſtarkverſchuldeten Menſchen zu geſchehen pflegt,
zur ſtumpfſten Reſignation niedergedruͤckt iſt, und
ſich nicht zu helfen weiß — obgleich 900,000
Flinten und eben ſo viel Saͤbel und Bajonette
im Tower zu London aufbewahrt liegen.
VII.
Die Schuld.
Als ich noch ſehr jung war, gab es drey
Dinge, die mich ganz vorzuͤglich intereſſirten,
wenn ich Zeitungen las. Zuvoͤrderſt, unter dem
Artikel „Großbritannien,“ ſuchte ich gleich: ob
Richard Martin keine neue Bittſchrift, fuͤr die
mildere Behandlung der armen Pferde, Hunde
und Eſel dem Parlamente uͤbergeben. Dann,
unter dem Artikel „Frankfurt,“ ſuchte ich nach,
ob der Herr Doctor Schreiber nicht wieder beym
Bundestag fuͤr die großherzoglich heſſiſchen Domaͤ¬
nenkaͤufer eingekommen. Hierauf aber fiel ich gleich
uͤber die Tuͤrkey her, und durchlas das lange Con¬
ſtantinopel, um nur zu ſehen, ob nicht wieder
ein Großvezier mit der ſeidenen Schnur beehrt
worden.
Dieſes letztere gab mir immer den meiſten
Stoff zum Nachdenken. Daß ein Despot ſeinen
Diener ohne Umſtaͤnde erdroſſeln laͤßt, fand ich
ganz natuͤrlich. Sah ich doch einſt in der Me¬
nagerie, wie der Koͤnig der Thiere ſo ſehr in maje¬
ſtaͤtiſchen Zorn gerieth, daß er gewiß manchen
unſchuldigen Zuſchauer zerriſſen haͤtte, waͤre er
nicht in einer ſichern Conſtitution, die aus eiſernen
Stangen verfertigt war, eingeſperrt geweſen. Aber
was mich Wunder nahm, war immer der Um¬
ſtand, daß nach der Erdroſſelung des alten Herrn
Großveziers ſich immer wieder Jemand fand, der
Luſt hatte, Großvezier zu werden.
Jetzt, wo ich etwas aͤlter geworden bin, und
mich mehr mit den Englaͤndern als mit ihren
Freunden, den Tuͤrken, beſchaͤftige, ergreift mich
ein analoges Erſtaunen, wenn ich ſehe, wie nach
dem Abgang eines engliſchen Premier-Miniſters
gleich ein anderer ſich an deſſen Stelle draͤngt,
und dieſer Andere immer ein Mann iſt, der auch
ohne dieſes Amt zu leben haͤtte, und auch (Wel¬
lington ausgenommen) nichts weniger als ein
Dummkopf iſt. Schrecklicher als durch die ſeidene
Schnur endigen ja alle engliſchen Miniſter, die
laͤnger als ein Semeſter dieſes ſchwere Amt ver¬
waltet. Beſonders iſt dieſes der Fall ſeit der fran¬
zoͤſiſchen Revolution; Sorg und Noth haben ſich
vermehrt in Downingſtreet, und die Laſt der Ge¬
ſchaͤfte iſt kaum zu ertragen.
Einſt waren die Verhaͤltniſſe in der Welt weit
einfacher, und die ſinnigen Dichter verglichen den
Staat mit einem Schiffe und den Miniſter mit
deſſen Steuermann. Jetzt aber iſt Alles compli¬
cirter und verwickelter, das gewoͤhnliche Staats¬
ſchiff iſt ein Dampfboot geworden, und der Mini¬
14 **
ſter hat nicht mehr ein einfaches Ruder zu regie¬
ren, ſondern als verantwortlicher Enginer ſteht er
unten zwiſchen dem ungeheuern Maſchinenwerk,
unterſucht aͤngſtlich jedes Eiſenſtiftchen, jedes Raͤd¬
chen, wodurch etwa eine Stockung entſtehen koͤnnte,
ſchaut Tag und Nacht in die lodernde Feuer-Eſſe,
und ſchwitzt vor Hitze und Sorge — ſintemalen
durch das geringſte Verſehen von ſeiner Seite der
große Keſſel zerſpringen, und bey dieſer Gelegen¬
heit Schiff und Mannſchaft zu Grunde gehen
koͤnnte. Der Capitaͤn und die Paſſagiere ergehen
ſich unterdeſſen ruhig auf dem Verdecke, ruhig
flattert die Flagge auf dem Seitenmaſt, und wer
das Boot ſo ruhig dahin ſchwimmen ſieht, ahnet
nicht, welche gefaͤhrliche Maſchinerie und welche
Sorge und Noth in ſeinem Bauche verborgen iſt.
Fruͤhzeitigen Todes ſinken ſie dahin, die armen
verantwortlichen Enginers des engliſchen Staats¬
ſchiffes. Ruͤhrend iſt der fruͤhe Tod des großen
Pitt, ruͤhrender der Tod des groͤßeren Fox. Per¬
cival waͤre an der gewoͤhnlichen Miniſterkrankheit
geſtorben, wenn nicht ein Dolchſtoß ihn ſchneller
abgefertigt haͤtte. Dieſe Miniſterkrankheit war es
ebenfalls, was den Lord Caſtlereagh ſo zur Ver¬
zweiflung brachte, daß er ſich die Kehle abſchnitt
zu North-Cray in der Grafſchaft Kent. Lord
Liverpool ſank auf gleiche Weiſe in den Tod des
Bloͤdſinns. Canning, den goͤttergleichen Canning,
ſahen wir vergiftet von hochtorieſchen Verlaͤumdun¬
gen, gleich einem kranken Atlas, unter ſeiner
Weltbuͤrde niederſinken. Einer nach dem An¬
dern werden ſie eingeſcharrt in Weſtminſter, die
armen Miniſter, die fuͤr Englands Koͤnige Tag
und Nacht denken muͤſſen, waͤhrend dieſe, gedan¬
kenlos und wohlbeleibt, dahinleben bis ins hoͤchſte
Menſchenalter.
Wie heißt aber die große Sorge, die Eng¬
lands Miniſtern Tag und Nacht im Gehirne wuͤhlt
und ſie toͤdtet? Sie heißt: the debt, die Schuld.
Schulden, eben ſo wie Vaterlandsliebe, Reli¬
gion, Ehre u. ſ. w. gehoͤren zwar zu den Vorzuͤ¬
gen des Menſchen — denn die Thiere haben keine
Schulden — aber ſie ſind auch eine ganz vorzuͤg¬
liche Qual der Menſchheit, und wie ſie den Ein¬
zelnen zu Grunde richten, ſo bringen ſie auch
ganze Geſchlechter ins Verderben, und ſie ſcheinen
das alte Fatum zu erſetzen in den Nationaltragoͤ¬
dien unſerer Zeit. England kann dieſem Fatum
nicht entgehen, ſeine Miniſter ſehen die Schreck¬
niſſe herannahen, und ſterben mit der Verzweif¬
lung der Ohnmacht.
Waͤre ich koͤniglich preußiſcher Oberlandescalcu¬
lator oder Mitglied des Geniecorps, ſo wuͤrde ich,
in gewohnter Weiſe, die ganze Summe der eng¬
liſchen Schuld in Silbergroſchen berechnen, und
genau angeben, wie vielmal man damit die große
Friedrichſtraße oder gar den ganzen Erdball bede¬
cken koͤnnte. Aber das Rechnen war nie meine
Force, und ich moͤchte lieber einem Englaͤnder das
fatale Geſchaͤft uͤberlaſſen, ſeine Schulden aufzuzaͤh¬
len, und die daraus entſtehende Miniſternoth her¬
auszurechnen. Dazu taugt Niemand beſſer als
der alte Cobbet, und aus der letzten Nummer
ſeines Regiſters liefre ich folgende Eroͤrterungen.
„Der Zuſtand der Dinge iſt folgender:
1) Dieſe Regierung, oder vielmehr dieſe Ari¬
ſtokratie und Kirche, oder auch, wie ihr wollt,
dieſe Regierung borgte eine große Summe Gel¬
des, wofuͤr ſie viele Siege, ſowohl Land- als
Seeſiege, gekauft hat — eine Menge Siege, von
jeder Sorte und Groͤße.
2) Indeſſen muß ich zuvor bemerken, aus wel¬
cher Veranlaſſung und zu welchem Zwecke man
dieſe Siege gekauft hat: die Veranlaſſung (occasion)
war die franzoͤſiſche Revolution, die alle ariſto¬
kratiſchen Vorrechte und geiſtlichen Zehn¬
ten niedergeriſſen hatte; und der Zweck war die
Verhuͤtung einer Parlamentsreform in England,
die wahrſcheinlich ein aͤhnliches Niederreißen aller
ariſtokratiſchen Vorrechte und geiſtlichen Zehnten
zur Folge gehabt haͤtte.
3) Um nun zu verhuͤten, daß das Beyſpiel der
Franzoſen nicht von den Englaͤndern nachgeahmt
wuͤrde, war es noͤthig die Franzoſen anzugreifen,
ſie in ihren Fortſchritten zu hemmen, ihre neuer¬
langte Freyheit zu gefaͤhrden, ſie zu verzweifelten
Handlungen treiben, und endlich die Revolution zu
einem ſolchen Schreckbilde, zu einer ſolchen Voͤlker¬
ſcheuche zu machen, daß man ſich unter dem Namen
der Freyheit nichts als ein Aggregat von Schlechtig¬
keit, Greuel und Blut vorſtellen, und das engli¬
ſche Volk, in der Begeiſterung ſeines Schreckens,
dahin gebracht wuͤrde, ſich ſogar ordentlich zu ver¬
lieben in jene greuelhaft-despotiſche Regierung, die
einſt in Frankreich bluͤhte, und die jeder Englaͤnder
von jeher verabſcheute, ſeit den Tagen Alfreds
des Großen bis herab auf Georg den Dritten.
4) Um jene Vorſaͤtze auszufuͤhren, bedurfte
man der Mithuͤlfe, verſchiedener fremder Natio¬
nen; dieſe Nationen wurden daher mit engliſchem
Gelde unterſtuͤtzt (subsidized); franzoͤſiſche Emi¬
granten wurden mit engliſchem Gelde unterhalten;
kurz, man fuͤhrte einen zwey und zwanzigjaͤhrigen
Krieg, um jenes Volk niederzudruͤcken, das ſich
gegen ariſtokratiſche Vorrechte und geiſt¬
liche Zehnten erhoben hatte.
5) Unſere Regierung alſo erhielt „unzaͤhlige
Siege“ uͤber die Franzoſen, die, wie es ſcheint,
immer geſchlagen worden; aber dieſe unſere un¬
zaͤhligen Siege waren gekauft, d.h. ſie wurden
erfochten von Miethlingen, die wir fuͤr Geld dazu
gedungen hatten, und wir hatten in unſerem
Solde zu einer und derſelben Zeit ganze Schaaren
von Franzoſen, Hollaͤndern, Schweizern, Italie¬
nern, Ruſſen, Oeſterreichern, Bayern, Heſſen,
Hannoveranern, Preußen, Spaniern, Portugieſen,
Neapolitanern, Malteſern, und Gott weiß! wie
viele Nationen noch außerdem.
6) Durch ſolches Miethen fremder Dienſte
und durch Benutzung unſerer eigenen Flotte und
Landmacht kauften wir ſo viele Siege uͤber die
Franzoſen, welche arme Teufel kein Geld hatten,
um ebenfalls dergleichen einzuhandeln, ſo daß wir
endlich ihre Revolution uͤberwaͤltigten, die Ariſto¬
kratie bey ihnen bis zu einer gewiſſen Stufe wie¬
derherſtellten, jedoch um Alles in der Welt Wil¬
len die geiſtlichen Zehnten nicht ebenfalls reſtauri¬
ren konnten.
7) Nachdem wir dieſe große Aufgabe gluͤcklich
vollbracht und auch dadurch jede Parlamentsreform
in England hintertrieben hatten, erhob unſere Re¬
gierung ein bruͤllendes Siegesgeſchrei, wobey ſie
ihre Lunge nicht wenig anſtrengte, und auch laut¬
moͤglichſt unterſtuͤtzt wurde von jeder Creatur in
dieſem Lande, die auf eine oder die andere Art
von den oͤffentlichen Taxen lebte.
8) Beinahe ganze zwey Jahre dauerte der
uͤberſchwengliche Freudenrauſch bey dieſer damals
ſo gluͤcklichen Nation; zur Feyer jener Siege
draͤngten ſich Jubelfeſte, Volksſpiele, Triumphbo¬
gen, Luſtkaͤmpfe und dergleichen Vergnuͤgungen,
die mehr als eine viertel Million Pfund Sterlinge
koſteten, und das Haus der Gemeinen bewilligte
einſtimmig eine ungeheure Summe (ich glaube
drei Million Pfund Sterling) um Triumphboͤgen,
Denkſaͤulen und andere Monumente zu errichten,
und damit die glorreichen Ereigniſſe des
Krieges zu verewigen.
9) Beſtaͤndig, ſeit dieſer Zeit, hatten wir das
Gluͤck, unter der Regierung eben derſelben Perſo¬
nen zu leben, die unſere Angelegenheiten in beſag¬
tem glorreichen Kriege gefuͤhrt hatten.
10) Beſtaͤndig, ſeit dieſer Zeit, lebten wir in
einem tiefen Frieden mit der ganzen Welt; man
kann annehmen, daß dieſes noch jetzt der Fall iſt,
ungeachtet unſerer kleinen zwiſchenſpieligen Rau¬
ferey mit den Tuͤrken; und daher ſollte man den¬
ken, es koͤnne keine Urſache in der Welt geben,
weßhalb wir jetzt nicht gluͤcklich ſeyn ſollten: wir
15
haben ja Frieden, unſer Boden bringt reichlich
ſeine Fruͤchte, und, wie die Weltweiſen und Ge¬
ſetzgeber unſerer Zeit eingeſtehen, wir ſind die aller¬
erleuchtetſte Nation auf der ganzen Erde. Wir
haben wirklich uͤberall Schulen, um die heran¬
wachſende Generation zu unterrichten; wir haben
nicht allein einen Rector oder Vicar, oder Curaten
in jedem Kirchſprengel des Koͤnigreichs, ſondern
wir haben in jedem dieſer Kirchſprengel vielleicht
noch ſechs Religionslehrer, wovon jeder von einer
andern Sorte iſt als ſeine vier Collegen, dergeſtalt,
daß unſer Land hinlaͤnglich mit Unterricht jeder
Art verſorgt iſt, kein Menſch dieſes gluͤcklichen
Landes im Zuſtande der Unwiſſenheit leben wird, —
und daher unſer Erſtaunen um ſo groͤßer ſeyn
muß, wie irgend Jemand, der ein Premier-Mi¬
niſter dieſes gluͤcklichen Landes werden ſoll, dieſes
Amt als eine ſo ſchwere und ſchwierige Laſt
anſieht.
11) Ach, wir haben ein einziges Ungluͤck, und
das iſt ein wahres Ungluͤck: wir haben naͤmlich
einige Siege gekauft — ſie waren herrlich — es
war ein gutes Geſchaͤft — ſie waren drey oder
viermal ſo viel werth als wir dafuͤr gaben, wie
Frau Tweazle ihrem Manne zu ſagen pflegt,
wenn ſie vom Markte nach Hauſe kommt — es
war große Nachfrage und viel Begehr nach Sie¬
gen — kurz wir konnten nichts Vernuͤnftigeres
thun, als uns zu ſo billigem Preiſe mit einer ſo
großen Portion Ruhm zu verſehen.
12) Aber, ich geſtehe es bekuͤmmerten Her¬
zens, wir haben, wie manche andere Leute, das
Geld geborgt, womit wir dieſe Siege gekauft,
als wir dieſer Siege bedurften, deren wir jetzt
auf keine Weiſe wieder los werden koͤnnen, eben
ſo wenig wie ein Mann ſeines Weibes los wird,
wenn er einmal das Gluͤck gehabt hat, ſich die
holde Beſcheerung aufzuladen.
13) Daher geſchieht's, daß jeder Miniſter,
der unſere Angelegenheiten uͤbernimmt, auch ſorgen
15 *
muß fuͤr die Bezahlung unſerer Siege, worauf
eigentlich noch kein Pfennig abbezahlt worden.
14) Er braucht zwar nicht dafuͤr zu ſorgen,
daß das ganze Geld, welches wir borgten, um
Siege dafuͤr zu kaufen, ganz auf einmal, Capital
und Zinſen, bezahlt werde; aber fuͤr die regelmaͤ¬
ßige Auszahlung der Zinſen muß er, leider
Gottes! ganz beſtimmt ſorgen; und dieſe Zinſen,
zuſammengerechnet mit dem Solde der Armee
und anderen Ausgaben, die von unſeren Sie¬
gen herruͤhren, ſind ſo bedeutend, daß ein Menſch
ziemlich ſtarke Nerven haben muß, wenn er das
Geſchaͤftchen uͤbernehmen will, fuͤr die Bezahlung
dieſer Summen zu ſorgen.
15) Fruͤherhin, ehe wir uns damit abgaben,
Siege einzuhandeln, und uns allzureichlich mit
Ruhm zu verſorgen, trugen wir ſchon eine Schuld
von wenig mehr als zweyhundert Millio¬
nen, waͤhrend alle Armengelder in England und
Wales zuſammen nicht mehr als zwey Mil¬
lionen jaͤhrlich betrugen, und waͤhrend wir noch
nichts von jener Laſt hatten, die unter dem Na¬
men dead weight uns jetzt aufgebuͤrdet iſt, und
ganz aus unſerm Durſt nach Ruhm hervorge¬
gangen.
16) Außer dieſem Gelde, das von Creditoren
geborgt worden, die es freywillig hergaben, hat
unſere Regierung, aus Durſt nach Siegen, auch
indirect bey den Armen eine große Anleihe ge¬
macht, d. h. ſie ſteigerte die gewoͤhnlichen Taxen
bis auf eine ſolche Hoͤhe, daß die Armen weit
mehr als jemals niedergedruͤckt wurden, und daß
ſich die Anzahl der Armen und Armengelder er¬
ſtaunlich vergroͤßerte.
17) Die Armengelder ſtiegen von zwey Mil¬
lionen jaͤhrlich auf acht Millionen; die Ar¬
men haben nun gleichſam ein Pfandrecht, eine
Hypothek auf das Land; und hier ergiebt ſich
alſo wieder eine Schuld von ſechs Millionen,
welche man hinzurechnen muß zu jenen anderen
Schulden, die unſere Paſſion fuͤr Ruhm und der
Einkauf unſerer Siege verurſacht hat.
18) The dead weight beſteht aus Leibrenten,
die wir unter dem Namen Penſionen einer Menge
von Maͤnnern, Weibern und Kindern verabrei¬
chen, als eine Belohnung fuͤr die Dienſte, welche
jene Maͤnner beym Erlangen unſerer Siege gelei¬
ſtet haben, oder geleiſtet haben ſollen.
19) Das Capital der Schuld, welche dieſe
Regierung contrahirt hat, um ſich Siege zu ver¬
ſchaffen, beſteht ungefaͤhr in folgenden Summen:
Pf. Sterling
Hinzugekommene Summe zu der Na¬
tionalschuld . . . . . . 800,000,000.
Hinzugekommene Summe zur eigent¬
lichen Armengelder-Schuld . 150,000,000.
-
Dead weight als Capital einer Schuld
berechnet . . . . . . . 175,000,000.
Pf. St. 1,125,000,00.
d. h. Eilfhundert und fuͤnfundzwanzig
Millionen zu fuͤnf Prozent iſt der Betrag
jener jaͤhrlichen ſechs und funfzig Millionen; ja,
dieſes iſt ungefaͤhr der jetzige Betrag, nur daß die
Armengelder-Schuld nicht in den Rechnun¬
gen, die dem Parlamente vorgelegt werden, auf¬
gefuͤhrt iſt, indem ſie das Land gleich direct in
den verſchiedenen Kirchſpielen bezahlt. Will man
daher jene ſechs Millionen von den ſechsundvierzig
Millionen abziehen, ſo ergiebt ſich, daß die Staats¬
ſchuldglaͤubiger und das dead weight-Volk wirk¬
lich alles Uebrige verſchlingen.
20) Indeſſen, die Armengelder ſind eben ſo
gut eine Schuld wie die Schuld der Staats¬
ſchuldglaͤubiger, und augenſcheinlich aus derſelben
Quelle entſprungen. Von der ſchrecklichen Laſt
der Taxen werden die Armen zu Boden gedruͤckt;
jeder Andere wird zwar auch davon gedruͤckt, aber
Jeder, außer den Armen, wußte dieſe Laſt mehr
oder weniger von ſeinen Schultern abzuwaͤlzen,
und ſie fiel endlich mit fuͤrchterlichem Gewichte
ganz auf die Armen, und dieſe verloren ihre
Bierfaͤſſer, ihre kupfernen Keſſel, ihre zinnernen
Teller, ihre Wanduhr, ihre Betten und bis auf ihr
Handwerksgeraͤthe, ſie verloren ihre Kleider, und mu߬
ten ſich in Lumpen huͤllen, ſie verloren das Fleiſch
von ihren Knochen — Sie konnten nicht weiter aufs
Aeußerſte getrieben werden, und von dem, was man
ihnen genommen, gab man ihnen wieder etwas zuruͤck
unter dem Namen von vermehrten Armengeldern.
Dieſe ſind daher eine wahre Schuld, ein wah¬
res Pfandrecht auf das Land. Die Intereſſen
dieſer Schuld koͤnnen zwar zuruͤckgehalten werden,
aber wenn dieſes geſchieht, wuͤrden die Perſonen,
die ſolche zu fordern haben, in Maſſe herbeykom¬
men, und ſich fuͤr den Betrag, gleichviel in wel¬
cher Waͤhrung, bezahlt machen. Dieſes iſt alſo
eine wahre Schuld, und eine Schuld, die
man bey Heller und Pfennig bezahlen wird, und
zwar, ich bemerke es ausdruͤcklich, wird man ihr
ein Vorrecht vor allen anderen Schulden geſtatten.
21) Es iſt alſo nicht noͤthig, ſich ſehr zu wun¬
dern, wenn man die Noth derjenigen ſieht, die
ſolche Geſchaͤfte uͤbernehmen! Es iſt zu verwun¬
dern, daß ſich uͤberhaupt Jemand zu einer ſolchen
Uebernahme verſteht, wenn ihm nicht anheimge¬
ſtellt wird, nach Gutduͤnken eine radicale Umwand¬
lung des ganzen Syſtems vorzunehmen.
22) Hier giebt's keine Moͤglichkeit der Aus¬
huͤlfe, wenn man die jaͤhrliche Ausgabe der Staats¬
glaͤubiger-Schuld und der dead weight-Schuld
herabzuſetzen ſucht; um ſolches Herabſetzen der
Schuld, ſolche Reduction dem Lande anzumuthen,
um zu verhindern, daß ſie große Umwaͤlzungen
hervorbringe, um zu verhindern, daß nicht eine
halbe Million Menſchen in und um London da¬
durch vor Hunger ſterben muͤſſen: da iſt noͤthig,
daß man zuvor weit verhaͤltnißmaͤßigere Reductio¬
nen anderswo vornehme, ehe man die Re¬
duction jener obigen zwey Schulden oder ihrer In¬
tereſſen verſuchen wollte.
23) Wie wir bereits geſehen haben, die Siege
wurden gekauft, in der Abſicht, um Parlaments¬
reform in England zu verhindern, und die ariſto¬
kratiſchen Vorrechte und geiſtlichen Zehnten aufrecht
zu erhalten; es waͤre daher eine himmelſchreiende
Greuelthat, entzoͤgen wir ihre rechtmaͤßigen Zinſen
jenen Leuten, die uns das Geld geborgt, oder
entzoͤgen wir gar ihre Bezahlung denjenigen Leu¬
ten, die uns die Haͤnde vermiethet, wodurch wir
die Siege erlangt haben; es waͤre eine Greuel¬
that, die Gottes Rache auf uns laden wuͤrde,
wenn wir dergleichen thaͤten, waͤhrend die ein¬
traͤglichen Ehrenaͤmter der Ariſtokratie, ihre Pen¬
ſionen, Sinekuren, koͤniglichen Schenkungen, Mi¬
litaͤrbelohnungen und endlich gar die Zehnten des
Clerus unangetaſtet blieben!
24) Hier, hier alſo liegt die Schwierigkeit:
Wer Miniſter wird, wird Miniſter eines Landes,
das eine große Paſſion fuͤr Siege gehabt, auch
ſich hinlaͤnglich damit verſehen und ſich unerhoͤrt
viel militaͤriſchen Ruhm verſchafft — aber leider
dieſe Herrlichkeiten noch nicht bezahlt hat, und nun
dem Miniſter uͤberlaͤßt, die Rechnung zu berichti¬
gen, ohne daß dieſer weiß, woher er das Geld
nehmen ſoll.
Das ſind Dinge, die einen Miniſter ins Grab
druͤcken, wenigſtens des Verſtandes berauben koͤn¬
nen. England iſt mehr ſchuldig, als es bezahlen
kann. Man ruͤhme nur nicht, daß es Indien
und reiche Kolonien beſitzt. Wie ſich aus den
letzten Parlamentsdebatten ergibt, zieht der engli¬
ſche Staat keinen Heller eigentlicher Einkuͤnfte
aus ſeinem großen, unermeßlichen Indien, ja er
muß dorthin noch einige Millionen Zuſchuß bezah¬
len. Dieſes Land nutzt England blos dadurch,
daß einzelne Britten, die ſich dort bereichert, durch
ihre Schaͤtze die Induſtrie und den Geldumlauf
des Mutterlandes befoͤrdern, und tauſend Andere
durch die indiſche Compagnie Brod und Verſor¬
gung gewinnen. Die Kolonien ebenfalls liefern
dem Staate keine Einkuͤnfte, beduͤrfen des Zu¬
ſchuſſes, und dienen zur Befoͤrderung des Handels
und zur Bereicherung der Ariſtokratie, deren Ne¬
poten als Gouverneure und Unterbeamte dahin
geſchickt werden. Die Bezahlung der National¬
ſchuld faͤllt daher ganz allein auf Großbritannien
und Irland. Aber auch hier ſind die Reſourcen
nicht ſo betraͤglich wie die Schuld ſelbſt. Wir
wollen ebenfalls hier Cobbet ſprechen laſſen:
„Es gibt Leute, die, um eine Art Aushuͤlfe
anzugeben, von den Reſourcen des Landes
ſprechen. Dies ſind die Schuͤler des ſeligen Col¬
quhoun, eines Diebesfaͤngers, der ein großes Buch
geſchrieben, um zu beweiſen, daß unſere Schuld
uns nicht im Mindeſten beſorgt machen darf, in¬
dem ſie ſo klein ſey in Verhaͤltniß zu den Re¬
ſourcen der Nation; und damit ſeine klugen Leſer
eine beſtimmte Idee von der Unermeßlichkeit dieſer
Reſourcen bekommen moͤgen, machte er eine Ab¬
ſchaͤtzung von Allem, was im Lande vorhanden
iſt, bis herab auf die Kaninchen, und ſchien
ſogar zu bedauern, daß er nicht fuͤglich die
Ratten und Maͤuſe mitrechnen konnte. Den
Werth der Pferde, Kuͤhe, Schafe, Ferkelchen,
Federvieh, Wildpret, Kaninchen, Fiſche, den
Werth der Hausgeraͤthe, Kleider, Feuerung, Zu¬
cker, Gewuͤrze, kurz von Allem im Lande macht
er ein Aeſtimatum; und dann, nachdem er das
Ganze aſſummirt, und den Werth der Laͤndereien,
Baͤume, Haͤuſer, Minen, den Ertrag des Graſes,
des Korns, die Ruͤben und das Flachs hinzuge¬
rechnet und eine Summe von Gott weiß wie vie¬
len tauſend Millionen herausgebracht hat, grinſt
er in pfiffig prahleriſch ſchottiſcher Manier, unge¬
faͤhr wie ein Truthahn, und hohnlachend fragt er
Leute meines Gleichen: mit Reſourcen, wie dieſe,
fuͤrchtet Ihr da noch einen Nationalban¬
kerott?
„Dieſer Mann bedachte nicht, daß man Haͤu¬
ſer noͤthig hat, um darin zu leben, die Laͤn¬
dereien, damit ſie Futter liefern, die Kleider, da¬
mit man ſeine Bloͤße bedecke, die Kuͤhe, damit
ſie Milch geben, den Durſt zu loͤſchen, das Horn¬
vieh, Schafe, Schweine, Gefluͤgel und Kaninchen,
damit man ſie eſſe, ja, der Teufel hole dieſen wi¬
derſinnigen Schotten! dieſe Dinge ſind nicht dafuͤr
da, daß ſie verkauft und die Nationalſchulden
damit bezahlt werden. Wahrhaftig er hat noch
den Taglohn der Arbeitsleute zu den Reſourcen
der Nation gerechnet! Dieſer dumme Teufel
von Diebesfaͤnger, den ſeine Bruͤder in Schottland
zum Doctor geſchlagen, weil er ein ſo vorzuͤgliches
Buch geſchrieben, er ſcheint ganz vergeſſen zu ha¬
ben, daß Arbeitsleute ihren Taglohn ſelbſt beduͤr¬
fen, um ſich dafuͤr etwas Eſſen und Trinken
zu ſchaffen. Er konnte eben ſo gut den Werth
des Blutes in unſeren Adern abſchaͤtzen, als ein
Stoff, wovon man allenfalls Blutwuͤrſte machen
koͤnnte!“
So weit Cobbet. Waͤhrend ich ſeine Worte
in deutſcher Sprache niederſchreibe, bricht er leib¬
haftig ſelbſt wieder hervor in meinem Gedaͤchtniſſe,
und wie vorig Jahr bey dem laͤrmigen Mittag¬
eſſen in Crown and Anchor Tavern, ſehe ich ihn
wieder mit ſeinem ſcheltend rothen Geſichte und
ſeinem radicalen Laͤcheln, worin der giftigſte To¬
deshaß gar ſchauerlich zuſammenſchmilzt mit der
hoͤhniſchen Freude, die den Untergang der Feinde
ganz ſicher vorausſieht.
Tadle mich Niemand, daß ich Cobbet citire!
Man mag ihn immerhin der Unredlichkeit, der
Scheltſucht und eines allzu ordinaͤren Weſens be¬
ſchuldigen; aber man kann nicht laͤugnen, daß er
viel beredſamen Geiſt beſitzt, und daß er ſehr oft,
und in obiger Darſtellung ganz und gar, Recht
hat. Er iſt ein Kettenhund, der jeden, den er
nicht kennt, gleich wuͤthend anfaͤllt, oft den beſten
Freund des Hauſes in die Waden beißt, immer
bellt, und eben wegen jenes unaufhoͤrlichen Bel¬
lens nicht gehoͤrt wird, wenn er einmal einem
wirklichen Diebe entgegenbellt. Deshalb halten
es jene vornehmen Diebe, die England pluͤndern,
nicht einmal fuͤr noͤthig, dem knurrenden Cobbet
einen Brocken zuzuwerfen, und ihm damit das
Maul zu ſtopfen. Dieſes wurmt den Hund am
bitterſten, und er fletſcht die hungrigen Zaͤhne.
Alter Cobbet! Hund von England! ich liebe
dich nicht, denn fatal iſt mir jede gemeine Na¬
tur; aber du dauerſt mich bis in tiefſter Seele,
wenn ich ſehe, wie du dich von deiner Kette nicht
losreißen und jene Diebe nicht erreichen kannſt, die
lachend vor deinen Augen ihre Beute fortſchleppen,
und deine vergeblichen Spruͤnge und dein ohn¬
maͤchtiges Geheul verſpotten.
VIII.
Die Oppoſitionspartheyen.
Einer meiner Freunde hat die Oppoſition im
Parlamente ſehr treffend mit einer Oppoſitions¬
kutſche verglichen. Bekanntlich iſt das eine oͤffent¬
liche Stage-Kutſche, die irgend eine ſpeculirende
Geſellſchaft auf ihre Koſten inſtituirt, und zwar
zu ſo ſpottwohlfeilen Preiſen fahren laͤßt, daß die
Reiſenden ihr gern den Vorzug geben vor den ſchon
vorhandenen Stage-Kutſchen. Dieſe letztern muͤſ¬
ſen dann ebenfalls ihre Preiſe herunterſetzen, um
Paſſagiere zu behalten, werden aber bald von der
neuen Oppoſitionskutſche uͤberboten oder vielmehr
unterboten, ruiniren ſich durch ſolche Concurrenz,
16
und muͤſſen am Ende ihr Fahren ganz einſtellen.
Hat aber die Oppoſitionskutſche auf ſolche Art das
Feld gewonnen, und iſt ſie jetzt auf einer beſtimm¬
ten Tour die einzige, ſo erhoͤht ſie ihre Preiſe, oft
ſogar den Preis der verdraͤngten Kutſche uͤberſtei¬
gend, und der arme Reiſende hat nichts gewonnen,
hat oft ſogar verloren, und zahlt und flucht, bis
eine neue Oppoſitionskutſche wieder das vorige Spiel
erneut, und neue Hoffnungen und neue Taͤuſchungen
entſtehen.
Wie uͤbermuͤthig wurden die Whigs, als die
Stuart'ſche Parthey erlag und die proteſtantiſche
Dynaſtie den engliſchen Thron beſtieg! Die Tories
bildeten damals die Oppoſition, und John Bull,
der arme Staatspaſſagier, hatte Urſache, vor Freude
zu bruͤllen, als ſie die Oberhand gewannen. Aber
ſeine Freude war von kurzer Dauer, er mußte jaͤhr¬
lich mehr und mehr Fuhrlohn ausgeben, es wurde
viel bezahlt und ſchlecht gefahren, die Kutſcher
wurden obendrein ſehr grob, es gab nichts als
Ruͤtteln und Stoͤße, jeder Eckſtein drohte Umſturz —
und der arme John dankte Gott, ſeinem Schoͤpfer,
als unlaͤngſt die Zuͤgel des Staatswagens in beſ¬
ſere Haͤnde kamen.
Leider dauerte die Freude wieder nicht lange,
der neue Oppoſitionskutſcher fiel todt vom Bock
herab, der andere ſtieg aͤngſtlich herunter als die
Pferde ſcheu wurden, und die alten Wagenlenker,
die alten Reuter mit goldenen Sporen, haben wie¬
der ihre alten Plaͤtze eingenommen, und die alte
Peitſche knallt.
Ich will das Bild nicht weiter zu Tode hetzen
und kehre zuruͤck zu den Worten Whigs und To¬
ries, die ich oben zur Bezeichnung der Oppoſitions¬
partheyen gebraucht habe, und einige Eroͤrterung
dieſer Namen iſt vielleicht um ſo fruchtbarer, je
mehr ſie ſeit langer Zeit dazu gedient haben, die
Begriffe zu verwirren.
Wie im Mittelalter die Namen Guibellinen
und Guelfen durch Umwandlungen und neue Er¬
16 *
eigniſſe, die vagueſten und veraͤnderlichſten Bedeu¬
tungen erhielten, ſo auch ſpaͤterhin in England die
Namen Whigs und Tories, deren Entſtehungsart
man kaum noch anzugeben weiß. Einige behaup¬
ten, es ſeyen fruͤherhin Spottnamen geweſen, die
am Ende zu honetten Partheynamen wurden, was
oft geſchieht, wie z. B. der Geuſenbund ſich ſelbſt
nach dem Spottnamen les geux taufte, wie auch
ſpaͤterhin die Jakobiner ſich ſelbſt manchmal Sans¬
kuͤlotten benannten, und wie die heutigen Servi¬
len und Obſcuranten ſich vielleicht einſt ſelbſt dieſe
Namen als ruhmvolle Ehrennamen beilegen —
was ſie freilich jetzt noch nicht koͤnnen. Das Wort
„Whig“ ſoll in Irland etwas unangenehm Sauer¬
toͤpfiſches bedeutet haben, und dort zuerſt zur Ver¬
hoͤhnung der Presbyterianer oder uͤberhaupt der
neuen Secten gebraucht worden ſeyn. Das Wort
„Tory,“ welches zu derſelben Zeit als Partheybe¬
nennung aufkam, bedeutete in Irland eine Art
ſchaͤbiger Diebe. Beide Spottnamen kamen in
Umlauf zur Zeit der Stuarts, waͤhrend der Strei¬
tigkeiten zwiſchen den Secten und der herrſchenden
Kirche.
Die allgemeine Anſicht iſt: die Parthey der
Tories neige ſich ganz nach der Seite des Thrones
und kaͤmpfe fuͤr die Vorrechte der Krone; wohin¬
gegen die Parthey der Whigs mehr nach der Seite
des Volks hinneige und deſſen Rechte beſchuͤtze.
Indeſſen dieſe Annahmen ſind vague und gelten
zumeiſt nur in Buͤchern. Jene Benennungen
koͤnnte man vielmehr als Coterienamen anſehen.
Sie bezeichnen Menſchen, die bey gewiſſen Streit¬
fragen zuſammenhalten, deren Vorfahren und Freunde
ſchon bey ſolchen Anlaͤſſen zuſammenhielten, und
die, in politiſchen Stuͤrmen, Freude und Ungemach und
die Feindſchaft der Gegenparthey gemeinſchaftlich zu
tragen pflegten. Von Prinzipien iſt gar nicht die Rede,
man iſt nicht einig uͤber gewiſſe Ideen, ſondern uͤber
gewiſſe Maßregeln in der Staatsverwaltung, uͤber Ab¬
ſchaffung oder Beybehaltung gewiſſer Mißbraͤuche, uͤber
gewiſſe Bills, gewiſſe erbliche Questions — gleich¬
viel aus welchem Geſichtspuncte, meiſtens aus Ge¬
wohnheit. — Die Englaͤnder laſſen ſich nicht durch
die Partheynamen irre machen. Wenn ſie von
Whigs ſprechen, ſo haben ſie nicht dabey einen be¬
ſtimmten Begriff, wie wir z. B. wenn wir von
Liberalen ſprechen, wo wir uns gleich Menſchen
vorſtellen, die uͤber gewiſſe Freyheitsrechte herzinnig
einverſtanden ſind — ſondern ſie denken ſich eine
aͤußerliche Verbindung von Leuten, deren Jeder,
nach ſeiner Denkweiſe beurtheilt, gleichſam eine
Parthey fuͤr ſich bilden wuͤrde, und die nur, wie
ſchon oben erwaͤhnt iſt, durch aͤußere Anlaͤſſe, durch
zufaͤllige Intereſſen, durch Freundſchafts- und Feind¬
ſchaftsverhaͤltniſſe gegen die Tories ankaͤmpfen.
Hierbey duͤrfen wir uns ebenfalls keinen Kampf ge¬
gen Ariſtokraten in unſerem Sinne denken, da
dieſe Tories in ihren Gefuͤhlen nicht ariſtokratiſcher
ſind als die Whigs, und oft ſogar nicht ariſtokra¬
tiſcher als der Buͤrgerſtand ſelbſt, der die Ariſtokra¬
tie fuͤr eben ſo unwandelbar haͤlt wie Sonne,
Mond und Sterne, der die Vorrechte des Adels
und des Clerus nicht bloß als ſtaatsnuͤtzlich, ſondern
als eine Naturnothwendigkeit anſieht, und vielleicht
ſelbſt fuͤr dieſe Vorrechte mit weit mehr Eifer kaͤm¬
pfen wuͤrde als die Ariſtokraten ſelbſt, eben weil er feſter
daran glaubt als dieſe, die zumeiſt den Glauben
an ſich ſelbſt verloren. In dieſer Hinſicht liegt
uͤber dem Geiſt der Englaͤnder noch immer die
Nacht des Mittelalters, die heilige Idee von der
buͤrgerlichen Gleichheit aller Menſchen hat ſie noch
nicht erleuchtet, und manchen buͤrgerlichen Staats¬
mann in England, der torieſch geſinnt iſt, duͤrfen
wir deshalb bey Leibe nicht ſervil nennen und zu
jenen wohlbekannten ſervilen Hunden zaͤhlen, die
frey ſeyn koͤnnten, und dennoch in ihr altes Hun¬
deloch zuruͤckgekrochen ſind und jetzt die Sonne
der Freyheit anbellen.
Um die engliſche Oppoſition zu begreifen, ſind
daher die Namen Whigs und Tories voͤllig nutz¬
los, mit Recht hat Francis Burdett beym An¬
fange der Sitzungen voriges Jahr beſtimmt ausge¬
ſprochen, daß dieſe Namen jetzt alle Bedeutung
verloren; und Thomas Lethbridge, den der Schoͤp¬
fer der Welt und des Verſtandes nicht mit allzu¬
viel Witz ausgeruͤſtet, hat damals dennoch einen
ſehr guten Witz, vielleicht den einzigen ſeines Le¬
bens, uͤber dieſe Aeußerung Burdetts geriſſen,
naͤmlich: he has untoried the tories and unwig¬
ged the wigs.
Bedeutungsvoller ſind die Namen reformers
oder radical reformers, oder kurzweg radicals.
Sie werden gewoͤhnlich fuͤr gleichbedeutend gehal¬
ten, ſie zielen auf daſſelbe Gebrechen des Staates,
auf dieſelbe heilſame Abhuͤlfe und unterſcheiden
ſich nur durch mehr oder minder ſtarke Faͤrbung.
Jenes Gebrechen iſt die bekannte ſchlechte Art der
Volksrepraͤſentation, wo ſogenannte rotten boroughs,
verſchollene, unbewohnte Ortſchaften, oder beſſer
geſagt die Oligarchen, denen ſie gehoͤren, das
Recht haben, Volksrepraͤſentanten ins Parlament
zu ſchicken, waͤhrend große, bevoͤlkerte Staͤdte,
namentlich viele neuere Fabrikſtaͤdte, keinen einzi¬
gen Repraͤſentanten zu waͤhlen haben; die heilſame
Abhuͤlfe dieſes Gebrechens iſt die ſogenannte Par¬
lamentsreform. Nun freylich, dieſe betrachtet man
nicht als Zweck, ſondern als Mittel. Man hofft,
daß das Volk dadurch auch eine beſſere Vertretung
ſeiner Intereſſen, Abſchaffung ariſtokratiſcher Mi߬
braͤuche und Huͤlfe in ſeiner Noth gewinnen
wuͤrde. Es laͤßt ſich denken, daß die Parlaments¬
reform, dieſe gerechte, billige Anforderung, auch
unter den gemaͤßigten Menſchen, die nichts weni¬
ger als Jacobiner ſind, ihre Verfechter findet, und
wenn man ſolche Leute reformers nennt, betont
man dieſes Wort ganz anders, und himmelweit
iſt es alsdann unterſchieden von dem Worte ra¬
dical, auf dem ein ganz anderer Ton gelegt wird,
wenn man z. B. von Hunt oder Cobbett, kurz
von jenen heftigen, fletſchenden Revolutionaͤren
ſpricht, die nach Parlamentsreform ſchreyen, um
den Umſturz aller Formen, den Sieg der Hab¬
ſucht und voͤllige Poͤbelherrſchaft herbeyzufuͤhren.
Die Nuͤanzen in den Geſinnungen der Koryphaͤen
dieſer Parthey ſind daher unzaͤhlig. Aber, wie
geſagt, die Englaͤnder kennen ſehr gut ihre Leute,
der Namen taͤuſcht nicht das Publikum, und die¬
ſes unterſcheidet ſehr genau, wo der Kampf nur
Schein und wo er Ernſt iſt. Oft lange Jahre
hindurch iſt der Kampf im Parlamente nicht viel
mehr als ein muͤßiges Spiel, ein Tournier, wo
man fuͤr die Farbe kaͤmpft, die man ſich aus
Grille gewaͤhlt hat; giebt es aber einmal einen
ernſten Krieg, ſo eilt Jeder gleich unter die Fahne
ſeiner natuͤrlichen Parthey. Dieſes ſahen wir in
der Canningſchen Zeit. Die heftigſten Gegner
vereinigten ſich, als es Kampf der poſitivſten In¬
tereſſen galt; Tories, Whigs und Radicalen ſchaar¬
ten ſich, wie eine Phalanx, um den kuͤhnen,
buͤrgerlichen Miniſter, der den Uebermuth der Oli¬
garchen zu daͤmpfen verſuchte. Aber ich glaube
dennoch, mancher hochgeborne Whig, der ſtolz
hinter Canning ſaß, wuͤrde gleich zu der alten
Foxhunter-Sippſchaft uͤbergetreten ſeyn, wenn
ploͤtzlich die Abſchaffung aller Adelsrechte zur Spra¬
che gekommen waͤre. Ich glaube (Gott verzeih
mir die Suͤnde) Francis Burdett ſelbſt, der in
ſeiner Jugend zu den heftigſten Radikalen gehoͤrte,
und noch jetzt nicht zu den milderen Reformers
gerechnet wird, wuͤrde ſich bey einem ſolchen An¬
laſſe ſehr ſchnell neben Sir Thomas Lethbridge
geſetzt haben. Dieſes fuͤhlen die plebeiſchen Ra¬
dikalen ſehr gut, und deshalb haſſen ſie die ſoge¬
nannten Whigs, die fuͤr Parlamentsreform ſpre¬
chen, ſie haſſen ſie faſt noch mehr wie die eigent¬
lich hochfeindſeligen Tories.
In dieſem Augenblick beſteht die engliſche Op¬
poſition mehr aus eigentlichen Reformern als aus
Whigs. Der Chef der Oppoſition im Unterhauſe,
the leader of the opposition, gehoͤrt unſtreitig
zu jenen letztern. Ich ſpreche hier von Broug¬
ham.
Die Reden dieſes muthigen Parlamentshelden
leſen wir taͤglich in den Zeitblaͤttern, und ſeine
Geſinnungen duͤrfen wir daher als allgemein
bekannt vorausſetzen. Weniger bekannt ſind die
perſoͤnlichen Eigenthuͤmlichkeiten, die ſich bey die¬
ſen Reden kund geben; und doch muß man
erſtere kennen, um letztere vollgeltend zu begreifen.
Das Bild, das ein geiſtreicher Englaͤnder von
Broughams Erſcheinung im Parlamente entwirft,
mag daher hier ſeine Stelle finden:
„Auf der erſten Bank, zur linken Seite des
Sprechers, ſitzt eine Geſtalt, die ſo lange bey
der Studirlampe gehockt zu haben ſcheint, bis
nicht bloß die Bluͤthe des Lebens, ſondern die
Lebenskraft ſelbſt zu erloͤſchen begonnen; und doch
iſt es dieſe ſcheinbar huͤlfloſe Geſtalt, die alle
Augen des ganzen Hauſes auf ſich zieht, und die,
ſo wie ſie ſich in ihrer mechaniſchen, automati¬
ſchen Weiſe zum Aufſtehen bemuͤht, alle Schnell¬
ſchreiber hinter uns in fluchende Bewegung ſetzt,
waͤhrend alle Luͤcken auf der Gallerie, als ſey ſie
ein maſſives Steingewoͤlbe, ausgefuͤllt werden und
durch die beyden Seitenthuͤren noch das Gewicht
der draußenſtehenden Menſchenmenge hereindraͤngt.
Unten im Hauſe ſcheint ſich ein gleiches Intereſſe
kund zu geben; denn ſo wie jene Geſtalt ſich lang¬
ſam in einer vertikalen Kruͤmmung, oder vielmehr
in einem vertikalen Zickzack ſteif zuſammengefuͤgter
Linien, auseinander wickelt, ſind die paar ſonſti¬
gen Zeloten auf beyden Seiten, die ſich ſchreyend
entgegendaͤmmen wollten, ſchnell wieder auf ihre
Sitze zuruͤckgeſunken, als haͤtten ſie eine verbor¬
gene Windbuͤchſe unter der Robe des Sprechers
bemerkt.
Nach dieſem vorbereitenden Geraͤuſch und waͤh¬
rend der athemloſen Stille, die darauf folgte, hat
ſich Henry Brougham langſam und bedaͤchtigen
Schrittes dem Tiſche genaͤhert, und bleibt dort
zuſammengebuͤckt ſtehen — die Schultern in die
Hoͤhe gezogen, der Kopf vorwaͤrts gebeugt, ſeine
Oberlippe und Naſenfluͤgel in zitternder Bewegung,
als fuͤrchte er ein Wort zu ſprechen. Sein Aus¬
ſehen, ſein Weſen gleicht faſt einem jener Predi¬
ger, die auf freyem Felde predigen — nicht einem
modernen Manne dieſer Art, der die muͤßige
Sonntagsmenge nach ſich zieht, ſondern einem
ſolchen Prediger aus alten Zeiten, der die Rein¬
heit des Glaubens zu erhalten und in der Wild¬
niß zu verbreiten ſuchte, wenn ſie aus der Stadt
und ſelbſt aus der Kirche verbannt war. Die
Toͤne ſeiner Stimme ſind voll und melodiſch, doch
ſie erheben ſich langſam, bedaͤchtig, und wie man
zu glauben verſucht iſt, auch ſehr muͤhſam, ſo daß
man nicht weiß, ob die geiſtige Macht des Man¬
nes unfaͤhig iſt, den Gegenſtand zu beherrſchen,
oder ob ſeine phyſiſche Kraft unfaͤhig iſt, ihn aus¬
zuſprechen. Sein erſter Satz, oder vielmehr die
erſten Glieder ſeines Satzes — denn man findet
bald, daß bey ihm jeder Satz in Form und
Gehalt weiter reicht, als die ganze Rede mancher
anderen Leute — kommen ſehr kalt und unſicher
hervor, und uͤberhaupt ſo entfernt von der eigent¬
lichen Streitfrage, daß man nicht begreifen kann,
wie er ſie darauf hinbiegen wird. Jeder dieſer
Saͤtze, freylich, iſt tief, klar, an und fuͤr ſich
ſelbſt befriedigend, ſichtbar mit kuͤnſtlicher Wahl
aus den gewaͤhlteſten Materialien deduzirt, und
moͤgen ſie kommen aus welchem Fache des Wiſ¬
ſens es immerhin ſeyn mag, ſo enthalten ſie doch
deſſen reinſte Eſſenz. Man fuͤhlt, daß ſie alle
nach einer beſtimmten Richtung hingebogen wer¬
den, und zwar hingebogen mit einer ſtarken Kraft;
aber dieſe Kraft iſt noch immer unſichtbar wie der
Wind, und wie von dieſem, weiß man nicht wo¬
her ſie kommt und wohin ſie geht.
Wenn aber eine hinreichende Anzahl von die¬
ſen Anfangsſaͤtzen vorausgeſchickt ſind, wenn jeder
Huͤlfsſatz, den menſchliche Wiſſenſchaft zur Feſt¬
ſtellung einer Schlußfolge bieten kann, in Dienſt
genommen worden, wenn jeder Einſpruch durch
einen einzigen Stoß erfolgreich vorgeſchoben iſt,
wenn das ganze Heer politiſcher und moraliſcher
Wahrheiten in Schlachtordnung ſteht — dann
bewegt es ſich vorwaͤrts zur Entſcheidung, feſt
zuſammengeſchloſſen wie eine macedoniſche Pha¬
lanx, und unwiderſtehlich wie Hochlaͤnder, die
mit gefaͤlltem Bajonette eindringen.
Iſt ein Hauptſatz gewonnen mit dieſer ſchein¬
baren Schwaͤche und Unſicherheit, wohinter ſich
aber eine wirkliche Kraft und Feſtigkeit verborgen
hielt, dann erhebt ſich der Redner, ſowohl koͤr¬
perlich als geiſtig, und mit kuͤhnerem und kuͤrze¬
rem Angriff erficht er einen zweyten Hauptſatz.
Nach dem zweyten erkaͤmpft er einen dritten,
nach dem dritten einen vierten, und ſo weiter, bis
alle Principien und die ganze Philoſophie der
Streitfrage gleichſam erobert ſind, bis jeder im
Hauſe, der Ohren zum Hoͤren und ein Herz zum
Fuͤhlen hat, von den Wahrheiten, die er eben
vernommen, ſo unwiderſtehlich, wie von ſeiner
eigenen Exiſtenz, uͤberzeugt iſt, ſo daß Brougham,
wollte er hier ſtehen bleiben, ſchon unbedingt als
der groͤßte Logiker der St. Stephanskapelle gelten
koͤnnte. Die geiſtigen Huͤlfsquellen des Mannes
ſind wirklich bewunderungswuͤrdig, und er erinnert
faſt an das altnordiſche Maͤhrchen, wo einer im¬
mer die erſten Meiſter in jedem Fache des Wiſſens
getoͤdtet hat und dadurch der Alleinerbe ihrer
ſaͤmmtlichen Geiſtesfaͤhigkeiten geworden iſt. Der
Gegenſtand mag ſeyn wie er will, erhaben oder
gemeinplaͤtzig, abſtruſe oder praktiſch, ſo kennt ihn
dennoch Heinrich Brougham, und er kennt ihn
ganz aus dem Grunde. Andre moͤgen mit ihm
wetteifern, ja einer oder der andre mag ihn ſogar
uͤbertreffen in der Kenntniß aͤußerer Schoͤnheiten
der alten Literatur, aber niemand iſt tiefer als er
durchdrungen von der herrlichen und gluͤhenden
Philoſophie, die gewiß als ein koſtbarſter Edelſtein
17
hervorglaͤnzt aus jenen Schmuckkaͤſtchen, die uns
das Alterthum hinterlaſſen hat. Brougham ge¬
braucht nicht die klare, fehlerfreye und dabey etwas
hofmaͤßige Sprache des Cicero; eben ſo wenig
ſind ſeine Reden in der Form denen des Demo¬
ſthenes aͤhnlich, obgleich ſie etwas von deſſen Farbe
an ſich tragen; aber ihm fehlen weder die ſtreng¬
logiſchen Schluͤſſe des roͤmiſchen Redners noch die
ſchrecklichen Zornworte des Griechen. Dazu kommt
noch, daß keiner beſſer, als er es verſteht, das
Wiſſen des Tages in ſeinen Parlamentsreden zu
benutzen, ſo daß dieſe zuweilen, abgeſehen von
ihrer politiſchen Tendenz und Bedeutung, ſchon
als bloße Vorleſungen uͤber Philoſophie, Literatur
und Kuͤnſte, unſre Bewunderung verdienen wuͤrden.
Es iſt indeſſen gaͤnzlich unmoͤglich, den Cha¬
rakter dieſes Mannes zu analyſiren, waͤhrend man
ihn ſprechen hoͤrt. Wenn er, wie ſchon oben er¬
waͤhnt worden, das Gebaͤude ſeiner Rede auf
einen guten philoſophiſchen Boden und in der
Tiefe der Vernunft gegruͤndet hat; wenn er noch¬
mals zu dieſer Arbeit zuruͤckgekehrt, Senkblei und
Richtmaß anlegt, um zu unterſuchen, ob alles in
Ordnung iſt, und mit einer Rieſenhand zu pruͤfen
ſcheint, ob alles auch ſicher zuſammenhaͤlt; wenn
er die Gedanken aller Zuhoͤrer mit Argumenten
feſtgebunden, wie mit Seilen, die keiner zu zer¬
reißen im Stande iſt — dann ſpringt er gewaltig
auf das Gebaͤude, das er ſich gezimmert hat, es
erhebt ſich ſeine Geſtalt und ſein Ton, er be¬
ſchwoͤrt die Leidenſchaften aus ihren geheimſten
Winkeln, und uͤberwaͤltigt und erſchuͤttert die
maulaufſperrenden Parlamentsgenoſſen und das
ganze, droͤhnende Haus. Jene Stimme, die erſt
ſo leiſe und anſpruchslos war, gleicht jetzt dem
betaͤubenden Brauſen und den unendlichen Wogen
des Meeres; jene Geſtalt, die vorher unter ihrem
eigenen Gewichte zu ſinken ſchien, ſieht jetzt aus,
als haͤtte ſie Nerven von Stahl, Sehnen von
Kupfer, ja als ſey ſie unſterblich und unveraͤn¬
17 *
derlich wie die Wahrheiten, die ſie eben ausge¬
ſprochen; jenes Geſicht, welches vorher blaß und
kalt war wie ein Stein, iſt jetzt belebt und leuch¬
tend, als waͤre der innere Geiſt noch maͤchtiger,
als die geſprochenen Worte; und jene Augen, die
uns anfaͤnglich mit ihren blauen und ſtillen Krei¬
ſen ſo demuͤthig anſahen, als wollten ſie unſre
Nachſicht und Verzeihung erbitten, aus denſelben
Augen ſchießt jetzt ein meteoriſches Feuer, das alle
Herzen zur Bewunderung entzuͤndet. So ſchließt
der zweyte, der leidenſchaftliche oder deklamatori¬
ſche Theil der Rede.
Wenn er das erreicht hat, was man fuͤr den
Gipfel der Beredſamkeit halten moͤchte, wenn er
gleichſam umher blickt, um die Bewunderung, die
er hervorgebracht, mit Hohnlaͤcheln zu betrachten,
dann ſinkt ſeine Geſtalt wieder zuſammen und
auch ſeine Stimme faͤllt herab bis zum ſonderbar¬
ſten Fluͤſtern, das jemals aus der Bruſt eines
Menſchen hervorgekommen. Dieſes ſeltſame Her¬
abſtimmen, oder vielmehr Fallenlaſſen des Aus¬
drucks, der Gebehrde und der Stimme, welches
Brougham in einer Vollkommenheit beſitzt, wie
es bey gar keinem anderen Redner gefunden wird,
bringt eine wunderbare Wirkung hervor; und jene
tiefen, feyerlichen, faſt hingemurmelten Worte, die
jedoch bis auf den Anhauch jeder einzelnen Sylbe
vollkommen vernehmbar ſind, tragen in ſich eine
Zaubergewalt, der man nicht widerſtehen kann,
ſelbſt wenn man ſie zum erſtenmale hoͤrt und
ihre eigentliche Bedeutung und Wirkung noch nicht
kennen gelernt hat. Man glaube nur nicht etwa,
der Redner oder die Rede ſey erſchoͤpft. Dieſe
gemilderten Blicke, dieſe gedaͤmpften Toͤne bedeuten
nichts weniger als den Anfang einer Perorazio,
womit der Redner, als ob er fuͤhle, daß er etwas
zu weit gegangen, ſeine Gegner wieder beſaͤnftigen
will. Im Gegentheil, dieſes Zuſammenkruͤmmen
des Leibes iſt kein Zeichen von Schwaͤche, und
dieſes Fallenlaſſen der Stimme iſt kein Vorſpiel
von Furcht und Unterwuͤrfigkeit: es iſt das loſe,
haͤngende Vorbeugen des Leibes, bey einem Rin¬
ger, der die Gelegenheit erſpaͤht, wo er ſeinen
Gegner deſto gewaltſamer umwinden kann, es iſt
das Zuruͤckſpringen des Tigers, der gleich darauf
mit deſto ſicherern Krallen auf ſeine Beute los¬
ſtuͤrzt, es iſt das Zeichen, daß Heinrich Broug¬
ham ſeine ganze Ruͤſtung anlegt und ſeine maͤch¬
tigſte Waffe ergreift. In ſeinen Argumenten war
er klar und uͤberzeugend; in ſeiner Beſchwoͤrung
der Leidenſchaften war er zwar etwas hochmuͤthig,
doch auch maͤchtig und ſiegreich; jetzt aber legt er
den letzten, ungeheuerſten Pfeil auf ſeinen Bogen
— er wird fuͤrchterlich in ſeinen Invektiven.
Wehe dem Manne, dem jenes Auge, das vorher
ſo ruhig und blau war, jetzt entgegenflammt aus
dem geheimnißvollen Dunkel dieſer zuſammengezog¬
nen Brauen! Wehe dem Wicht, dem dieſe halb¬
gefluͤſterten Worte ein Vorzeichen ſind von dem
Unheil, das uͤber ihn heranſchwebt!
Wer als ein Fremder vielleicht heute zum er¬
ſtenmal die Gallerie des Parlamentes beſucht,
weiß nicht, was jetzt kommen wird. Er ſieht
blos einen Mann, der ihn mit ſeinen Argumenten
uͤberzeugt, mit ſeiner Leidenſchaft erwaͤrmt hat,
und jetzt mit jenem ſonderbaren Fluͤſtern einen
ſehr lahmen, ſchwaͤchlichen Schluß anzubringen
ſcheint. O Fremdling! waͤreſt du bekannt mit den
Erſcheinungen dieſes Hauſes und auf einem Sitze,
wo du alle Parlamentsglieder uͤberſehen koͤnnteſt,
ſo wuͤrdeſt du bald merken, daß dieſe in Betreff
eines ſolchen lahmen, ſchwaͤchlichen Schluſſes
durchaus nicht deiner Meinung ſind. Du wuͤrdeſt
manchen bemerken, den Partheyſucht oder Anma¬
ßung in dieſes ſtuͤrmiſche Meer, ohne gehoͤrigen
Ballaſt und das noͤthige Steuerruder, hineinge¬
trieben hat, und der nun ſo furchtſam und aͤngſt¬
lich umherblickt, wie ein Schiffer auf dem chine¬
ſiſchen Meere, wenn er an einer Seite des Ho¬
rizontes jene dunkle Ruhe entdeckt, die ein ſicheres
Vorzeichen iſt, daß von der andern Seite, ehe
eine Minute vorgeht, der Typhon heranweht mit
ſeinem verderblichen Hauche; — du wuͤrdeſt irgend
einen kleinen Mann bemerken, der faſt greinen
moͤchte und an Leib und Seele ſchauert wie ein
kleines Voͤgelchen, das in die Zaubernaͤhe einer
Klapperſchlange gerathen iſt, ſeine Gefahr entſetz¬
lich fuͤhlt und ſich doch nicht helfen kann und mit
jaͤmmerlich naͤrriſcher Miene dem Untergange ſich
darbietet; — du wuͤrdeſt einen langen Antagoni¬
ſten bemerken, der ſich mit ſchlotternden Beinen
an der Bank feſtklammert, damit der heranzie¬
hende Sturm ihn nicht fortfegt; — oder du be¬
merkſt ſogar einen ſtattlichen, wohlbeleibten Repraͤ¬
ſentanten irgend einer fetten Grafſchaft, der beyde
Faͤuſte in das Kiſſen ſeiner Bank hineingraͤbt,
voͤllig entſchloſſen, im Fall ein Mann von ſeiner
Wichtigkeit aus dem Hauſe geſchleudert wuͤrde,
dennoch ſeinen Sitz zu bewahren und unter ſich
von dannen zu fuͤhren.
Und nun kommt es: — die Worte, welche
ſo tiefgefluͤſtert und gemurmelt wurden, ſchwellen
an ſo laut, daß ſie ſelbſt den Jubelruf der eignen
Parthey uͤbertoͤnen, und nachdem irgend ein un¬
gluͤckſeliger Gegner bis auf die Knochen geſchun¬
den, und ſeine verſtuͤmmelten Glieder durch alle
Redefiguren durchgeſtampft worden, dann iſt der
Leib des Redners wie niedergebrochen und zerſchla¬
gen von der Kraft ſeines eignen Geiſtes, er ſinkt
auf ſeinen Sitz zuruͤck und der Beyfalllaͤrm der
Verſammlung kann jetzt unaufhaltbar hervorbrechen.“
Ich habe es nie ſo gluͤcklich getroffen, daß ich
Brougham waͤhrend einer ſolchen Rede im Par¬
lamente ruhig betrachten konnte. Nur ſtuͤckweis
oder Unwichtiges hoͤrte ich ihn ſprechen, und nur
ſelten kam er mir dabey ſelbſt zu Geſicht. Im¬
mer aber — das merkte ich gleich — ſobald er
das Wort nahm, erfolgte eine tiefe, faſt aͤngſtliche
Stille. Das Bild, das oben von ihm entworfen
17 **
worden, iſt gewiß nicht uͤbertrieben. Seine Ge¬
ſtalt, von gewoͤhnlicher Manneslaͤnge, iſt ſehr
duͤnn, ebenfalls ſein Kopf, der mit kurzen, ſchwar¬
zen Haaren, die ſich der Schlaͤfe glatt anlegen,
ſpaͤrlich bedeckt iſt. Das blaſſe, laͤngliche Geſicht
erſcheint dadurch noch duͤnner, die Muskeln deſ¬
ſelben ſind in krampfhafter, unheimlicher Bewe¬
gung, und wer ſie beobachtet, ſieht des Redners
Gedanken, ehe ſie geſprochen ſind. Dieſes ſchadet
ſeinen witzigen Einfaͤllen; denn fuͤr Witze und
Geldborger iſt es heilſam, wenn ſie uns unange¬
meldet uͤberraſchen. Obgleich ſein ſchwarzer An¬
zug, bis auf den Schnitt des Fracks, ganz gent¬
lemaͤnniſch iſt, ſo traͤgt ſolcher doch dazu bey, ihm
ein geiſtliches Anſehen zu geben. Vielleicht be¬
kommt er dieſes noch mehr durch ſeine oft ge¬
kruͤmmte Ruͤckenbewegung und die lauernde, iro¬
niſche Geſchmeidigkeit des ganzen Leibes. Einer
meiner Freunde hat mich zuerſt auf dieſes „Kleri¬
kaliſche“ in Broughams Weſen aufmerkſam ge¬
macht, und durch die obige Schilderung wird dieſe
feine Bemerkung beſtaͤtigt. Mir iſt zuerſt das
„Advokatiſche“ im Weſen Broughams aufgefallen,
beſonders durch die Art, wie er beſtaͤndig mit dem
vorgeſtreckten Zeigefinger demonſtrirt, und mit vor¬
gebeugtem Haupte ſelbſtgefaͤllig dazu nickt.
Am bewunderungswuͤrdigſten iſt die raſtloſe
Thaͤtigkeit dieſes Mannes. Jene Parlamentsreden
haͤlt er, nachdem er vielleicht ſchon acht Stunden
lang ſeine taͤglichen Berufsgeſchaͤfte, naͤmlich das
Advoziren in den Gerichtsſaͤlen, getrieben, und
vielleicht die halbe Nacht an Aufſaͤtzen fuͤr das
Edinburgh Review oder an ſeinen Verbeſſerungen
des Volksunterrichts und der Criminalgeſetze gear¬
beitet hat. Erſtere Arbeiten, der Volksunterricht,
werden gewiß einſt ſchoͤne Fruͤchte hervorbringen.
Letztere, die Criminalgeſetzgebung, womit Broug¬
ham und Peel ſich jetzt am meiſten beſchaͤftigen,
ſind vielleicht die nuͤtzlichſten, wenigſtens die drin¬
gendſten; denn Englands Geſetze ſind noch grau¬
ſamer als ſeine Oligarchen. Der Proceß der Koͤ¬
nigin begruͤndete zuerſt Broughams Celebritaͤt. Er
kaͤmpfte wie ein Ritter fuͤr dieſe hohe Dame, und
wie ſich von ſelbſt verſteht, wird Georg IV. nie¬
mals die Dienſte vergeſſen, die er ſeiner lieben
Frau geleiſtet hat. Deßhalb, als vorigen April
die Oppoſition ſiegte, kam Brougham dennoch nicht
ins Miniſterium, obgleich ihm, als leader of the
opposition, in dieſem Falle, nach altem Brauch,
ein ſolcher Eintritt gebuͤhrte.
IX.
Die Emanzipazion.
Wenn man mit dem duͤmmſten Englaͤnder uͤber
Politik ſpricht, ſo wird er doch immer etwas Ver¬
nuͤnftiges zu ſagen wiſſen. Sobald man aber das
Geſpraͤch auf Religion lenkt, wird der geſcheidteſte
Englaͤnder nichts als Dummheiten zu Tage foͤr¬
dern. Daher entſteht wohl jene Verwirrung der
Begriffe, jene Miſchung von Weisheit und Unſinn,
ſobald im Parlamente die Emanzipazion der Ka¬
tholiken zur Sprache kommt, eine Streitfrage, wo¬
rin Politik und Religion collidiren. Selten in ih¬
ren parlamentariſchen Verhandlungen iſt es den
Englaͤndern moͤglich ein Prinzip auszuſprechen, ſie
discutiren nur den Nutzen oder Schaden der Dinge,
und bringen Facta, die Einen pro, die Anderen
contra, zum Vorſchein.
Mit Factis aber kann man zwar ſtreiten, doch
nicht ſiegen, da gibt es nichts als ein materielles
Hin- und Herſchlagen, und das Schauſpiel eines
ſolchen Streites gemahnt uns an wohlbekannte pro
patria-Kaͤmpfe deutſcher Studenten, deren Reſul¬
tat darauf hinauslaͤuft, daß ſo und ſo viel Gaͤnge
gemacht worden, ſo und ſo viel Quarten und
Terzen gefallen ſind, und nichts damit bewieſen worden.
Im Jahr 1827, wie ſich von ſelbſt ver¬
ſteht, haben wieder die Emanzipazioniſten gegen
die Oranienmaͤnner in Weſtminſter gefochten, und
wie ſich von ſelbſt verſteht, es iſt nichts dabei her¬
ausgekommen. Die beſten Schlaͤger der Emanzi¬
pazioniſten waren Burdett, Plunket, Brougham
und Canning. Ihre Gegner, Herrn Peel ausge¬
nommen, waren wieder die bekannten, oder beſſer
geſagt, die unbekannten Fuchsjaͤger.
Von jeher ſtimmten die geiſtreichſten Staats¬
maͤnner Englands fuͤr die buͤrgerliche Gleichſtellung
der Katholiken, ſowohl aus Gruͤnden des innigſten
Rechtsgefuͤhls als auch der politiſchen Klugheit.
Pitt ſelbſt, der Erfinder des ſtabilen Syſtems, hielt
die Parthey der Katholiken. Gleichfalls Burke,
der große Renegat der Freyheit, konnte nicht ſo
weit die Stimme ſeines Herzens unterdruͤcken, daß
er gegen Irland gewirkt haͤtte. Auch Canning,
ſogar damals, als er noch ein toryſcher Knecht
war, konnte nicht ungeruͤhrt das Elend Irlands
betrachten, und wie theuer ihm deſſen Sache war,
hat er zu einer Zeit, als man ihn der Lauigkeit
bezuͤchtigte, gar ruͤhrend naiv ausgeſprochen. Wahr¬
lich, ein großer Menſch kann, um große Zwecke
zu erreichen, oft gegen ſeine Ueberzeugung handeln
und zweideutig oft von einer Parthey zur andern
uͤbergehen; — man muß alsdann billig bedenken,
daß derjenige, der ſich auf einer gewiſſen Hoͤhe be¬
haupten will, ebenſo den Umſtaͤnden nachgeben muß,
wie der Hahn auf dem Kirchthurm, den, obgleich
er von Eiſen iſt, jeder Sturmwind zerbrechen und
herabſchleudern wuͤrde, wenn er trotzig unbeweglich
bliebe und nicht die edle Kunſt verſtaͤnde ſich nach
jedem Winde zu drehen. Aber nie wird ein gro¬
ßer Menſch ſo weit die Gefuͤhle ſeiner Seele verlaͤugnen
koͤnnen, daß er das Ungluͤck ſeiner Landsleute mit
indifferenter Ruhe anſehen und ſogar vermehren
koͤnnte. Wie wir unſere Mutter lieben, ſo lieben
wir auch den Boden, worauf wir geboren ſind, ſo
lieben wir die Blumen, den Duft, die Sprache
und die Menſchen, die aus dieſem Boden hervor¬
gebluͤht ſind, keine Religion iſt ſo ſchlecht und
keine Politik iſt ſo gut, daß ſie im Herzen ihrer
Bekenner ſolche Liebe erſticken koͤnnte; obgleich ſie
Proteſtanten und Tories waren, konnten Burke
und Canning doch nimmermehr Parthey nehmen
gegen das arme, gruͤne Erin: Irlaͤnder, die ſchreck¬
liches Elend und namenloſen Jammer uͤber ihr
Vaterland verbreiten, ſind Menſchen — wie der
ſelige Caſtlereagh.
Daß die große Maſſe des engliſchen Volkes ge¬
gen die Katholiken geſtimmt iſt, und taͤglich das
Parlament beſtuͤrmt, ihnen nicht mehr Rechte ein¬
zuraͤumen, iſt ganz in der Ordnung. Es liegt in
der menſchlichen Natur eine ſolche Unterdruͤckungs¬
ſucht, und wenn wir auch, was jetzt beſtaͤndig ge¬
ſchieht, uͤber buͤrgerliche Ungleichheit klagen, ſo ſind
alsdann unſere Augen nach oben gerichtet, wir ſe¬
hen nur diejenigen, die uͤber uns ſtehen, und deren
Vorrechte uns beleidigen; abwaͤrts ſehen wir nie
bei ſolchen Klagen, es kommt uns nie in den Sinn,
diejenigen, welche durch Gewohnheitsunrecht noch
unter uns geſtellt ſind, zu uns heraufzuziehen, ja
uns verdrießt es ſogar, wenn dieſe ebenfalls in die
Hoͤhe ſtreben, und wir ſchlagen ihnen auf die
Koͤpfe. Der Kreole verlangt die Rechte des Eu¬
ropaͤers, ſpreizt ſich aber gegen den Mulatten, und
18
ſpruͤht Zorn, wenn dieſer ſich ihm gleichſtellen will.
Ebenſo handelt der Mulatte gegen den Meſtizen
und dieſer wieder gegen den Neger. Der Frank¬
furter Spießbuͤrger aͤrgert ſich uͤber Vorrechte des
Adels; aber er aͤrgert ſich noch mehr, wenn man
ihm zumuthet, ſeine Juden zu emanzipiren. Ich
habe einen Freund in Polen, der fuͤr Freyheit
und Gleichheit ſchwaͤrmt, aber bis auf dieſe Stunde
ſeine Bauern noch nicht aus ihrer Leibeigenſchaft
entlaſſen hat.
Was den engliſchen Clerus betrifft, ſo bedarf
es keiner Eroͤrterung, weßhalb von dieſer Seite die
Katholiken verfolgt werden. Verfolgung der An¬
dersdenkenden iſt uͤberall das Monopol der Geiſt¬
lichkeit, und auch die anglicaniſche Kirche behaup¬
tet ſtreng ihre Rechte. Freilich, die Zehnten ſind
ihr die Hauptſache, ſie wuͤrde durch die Emanzipa¬
zion der Katholiken einen großen Theil ihres Ein¬
kommens verlieren, und Aufopferung eigener In¬
tereſſen iſt ein Talent, das den Prieſtern der Liebe
eben ſo ſehr abgeht, wie den ſuͤndigen Layen.
Dazu kommt noch, daß jene glorreiche Revolution,
welcher England die meiſten ſeiner jetzigen Frei¬
heiten verdankt, aus religioͤſem, proteſtantiſchem
Eifer hervorgegangen: ein Umſtand, der den Eng¬
laͤndern gleichſam noch beſondere Pflichten der
Dankbarkeit gegen die herrſchende proteſtantiſche
Kirche auferlegt, und ſie dieſe als das Haupboll¬
werkHauptboll¬
werk ihrer Freyheit betrachten laͤßt. Manche aͤngſt¬
liche Seelen unter ihnen moͤgen wirklich den Ka¬
tholicismus und deſſen Wiedereinfuͤhrung fuͤrchten,
und an die Scheiterhaufen von Smithfield denken —
und ein gebranntes Kind ſcheut das Feuer. Auch
gibt es aͤngſtliche Parlamentsglieder, die ein neues
Pulvercomplot befuͤrchten — diejenigen fuͤrchten
das Pulver am meiſten, die es nicht erfunden ha¬
ben — und da wird es ihnen oft, als fuͤhlten ſie,
wie die gruͤnen Baͤnke, worauf ſie in der St.
Stephanskapelle ſitzen, allmaͤhlig warm und waͤr¬
mer werden, und wenn irgend ein Redner, wie
18 *
oft geſchieht, den Namen Guy Fawkes erwaͤhnt,
rufen ſie aͤngſtlich: hear-him! hear-him! Was
endlich den Rector von Goͤttingen betrifft, der in
London eine Anſtellung als Koͤnig von England
hat, ſo kennt jeder ſeine Maͤßigkeitspolitik: er er¬
klaͤrt ſich fuͤr keine von beiden Partheyen, er ſieht
gern, daß ſie ſich bei ihren Kaͤmpfen wechſelſeitig
ſchwaͤchen, er laͤchelt nach herkoͤmmlicher Weiſe,
wenn ſie friedlich bei ihm kouren, er weiß Alles
und thut Nichts, und verlaͤßt ſich im ſchlimmſten
Fall auf ſeinen Oberſchnurren Wellington.
Man verzeihe mir, daß ich in flipprigem Tone
eine Streitfrage behandle, von deren Loͤſung das
Wohl Englands und daher vielleicht mittelbar das
Wohl der Welt abhaͤngt. Aber eben, je wichtiger
ein Gegenſtand iſt, deſto luſtiger muß man ihn
behandeln; das blutige Gemetzel der Schlachten,
das ſchaurige Sichelwetzen des Todes waͤre nicht
zu ertragen, erklaͤnge nicht dabei die betaͤubende
tuͤrkiſche Muſik mit ihren freudigen Pauken und
Trompeten. Das wiſſen die Englaͤnder, und daher
bietet ihr Parlament auch ein heiteres Schauſpiel
des unbefangenſten Witzes und der witzigſten Un¬
befangenheit, bei den ernſthafteſten Debatten, wo
das Leben von Tauſenden und das Heil ganzer
Laͤnder auf dem Spiel ſteht, kommt doch keiner
von ihnen auf den Einfall ein deutſch ſteifes Land¬
ſtaͤndegeſicht zu ſchneiden, oder franzoͤſiſch pathetiſch
zu declamiren, und wie ihr Leib, ſo gebaͤhrdet ſich
alsdann auch ihr Geiſt ganz zwanglos, Scherz,
Selbſtperſiflage, Sarcasmen, Gemuͤth und Weis¬
heit, Malice und Guͤte, Logik und Verſe ſprudeln
hervor im bluͤhendſten Farbenſpiel, ſo daß die An¬
nalen des Parlaments uns noch nach Jahren die
geiſtreichſte Unterhaltung gewaͤhren. Wie ſehr con¬
traſtiren dagegen die oͤden, ausgeſtopften, loͤſchpa¬
piernen Reden unſerer ſuͤddeutſchen Kammern, de¬
ren Langweiligkeit auch der geduldigſte Zeitungsle¬
ſer nicht zu uͤberwinden vermag, ja deren Duft
ſchon einen lebendigen Leſer verſcheuchen kann, ſo
daß wir glauben muͤſſen, jene Langweiligkeit ſey
geheime Abſicht, um das große Publicum von der
Lectuͤre jener Verhandlungen abzuſchrecken, und ſie
dadurch trotz ihrer Oeffentlichkeit, dennoch im Grunde
ganz geheim zu halten.
Iſt alſo die Art wie die Englaͤnder im Par¬
lamente die katholiſche Streitfrage abhandeln, we¬
nig geeignet, ein Reſultat hervorzubringen, ſo iſt
doch die Lectuͤre dieſer Debatten um ſo intereſſan¬
ter, weil Facta mehr ergoͤtzen als Abſtractionen,
und gar beſonders amuͤſant iſt es, wenn fabelgleich
irgend eine Parallelgeſchichte erzaͤhlt wird, die den
gegenwaͤrtigen, beſtimmten Fall witzig perſiflirt,
und dadurch vielleicht am gluͤcklichſten illuſtrirt.
Schon bei den Debatten uͤber die Thronrede, am
3. Februar 1825, vernahmen wir im Oberhauſe
eine jener Parallelgeſchichten, wie ich ſie oben be¬
zeichnet, und die ich woͤrtlich hierherſetze: (vid.
Parliamentary history and review during the
session of 1825 – 1826. Pag. 31.)
„Lord King bemerkte, daß wenn auch Eng¬
land bluͤhend und gluͤcklich genannt werden koͤnne,
ſo befaͤnden ſich doch ſechs Millionen Katholiken
in einem ganz andern Zuſtande, jenſeits des ir¬
laͤndiſchen Canals, und die dortige ſchlechte Re¬
gierung ſey eine Schande fuͤr unſer Zeitalter und
fuͤr alle Britten. Die ganze Welt, ſagte er, iſt
jetzt zu vernuͤnftig, um Regierungen zu entſchuldi¬
gen, welche ihre Unterthanen wegen Religionsdif¬
ferenzen bedruͤcken oder irgend eines Rechtes berau¬
ben. Irland und die Tuͤrkei koͤnnte man als die
einzigen Laͤnder Europa's bezeichnen, wo ganze
Menſchenclaſſen ihres Glaubens wegen unterdruͤckt
und gekraͤnkt werden. Der Großſultan hat ſich
bemuͤht, die Griechen zu bekehren, in derſelben
Weiſe wie das engliſche Gouvernement die Bekeh¬
rung der irlaͤndiſchen Katholiken betrieben, aber
ohne Erfolg. Wenn die ungluͤcklichen Griechen
uͤber ihre Leiden klagten, und demuͤthigſt baten,
ein Bischen beſſer als mahomedaniſche Hunde be¬
handelt zu werden, ließ der Sultan ſeinen Gro߬
vezier holen, um Rath zu ſchaffen. Dieſer Gro߬
vezier war fruͤherhin ein Freund und ſpaͤterhin ein
Feind der Sultanin geweſen. Er hatte dadurch
in der Gunſt ſeines Herrn ziemlich gelitten, und
in ſeinem eigenen Divan, von ſeinen eigenen Be¬
amten und Dienern, manchen Widerſpruch ertra¬
gen muͤſſen (Gelaͤchter). Er war ein Feind der
Griechen. Dem Einfluß nach die zweite Perſon
im Divan, war der Reis Effendi, welcher den ge¬
rechten Forderungen jenes ungluͤcklichen Volkes
freundlich geneigt war. Dieſer Beamte, wie man
wußte, war Miniſter der aͤußern Angelegenheiten,
und ſeine Politik verdiente und erhielt allgemeinen
Beifall. Er zeigte in dieſem Felde außerordent¬
liche Liberalitaͤt und Talente, er that viel Gutes,
verſchaffte der Regierung des Sultans viel Popu¬
laritaͤt, und wuͤrde noch mehr ausgerichtet haben,
haͤtten ihn nicht ſeine minder erleuchteten Collegen
in allen ſeinen Maßregeln gehemmt. Er war in
der That der einzige Mann von wahrem Genie
im ganzen Divan (Gelaͤchter), und man achtete
ihn als eine Zierde tuͤrkiſcher Staatsleute, da er
auch mit poetiſchen Talenten begabt war. Der
Kiaya-Bey oder Miniſter des Innern und der Kapi¬
tan Paſcha waren wiederum Gegner der Griechen;
aber der Chorfuͤhrer der ganzen Oppoſition gegen
die Rechtsanſpruͤche dieſes Volks war der Ober¬
mufti, oder das Haupt des Mahomedaniſchen Glau¬
bens (Gelaͤchter). Dieſer Beamte war ein Feind
jeder Veraͤnderung. Er hatte ſich regelmaͤßig wi¬
derſetzt bey allen Verbeſſerungen im Handel, bey
allen Verbeſſerungen in der Juſtiz, bey jeder Ver¬
beſſerung in der auslaͤndiſchen Politik (Gelaͤchter).
Er zeigte und erklaͤrte ſich jedesmal als der groͤßte
Verfechter der beſtehenden Mißbraͤuche. Er war
der vollendetſte Intriguant im ganzen Divan (Ge¬
laͤchter). In fruͤherer Zeit hatte er ſich fuͤr die
Sultanin erklaͤrt, aber er wandte ſich gegen ſie,
ſobald er befuͤrchtete, daß er dadurch ſeine Stelle
im Divan verlieren koͤnne, er nahm ſogar die
Parthey ihrer Feinde. Einſt wurde der Vorſchlag
gemacht, einige Griechen in das Corps der regu¬
lairen Truppen oder Janitſcharen aufzunehmen;
aber der Obermufti erhob dagegen ein ſo heilloſes
Zetergeſchrei — aͤhnlich unſerem No popery-Ge¬
ſchrei — daß diejenigen, welche jene Maßregel ge¬
nehmigt, aus dem Divan ſcheiden mußten. Er
gewann ſelbſt die Oberhand, und ſobald dies ge¬
ſchah, erklaͤrte er ſich fuͤr eben dieſelbe Sache, wo¬
gegen er vorhin am meiſten geeifert hatte (Ge¬
laͤchter). Er ſorgte fuͤr des Sultans Gewiſſen
und fuͤr ſein eigenes; doch will man bemerkt ha¬
ben, daß ſein Gewiſſen niemals mit ſeinen In¬
tereſſen in Oppoſition war (Gelaͤchter). Da er
aufs Genaueſte die tuͤrkiſche Conſtitution ſtudirt,
hatte er ausgefunden, daß ſie weſentlich mahome¬
daniſch ſey (Gelaͤchter), und folglich allen Vor¬
rechten der Griechen feindſelig ſeyn muͤſſe. Er
hatte deshalb beſchloſſen, der Sache der Intoleranz
feſt ergeben zu bleiben, und war bald umringt von
Mollahs, Imans und Derwiſchen, welche ihn in
ſeinen edeln Vorſaͤtzen beſtaͤrkten. Um das Bild
dieſer Spaltung im Divan zu vollenden, ſey noch
erwaͤhnt, daß deſſen Mitglieder uͤbereinkamen, ſie
wollten bey gewiſſen Streitfragen einig, und bey
andern wieder entgegengeſetzter Meinung ſeyn, ohne
ihre Vereinigung zu brechen. Nachdem man nun
die Uebel, die durch ſolch einen Divan entſtanden,
geſehen hat, nachdem man geſehen, wie das Reich
der Muſelmaͤnner zerriſſen worden, durch eben ihre
Intoleranz gegen die Griechen und ihre Uneinig¬
keit unter ſich ſelbſt: ſo ſollte man doch den Him¬
mel bitten das Vaterland vor einer ſolchen Cabi¬
netsſpaltung zu bewahren.“
Es bedarf keines ſonderlichen Scharfſinns, um
die Perſonen zu errathen, die hier in tuͤrkiſche
Namen vermummt ſind; noch weniger iſt es von
Noͤthen, die Moral der Geſchichte in trocknen
Worten herzuſetzen. Die Kanonen von Navarino
haben ſie laut genug ausgeſprochen, und wenn einſt
die hohe Pforte zuſammenbricht — und brechen
wird ſie trotz Peras bevollmaͤchtigten Lakayen, die
ſich dem Unwillen der Voͤlker entgegenſtaͤmmen —
dann mag John Bull in ſeinem Herzen bedenken:
mit veraͤndertem Namen ſpricht von dir die Fabel.
Etwas der Art mag England ſchon jetzt ahnen,
indem ſeine beſten Publiziſten ſich gegen den In¬
terventionskrieg erklaͤren, und ganz naiv darauf
hindeuten, daß die Voͤlker Europa's mit gleichem
Rechte ſich der irlaͤndiſchen Katholiken annehmen,
und der engliſchen Regierung eine beſſere Behand¬
lung derſelben abzwingen koͤnnten. Sie glauben
hiermit das Interventionsrecht widerlegt zu haben,
und haben es nur noch deutlicher illuſtrirt. Frei¬
lich haͤtten Europa's Voͤlker das heiligſte Recht,
ſich fuͤr die Leiden Irlands, mit gewaffneter Hand,
zu verwenden, und dieſes Recht wuͤrde auch aus¬
geuͤbt werden, wenn nicht das Unrecht ſtaͤrker waͤre.
Nicht mehr die gekroͤnten Haͤuptlinge, ſondern die
Voͤlker ſelbſt ſind die Helden der neuern Zeit, auch
dieſe Helden haben eine heilige Allianz geſchloſſen,
ſie halten zuſammen, wo es gilt fuͤr das gemein¬
ſame Recht, fuͤr das Voͤlkerrecht der religioͤſen und
politiſchen Freyheit, ſie ſind verbunden durch die
Idee, ſie haben ſie beſchworen und dafuͤr geblutet,
ja ſie ſind ſelbſt zur Idee geworden — und des¬
halb zuckt es gleich ſchmerzhaft durch alle Voͤlker¬
herzen, wenn irgendwo, ſey es auch im aͤußerſten
Winkel der Erde, die Idee beleidigt wird.
X.
Wellington.
Der Mann hat das Ungluͤck uͤberall Gluͤck zu
haben, wo die groͤßten Maͤnner der Welt Ungluͤck
hatten, und das empoͤrt uns und macht ihn ver¬
haßt. Wir ſehen in ihm nur den Sieg der Dumm¬
heit uͤber das Genie — Arthur Wellington trium¬
phirt, wo Napoleon Bonaparte untergeht! Nie
ward ein Mann ironiſcher von Fortuna beguͤnſtigt,
und es iſt als ob ſie ſeine oͤde Winzigkeit zur
Schau geben wollte, indem ſie ihn auf das Schild
des Sieges emporhebt. Fortuna iſt ein Weib,
und nach Weiberart grollt ſie vielleicht heimlich
dem Manne, der ihren ehemaligen Liebling ſtuͤrzte,
obgleich deſſen Sturz ihr eigner Wille war. Jetzt,
bey der Emanzipazion der Katholiken, laͤßt ſie ihn
wieder ſiegen, und zwar in einem Kampfe, worin
Georg Canning zu Grunde ging. Man wuͤrde
ihn vielleicht geliebt haben, wenn der elende Lon¬
donderry ſein Vorgaͤnger im Miniſterium geweſen
waͤre; jetzt aber war er der Nachfolger des edlen
Canning, des vielbeweinten, angebeteten, großen
Canning — und er ſiegt wo Canning zu Grunde
ging. Ohne ſolches Ungluͤck des Gluͤcks wuͤrde
Wellington vielleicht fuͤr einen großen Mann paſ¬
ſiren, man wuͤrde ihn nicht haſſen, nicht genau
meſſen, wenigſtens nicht mit dem heroiſchen Maa߬
ſtabe, womit man einen Napoleon und einen Can¬
ning mißt, und man wuͤrde nicht entdeckt haben,
wie klein er iſt als Menſch.
Er iſt ein kleiner Menſch, und noch weniger
als klein. Die Franzoſen haben von Polignac
nichts Aergeres ſagen koͤnnen, als: er ſey ein
Wellington ohne Ruhm. In der That, was
bleibt uͤbrig, wenn man einem Wellington die
Feldmarſchalluniform des Ruhmes auszieht?
Ich habe hier die beſte Apologie des Lord
Wellington — im engliſchen Sinne des Wortes
— geliefert. Man wird ſich aber wundern, wenn
ich ehrlich geſtehe, daß ich dieſen Helden einſt ſo¬
gar mit vollen Segeln gelobt habe. Es iſt eine
gute Geſchichte, und ich will ſie hier erzaͤhlen:
Mein Barbier in London war ein Radikaler,
genannt Miſter White, ein armer kleiner Mann
in einem abgeſchabten ſchwarzen Kleide, das einen
weißen Wiederſchein gab; er war ſo duͤnn, daß
die Façade ſeines Geſichtes nur ein Profil zu ſeyn
ſchien, und die Seufzer in ſeiner Bruſt ſichtbar
waren noch ehe ſie aufſtiegen. Er ſeufzte naͤmlich
immer uͤber das Ungluͤck von Alt-England und
uͤber die Unmoͤglichkeit jemals die Nazionalſchuld
zu bezahlen.
„Ach!“ — hoͤrte ich ihn gewoͤhnlich ſeufzen —
„was brauchte ſich das engliſche Volk darum zu
bekuͤmmern wer in Frankreich regierte und was
die Franzoſen in ihrem Lande trieben? Aber der
hohe Adel und die hohe Kirche fuͤrchteten die Frey¬
heitsgrundſaͤtze der franzoͤſiſchen Revoluzion, und
um dieſe Grundſaͤtze zu unterdruͤcken, mußte John
Bull ſein Blut und ſein Geld hergeben, und noch
obendrein Schulden machen. Der Zweck des
Krieges iſt jetzt erreicht, die Revoluzion iſt unter¬
druͤckt, den franzoͤſiſchen Freyheitsadlern ſind die
Fluͤgel beſchnitten, der hohe Adel und die hohe
Kirche koͤnnen jetzt ganz ſicher ſeyn, daß keiner
derſelben uͤber den Canal fliegt, und der hohe
Adel und die hohe Kirche ſollten jetzt wenigſtens
die Schulden bezahlen, die fuͤr ihr eignes Intereſſe,
und nicht fuͤr das arme Volk gemacht worden ſind.
Ach! das arme Volk —“
Immer wenn er an „das arme Volk“ kam,
ſeufzte Miſter White noch tiefer, und der Refrain
19
war dann, daß das Brod und der Porter ſo
theuer ſey, und daß das arme Volk verhungern
muͤſſe, um dicke Lords, Jagdhunde und Pfaffen
zu fuͤttern, und daß es nur Eine Huͤlfe gaͤbe.
Bey dieſen Worten pflegte er auch das Meſſer zu
ſchleifen, und waͤhrend er es uͤber das Schleifleder
hin und herzog, murmelte er ingrimmig langſam:
„Lords, Hunde, Pfaffen!“
Gegen den Duke of Wellington kochte aber
ſein radikaler Zorn immer am heftigſten, er ſpukte
Gift und Galle ſobald er auf dieſen zu ſprechen
kam, und wenn er mich unterdeſſen einſeifte, ſo
geſchah es mit ſchaͤumender Wuth. Einſt wurde
ich ordentlich bange, als er mich juſt nahe beym
Halſe barbirte, waͤhrend er ſo heftig gegen Wel¬
lington loszog, und beſtaͤndig dazwiſchen murmelte:
„haͤtte ich ihn nur ſo unterm Meſſer, ich wuͤrde
ihm die Muͤhe erſparen ſich ſelbſt die Kehle abzu¬
ſchneiden, wie ſein Amtsbruder und Landsmann
Londonderry, der ſich die Kehle abgeſchnitten zu
Nordkray in der Grafſchaft Kent — Gott ver¬
damm ihn.“
Ich fuͤhlte ſchon wie die Hand des Mannes
zitterte, und aus Furcht, daß er in der Leiden¬
ſchaft ſich ploͤtzlich einbilden koͤnnte, ich ſey der
Duke of Wellington, ſuchte ich ſeine Heftigkeit
herabzuſtimmen, und ihn unter der Hand zu be¬
ſaͤnftigen. Ich nahm ſeinen Nazionalſtolz in An¬
ſpruch, ich ſtellte ihm vor, daß Wellington den
Ruhm der Englaͤnder befoͤrdert, daß er immer
nur eine unſchuldige Maſchine in dritten Haͤnden
geweſen ſey, daß er gern Beefſteaks eſſe, und daß
er endlich — Gott weiß! was ich noch mehr von
Wellington ruͤhmte, als mir das Meſſer an der
Kehle ſtand.
Was mich am meiſten aͤrgert, iſt der Gedanke,
daß Arthur Wellington eben ſo unſterblich wird
wie Napoleon Bonaparte. Iſt doch, in aͤhnlicher
19 *
Weiſe, der Name Pontius Pilatus eben ſo un¬
vergeßlich geblieben, wie der Name Chriſti. Wel¬
lington und Napoleon! Es iſt ein wunderbares
Phenomen, daß der menſchliche Geiſt, ſich beyde
zu gleicher Zeit denken kann. Es giebt keine groͤ¬
ßern Contraſte als dieſe beyden, ſchon in ihrer
aͤußeren Erſcheinung. Wellington, das dumme
Geſpenſt, mit einer aſchgrauen Seele in einem
ſteifleinenen Koͤrper, ein hoͤlzernes Laͤcheln in dem
frierenden Geſichte — daneben denke man ſich
das Bild Napoleons, jeder Zoll ein Gott!
Nie ſchwindet dieſes Bild aus meinem Ge¬
daͤchtniſſe. Ich ſehe ihn immer noch hoch zu
Roß, mit den ewigen Augen in dem marmornen
Imperatorgeſichte, ſchickſalruhig hinabblickend auf
die vorbeydefilirende Guarden — er ſchickte ſie
damals nach Rußland, und die alten Grenadiere
ſchauten zu ihm hinauf, ſo ſchauerlich ergeben,
ſo mitwiſſend ernſt, ſo todesſtolz —
Te, Caesar, morituri salutant!
Manchmal uͤberſchleicht mich geheimer Zweifel,
ob ich ihn wirklich ſelbſt geſehen, ob wir wirklich
ſeine Zeitgenoſſen waren, und es iſt mir dann als ob
ſein Bild, losgeriſſen aus dem kleinen Ramen der
Gegenwart, immer ſtolzer und herriſcher zuruͤck¬
weiche in vergangenheitliche Daͤmmerung. Sein
Name ſchon klingt uns wie eine Kunde der Vor¬
welt, und eben ſo antik und heroiſch wie die Na¬
men Alexander und Caͤſar. Er iſt ſchon ein Lo¬
ſungswort geworden unter den Voͤlkern, und wenn
der Orient und der Occident ſich begegnen, ſo ver¬
ſtaͤndigen ſie ſich durch dieſen einzigen Namen.
Wie bedeutſam und magiſch alsdann dieſer
Name erklingen kann, das empfand ich aufs Tiefſte,
als ich einſt im Hafen von London, wo die indi¬
ſchen Docks ſind, an Bord eines Oſtindienfahrers
ſtieg, der eben aus Bengalen angelangt war. Es
war ein rieſenhaftes Schiff und zahlreich bemannt
mit Hindoſtanern. Die grotesken Geſtalten und
Gruppen, die ſeltſam bunten Trachten, die raͤth¬
ſelhaften Mienen, die wunderlichen Leibesbewegun¬
gen, der wildfremde Klang der Sprache, des Ju¬
bels und des Lachens, dabey wieder der Ernſt
auf einigen ſanftgelben Geſichtern, deren Augen,
wie ſchwarze Blumen, mich mit abentheuerlicher
Wehmuth anſahen — alles das erregte in mir
ein Gefuͤhl wie Verzauberung, ich war ploͤtzlich
wie verſetzt in Schehezerade's Maͤhrchen, und ich
meinte ſchon, nun muͤßten auch breitblaͤttrige Pal¬
men und langhaͤlſige Kameele und goldbedeckte
Elephanten und andre fabelhafte Baͤume und
Thiere zum Vorſchein kommen. Der Superkargo,
der ſich auf dem Schiffe befand, und die Sprache
jener Leute eben ſo wenig verſtand als ich, konnte
mir, mit aͤchtbrittiſcher Beſchraͤnktheit, nicht genug
erzaͤhlen, was das fuͤr ein naͤrriſches Volk ſey,
faſt lauter Mahometaner, zuſammengewuͤrfelt aus
allen Laͤndern Aſiens, von der Grenze Chinas bis
ans arabiſche Meer, darunter ſogar einige pech¬
ſchwarze, wollhaarige Afrikaner.
Des dumpfen abendlaͤndiſchen Weſens ſo ziem¬
lich uͤberdruͤſſig, ſo recht Europa-muͤde wie ich
mich damals manchmal fuͤhlte, war mir dieſes
Stuͤck Morgenland, das ſich jetzt heiter und bunt
vor meinen Augen bewegte, eine erquickliche La¬
bung, mein Herz erfriſchten wenigſtens einige Trop¬
fen jenes Trankes, wonach es in truͤbhannoͤvriſchen
oder koͤniglich preußiſchen Winternaͤchten ſo oft ge¬
ſchmachtet hatte, und die fremden Leute mochten
es mir wohl anſehen, wie angenehm mir ihre
Erſcheinung war, und wie gern ich ihnen ein Lie¬
beswoͤrtchen geſagt haͤtte. Daß auch ich ihnen
recht wohl gefiel, war den innigen Augen anzu¬
ſehen, und ſie haͤtten mir ebenfalls gern etwas
Liebes geſagt, und es war eine Truͤbſal, daß Kei¬
ner des Andern Sprache verſtand. Da endlich
fand ich ein Mittel, ihnen meine freundſchaftliche
Geſinnung auch mit einem Worte kund zu geben,
und ehrfurchtsvoll und die Hand ausſtreckend, wie
zum Liebesgruß, rief ich den Namen: Mahomet!
Freude uͤberſtralte ploͤtzlich die dunklen Geſich¬
ter der fremden Leute, ſie kreuzten ehrfurchtsvoll
die Arme, und zum erfreuenden Gegengruß, riefen
ſie den Namen: Bonaparte!
XI.
Die Befreyung.
Wenn mir mahl die Zeit der muͤßigen Unter¬
ſuchungen wiederkehrt, ſo werde ich langweiligſt
gruͤndlich beweiſen: daß nicht Indien, ſondern
Egypten jenes Kaſtenthum hervorgebracht hat, das,
ſeit zwey Jahrtauſenden, in jede Landestracht ſich
zu vermummen, und jede Zeit in ihrer eigenen
Sprache zu taͤuſchen wußte, das vielleicht jetzt
todt iſt, aber den Schein des Lebens erheuchelnd,
noch immer boͤsaͤugig und unheilſtiftend unter uns
wandelt, mit ſeinem Leichendufte unſer bluͤhendes
Leben vergiftet, ja, als ein Vampyr des Mittel¬
alters, den Voͤlkern das Blut und das Licht aus
den Herzen ſaugt. Dem Schlamme des Nil-
Thals entſtiegen nicht bloß die Krokodille, die ſo
gut weinen koͤnnen, ſondern auch jene Prieſter,
die es noch beſſer verſtehen, und jener privilegirt
erbliche Kriegerſtand, der in Mordgier und Ge¬
fraͤßigkeit die Krokodille noch uͤbertrifft.
Zwey tiefſinnige Maͤnner, deutſcher Nazion,
entdeckten den heilſamſten Gegenzauber wider die
ſchlimmſte aller egyptiſchen Plagen, und durch
ſchwarze Kunſt — durch die Buchdruckerey und
das Pulver — brachen ſie die Gewalt jener geiſt¬
lichen und weltlichen Hierarchie, die ſich aus einer
Verbuͤndung des Prieſterthums und der Krieger¬
kaſte, naͤmlich der ſogenannten katholiſchen Kirche
und des Feudaladels, gebildet hatte, und die ganz
Europa weltlich und geiſtlich knechtete. Die Dru¬
ckerpreſſe zerſprengte das Dogmengebaͤude, worin
der Großpfaffe von Rom die Geiſter gekerkert,
und Nordeuropa athmete wieder frey, entlaſtet
von dem naͤchtlichen Alp jener Kleriſey, die zwar
in der Form von der egyptiſchen Standeserblich¬
keit abgewichen war, im Geiſte aber dem egypti¬
ſchen Prieſterſyſteme um ſo getreuer bleiben konnte,
da ſie ſich nicht durch natuͤrliche Fortpflanzung,
ſondern unnatuͤrlich, durch mamelukenhafte Rekru¬
tirung, als eine Corporazion von Hageſtolzen, noch
ſchroffer darſtellte. Eben ſo ſehen wir, wie die
Kriegerkaſte ihre Macht verliert, ſeit die alte
Handswerksroutine nicht mehr von Nutzen iſt bey
der neuen Kriegsweiſe; denn von dem Poſaunen¬
tone der Kanonen werden jetzt die ſtaͤrkſten Burg¬
thuͤrme niedergeblaſen, wie weiland die Mauern
von Jericho, der eiſerne Harniſch des Ritters
ſchuͤtzt gegen den bleyernen Regen eben ſo wenig
wie der leinene Kittel des Bauers; das Pulver
macht die Menſchen gleich, eine buͤrgerliche Flinte
geht eben ſo gut los wie eine adliche Flinte —
das Volk erhebt ſich.
Die fruͤheren Beſtrebungen, die wir in der
Geſchichte der lombardiſchen und toskaniſchen Re¬
publiken, der ſpaniſchen Communen, und der
freyen Staͤdte in Deutſchland und andren Laͤndern
erkennen, verdienen nicht die Ehre, eine Volkser¬
hebung genannt zu werden; es war kein Streben
nach Freyheit, ſondern nach Freyheiten, kein
Kampf fuͤr Rechte, ſondern fuͤr Gerechtſame; Cor¬
porazionen ſtritten um Privilegien, und es blieb
alles in den feſten Schranken des Gilden- und
Zunftweſens. Erſt zur Zeit der Reformazion
wurde der Kampf von allgemeiner und geiſtiger
Art, und die Freyheit wurde verlangt, nicht als
ein hergebrachtes ſondern als ein urſpruͤngliches,
nicht als ein erworbenes ſondern als ein angebo¬
renes Recht. Da wurden nicht mehr alte Perga¬
mente, ſondern Prinzipien vorgebracht; und der
Bauer in Deutſchland und der Puritaner in Eng¬
land beriefen ſich auf das Evangelium, deſſen
Ausſpruͤche damals an Vernunft Statt galten, ja
noch hoͤher galten, naͤmlich als eine geoffenbarte
Vernunft Gottes. Da ſtand deutlich ausgeſpro¬
chen: daß die Menſchen von gleich edler Geburt
ſind, daß hochmuͤthiges Beſſerduͤnken verdammt
werden muß, daß der Reichthum eine Suͤnde
iſt, und daß auch die Armen berufen ſind zum
Genuſſe, in dem ſchoͤnen Garten Gottes, des ge¬
meinſamen Vaters.
Mit der Bibel in der einen Hand und mit
dem Schwerte in der anderen, zogen die Bauern
durch das ſuͤdliche Deutſchland, und der uͤppigen
Buͤrgerſchaft im hochgethuͤrmten Nuͤremberg ließen
ſie ſagen: es ſolle kuͤnftig kein Haus im Reiche
ſtehen bleiben, das anders ausſaͤhe als ein Bauern¬
haus. So wahr und tief hatten ſie die Gleich¬
heit begriffen. Noch heutigen Tags, in Franken
und Schwaben, ſchauen wir die Spuren dieſer
Gleichheitslehre, und eine grauenhafte Ehrfurcht,
vor dem heiligen Geiſte uͤberſchleicht den Wan¬
derer, wenn er im Mondſchein die dunkeln Burg¬
truͤmmer ſieht aus der Zeit des Bauernkriegs.
Wohl dem, der, nuͤchternen Sinns, nichts ande¬
res ſieht, iſt man aber ein Sonntagskind — und
das iſt jeder Geſchichtskundige — ſo ſieht man
auch die hohe Jagd, die der deutſche Adel, der
roheſte der Welt, gegen die Beſiegten geuͤbt, man
ſieht wie tauſendweis die Wehrloſen todtgeſchlagen,
gefoltert, geſpießt und gemartert wurden, und aus
den wogenden Kornfeldern ſieht man ſie geheim¬
nißvoll nicken die blutigen Bauernkoͤpfe, und druͤ¬
ber hin hoͤrt man pfeifen eine entſetzliche Lerche,
rachegellend, wie der Pfeifer vom Helfenſtein.
Etwas beſſer erging es den Bruͤdern in Eng¬
land und Schottland; ihr Untergang war nicht ſo
ſchmaͤhlig und erfolglos, und noch jetzt ſehen wir
dort die Fruͤchte ihres Regiments. Aber es gelang
ihnen keine feſte Begruͤndung deſſelben, die ſaube¬
ren Cavaliere herrſchen wieder nach wie vor, und
ergoͤtzen ſich an den Spaßgeſchichten von den al¬
ten ſtarren Stutzkoͤpfen, die der befreundete Barde,
zu ihrer muͤßigen Unterhaltung ſo huͤbſch beſchrie¬
ben. Keine geſellſchaftliche Umwaͤlzung hat in
Großbritannien ſtattgefunden, das Geruͤſte der buͤr¬
gerlichen und politiſchen Inſtituzionen blieb unzer¬
ſtoͤrt, die Kaſtenherrſchaft und das Zunftweſen hat
ſich dort bis auf den heutigen Tag erhalten, und
obgleich getraͤnkt von dem Lichte und der Waͤrme
der neuern Civiliſazion, verharrt England in einem
mittelalterlichen Zuſtande, oder vielmehr im Zu¬
ſtande eines faſhionablen Mittelalters. Die Con¬
zeſſionen, die dort den liberalen Ideen gemacht
worden, ſind dieſer mittelalterlichen Starrheit nur
muͤhſam abgekaͤmpft worden; und nie aus einem
Prinzip, ſondern aus der faktiſchen Nothwendig¬
keit, ſind alle modernen Verbeſſerungen hervorge¬
gangen, und ſie tragen alle den Fluch der Halb¬
heit, die immer neue Drangſal und neuen Todes¬
kampf und deſſen Gefahren noͤthig macht. Die
religioͤſe Reformazion iſt in England nur halb
vollbracht, und zwiſchen den kahlen vier Gefaͤng¬
nißwaͤnden der biſchoͤflich anglikaniſchen Kirche,
befindet man ſich noch viel ſchlechter, als in dem
weiten, huͤbſch bemalten und weichgepolſterten Gei¬
ſteskerker des Katholizismus. Mit der politiſchen
Reformazion iſt es nicht viel beſſer gegangen, die
Volksvertretung iſt ſo mangelhaft als moͤglich:
wenn die Staͤnde ſich auch nicht mehr durch den
Rock trennen, ſo trennen ſie ſich doch noch immer
durch verſchiedenen Gerichtsſtand, Patronage, Hof¬
faͤhigkeit, Praͤrogative, Gewohnheitsvorrechte, und
ſonſtige Fatalien; und wenn Eigenthum und Per¬
ſon des Volks nicht mehr von ariſtokratiſcher Will¬
kuͤhr, ſondern vom Geſetze abhaͤngen, ſo ſind doch
dieſe Geſetze nichts anderes als eine andere Art
von Zaͤhnen, womit die ariſtokratiſche Brut ihre
Beute erhaſcht, und eine andere Art von Dolchen,
womit ſie das Volk meuchelt. Denn wahrlich,
kein Tyrann vom Continente wuͤrde aus Willkuͤhr¬
luſt ſo viel Taxen erpreſſen, als das engliſche Volk
von Geſetzwegen bezahlen muß, und kein Tyrann
war jemals ſo grauſam wie Englands Criminal¬
geſetze, die taͤglich morden, fuͤr den Betrag eines
Schillings, und mit Buchſtabenkaͤlte. Wird auch,
ſeit kurzem manche Verbeſſerung dieſes truͤben
Zuſtandes in England vorbereitet, werden auch
der weltlichen und geiſtlichen Habſucht hie und da
Schranken geſetzt, wird auch jetzt die große Luͤge
einer Volksvertretung einigermaßen beguͤtigt, indem
man hie und da einem großen Fabrikorte die ver¬
wirkte Wahlſtimme von einem rotten borrough
uͤbertraͤgt, wird gleichfalls hie und da die harſche
Intoleranz gemildert, indem man auch einige an¬
dere Sekten bevorrechtet — ſo iſt dieſes alles doch
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nur leidige Altflickerey, die nicht lange vorhaͤlt,
und der duͤmmſte Schneider in England kann
vorausſehen, daß uͤber kurz oder lang das alte
Staatskleid in truͤbſeligen Fetzen aus einander
reißt.
„Niemand flickt einen Lappen von neuem Tu¬
che an ein altes Kleid; denn der neue Lappen
reißt doch vom alten, und der Riß wird aͤrger.
Und niemand faſſet Moſt in alte Schlaͤuche; an¬
ders zerreißt der Moſt die Schlaͤuche, und der
Wein wird verſchuͤttet, und die Schlaͤuche kommen
um. Sondern man ſoll Moſt in neue Schlaͤuche
faſſen.“
Die tiefſte Wahrheit erbluͤht nur der tiefſten
Liebe, und daher die Uebereinſtimmung in den
Anſichten des aͤlteren Bergpredigers, der gegen
die Ariſtokratie von Jeruſalem geſprochen, und
jener ſpaͤteren Bergprediger, die von der Hoͤhe
des Convents zu Paris ein dreyfarbiges Evange¬
lium herabpredigten, wonach nicht bloß die Form
des Staates, ſondern das ganze geſellſchaftliche
Leben, nicht geflickt, ſondern neu umgeſtaltet, neu
begruͤndet, ja neu geboren werden ſollte.
Ich ſpreche von der franzoͤſiſchen Revoluzion,
jener Weltepoche, wo die Lehre der Freyheit und
Gleichheit ſo ſiegreich emporſtieg aus jener allge¬
meinen Erkenntnißquelle, die wir Vernunft nen¬
nen, und die, als eine unaufhoͤrliche Offenbarung,
welche ſich in jedem Menſchenhaupte wiederholt
und ein Wiſſen begruͤndet, noch weit vorzuͤglicher
ſeyn muß, als jene uͤberlieferte Offenbarung, die
ſich nur in wenigen Auserleſenen bekundet, und
von der großen Menge nur geglaubt werden kann.
Dieſe letztgenannte Offenbarungsart, die ſelbſt ari¬
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ſtokratiſcher Natur iſt, vermochte nie die Privile¬
gienherrſchaft, das bevorrechtete Kaſtenweſen, ſo
ſicher zu bekaͤmpfen, wie es die Vernunft, die
demokratiſcher Natur iſt, jetzt bekaͤmpft. Die Re¬
voluzionsgeſchichte iſt die Kriegsgeſchichte dieſes
Kampfes, woran wir alle mehr oder minder Theil
genommen; es iſt der Todeskampf mit dem Egyp¬
tenthum.
Obgleich die Schwerter der Feinde taͤglich
ſtumpfer werden, obgleich wir ſchon die beſten
Poſizionen beſetzt, ſo koͤnnen wir doch nicht eher
das Triumpflied anſtimmen, als bis das Werk
vollendet iſt. Wir koͤnnen nur in den Zwiſchen¬
naͤchten, wenn Waffenſtillſtand, mit der Lanterne
aufs Schlachtfeld hinausgehn, um die Todten zu
beerdigen. — Wenig fruchtet die kurze Leichen¬
rede! Die Verlaͤumdung, das freche Geſpenſt,
ſetzt ſich auf die edelſten Graͤber —
Ach! gilt doch der Kampf auch jenen Erbfein¬
den der Wahrheit, die ſo ſchlau den guten Leu¬
mund ihrer Gegner zu vergiften wiſſen, und die
ſogar jenen erſten Bergprediger, den reinſten Frey¬
heitshelden, herabzuwuͤrdigen wußten; denn als
ſie nicht laͤugnen konnten, daß er der groͤßte Menſch
ſey, machten ſie ihn zum kleinſten Gotte. Wer
mit Pfaffen kaͤmpft, der mache ſich darauf gefaßt,
daß der beſte Lug und die triftigſten Verlaͤumdun¬
gen ſeinen armen guten Namen zerfetzen und
ſchwaͤrzen werden. Aber gleich wie man jene
Fahnen, die in der Schlacht am meiſten von den
Kugeln zerfetzt und von Pulverdampf geſchwaͤrzt
worden, hoͤher ehrt als die blankſten und geſuͤnde¬
ſten Rekrutenfahnen, und wie man ſie endlich als
Nazionalreliquien in den Domen aufſtellt: ſo
werden einſt die Namen unſerer Helden, jemehr
ſie zerfetzt und angeſchwaͤrzt worden, um ſo enthu¬
ſiaſtiſcher verehrt werden, in der heiligen Genofeva¬
kirche der Freyheit.
Wie die Helden der Revoluzion, ſo hat man
die Revoluzion ſelbſt verlaͤumdet, und ſie als ein
Fuͤrſtenſchreckniß und eine Volkſcheuche dargeſtellt
in Libellen aller Art. Man hat in den Schulen
all die ſogenannten Greuel der Revoluzion von den
Kindern auswendig lernen laſſen, und auf den Jahr¬
maͤrkten ſah man, einige Zeit, nichts anderes als
grellkolorirte Bilder der Guillotine. Es iſt freylich
nicht zu laͤugnen, dieſe Maſchine, die ein franzoͤſi¬
ſcher Arzt, ein großer Welt-Orthopaͤde, Monſieur
Guillotin, erfunden hat, und womit man die
dummen Koͤpfe von den boͤſen Herzen ſehr leicht
trennen kann, dieſe heilſame Maſchine hat man
etwas oft angewandt, aber doch nur bey unheil¬
baren Krankheiten, z. B. bey Verrath, Luͤge und
Schwaͤche, und man hat die Patienten nicht lang
gequaͤlt, nicht gefoltert, und nicht geraͤdert, wie
einſt tauſende und aber tauſende Rotuͤriers und
Vilains, Buͤrger und Bauern, gequaͤlt, gefoltert
und geraͤdert wurden, in der guten alten Zeit.
Daß die Franzoſen mit jener Maſchine ſogar das
Oberhaupt ihres Staates amputirt, iſt freylich ent¬
ſetzlich, und man weiß nicht, ob man ſie deshalb
des Vatermords oder des Selbſtmords beſchuldigen
ſoll; aber bey milderungsgruͤndlicher Betrachtung
finden wir, daß Ludwig von Frankreich minder
ein Opfer der Leidenſchaften als vielmehr der Be¬
gebenheiten geworden, und daß diejenigen Leute
die das Volk zu ſolchem Opfer draͤngten und die
ſelbſt, zu allen Zeiten, in weit reichlicherem Maaße,
Fuͤrſtenblut vergoſſen haben, nicht als laute Klaͤ¬
ger auftreten ſollten. Nur zwey Koͤnige, beide
vielmehr Koͤnige des Adels als des Volkes, hat
das Volk geopfert, nicht in Friedenszeit, nicht
niedriger Intereſſen wegen, ſondern in aͤußerſter
Kriegsbedraͤngniß, als es ſich von ihnen verrathen
ſah, und waͤhrend es ſeines eignen Blutes am
wenigſten ſchonte; aber gewiß mehr als tauſend
Fuͤrſten fielen meuchlings, und der Habſucht oder
frivoler Intereſſen wegen, durch den Dolch, durch
das Schwert und durch das Gift des Adels und
der Pfaffen. Es iſt als ob dieſe Kaſten den
Fuͤrſtenmord ebenfalls zu ihren Privilegien rech¬
neten, und deßhalb den Tod Ludwig XVI. und
Carl I. um ſo eigennuͤtziger beklagten. O, daß
die Koͤnige endlich einſaͤhen, daß ſie, als Koͤnige
des Volkes, im Schutze der Geſetze, viel ſicherer
leben koͤnnen, als unter der Guarde ihrer adligen
Leibmoͤrder!
Aber nicht bloß die Helden der Revoluzion
und die Revoluzion ſelbſt, ſondern ſogar unſer
ganzes Zeitalter hat man verlaͤumdet, die ganze
Liturgie unſerer heiligſten Ideen hat man parodirt,
mit unerhoͤrtem Frevel, und wenn man ſie hoͤrt
oder lieſ't, unſere ſchnoͤden Veraͤchter, ſo heißt
das Volk die Canaille, die Freyheit heißt Frech¬
heit, und mit himmelnden Augen und frommen
Seufzern, wird geklagt und bedauert, wir waͤren
frivol und haͤtten leider keine Religion. Heuchle¬
riſche Duckmaͤuſer, die unter der Laſt ihrer gehei¬
men Suͤnden niedergebeugt einher ſchleichen, wa¬
gen es, ein Zeitalter zu laͤſtern, das vielleicht das
heiligſte iſt von allen ſeinen Vorgaͤngern und
Nachfolgern, ein Zeitalter, das ſich opfert fuͤr die
Suͤnden der Vergangenheit und fuͤr das Gluͤck
der Zukunft, ein Meſſias unter den Jahrhunder¬
ten, der die blutige Dornenkrone und die ſchwere
Kreuzlaſt kaum ertruͤge, wenn er nicht dann und
wann ein heiteres Vaudeville traͤllerte und Spaͤße
riſſe uͤber die neueren Phariſaͤer und Saduzaͤer.
Die koloſſalen Schmerzen waͤren nicht zu ertragen
ohne ſolche Witzreißerey und Perſiflage! Der
Ernſt tritt um ſo gewaltiger hervor, wenn der
Spaß ihn angekuͤndigt. Die Zeit gleicht hierin
ganz ihren Kindern unter den Franzoſen, die ſehr
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ſcherzliche, leichtfertige Buͤcher geſchrieben, und
doch ſehr ſtreng und ernſthaft ſeyn konnten, wo
Strenge und Ernſt nothwendig wurden; z. B.
Dú Clos und gar Louvet de Couvrai, die beide,
wo es galt, mit Maͤrtyrerkuͤhnheit und Aufopfe¬
rung fuͤr die Freyheit ſtritten, uͤbrigens aber ſehr
frivol und ſchluͤpfrig ſchrieben, und leider keine
Religion hatten.
Als ob die Freyheit nicht eben ſo gut eine
Religion waͤre, als jede andere! Da es die unſ¬
rige iſt, ſo koͤnnten wir, mit demſelben Maaße
meſſend, ihre Veraͤchter fuͤr frivol und irreligios
erklaͤren.
Ja, ich wiederhole die Worte, womit ich dieſe
Blaͤtter eroͤffnet: die Freyheit iſt eine neue Reli¬
gion, die Religion unſerer Zeit. Wenn Chriſtus
auch nicht der Gott dieſer Religion iſt, ſo iſt er
doch ein hoher Prieſter derſelben, und ſein Name
ſtrahlt beſeligend in die Herzen der Juͤnger. Die
Franzoſen ſind aber das auserleſene Volk der neuen
Religion, in ihrer Sprache ſind die erſten Evange¬
lien und Dogmen verzeichnet, Paris iſt das neue
Jeruſalem, und der Rhein iſt der Jordan, der
das geweihte Land der Freyheit trennt von dem
Lande der Philiſter.
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