Ideen zu einem Versuch,
die Grenzen der Wirksamkeit des Staats
zu bestimmen.
Von
Wilhelm von Humboldt.
Breslau,
Verlag von Eduard Trewendt.
1851.
Ideen zu einem Versuch,
die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen.
Von
Wilhelm von Humboldt.
Le difficile est de ne promulguer que des lois nécessaires
de rester à jamais fidèle à ce principe vraiment constitu-
tionnel de la société, de se mettre en garde contre la fureur
de gouverner, la plus funeste maladic des gouvernemens
modernes.
Mirabeau l’aîné, sur l’éducation publique p. 69.
BRESLAU,
Verlag von Eduard Trewendt.
1851.
Einleitung.
Der geistige Besitz unsrer Nation hat in den letzten Decen-
nien durch eine lange Reihe von Mittheilungen aus der Blüthen-
epoche unsrer literarischen Entwicklung die köstlichsten Be-
reicherungen erfahren, auf Grund deren das Verständniss der
grossen Vergangenheit unsrer Literatur in einem früher schwer-
lich geahneten Grade an Ausdehnung, Lebendigkeit und Tiefe
gewonnen hat. Die gegenwärtige Publication, die man einer glück-
lichen Fügung der Umstände und dem warmen zu jedem Opfer
bereiten Eifer der ehrenwerthen Verlagshandlung zu verdanken
hat, schliesst sich in der erfreulichsten Weise an die ihr vor-
ausgegangenen an.
Eine bisher nur zum kleinsten Theile bekannte Schrift Wil-
helm von Humboldts wird in Gegenwärtigem fast vollständig
der Oeffentlichkeit übergeben, — eine Schrift, die ebenso sehr
an sich durch die Bedeutung ihres Inhalts wie in Rücksicht auf
ihren grossen Urheber das allgemeinste Interesse in Anspruch
nehmen muss.
Dem Unterzeichneten, dem die Herausgabe dieser kostbaren
Reliquie eines der ersten Geister unsrer Nation anvertraut wor-
den ist und der eine Ehre darein gesetzt hat, sich diesem Ge-
schäfte mit aller möglichen Sorgfalt zu unterziehen, liegt
zunächst die Pflicht ob, zu berichten, was sich über die Ent-
stehung und die bisherigen Schicksale der vorliegenden Schrift
hat ermitteln lassen Für die nachfolgenden Notizen standen mir keine andren Materialien zu
Gebote, als die bereits von Schlesier (Erinnerungen an W. v. Humboldt I. p. 151,.
a
Wilhelm von Humboldt hatte seine praktische Thätigkeit,
die er gleich nach Vollendung seiner academischen Studien im
Jahre 1790 beim Kammergericht in Berlin begonnen, sehr bald,
schon im Sommer des folgenden Jahres wieder abgebrochen,
und hatte, indem er sich verheirathete, die Zurückgezogenheit
eines ihm durch seine Gattin zugebrachten Landgutes (Burg-
örner in der Grafschaft Mansfeld) aufgesucht. In dieser glück-
lichen Musse hatte er sich neben andren Beschäftigungen vor-
zugsweise dem Nachdenken über politische Fragen zugewandt.
Schon von Göttingen aus hatten diese Fragen den Gegenstand
seiner Correspondenz mit Forster gebildet, und die in voller
Entwicklung begriffene französische Revolution hielt damals
die Gedanken aller Männer von Kopf und Herzen in dieser
Richtung fest. So kam es, dass von dem Abschlusse der ersten
französischen Constitution Humboldt Gelegenheit nahm, im
Allgemeinen seine Ideen über Staatsverfassungen und die Ge-
setze, nach denen sie sich entwickeln, in einem Briefe an einen
Freund darzulegen. Dieser Brief fand den Weg in die Oeffent-
lichkeit durch die „Berlinische Monatsschrift“, welche in dem
Januarheft des Jahres 1792 einen Abdruck desselben brachte Wieder abgedruckt: Werke I. p. 301 ff..
Er gerieth auch in Dalbergs des Coadjutors Hände, der damals
als Statthalter des Curfürsten von Mainz in Erfurt residirte
und mit dem Humboldt schon bei einem früheren Aufenthalte in
dieser Stadt in Berührung gekommen war.
Ein Bild der vielfachen Anregungen und Förderungen geisti-
gen Lebens zu geben, die in jenen Jahren von Dalberg ausgin-
gen und den umfassenden indirecten Antheil, der ihm an den
152, 155—157) benutzten. Diese Materialien liegen in einer Anzahl gedruckter
Humboltscher Briefe, namentlich an Forster; Erfurt, 1. Juni 1792 (Werke I.
p. 293 ff.) und an Schiller; Erfurt, 3. Mai 1792, Auleben 12. September 1792,
7. Decbr. 1792, 14. u. 18. Jan. 1793; die ersten fünf der Briefe, welche in dem
„Briefwechsel zwischen Schiller und W. v. Humboldt, Stuttgart und Tübingen
1830“ mitgetheilt sind.
herrlichen literarischen Ergebnissen jener grossen Epoche ge-
bührt, im Allgemeinen zu würdigen, liegt ausserhalb unsres
Zweckes. Es genügt hier zu zeigen, wie er die Veranlassung
zu der Entstehung der Schrift gab, die wir mit diesen Zeilen
in die Oeffentlichkeit einführen. Als nämlich Humboldt einer
Familienrücksicht wegen im Februar 1792 mit seiner Frau für
einige Zeit nach Erfurt übersiedelte, forderte ihn Dalberg mit
Bezug auf den in der Berlinischen Monatsschrift gedruckten
Brief zu einer Fortsetzung seiner politischen Schriftstellerei
auf. Humboldt spricht sich darüber selbst in einem Briefe an
Forster, dem letzten, den wir haben, folgendermaassen aus:
„Aus diesem Aufsatz hatte Dalberg gesehen, dass ich mich mit
„Ideen dieser Art beschäftige, und wenig Tage nach meiner
„Ankunft hier bat er mich, meine Ideen über die eigentlichen
„Gränzen der Wirksamkeit des Staats aufzusetzen. Ich fühlte
„wohl, dass der Gegenstand zu wichtig war, um so schnell be-
„arbeitet zu werden, als ein solcher Auftrag, wenn die Idee
„nicht wieder alt werden sollte, forderte. Indess hatte ich
„Einiges vorgearbeitet Diese Aeusserung findet ihre nähere Erklärung weiterhin in demselben
Briefe, wo es von dem Abschnitt über Religion heisst: „wobei ich den Aufsatz,
„den Sie kennen, umgearbeitet gebraucht habe.“, noch mehr Materialien hatte ich im
„Kopfe, und so fing ich an. Unter den Händen wuchs das
„Werkchen, und es ist jetzt, da es seit mehreren Wochen fertig
„ist, ein mässiges Bändchen geworden.“ Da Humboldt dies
am 1. Juni schreibt, kann er zu der Ausarbeitung der vorliegen-
den Schrift (denn diese ist es, über die er an Forster berichtet,)
kaum ein Vierteljahr gebraucht haben. Und er hat diese Zeit
nicht einmal ausschliesslich darauf verwendet. Vielmehr war
er gleichzeitig mit der Uebersetzung einer Pindarischen Ode,
der 2ten olympischen Werke I. p. 349 ff., beschäftigt, die er unterm 3ten Mai
an Schiller schickt.
a*
Gleich nach ihrer Vollendung wurde die Schrift Dalberg
vorgelegt, der sie erst für sich las und dann Abschnitt für Ab-
schnitt mit Humboldt durchging. Dabei stellte sich eine sehr
wesentliche Differenz der Ansichten heraus. [Humboldt äussert
in dem Briefe an Forster vom 1. Juni, dass er in der Rücksicht
auf den nächsten Zweck der vorstehenden Schrift einen beson-
dern Grund gefunden habe, sich mit so grosser Schärfe gegen
alle Uebergriffe der Staatsgewalt zu erklären. So ideal mit-
hin auch die Anlage des Ganzen ist, so hat der Verfasser doch
nebenher einen sehr bestimmten praktischen Gesichtspunkt ver-
folgt, nämlich den, Dalberg, den künftigen Regenten
des Erzbisthums Mainz, davon zu überzeugen, wie
verderblich die Sucht zu regieren sei. Dass ihm dies
schlecht gelungen ist, davon giebt schon dieser Brief an Forster
selbst Zeugniss, in dem gesagt wird, dass Dalberg die Richtig-
keit der Humboldt’schen Ansichten nicht habe zugeben wollen,
und für die Wirksamkeit des Staates einen weit grösseren
Kreis in Anspruch nehme.
Wie weit aber Dalberg’s Standpunkt von dem unsrer Schrift
entfernt blieb, das geht noch viel deutlicher aus einem kleinen
Aufsatze hervor, der unter dem Titel:
„Von den wahren Grenzen der Wirksamkeit des Staats in
Beziehung auf seine Mitglieder“ im Jahre 1793 zu Leipzig in
der Sommer’schen Buchhandlung anonym erschienen ist, und
der keinen Andren, als den Coadjutor selbst zum Verfasser hat.
Dieser Aufsatz schliesst sich durchweg auf das engste an
den Gedankengang der Humboldt’schen Schrift an, und fast
für jeden Passus in jenem lässt sich mit Leichtigkeit die Stelle
in dieser bezeichnen, durch welche er hervorgerufen ist. Zwar
ein ausgeführtes Gegenstück der vorstehenden Schrift ist er
nicht. Auf 45 Seiten des kleinsten Octavformats und des
splendidesten Drucks enthält er nichts weiter, als eine Anzahl
abgerissener Bemerkungen, wie sie sich dem Verfasser bei der
Lectüre jener Schrift aufgedrängt haben. Auch ist Dalberg
weit entfernt, dem mit so grosser Präcision hingestellten und
mit so grosser Consequenz durchgeführten Grundprincipe Hum-
boldt’s ein andres mit gleicher Schärfe entgegenzustellen.
Gründe der Nützlichkeit und Nothwendigkeit erscheinen neben
einander, Principien des Naturrechts neben einem ängstlichen
Respect vor dem historisch Gegebenen, Bruchstücke Rousseau’-
scher Staatsweisheit neben den Maximen des aufgeklärten wohl-
wollenden Despotismus eines Joseph II. Dabei tritt oft eine
erstaunliche Unbeholfenheit des Gedankens und des Ausdrucks
zu Tage. Im Ganzen kann man sagen, dass in dieser Schrift
das Raisonnement eines wohlmeinenden verständigen, leidlich
aufgeklärten und toleranten den verschiedensten die Zeit be-
wegenden Richtungen zugänglichen Mannes dem selbständigen
philosophisch geschulten Gedanken entgegentritt, und indem
sie so gleichsam das Niveau der vulgären politischen Bildung
jener Zeit bezeichnet, kann sie sehr passend dazu benutzt wer-
den, von ihr aus die Höhe zu ermessen, zu der sich Humboldt
erhoben hat.]
Trotz solcher Differenz war Humboldt zur Veröffentlichung
seines Aufsatzes entschlossen und sandte zu diesem Zwecke
eine Abschrift des Manuscripts nach Berlin. Allein der Gedanke,
ihn dort gedruckt zu sehn, musste sehr bald aufgegeben wer-
den. An einem Verleger zwar hätte es in Berlin nicht gefehlt.
Aber schon am 12. Septbr. schreibt Humboldt Schiller’n von
den Schwierigkeiten, die ihm die dortige Censur erregt habe.
„Der eine Censor verweigerte sein Imprimatur ganz, der
„andere hat es zwar ertheilt, allein nicht ohne Besorgniss, dass
„er deshalb noch künftig in Anspruch genommen werden könne.
„Da ich nun alle Weitläufigkeiten dieser Art in den Tod hasse,
„so bin ich entschlossen, die Schrift ausserhalb drucken zu
„lassen.“ Also noch immer die feste Absicht der Veröffent-
lichung. Schillers Hülfe wurde nun dafür in Anspruch genom-
men. Das Originalmanuscript befand sich, wie aus diesem
Briefe hervorgeht, bereits in seinen Händen und Humboldt bat
ihn, bei Göschen in Leipzig anzufragen: „ob er den Verlag zur
Ostermesse 1793 übernehmen wolle.“
Es ergiebt sich aber aus dem vorliegenden Briefe zugleich,
dass Humboldt Schiller’n noch eine ganz andre Betheiligung
als diese blos äusserliche an seinem literarischen Unternehmen
zugedacht hatte. Es heisst in demselben: „Caroline Schiller’s treffliche und geistvolle Schwägerin, die nachherige Frau von
Wolzogen, die in dieser ganzen Angelegenheit zwischen Schiller und Humboldt
die Mittelsperson gebildet zu haben scheint. schreibt
„uns noch, dass einige Ideen meiner Abhandlung Sie nicht ohne
„Interesse gelassen haben, und dass Sie selbst sich jetzt mehr
„mit diesen Gegenständen beschäftigen. Sie selbst versprachen
„mir schon einmal halb und halb die Mittheilung einiger Ihrer
„Ideen. Welch ein angenehmes Geschenk würden Sie mir da-
„mit machen! Wie wäre es aber, wenn Sie sie in Gestalt einer
„Vorrede, oder eines Anhangs, oder wie Sie sonst wollten, mit
„oder ohne Ihren Namen, meiner Abhandlung beifügten. Es
„versteht sich, dass dies nur ein hingeworfner Einfall ist. Aber
„es scheint mir zu interessant, wenn ein Mann von Ihrem Geiste,
„ohne vorhergehendes eigentliches Studium dieser Materien,
„und also von ganz anderen, neuen und originelleren Gesichts-
„punkten ausgehend, diesen Gegenstand behandelte; und der
„Kreis Ihrer schriftstellerischen Arbeiten bietet Ihnen sonst
„nicht leicht, wenn Sie nicht Lust hätten, Ihre Ideen zu einer
„eignen Schrift auszuspinnen, eine bequemere Gelegenheit dar,
„sie gelegentlich einzuweben.“
Wir erfahren nicht, welche Aufnahme dieser Vorschlag bei
Schiller fand. Indessen darf angenommen werden, dass dieser
schon desshalb nicht daran denken konnte, auf ihn einzugehn,
weil die politischen Ideen, mit denen ihn Humboldt beschäftigt
wusste, in ihm bereits den Plan zu einer eignen selbständigen
Schrift gezeitigt hatten. Diese Schrift liegt uns vor in den
Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen, die für
Schiller, obwohl sie erst im Jahre 1794 zu Ende geführt wurden,
schon im März 1792 den Gegenstand brieflicher Besprechung
mit Körner bildeten, und die mit Humboldt’s „Ideen“ bei aller
Verschiedenartigkeit der Ausführung doch in den Grundan-
schauungen und namentlich in der Weise, wie die Gebiete
der Politik, der Moral und der Aesthetik zu einander in Be-
ziehung gesetzt werden, eine unverkennbare Verwandtschaft
zeigen.
Je weniger sich Schiller sonach veranlasst finden konnte,
Humboldt’s zweitem Begehren zu willfahren, desto angelegent-
licher nahm er sich des ersten, der äusseren Sorge für die Schrift
des Freundes an. Göschen freilich wollte sich wider alles Er-
warten wenigstens für jetzt auf nichts einlassen, — wie es
scheint, weil er zu sehr mit Verlagsunternehmungen überhäuft
war. — Aber nun bemühte sich Schiller nicht allein um einen
andren Verleger, sondern er nahm auch ein Stück des Aufsatzes
in seine Thalia auf Jahrgang 1792 Heft 5. — Wieder abgedruckt: Werke II. p. 242 ff. —
Dies Stück umfasst den 2ten und einen Theil des 3ten Abschnittes der Schrift., und zwar mit der ausgesprochnen Absicht,
die Mittheilungen aus demselben in dieser Zeitschrift weiter
fortzusetzen. — Inzwischen waren auch in der Berlinischen
Monatsschrift einige Bruchstücke publicirt worden. Biester,
in dessen Händen sich die nach Berlin gesandte Abschrift be-
fand, hatte für seine Zeitschrift den 5ten, 6ten und 8ten Ab-
schnitt ausgewählt, und sie, wenigstens die beiden letzteren
jedenfalls ohne Humboldt’s Wissen in den drei letzten Monats-
heften des Jahres 1792 erscheinen lassen Stück 10, 11, 12. Wieder abgedruckt in den Werken. I. p. 312 — 342.
— Dem 6ten Abschnitt der in No. 12 erschien „über öffentliche Staatserziehung“
fehlen die ersten Seiten.. Auch diese Mit-
theilungen, wie die in der Thalia, waren nur vorläufige, die
keinesweges die Veröffentlichung des Ganzen ersetzen, vielmehr
auf dieselbe vorbereiten sollten Vergl. die Anmerkung des Herausgebers vor dem Abdruck in No. 10
der Berlinischen Monatsschrift..
Dass es zu dieser Veröffentlichung des Ganzen nicht mehr
kam, dass es bei jenen vorläufigen Mittheilungen sein Bewenden
behielt, davon trug die Schuld zuletzt Humboldt selbst. — Der
Berliner Censur liess sich aus dem Wege gehn. Nun endlich
hatte Schiller auch einen Verleger ausfindig gemacht; — zwi-
schen dem 14ten und 18ten Januar erhielt Humboldt die Mel-
dung davon nach Auleben, wohin er sich in der Mitte des
verflossenen Sommers von Erfurt aus begeben hatte. — Ein
objectives Hinderniss war nicht mehr vorhanden. Da ergaben
sich neue und dieses Mal unüberwindliche Schwierigkeiten aus
den Wandlungen und Stimmungen der Subjectivität des Ver-
fassers. Es ist in der That merkwürdig zu sehen, wie sich
stufenweise aber schnell genug das Verhältniss des Urhebers
zu seinem Werke umwandelte. In dem Briefe an Forster vom
1. Juni spricht sich noch die vollste Zuversicht aus. Humboldt
redet von den Ergebnissen seines Nachdenkens in dem Tone
eines Mannes, der das Bewusstsein hat, mit sich fertig zu sein
und was auch das Leben bringen möge, an dem System seiner
Gedanken nun nichts mehr ändern zu müssen. „Sie stimmten
sonst,“ schreibt er, „als wir noch von Göttingen aus über diese
„Gegenstände correspondirten, mit meinen Ideen überein. Ich
„habe seitdem, so viel ich auch nachzudenken und zu forschen
„versucht habe, fast keine Veranlassung gefunden, sie eigent-
„lich abzuändern, aber ich darf behaupten, ihnen bei weitem
„mehr Vollständigkeit, Ordnung und Präcision gegeben zu
„haben.“ Dieselbe Sicherheit verbunden mit einer gewissen
Ungeduld, die Schrift vor das Publikum gebracht zu sehen,
verräth noch der Brief an Schiller vom 12. Septbr. Nun aber
beginnt die Entfremdung. Am 7. Decbr. findet Humboldt noch,
— wir werden richtiger sagen, schon Aenderungen nothwendig.
Aber er denkt noch immer an nichts, als an schleunige Publi-
cation und will daher sich sogleich an die neue Durchsicht
machen, „ob ich gleich,“ schreibt er, „noch selbst nicht
„bestimmen kann, ob ich viel abändern werde.“ Am 14. Januar
sind Humboldt’s Bedenken schon mächtig angewachsen. „Viel-
„leicht,“ schreibt er an Schiller, „nähme Göschen das Werkchen
„in ein oder zwei Jahren, und mir wäre es lieb, wenn man so
„lange damit wartete. Ich habe schlechterdings keine Eile da-
„mit, und gewönne vielmehr dadurch Zeit zu einer Umarbeitung
„einzelner Abschnitte, die ich zum Theil für nothwendig halte,
„an die ich aber jetzt, da ich mir einmal für die nächsten Mo-
„nateganz andere Beschäftigungen gewählt habe, nicht kommen
„würde. Der Gegenstand selbst ist von allem Bezug auf
„momentane Zeitumstände frei, und so, dächte ich, gewännen
„sowohl die Leser, als die Ideen selbst, für die Sie sich zu
„interessiren scheinen.“
Als unmittelbar nach Abgang dieses Briefes die Nachricht
kam, dass ein Verleger gefunden sei und der Druck beginnen
solle, als es also galt, einen entscheidenden Entschluss zu fassen,
da scheint sich Humboldt selbst erst die tiefe Kluft zum Be-
wusstsein gebracht zu haben, die ihn bereits von den Tagen
trennte, in denen er seine „Ideen“ niedergeschrieben hatte. Am
18. Januar spricht er sich gegen Schiller ausführlich über diese
Angelegenheit aus: „als ich neulich die Abhandlung noch ein-
„mal durchging, fand ich in der That nicht blos viele Stellen,
„die einer Aenderung, sondern auch einige, die einer gänzlichen
„Umarbeitung bedürfen. Sie selbst, lieber Freund, waren
„zuerst dieser Meinung und werden darum um so mehr mit mir
„darüber übereinstimmen. Je mehr mich auch die vorgetragnen
„Ideen interessiren, und je günstiger ich sogar von meiner Ar-
„beit urtheile, um so weniger könnte ich mir die Nachlässigkeit
verzeihen, ihr nicht diese letzte Sorgfalt gewidmet zu haben.
„Für jetzt aber und die nächsten Monate habe ich nicht allein
„ganz heterogene Beschäftigungen, sondern es fehlt mir auch
„theils an Stimmung, theils sogar an einigen Büchern, um an
„diese Revision zu gehn. Ueber Einiges möchte ich sogar
„durch Gespräch meine Ideen erst klarer machen können.
„Alles dies hat mich nun zu dem festen Entschluss gebracht,
„die Herausgabe, wenn es noch möglich ist, aufzuschieben, und
„zwar auf unbestimmte Zeit, da, wie lang oder kurz eine be-
„stimmte sein möchte, alles Gebundensein in dergleichen Din-
„gen so unangenehm ist. — Ich kann aus der guten Caroline
„Brief nicht sehen, in wiefern Sie, mein Theurer, schon sichere
„Abrede getroffen haben. Haben Sie aber mit dem Buchhänd-
„ler noch nicht abgeschlossen, und können Sie noch zurück-
„gehen, so bitte ich Sie, ihm zu schreiben, dass der Entschluss
„über die Zeit der Herausgabe der Schrift geändert sei, dass
„also jetzt keine weitere sichere Abrede genommen werden
„könne, dass ich aber, wenn ich mit den noch vorzunehmenden
„Aenderungen In wie grossem Maassstabe diese Aenderungen vorgenommen werden
sollten, geht noch aus einer späteren Aeusserung dieses Briefes hervor: „Auch
„kann es sein, dass nach der Umarbeitung nicht einmal die Bogenzahl gleich
„bleibt.“ fertig wäre, mich an ihn abermals wenden,
„und bei ihm anfragen würde. Wahrscheinlich würde er doch
„bei einer zweiten Anfrage gleich geneigt sein, und wäre er es
„nicht, so ist vielleicht dann Göschen frei, oder ich finde einen
„Andern. — Haben Sie aber schon mit ihm abgeschlossen, und
„wäre es nicht zu ändern, welches mir freilich sehr unlieb wäre,
„so müsste ich Sie doch bitten, mit ihm die Abrede zu treffen,
„dass das Buch erst Ostern 1794 oder frühestens Michaelis d. J.
„erschiene. Dies wäre mein kürzester Termin, und er gewänne
„ja auch durch die auf seinen Verlagsartikel gewandte Zeit.
„Indess wäre mir das Erste bei Weitem immer das Liebste.“
Es war noch nicht ein Jahr vergangen, seit Humboldt von
Dalberg die erste Anregung zu diesem Werke empfangen hatte.
Nicht viel länger als acht Monate war es her, dass er die Feder,
mit der er es niederschrieb, aus der Hand gelegt. Vor etwa vier
Monaten noch hatte er sich mit der Ausführung seiner Ideen,
die er darin gegeben, in voller Uebereinstimmung befunden,
und jetzt war er schon auf den Punkt gekommen, wo er sich
ebensowenig zu einer unveränderten Veröffentlichung, wie zu
einer Vornahme der Veränderungen, die ihm nöthig schienen,
entschliessen konnte. Wir werden es daher natürlich finden,
dass ihm, nachdem er einmal ins Unbestimmte hinauszuschieben
begonnen hatte, der eine Entschluss wie der andere mit jedem
Tage mehr unmöglich werden musste. Nicht auf Monate, wie
Humboldt damals glaubte, fesselten ihn heterogene Beschäfti-
gungen; — und welcher Art diese waren, zeigt seine Correspon-
denz mit F. A. Wolf, die eben in den Tagen ihren Anfang
nimmt, in welchen ihm seine politischen Ideen fremd zu werden
begannen. Was ihm als eine flüchtige Excursion erschien, von
der er sich bald in die Regionen politischer Speculation zurück-
finden werde, wurde ihm zu dem Wege, auf dem er den besten
Theil seiner Lebensaufgabe fand und löste. — Und als ihn end-
lich in einem ganz neuen Stadium seiner Entwicklung, nachdem
er sich an der Hand F. A. Wolf’s in das Studium des Alter-
thums und der Sprachen versenkt, nachdem er mit Schiller im
Bunde die Höhen der Kunstphilosophie erstiegen hatte, seine
Lebensbahn zum Staate zurückführte, mussten da nicht dem
Staatsmanne Humboldt die „Ideen“ des Jünglings wie eine
andere Welt erscheinen? Schliesslich sei noch einer mit der Ver-
änderung in Humboldt’s Gedankenrichtung zusammen treffen-
den sehr wesentlichen Umwandlung der äusseren Umstände
gedacht. An demselben Tage, von dem der letzte diese Ange-
legenheit behandelnde Brief Humboldt’s datirt ist, am 18. Jan.,
wurde in Paris der Tod Ludwigs XVI. beschlossen. Drei Tage
später fiel sein Haupt. Es ist bekannt, wie diese Katastrophe
einen totalen Umschwung in der Stimmung des gebildeten
deutschen Publicums gegenüber der Revolution und allen irgend-
wie mit ihr verwandten Ideen bewirkte. Die vorliegende
Schrift, eine so grosse Selbständigkeit des Gedankens sie
auch zeigt, wurzelt doch sehr bestimmt in dem Gefühle warmer
Bewunderung für die in Frankreich zum Durchbruche gekom-
menen Ideen. Sie zeigt den Verfasser, wie Stolberg in jenen
Jahren von ihm sagte, „getroffen von dem Gifthauche des
Genius der Zeit.“ Es konnte daher die Veröffentlichung der-
selben schwerlich mehr angemessen erscheinen, nachdem die
Gesinnung, auf der sie beruhte und die sie nothwendig auch
bei den Lesern voraussetzte, fast überall in das Gegentheil
umgeschlagen war. — So erklärt sich das Loos dieser Schrift,
deren Verbreitung ihrem Verfasser anfangs so sehr am Herzen
gelegen hatte und von der er noch, als er im Begriffe war, ihr für
immer den Rücken zu wenden, so günstig urtheilte.
Von den Umständen, die sie jetzt, nachdem sie mehr als
ein halbes Jahrhundert im Dunkel gelegen, an das Licht der
Oeffentlichkeit fördern, ist nicht viel zu sagen. Es hat sich
uns aus Humboldts Briefen ergeben, dass die Schrift in zwei
Exemplaren vorhanden war, von denen sich während des Som-
mers 1792 das eine, das Original, in Schillers, das andre, eine
Abschrift, in Biesters Händen befand. Ueber die Schicksale
dieser Abschrift wissen wir nichts anzugeben, als dass sie an
Humboldt zurückgekommen und dann abermals von ihm ver-
liehen worden ist. [Vergl. die Briefe an Schiller vom 7. Decbr.
1792 und vom 18. Jan. 1793.] Das Original aber, um dessen
Rücksendung Humboldt Schiller’n in dem Briefe vom 14. Jan.
1793 bittet, ist ebenfalls wieder in seine Hände gelangt, und
es ist in seinem Besitze geblieben. In Ottmachau, jener schönen
Besitzung in Schlesien, die Humboldt als Nationalbelohnung
für die unsterblichen Verdienste erhielt, die er sich um die
Wiederherstellung des Staates nach dem Falle von 1806 erwor-
ben, auf der er in der letzten Epoche seines Lebens häufig
verweilte, und die nach seinem Tode seinen Söhnen zufielVergl. Schlesier. Erinnerungen II, 322 u. 561., ist
es kürzlich zum Vorschein gekommen. Es liegt der gegen-
wärtigen Veröffentlichung zu Grunde.
Dass wir wirklich das Original vor uns haben, darüber kann
kein Zweifel sein. Erstlich zeigt die in gewissen Einzelheiten
sehr charakteristische Handschrift die vollständigste Ueberein-
stimmung mit unzweifelhaft Humboldtschen Schriftzügen,
namentlich mit denen des kürzlich vor den „Briefen an eine
Freundin“ im Facsimile mitgetheilten Stammbuchsblattes vom
Jahre 1788. Aber auch wenn man die unwahrscheinliche An-
nahme machen wollte, dass die Abschrift ebenfalls von Hum-
boldt selbst hergerührt habe, würde man bei dem ersten An-
blicke unsres Manuscripts namentlich durch die Natur der häufig
in demselben vorkommenden Correkturen genöthigt sein anzu-
erkennen, dass die Worte desselben nicht nach einer vorliegen-
den Urschrift copirt, sondern nur unmittelbar aus dem Geiste
in die Feder des Schreibenden geflossen sein können. Endlich
liegt der schlagendste Beweis in einem übrigens sehr beklagens-
werthen Umstande, nämlich in der Lücke, die sich in unsrem
Manuscripte findet. — Sechs Bogen fehlen, — vom dritten bis
zum achten, — dieselben, denen das in der Thalia gedruckte
Stück des Aufsatzes entnommen ist. Es ist also klar, dass
wir es mit demjenigen Manuscripte zu thun haben, welches
sich in Schillers Händen befunden hat, und welches Humboldt
sehr bestimmt als Urschrift von der Abschrift unterscheidet,—
und dass die fehlenden Bogen von Schiller überhaupt nicht an
Humboldt zurückgekommen sind.
Was nun die Lücke selbst betrifft, so ist sie trotz des Ab-
drucks in der Thalia in hohem Grade zu bedauern. Einmal
ist der Abdruck kein durchaus getreuer gewesen. Vielmehr
hat Schiller mit dem Manuscripte einige Veränderungen vor-
genommen, Aenderungen, die, wenn wir aus Humboldts Wor-
ten schliessen dürfen, welcher erklärt, dieselben mit innigem
Vergnügen bemerkt zu haben und diesen Winken künftig fol-
gen zu wollen [an Schiller. Auleben, 14. Januar 1793], nicht
so ganz unerheblich waren. Es geht uns also die Möglichkeit
verloren, zu ermitteln, wie viel von der Gestalt, die dieser
Theil des Aufsatzes gegenwärtig hat, auf Schillers Rechnung
zu setzen ist. — Allein noch ungleich schlimmer ist der Um-
stand, dass die Lücke durch den Abdruck in der Thalia zwar
zum grössten Theile, aber doch nicht vollständig sich ausfüllen
lässt. Das abgedruckte Stück fing weder genau mit dem An-
fange des dritten Bogens an, noch hörte es genau mit dem
Ende des achten auf. Es bleiben also auch jetzt noch zwei
kleinere vor der Hand unausfüllbare Lücken übrig. Was ich
über diese Lücken theils durch Feststellung des allgemeinen
Raumverhältnisses von Druck und Manuscript zu einander,
theils durch Vergleichung des der sorgfältig paginirten Hand-
schrift von Humboldt selbst beigegebenen genauen Inhaltsver-
zeichnisses habe ermitteln können, ist Folgendes. Das in der
Thalia gedruckte Stück kann kaum ganze 4 Bogen der Hand-
schrift gefüllt haben. Zwei Bogen Manuscript und etwas
darüber sind es also, die uns vollkommen fehlen. — Dies Feh-
lende (nach dem Maassstabe des gegenwärtigen Druckes
11—12 Seiten), vertheilt sich auf die beiden Lücken sehr un-
gleichmässig. Die erste ist von ausserordentlich geringer Aus-
dehnung und Erheblichkeit, indem das Manuscript bis pag. 14
reicht (das erste Blatt des ersten Bogens ist nämlich als Titel-
blatt nicht mitgezählt) und der Druck schon auf pag. 16 begon-
nen hat. Hier fehlen uns nur die wenigen Sätze, die dem
ersten Abschnitte seinen formellen Abschluss geben, und dem
Gedankengehalte nach haben wir an dieser Stelle kaum etwas
zu entbehren. — Um so grösser ist dafür der Zwischenraum
zwischen dem Ende des Druckes und dem Wiederbeginne des
Manuscripts. Er beträgt nicht viel weniger als zwei Bogen
des letzteren und führt eine sehr wesentliche und fühlbare
Unterbrechung des Gedankenganges herbei. Wir müssen uns
hier damit begnügen, aus dem Inhaltsverzeichnisse zu erkennen,
welche Gedanken es seien, deren Ausführung wir zu entbehren
haben Ueber das bei der Herausgabe selbst befolgte Verfahren ist nach dem
Gesagten kaum noch etwas zu erinnern. Es lag ein vollkommen druckfertiges
Manuscript vor, welches sich fast durchweg ohne alle Mühe und mit einiger
Sorgfalt überall lesen lässt. [Auffallend ist es, dass Schiller, als er einen Ver-
leger gefunden hat, ein deutlicher geschriebenes Manuscript begehrt. Unsre
Setzer könnten sich glücklich preisen, wenn sie nirgends grössere Schwierig-
keiten zu überwinden hätten, als das vorliegende darbietet.] Nur in Bezug auf
die zuerst in der Berlinischen Monatsschrift gedruckten Abschnitte bedarf es
noch einer Bemerkung. Eine Vergleichung des Drucks mit der Handschrift er-
giebt nämlich hier eine ganze Reihe von Varianten. Von grosser Erheblichkeit
sind sie nirgends. Es sind durchweg lediglich stylistische Abweichungen. —
Hier und da zeigt sich in den Lesarten des Drucks die Tendenz, kleine Härten
der Urschrift auszumerzen. Dass sie überall Verbesserungen enthielten, lässt
sich aber durchaus nicht sagen. In vielen Fällen hat mir das Gegentheil ge-
schienen. Oft sind es Modificationen des Ausdrucks, die eben so wenig für sich
wie gegen sich haben. Unter diesen Umständen hat es sich als das Gerathenste
erwiesen, überall streng der Lesart des Manuscripts zu folgen. Um eine Angabe
der Varianten beizufügen, dafür erschien die ganze Differenz von zu geringem
Belang. Immerhin bliebe es interessant zu wissen, woher die Abweichungen der
Abschrift stammen, aus der der Berliner Druck hervorgegangen ist..
So schmerzlich nun auch namentlich diese letztere Lücke
ist, so ist sie doch keinesweges der Art, dass sie von der Ver-
öffentlichung des Gefundenen hätte können abstehen lassen.
Vielmehr darf man sich vielleicht der Hoffnung hingeben, dass
diese Veröffentlichung dahin führen wird, auch sie noch ausge-
füllt zu sehn, sei es nun, dass der fehlende Theil unsres Manu-
scripts, sei es, dass die mehrerwähnte Abschrift durch Nach-
forschungen an den geeigneten Stellen zu Tage gefördert wird.
Aber auch wenn diese Hoffnung getäuscht werden sollte, wird
die gegenwärtige Veröffentlichung ein unschätzbarer Gewinn
für unsre Literatur bleiben. — Sie setzt die Nation in den
beinahe vollständigen Besitz der ersten grösseren Schrift
W. von Humboldts, einer Schrift, die ihrem Stoffe nach um-
fassender, in ihrem Inhalte von allgemeinerem Interesse, durch
ihre Form zugänglicher ist, als alle seine späteren Hervorbrin-
gungen. Die bereits bekannten Abschnitte, bei deren Auswahl,
wie sich aus den obigen Darlegungen ergeben haben wird,
weder ein Urtheil über Werth und Unwerth der einzelnen
Theile noch überhaupt irgend ein planmässiges Verfahren
maassgebend gewesen ist, erhalten nun erst, da sie im Zusam-
menhange des Ganzen erscheinen, ihr rechtes Licht, und es
treten andre verwandte Ausführungen neben sie, die, wie man
hoffentlich finden wird, grossentheils in keinem Betracht hinter
ihnen zurückzustehn verdienen.
Ich denke nicht, dass man diesen Erwägungen gegenüber
die Rücksicht einer übel verstandenen Pietät gegen Humboldt
wird geltend machen wollen, der ausgesprochner Maassen schon
kurze Zeit nach Abfassung dieser Schrift ihre Veröffentlichung
in der Gestalt, in welcher sie jetzt ans Licht tritt, unthunlich
gefunden habe, und der ganz gewiss in der Zeit seiner vollen
geistigen Reife eine solche noch viel weniger hätte gut heissen
können. Humboldt hatte ganz recht, wenn er eine Schrift der
Oeffentlichkeit vorenthielt, die er nicht mehr vertreten zu kön-
nen meinte. Aber sollte die Nation weniger in ihrem Rechte
sein, wenn sie sich begierig alle Hülfsmittel aneignet, die sich
ihr zum Verständniss eines Mannes darbieten, der nun doch
einmal mit Allem, was er geschaffen und gewirkt hat, längst
ihr Eigenthum geworden ist? Und von diesem Rechte Gebrauch
zu machen, konnte um so weniger einem Bedenken unterliegen,
als, wie sich von selbst versteht, dieser Mann dabei wahrlich
keinen Schaden leidet. Das ist ja eben das Grosse an Erschei-
nungen von Humboldts Art, dass unsre Bewunderung für sie
wachsen muss mit jeder neuen Seite, von der sie sich uns dar-
stellen, mit jedem Schritte, den wir tiefer in das Verständniss
ihres Wesens eindringen.
Es kann die Absicht nicht sein, an dieser Stelle in irgend
erschöpfender Weise die Resultate zu ziehen, die sich aus dem
Neuen der folgenden Blätter für die vollere Anschauung von
Humboldts Individualität und Entwickelungsgang ergeben.
Nur die Richtung, in der sie unsres Erachtens liegen werden,
im Allgemeinen anzudeuten, sei uns erlaubt. Kleine Geister
werden sich vielleicht darüber hermachen, emsig die einzelnen
Widersprüche hervorzusuchen, in die Humboldts staatsmän-
nische Wirksamkeit mit den Grundsätzen getreten ist, die in
der vorliegenden Schrift über alle Theile des politischen Lebens
ausgesprochen sind, um schliesslich mehr mit Behagen als mit
Trauer das alte Lied anstimmen zu können, wie doch die Natur
des Menschen so schwach, wie eitel und wandelbar seine Ent-
schlüsse seien. Gönnen wir diese traurige Genugthuung denen,
die das Grosse verkleinern müssen, um es nach ihrem Maasse
messen zu können. Es verlohnt sich kaum der Mühe, einer so
armseligen Auffassung gegenüber die innere Uebereinstimmung
durzuthun, die sich durch Humboldts ganzes Leben hindurch-
zieht. Der Mann, der, als er in der Zeit der schwersten Drang-
sale die Sorge für das geistige Gedeihen des Volkes übernom-
men hatte, mit dem schönsten Erfolge für die Wiedererweckung
des betäubten Nationalgeistes wirkte und der in einem Zu-
stande, in welchem es kaum möglich schien, das Leben des
Staates zu fristen, die Mittel zu dauernden Schöpfungen zu
finden wusste; der dann in wechselnden Stellungen in Jahre
langer unermüdeter Thätigkeit Alles daran setzte, der Nation
die äusseren und inneren Bedingungen einer gesunden, freien,
entwickelungsfähigen Existenz zu schaffen; — der Mann hatte
wahrlich, da er nun in demselben Augenblicke, in dem in unsren
vaterländischen Verhältnissen die entschiedene Wendung zum
Schlimmeren eingetreten war, wieder sich selbst zu leben an-
b
fing, keine Ursache, die Erinnerung an die Ideale zu fliehen,
denen er einst in der vorliegenden Schrift Ausdruck gegeben
hatte In den von Pertz herausgegebenen „Denkschriften des Ministers Freiherrn
vom Stein über deutsche Verfassungen.“ Berlin 1848; ist auch eine ausführliche
Denkschrift Wilh. v. Humboldts über Preussens ständische Verfassung mitge-
theilt (p. 97—175) datirt von Frankfurt, den 4. Februar 1819. Es lässt sich
rücksichtlich der ganzen Anlage und der schriftstellerischen Intention kaum ein
grösserer Gegensatz denken, als zwischen dieser Denkschrift und unseren „Ideen.“
Dort durchweg das engste Anschliessen an die Wirklichkeit, die strengste Be-
schränkung auf das unter den gegebenen Verhältnissen Ausführbare, — eine
durchaus praktische Tendenz; — hier eine ausdrückliche Verleugnung dieser
Rücksichten, der kühnste und freieste Schwung zum Idealen hin. Hier bewegt
sich Alles um die Bestimmung des Inhalts der Staatsgewalt, dort um die Formen.
Um so bemerkenswerther ist die Verwandtschaft in den Grundanschauungen des
Staatslebens, die durch alle diese Verschiedenheit hindurch für Jeden, der nur
ein Auge für dergleichen hat, wahrnehmbar ist. In beiden Schriften dieselbe
Hervorhebung des Bestrebens, die sittliche Kraft der Nation zu steigern, das in-
dividuelle Leben zu höherer Geltung zu bringen, das Regieren zu vereinfachen,
Thätigkeit und Energie an die Stelle der Passivität und der Trägheit zu setzen.
Selbst in gewissen besonders hervortretenden Abneigungen zeigt sich in beiden
Schriften eine auffallende Uebereinstimmung, namentlich in dem Misfallen an
dem hohlen formalen Wesen einer allmächtigen sich überhebenden Büreaukratie.. — Mit denselben Worten fast, mit denen er am Schlusse
derselben den Geist bezeichnet, aus dem heraus er sie geschrie-
ben habe, könnte man treffend das Wesen seiner politischen
Laufbahn charakterisiren. Wenn Humboldt gegen das Ende
seines Lebens in einem seiner schönen Sonnette mit innerster
Befriedigung von sich sagte, dass er seiner Jugend treu ge-
blieben sei, dass er Einheit in des Geistes Streben bewahrt
habe, so wird kein Einsichtiger ihm auf Grund der vorliegen-
den Schrift das Recht zu solchem Ausspruche streitig machen
wollen. Er hat in Wahrheit „fromm und treu der Jugend
Genius sein Herz führen lassen.“
Worein wir nun aber eigentlich den Hauptgewinn setzen,
der sich aus der hier mitgetheilten Schrift für Humboldts Ver-
ständniss ergiebt, — das ist, dass eben der Genius seiner
Jugend, der ihn durchs Leben geführt, in all seiner Frische
und Ursprünglichkeit uns hier zum ersten Male näher tritt.
Humboldt selbst, indem er sich der Uebereinstimmung rühmt,
in der er mit seiner Jugend geblieben sei, unterscheidet doch
eben diese Jugend sehr nachdrücklich von allen anderen Lebens-
epochen: „Die Gefühle, die heiligten der Jugend Blüthen-
weihe. — — — Denn von den duft’gen Lebenskränzen allen
Am duftigsten der Kranz der Jugend schwillet.“ Diese
Weihezeit in Humboldts Leben, die er selbst im Alter in so
schönen und rührenden Worten feierte, war uns bisher so gut
wie verschlossen. Hier bietet sich uns nun eine duftige Blüthe
aus dem Kranze seiner Jugend dar.
Varnhagen Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. V. p. 118 ff. hat an die Spitze der Charakteristik, die er
uns von Humboldt giebt, ein Wort Rahels gestellt, Humboldt
sei von keinem Alter gewesen und er hat seinerseits bestätigt,
dass die verschiednen Lebensalter in ihm von geringer Kraft ge-
wesen seien. Ich wage es ungern, dem Urtheil eines so bewährten
Darstellers und eines Humboldt so nahe stehenden Mannes
entgegenzutreten. Aber ich gestehe, dass, so wie uns jetzt
Humboldts Geistesleben in einer langen Reihe von Documen-
ten vorliegt, ich die Thatsachen doch damit einigermaassen
im Widerspruche finde. Die Einheit in Humboldt’s Wesen
wäre nicht so sehr zu bewundern, wenn sie nicht in einer so
grossen Mannigfaltigkeit von Erscheinungsformen und Ent-
wickelungsphasen zur Darstellung gekommen wäre. Der Kampf
gegen die Hemmungen, die in der Enge, Unfreiheit und Ein-
förmigkeit unsrer modernen Zustände für die energische und
allseitige Entfaltung der Individualitäten liegen, ist das grosse
Grundthema des vorliegenden Aufsatzes. Man darf sagen,
dass kaum einer der Neueren diese Hemmungen an sich selbst
weniger erfahren hat, als Humboldt, dass kaum in einem Zwei-
ten eine gleich edle und tiefe Anlage gleich sehr und dauernd
von allen Bedingungen des Gedeihens begünstigt war, dass
b*
kaum je gleich schöne Kräfte zu gleich schöner Wirksamkeit
gekommen sind. Das ist es, was dem Drama seines Lebens
jene wahrhaft idealische Vollendung gegeben hat, die wir sonst
nur an den Gestalten des Alterthums zu finden gewohnt sind,
ja was ihn diese selbst überragen lässt in dem, worin über-
haupt die moderne Welt üher das Alterthum hinausgegangen
ist, — in der Vertiefung des subjectiven Lebens. Unter den
Momenten der Vollendung von Humboldts Wesen scheint mir
nun eins der bedeutendsten das zu sein, dass es ihm, der sein
Leben durch alle Altersstufen hindurchführte, vergönnt war,
das Charakteristische einer jeden in einer recht eigentlich
mustergültigen Weise auszuprägen. Woist der Mann, der bei
einer solchen Rastlosigkeit im Denken, eine solche Entschlos-
senheit zur That, der zugleich so viel Energie im Handeln und
so viel Virtuosität im Geniessen besessen hätte? wo der, dem
zur Verwerthung aller dieser Fähigkeiten bessere Gelegenhei-
ten entgegen gekommen wären, als ihm, der für die Tiefe und
Schärfe seines Gedankens so grosse Objecte hatte in der Be-
theiligung an der gewaltigen geistigen Bewegung, die gegen Ende
des vorigen Jahrhunderts unter unsrer Nation begonnen hatte;
dem sich dann unter den glücklichsten Verhältnissen Italien
darbot, das classische Land der Genüsse, der endlich für seine
Thatkraft einen in Trümmer gefallenen Staat und in dem
mächtig erwachenden Nationalgeiste den herrlichsten Stoff zum
Neubau fand? Das waren Humboldts Mannesjahre. Vor
noch nicht langer Zeit lagen diese allein in Wort und That offen
vor uns. Seitdem seine „Sonnette,“ seine „Briefe an eine Freun-
din“ ans Licht getreten sind, sind wir auch mit seinem Grei-
senalter bekannt geworden. Man wird schwerlich irgendwo
ein schöneres Bild dieser Lebensstufe aufweisen können, als es
sich in jenen Briefen und Dichtungen darstellt, die den tiefsten
Frieden athmen, über die eine sanfte Trauer ausgegossen ist,
und die das Innere fast abgelöst von der Gegenwart und ge-
theilt zeigen zwischen der Erinnerung an die Vergangenheit
und dem sehnsüchtigen Blicke in das Jenseits und doch wieder
so, dass sich diese beiden Richtungen des Gedankens auf das
rührendste in einander schlingen. Das Gegenstück zu diesem
Bilde fehlte bis jetzt. Die vorliegende Schrift bietet es uns
dar, indem sie eine umfassende Uebersicht der Gedanken und
Strebungen giebt, welche Humboldts Jugend erfüllten. Es
ist höchst anziehend, sie aus dem Gesichtspunkte dieses Con-
trastes zu betrachten als Ausgangspunkt seines inneren Lebens
gegenüber dem Endpunkte desselben. So erst gewinnt man
eine recht lebendige Anschauung der reichen und vollen Ent-
wickelung, die zwischen dem einen und dem andren liegt.
Welchen Wechsel der religiösen Stimmungen hat die Seele
dieses Mannes durchlaufen müssen von dem prometheischen
Selbstgefühle der Jugend bis zu der Hingebung und schmel-
zenden Weichheit des Alters Unter den bisher ungedruckten Abschnitten unsrer Schrift ist mir als der
merkwürdigste der von der Religion handelnde erschienen. Wie eingehend und
mit wie viel innerer Wahrheit sind die verschiedenen religiösen Standpunkte
charakterisirt; und wie deutlich tritt es doch hervor, wo Humboldt mit sei-
nem eignen Pathos ist! Wie treffend ist Alles, was über die Stellung des
Staates zur Religion gesagt ist! Noch eine besondre Bedeutung gewinnt dieser
Abschnitt, wenn man bedenkt, dass nicht lange, ehe er geschrieben wurde, das
Wöllner’sche Religionsedict erschienen war (1788). Die Beziehungen auf die
durch dasselbe in Preussen herbeigeführten Zustände, die Humboldt während
seiner kurzen praktischen Thätigkeit in Berlin zur Genüge hatte kennen lernen,
sind ganz unverkennbar. Sollte wohl unter diesen Umständen die Vermuthung
zu gewagt sein, dass grade diese Parthie für die Censur der Hauptgrund des
Anstosses war?. Dort finden wir ihn mit der
ganzen Energie des Gedankens gegen die Aussenwelt geworfen
und in keckem Kampfe mit der Gesammtheit der bestehenden
Zustände; — hier gegen Alles ausser ihm gleichgültig, ganz
in sich gekehrt und versenkt; dort erfüllt von der Hoffnung
durch äussere Veränderungen der Welt die Freiheit zu bringen;
hier zufrieden mit der Gewissheit, in sich selber die Freiheit
gefunden zu haben, die ihm noth thut. — Doch ich kann darauf
verzichten, die Reihe dieser Gegensätze, die sich Jedem von
selbst darbieten, weiter fortzuführen. Nur eine Bemerkung
will ich nicht unterdrücken, die sich mir aufdrängt, indem ich
dies Jugendwerk Humboldts im Zusammenhange mit den Ver-
hältnissen denke, unter denen es entstanden ist. Es war die
erste bedeutendere Frucht der Musse, die er sich durch Auf-
geben des Staatsdienstes geschaffen hatte. Wir begreifen nun,
dass es einem Geiste, der sich mit solchen Entwürfen trug, in
der Enge des Gerichtszimmers nicht hatte behagen können.
Aber wir preisen auch den Mann glücklich, dem es vergönnt
war, die Schranken zu vernichten, da sie kaum begonnen hatten,
ihm fühlbar zu werden. Wie ist dagegen so manche edle Na-
tur, die wohl nicht minder zukunftreiche Keime des Grossen
und Schönen in sich getragen, — gezwungen, im Alter der
Ideale in dem Joche des Alltagslebens zu ziehen, an demselben
Conflicte zu Grunde gegangen, dem sich Humboldt mit leich-
ter Mühe entziehen konnte. Den Kampf, den er als einen
praktischen unter allgemeiner Missbilligung seiner Freunde
durch einen so schnellen Rückzug abbrach, hat er dann in der
vorliegenden Schrift als einen theoretischen wieder aufgenom-
men und mit Geist, Kühnheit und Feuer zu Ende geführt.
Eine wie grosse Bedeutung nun auch die Schrift nach dem
Allen als ergänzendes Document für die Geschichte von Hum-
boldts innerem Leben hat, so ist doch, wie sich von selbst ver-
steht, das Interesse derselben damit keinesweges erschöpft. Ihr
Werth liegt durchaus nicht ausschliesslich in dieser subjecti-
ven Richtung. Von rein objectiven Gesichtspunkten aus
betrachtet, stellt sie sich als eine nicht minder erhebliche Be-
reicherung unsrer Literatur dar. Nicht als ob der hier festge-
haltene politische Standpunkt für unsre heutige Staatswissen-
schaft irgendwie maassgebend werden könnte. Diese Betrach-
tungsweise, welcher der Staat zuletzt doch nur wie ein
nothwendiges Uebel erscheint, das man auf das möglichst
geringe Maass zurückführen müsse, hat längst einer tieferen
und wahreren Platz gemacht. — Wenn die wissenschaftliche
Richtung, der Humboldt im Einklange mit seiner Zeit folgt,
sich in dem Kampfe gegen den Staat als gegen eine fremde
feindselige Gewalt erschöpft, — so hat dieser Kampf längst
mit einem vollständigen theoretischen Siege geendigt, durch
den aus der uns entgegenstehenden Macht unsere Macht
geworden ist. Unser Ideal staatlicher Zustände liegt in einer
ganz anderen Richtung, als das Humboldt’sche. — Nicht un-
seren Willen gegen die Gewalt des Staates sicher zu stellen,
ist unser Ziel; das Ziel ist, ihn in die Staatsgewalt hineinzu-
tragen. Nicht vom Staate, sondern im Staate wollen wir frei
sein. Die politische Anschauungsweise der Gegenwart hat
sich darin um ein gutes Theil der Denkart des Alterthums ge-
nähert, von der die moderne Staatstheorie wohl niemals weiter
entfernt war, als grade in der Zeit, in welcher unsre Schrift ent-
standen ist, und gegen die das in derselben aufgestellte Ideal
den directesten Gegensatz bildet. Humboldt selbst ist zu
diesen tieferen Tendenzen fortgeschritten. Seine staatsmän-
nische Thätigkeit legt davon Zeugniss ab, so weit sie darauf
gerichtet war, Formen zu schaffen, durch die der Wille der
Nation zur Geltung kommen sollte, — Formen, gegen die er
auf seinem früheren politischen Standpunkte die vollkommen-
ste Gleichgültigkeit an den Tag legt. Und wenn es gewiss
ist, dass diese spätere politische Richtung Humboldts ungleich
praktischer war, als seine früheren Ideen, — so muss man wei-
ter sagen, dass sie es eben darum war, weil sie sich auf eine
bessere Theorie gründete.
Wenn sonach der absolute Werth dieser „Ideen“ in Folge
der mangelhaften Grundanschauung des Staats, auf der sie
beruhen, nicht eben hoch anzuschlagen ist Dieses Urtheil kann natürlich nur von der Schrift als einem Ganzen gel-
ten. Der Werth der einzelnen Theile ist ein sehr verschiedener, und wächst, so ist, historisch
betrachtet, die Stellung, die sie in dem geistigen Entwicklungs-
processe unsrer Nation einnehmen, eine um so merkwürdigere.
Diese „Ideen“ wurzeln ihrem speculativen Gehalte nach
ganz und durchaus in der Kant’schen Philosophie. Nun be-
merke man wohl, dass sie zu Papier gebracht worden sind kurz
nachdem die Kritik der Urtheilskraft erschienen war (1790),
die bekanntlich auch auf Schiller einen so mächtigen Einfluss
übte. Mit diesem Werke hatte Kant sein System in sich abge-
schlossen, und ging nun in seinen folgenden Schriften dazu
ziemlich genau nach dem Maasse des inneren Abstandes von dem Grundgedan-
ken. Eine Bemerkung, die ungefähr so auch schon Schlesier gemacht hat in
der Würdigung unsres Aufsatzes, die er auf Grund der ihm vorliegenden Stücke
desselben giebt, und die durch die vollständige Betrachtung, wie sie jetzt möglich
ist, lediglich bestätigt werden kann. Darin aber ist Schlesier ganz und gar irre
gegangen, dass er die politischen Elemente der Schrift als ihr innerlich fremde,
nur in Folge des äusseren von Dalberg gegebenen Anstosses hineingekommene
bezeichnet. Der politische Gedanke bildet die Seele des Ganzen, — und es ist
so wenig wahr, dass Humboldts Ideen nur vorübergehend wider ihre Natur durch
Dalberg die politische Richtung genommen hätten, — dass vielmehr augenschein-
lich diese politische Richtung, seitdem er überhaupt selbständig zu denken an-
gefangen, in ihm die vorherrschende gewesen war. — Und wie hätte es anders
sein können? Seine ganze Erziehung war darauf angelegt, ihn für den Staats-
dienst vorzubereiten; in demselben Sinne hatte er seine Universitätsstudien ge-
macht. — Er war in Göttingen mit Forster bekannt geworden, und diese poli-
tisch durch und durch aufgeregte Natur hatte ihm mächtig imponirt. Dazu nun
noch die Eindrücke der französischen Revolution, die er bei seinem Aufenthalte
in Paris während des Sommers 1789 in unmittelbarster Nähe auf sich hatte
wirken lassen; — endlich der Beginn seiner juristischen Laufbahn. — Zu dieser
Natur seines bisherigen Lebensganges stimmt es nun auch vollkommen, dass
Humboldt in einem der oben herangezogenen Briefe an Schiller im Gegensatze
zu diesem das Studium der öffentlichen Angelegenheiten ausdrücklich als seinen
Beruf bezeichnet, während er Wolf gegenüber im Beginne seiner Correspondenz
mit ihm ebenso unverkennbar als ein Laie in philologischen Dingen erscheint. —
Der Zeitpunkt, von dem an in Humboldts Gedanken und Studien Kunst, Alter-
thum, Sprache, Geistesleben diejenige Stelle einnehmen, die vorher Recht, Staat,
die äusseren Verhältnisse des Menschen eingenommen haben, lässt sich sehr ge-
nau bestimmen. Er fällt unmittelbar nach Vollendung der vorliegenden Schrift.
Es fehlt schon in ihr nicht an Stellen, die diese Veränderung ankündigen. Sie sind
grossentheils grade die interessantesten und schönsten. Aber man würde nichts
desto weniger sehr unrecht thun, in ihnen den Schwerpunkt von Humboldts da-
maligem Gedankensysteme zu suchen.
fort, dasselbe anzuwenden. Von allen diesen Schriften und
Aufsätzen, durch die er seine Principien in die Gebiete des in-
dividuellen Lebens, der Rechts- und Staatsverhältnisse, der
Religion hineintrug, war im Jahre 1792 noch nichts erschienen.
Eben so wenig war damals schon irgend ein Anfang damit ge-
macht, die durch die strenge Zucht der Kant’schen Methode
gestählte Denkkraft in freier und unabhängiger Weise zu hand-
haben. Schiller war noch mit keiner der philosophischen Arbei-
ten hervorgetreten, welche die Früchte seiner Vertiefung in das
Studium Kants waren. Fichte’s Name wurde noch nicht ge-
nannt. Es waren die Jahre der unbedingten Herrschaft des
Kant’schen Systems, der sich, wenn wir von F. H. Jacobi’s
isolirter Erscheinung absehn, Alle willig fügten, die überhaupt
von der geistigen Bewegung der Zeit ergriffen waren. Hält
man sich diese Lage der Dinge gegenwärtig, so muss man in
unserer Schrift die erste Bethätigung der wieder anhebenden
Selbstständigkeit des Denkens erkennen. Und zwar macht
sich diese Selbstständigkeit nach zwei Seiten hin geltend, ein-
mal darin, dass Kants Grundsätze hier zuerst in Gebiete hin-
eingetragen sind, die von dem Meister bis dahin noch nicht
betreten waren; sodann darin, dass diese Grundsätze selbst
hier zuerst sich zu vertiefen und zu verlebendigen beginnen.
In ersterer Rücksicht ist es von ungemeinem Interesse, die
Ansichten, die Kant in seinen späteren Schriften Vergl. besonders: Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre. Königs-
berg 1797. Dann die schon vorher, 1795 erschienene Abhandlung: Zum ewigen
Frieden; endlich: Der Streit der Fakultäten. Königsberg 1798, wo namentlich
das über das Verhältniss der Staatsregierung zur Religion Gesagte interessante
Vergleichungspunkte darbietet. über die-
selben Materien entwickelt hat, zur Vergleichung heranzu-
ziehen. Wie mir scheint, muss eine solche Vergleichung
durchaus zu Humboldts Gunsten ausschlagen. — Er ist in der
Anwendung von Kants Maximen auf das Recht und den Staat
glücklicher gewesen, als der Urheber derselben; er hat ihn an
c
Feinheit, Schärfe, Consequenz übertroffen. — Es würde uns zu weit
führen, dieses Urtheil durch eine Zusammenstellung der beidersei-
tigen Raisonnements etwa über die Ehe, das Erbrecht, das Straf-
gesetz, über den Begriff der Staatsgewalt selber zu begründen.
Aber von noch ungleich grösserer Bedeutung ist die Hum-
boldt’sche Schrift da, wo sie über Kant nicht in der Anwen-
dung seiner Gedanken, sondern in ihrer Auffassung selbst
hinausgeht. Zum Theil geschieht es in vollkommen bewusster
Weise, und aus der Art, in der mehrmals auf Kant Bezug ge-
nommen wird, erkennt man durch die unbegränzte Bewun-
derung hindurch, die Humboldt ihm zollt, doch bereits deutlich
ein durchaus freies und selbst kritisches Verhalten. Humboldt
wahrt sich in den Fragen der Moral und Aesthetik sehr be-
stimmt die Selbstständigkeit seines Urtheils. Der Theorie,
die Kant in der Kritik der Urtheilskraft von dem Wesen der
schönen Künste und ihrer Rangordnung gegeben hat, stellt er
seine eigne entgegen. Wer wollte leugnen, dass die letztere
weit tiefer gegriffen und weit sinniger durchgeführt ist? Hum-
boldt hat in den ästhetischen Andeutungen dieser Schrift bereits
denselben Weg aus dem Kant’schen Systeme hinaus gefunden,
den gleich nach ihm Schiller betrat, und auf dem sie dann Beide
Hand in Hand zu so bedeutenden Resultaten gekommen sind. —
Aber nicht minder, als in den ästhetischen Principien stellt
diese Schrift in den moralischen einen bemerkenswerthen
Fortschritt gegen Kant dar. Ja es ist in ihnen im Wesent-
lichen bereits Fichte’s Standpunkt erreicht. Indem Humboldt
dazu kommt, die Energie die erste und einzige Tugend des
Menschen zu nennen, womit zugleich die Trägheit als das
eigentlich böse Princip in der menschlichen Natur bezeichnet
ist, hat er in der That den Kernpunkt der Fichte’schen „Sit-
tenlehre“ getroffen. Nur dass der Gedanke in unsrer Schrift
sogleich eine Wendung auf das Politische bekommt.
Die öffentlichen Verhältnisse sollen so geordnet werden,
dass sie die Energie der Individuen möglichst steigern, ihre
Selbstthätigkeit auf recht vielfältige Weise herausfordern. In
dieser Forderung liegt eigentlich die Summe des positiven Ge-
halts der ganzen Untersuchung, und von dieser Seite ange-
sehn enthält sie eine grosse Lehre, die unter unsern heutigen
Verhältnissen mehr an ihrem Platze ist, als sie es je früher
gewesen wäre, und die von den segensreichsten Wirkungen sein
könnte, wenn die Gegenwart in demselben Maasse für dieselbe
empfänglich wäre, in dem sie ihrer bedürftig ist. Das Grund-
übel in den Wirren der letzten Jahre lag doch am Ende darin,
dass die Bestrebungen, von denen die Massen in Bewegung
gesetzt waren, das vollkommne Widerspiel des Humboldt’schen
Freiheitsideales waren. Alles lief in ihnen auf Steigerung der
Genüsse hinaus. Ein Jeder will es so bequem haben, wie
möglich. Je weiter sich die Forderungen der politischen
Schwärmer von heute und gestern von der Wirklichkeit ent-
fernen, desto bestimmter tritt dies als ihr Grundzug hervor,
und in letzter Instanz steigert sich diese Richtung zu dem
Ideale eines gesellschaftlichen Zustandes, welcher der freien
Bewegung der Individuen gar keinen Spielraum mehr lässt,
in welchem Alles von dem Allgemeinen absorbirt, die Freiheit
vollkommen der Wohlfahrt zum Opfer gebracht wird. Gegen
den entnervenden Einfluss solcher Doctrinen, denen der Begriff
der Individualität vollkommen verloren gegangen ist, möchten wir
die gegenwärtige Schrift recht dringend als das heilsamste Gegen-
gift empfehlen. Sie eignet sich für einen solchen Gebrauch eben
darum so trefflich, weilihr Verfasser mit gleich radicaler Einseitig-
keit in dem entgegengesetzten Extreme befangen ist. — Möch-
ten von diesem edlen Geiste recht Viele lernen, die Freiheit nicht
um der Genüsse willen zu lieben, die sie verspricht, sondern um
der sittlichen Kraft willen, die sie zugleich fordert und schafft.
Breslau, 18. August 1850.
Dr. Eduard Cauer.
Inhalts-Verzeichniss.
Seite
I. Einleitung 1
II. Betrachtung des einzelnen Menschen und der höchsten Endzwecke
des Daseins desselben 9
III. Uebergang zur eigentlichen Untersuchung. Eintheilung derselben.
Sorgfalt des Staats für das positive, insbesondere physische Wohl
der Bürger 16
IV. Sorgfalt des Staats für das negative Wohl der Bürger, für ihre
Sicherheit 44
V. Sorgfalt des Staats für die Sicherheit gegen auswärtige Feinde 47
VI. Sorgfalt des Staats für die Sicherheit der Bürger unter einander.
Mittel, diesen Endzweck zu erreichen. Veranstaltungen, welche auf
die Umformung des Geistes und Charakters der Bürger gerichtet
sind. Oeffentliche Erziehung 53
VII. Religion 61
VIII. Sittenverbesserung 84
IX. Nähere, positive Bestimmung der Sorgfalt des Staats für die Sicher-
heit. Entwickelung des Begriffs der Sicherheit 100
X. Sorgfalt des Staats für die Sicherheit durch Bestimmung solcher
Handlungen der Bürger, welche sich unmittelbar und geradezu nur
auf den Handlenden selbst beziehen. (Polizeigesetze.) 106
XI. Sorgfalt des Staats für die Sicherheit durch Bestimmung solcher
Handlungen der Bürger, welche sich unmittelbar und geradezu auf
andre beziehen. (Civilgesetze.) 117
XII. Sorgfalt des Staats für die Sicherheit durch rechtliche Entscheidung
der Streitigkeiten der Bürger 133
XIII. Sorgfalt des Staats für die Sicherheit durch Bestrafung der Ueber-
tretungen der Gesetze des Staats. (Kriminalgesetze.) 138
XIV. Sorgfalt des Staats für die Sicherheit durch Bestimmung des Ver-
hältnisses derjenigen Personen, welche nicht im Besitz der natür-
lichen, oder gehörig gereiften menschlichen Kräfte sind. (Unmündige
und des Verstandes Beraubte.) Allgemeine Anmerkung zu diesem
und den vier vorhergehenden Abschnitten 162
XV. Verhältniss der, zur Erhaltung des Staatsgebäudes überhaupt noth-
wendigen Mittel zur vorgetragenen Theorie. Schluss der theoreti-
schen Entwicklung 171
XVI. Anwendung der vorgetragenen Theorie auf die Wirklichkeit 177
Die mit Ziffern versehenen Anmerkungen rühren von dem Verfasser, die mit einem
† Bezeichneten von dem Herausgeber her.
I.
Einleitung.
Bestimmung des Gegenstandes der Untersuchung. — Seltne Bearbeitung und
Wichtigkeit desselben. — Historischer Blick auf die Gränzen, welche die Staaten
ihrer Wirksamkeit wirklich gesetzt haben. — Unterschied der alten und neueren
Staaten. — Zweck der Staatsverbindung überhaupt. — Streitfrage, ob derselbe
allein in der Sorgfalt für die Sicherheit, oder für das Wohl der Nation überhaupt
bestehen soll? — Gesetzgeber und Schriftsteller behaupten das Letztere. — Den-
noch ist eine fernere Prüfung dieser Behauptung nothwendig. — Diese Prüfung
muss von dem einzelnen Menschen und seinen höchsten Endzwecken ausgehen.
Wenn man die merkwürdigsten Staatsverfassungen mit ein-
ander, und mit ihnen die Meinungen der bewährtesten Philoso-
phen und Politiker vergleicht; so wundert man sich vielleicht
nicht mit Unrecht, eine Frage so wenig vollständig behandelt, und
so wenig genau beantwortet zu finden, welche doch zuerst die
Aufmerksamkeit an sich zu ziehen scheint, die Frage nämlich:
zu welchem Zweck die ganze Staatseinrichtung hinarbeiten und
welche Schranken sie ihrer Wirksamkeit setzen soll? Den ver-
schiedenen Antheil, welcher der Nation, oder einzelnen ihrer
Theile, an der Regierung gebührt, zu bestimmen, die mannig-
faltigen Zweige der Staatsverwaltung gehörig zu vertheilen, und
die nöthigen Vorkehrungen zu treffen, dass nicht ein Theil die
Rechte des andern an sich reisse; damit allein haben sich fast alle
beschäftigt, welche selbst Staaten umgeformt, oder Vorschläge
zu politischen Reformationen gemacht haben. Dennoch müsste
man, so dünkt mich, bei jeder neuen Staatseinrichtung zwei
Gegenstände vor Augen haben, von welchen beiden keiner,
ohne grossen Nachtheil übersehen werden dürfte: einmal die
Bestimmung des herrschenden und dienenden Theils der Nation
1
und alles dessen, was zur wirklichen Einrichtung der Regierung
gehört, dann die Bestimmung der Gegenstände, auf welche die
einmal eingerichtete Regierung ihre Thätigkeit zugleich aus-
breiten und einschränken muss. Dies Letztere, welches eigent-
lich in das Privatleben der Bürger eingreift und das Maass
ihrer freien, ungehemmten Wirksamkeit bestimmt, ist in der
That das wahre, letzte Ziel, das Erstere nur ein nothwendiges
Mittel, dies zu erreichen. Wenn indess dennoch der Mensch
dies Erstere mit mehr angestrengter Aufmerksamkeit verfolgt,
so bewährt er dadurch den gewöhnlichen Gang seiner Thätig-
keit. Nach Einem Ziele streben, und dies Ziel mit Aufwand
physischer und moralischer Kraft erringen, darauf beruht das
Glück des rüstigen, kraftvollen Menschen. Der Besitz, welcher
die angestrengte Kraft der Ruhe übergiebt, reizt nur in der
täuschenden Phantasie. Zwar existirt in der Lage des Menschen,
wo die Kraft immer zur Thätigkeit gespannt ist, und die Natur
um ihn her immer zur Thätigkeit reizt, Ruhe und Besitz in
diesem Verstande nur in der Idee. Allein dem einseitigen
Menschen ist Ruhe auch Aufhören Einer Aeusserung, und dem
Ungebildeten giebt Ein Gegenstand nur zu wenigen Aeusse-
rungen Stoff. Was man daher vom Ueberdruss am Besitze,
besonders im Gebiete der feineren Empfindungen, sagt, gilt
ganz und gar nicht von dem Ideale des Menschen, welches die
Phantasie zu bilden vermag, im vollesten Sinne von dem ganz
Ungebildeten, und in immer geringerem Grade, je näher immer
höhere Bildung jenem Ideale führt. Wie folglich, nach dem
Obigen, den Eroberer der Sieg höher freut, als das errungene
Land, wie den Reformator die gefahrvolle Unruhe der Refor-
mation höher, als der ruhige Genuss ihrer Früchte; so ist dem
Menschen überhaupt Herrschaft reizender, als Freiheit, oder
wenigstens Sorge für Erhaltung der Freiheit reizender, als Ge-
nuss derselben. Freiheit ist gleichsam nur die Möglichkeit einer
unbestimmt mannigfaltigen Thätigkeit; Herrschaft, Regierung
überhaupt zwar eine einzelne, aber wirkliche Thätigkeit. Sehn-
sucht nach Freiheit entsteht daher nur zu oft erst aus dem Ge-
fühle des Mangels derselben. Unläugbar bleibt es jedoch immer,
dass die Untersuchung des Zwecks und der Schranken der
Wirksamkeit des Staats eine grosse Wichtigkeit hat, und viel-
leicht eine grössere, als irgend eine andere politische. Dass sie
allein gleichsam den letzten Zweck aller Politik betrifft, ist
schon oben bemerkt worden. Allein sie erlaubt auch eine leich-
tere und mehr ausgebreitete Anwendung. Eigentliche Staats-
revolutionen, andere Einrichtungen der Regierung sind nie,
ohne die Concurrenz vieler, oft sehr zufälliger Umstände
möglich, und führen immer mannigfaltig nachtheilige Folgen
mit sich. Hingegen die Gränzen der Wirksamkeit mehr aus-
dehnen oder einschränken kann jeder Regent — sei es in demo-
kratischen, aristokratischen, oder monarchischen Staaten —
still und unbemerkt, und er erreicht vielmehr seinen Endzweck
nur um so sicherer, je mehr er auffallende Neuheit vermeidet.
Die besten menschlichen Operationen sind diejenigen, welche
die Operationen der Natur am getreuesten nachahmen. Nun
aber bringt der Keim, welchen die Erde still und unbemerkt
empfängt, einen reicheren und holderen Segen, als der gewiss
nothwendige, aber immer auch mit Verderben begleitete Aus-
bruch tobender Vulkane. Auch ist keine andere Art der
Reform unserm Zeitalter so angemessen, wenn sich dasselbe
wirklich mit Recht eines Vorzugs an Kultur und Aufklärung
rühmt. Denn die wichtige Untersuchung der Gränzen der
Wirksamkeit des Staats muss — wie sich leicht voraussehen
lässt — auf höhere Freiheit der Kräfte und grössere Mannig-
faltigkeit der Situationen führen. Nun aber erfordert die
Möglichkeit eines höheren Grades der Freiheit immer einen
gleich hohen Grad der Bildung und das geringere Bedürfniss,
gleichsam in einförmigen, verbundenen Massen zu handeln,
eine grössere Stärke und einen mannigfaltigeren Reichthum
1*
der handelnden Individuen. Besitzt daher das gegenwärtige
Zeitalter einen Vorzug an dieser Bildung, dieser Stärke und
diesem Reichthum, so muss man ihm auch die Freiheit gewähren,
auf welche derselbe mit Recht Anspruch macht. Ebenso sind
die Mittel, durch welche die Reform zu bewirken stände, einer
fortschreitenden Bildung, wenn wir eine solche annehmen, bei
weitem angemessener. Wenn sonst das gezückte Schwerdt
der Nation die physische Macht des Beherrschers beschränkt,
so besiegt hier Aufklärung und Kultur seine Ideen und seinen
Willen; und die umgeformte Gestalt der Dinge scheint mehr
sein Werk, als das Werk der Nation zu sein. Wenn es nun
schon ein schöner, seelenerhebender Anblick ist, ein Volk zu
sehen, das im vollen Gefühl seiner Menschen- und Bürgerrechte
seine Fesseln zerbricht; so muss — weil, was Neigung oder
Achtung für das Gesetz wirkt, schöner und erhebender ist,
als was Noth und Bedürfniss erpresst — der Anblick eines
Fürsten ungleich schöner und erhebender sein, welcher selbst
die Fesseln löst und Freiheit gewährt, und dies Geschäft nicht
als Frucht seiner wohlthätigen Güte, sondern als Erfüllung
seiner ersten, unerlasslichenunerlässlichen Pflicht betrachtet. Zumal da die
Freiheit, nach welcher eine Nation durch Veränderung ihrer
Verfassung strebt, sich zu der Freiheit, welche der einmal ein-
gerichtete Staat geben kann, eben so verhält, als Hoffnung zum
Genuss, Anlage zur Vollendung.
Wirft man einen Blick auf die Geschichte der Staatsver-
fassungen; so würde es sehr schwierig sein, in irgend einer
genau den Umfang zu zeigen, auf welchen sich ihre Wirksam-
keit beschränkt, da man wohl in keiner hierin einem über-
dachten, auf einfachen Grundsätzen beruhenden Plane gefolgt
ist. Vorzüglich hat man immer die Freiheit der Bürger aus
einem zwiefachen Gesichtspunkte eingeengt, einmal aus dem
Gesichtspunkte der Nothwendigkeit, die Verfassung entweder
einzurichten, oder zu sichern; dann aus dem Gesichtspunkte
der Nützlichkeit, für den physischen oder moralischen Zustand
der Nation Sorge zu tragen. Je mehr oder weniger die Ver-
fassung, an und für sich mit Macht versehen, andere Stützen
braucht; oder je mehr oder weniger die Gesetzgeber weit aus-
blickten, ist man bald mehr bei dem einen, bald bei dem andern
Gesichtspunkte stehen geblieben. Oft haben auch beide Rück-
sichten vereint gewirkt. In den älteren Staaten sind fast alle
Einrichtungen, welche auf das Privatleben der Bürger Bezug
haben, im eigentlichsten Verstande politisch. Denn da die
Verfassung in ihnen wenig eigentliche Gewalt besass, so beruhte
ihre Dauer vorzüglich auf dem Willen der Nation, und es
musste auf mannigfaltige Mittel gedacht werden, ihren Cha-
rakter mit diesem Willen übereinstimmend zu machen. Eben
dies ist noch jetzt in kleinen republikanischen Staaten der Fall,
und es ist daher völlig richtig, dass — aus diesem Gesichts-
punkt allein die Sache betrachtet — die Freiheit des Privat-
lebens immer in eben dem Grade steigt, in welchem die öffent-
liche sinkt, da hingegen die Sicherheit immer mit dieser gleichen
Schritt hält. Oft aber sorgten auch die ältern Gesetzgeber,
und immer die alten Philosophen im eigentlichsten Verstande
für den Menschen, und da am Menschen der moralische Werth
ihnen das Höchste schien, so ist z. B. Platos Republik, nach
Rousseaus äusserst wahrer Bemerkung, mehr eine Erziehungs-
als eine Staatsschrift. Vergleicht man hiermit die neuesten
Staaten, so ist die Absicht, für den Bürger selbst und sein
Wohl zu arbeiten, bei so vielen Gesetzen und Einrichtungen,
die dem Privatleben eine oft sehr bestimmte Form geben,
unverkennbar. Die grössere innere Festigkeit unserer Ver-
fassungen, ihre grössere Unabhängigkeit von einer gewissen
Stimmung des Charakters der Nation, dann der stärkere Ein-
fluss bloss denkender Köpfe — die, ihrer Natur nach, weitere
und grössere Gesichtspunkte zu fassen im Stande sind — eine
Menge von Erfindungen, welche die gewöhnlichen Gegenstände
der Thätigkeit der Nation besser bearbeiten oder benutzen
lehren, endlich und vor Allem gewisse Religionsbegriffe, welche
den Regenten auch für das moralische und künftige Wohl der
Bürger gleichsam verantwortlich machen, haben vereint dazu
beigetragen, diese Veränderung hervorzubringen. Geht man
aber der Geschichte einzelner Polizei-Gesetze und Ein-
richtungen nach, so findet man oft ihren Ursprung in dem bald
wirklichen, bald angeblichen Bedürfniss des Staats, Abgaben
von den Unterthanen aufzubringen, und insofern kehrt die
Aehnlichkeit mit den älteren Staaten zurück, indem insofern
diese Einrichtungen gleichfalls auf die Erhaltung der Ver-
fassung abzwecken. Was aber diejenigen Einschränkungen
betrifft, welche nicht sowohl den Staat, als die Individuen, die
ihn ausmachen, zur Absicht haben; so ist und bleibt ein mäch-
tiger Unterschied zwischen den älteren und neueren Staaten.
Die Alten sorgten für die Kraft und Bildung des Menschen,
als Menschen; die Neueren für seinen Wohlstand, seine Habe
und seine Erwerbfähigkeit. Die Alten suchten Tugend, die
Neueren Glückseligkeit. Daher waren die Einschränkungen
der Freiheit in den älteren Staaten auf der einen Seite drücken-
der und gefährlicher. Denn sie griffen geradezu an, was des
Menschen eigenthümliches Wesen ausmacht, sein inneres
Dasein; und daher zeigen alle älteren Nationen eine Einseitig-
keit, welche (den Mangel an feinerer Kultur, und an allgemei-
nerer Kommunikation noch abgerechnet) grossentheils durch
die fast überall eingeführte gemeinschaftliche Erziehung, und
das absichtlich eingerichtete gemeinschaftliche Leben der
Bürger überhaupt hervorgebracht und genährt wurde. Auf
der andern Seite erhielten und erhöheten aber auch alle diese
Staatseinrichtungen bei den Alten die thätige Kraft des
Menschen. Selbst der Gesichtspunkt, den man nie aus den
Augen verlor, kraftvolle und genügsame Bürger zu bilden, gab
dem Geiste und dem Charakter einen höheren Schwung. Da-
gegen wird zwar bei uns der Mensch selbst unmittelbar
weniger beschränkt, als vielmehr die Dinge um ihn her eine
einengende Form erhalten, und es scheint daher möglich, den
Kampf gegen diese äusseren Fesseln mit innerer Kraft zu
beginnen. Allein schon die Natur der Freiheitsbeschränkungen
unserer Staaten, dass ihre Absicht bei weitem mehr auf das
geht, was der Mensch besitzt, als auf das, was er ist, und dass
selbst in diesem Fall sie nicht — wie die Alten — die physi-
sche, intellektuelle und moralische Kraft nur, wenn gleich ein-
seitig, üben, sondern vielmehr ihr bestimmende Ideen, als
Gesetze, aufdringen, unterdrückt die Energie, welche gleich-
sam die Quelle jeder thätigen Tugend, und die nothwendige
Bedingung zu einer höheren und vielseitigeren Ausbildung ist.
Wenn also bei den älteren Nationen grössere Kraft für die Ein-
seitigkeit schadlos hielt; so wird in den neueren der Nachtheil
der geringeren Kraft noch durch Einseitigkeit erhöht. Ueber-
haupt ist dieser Unterschied zwischen den Alten und Neueren
überall unverkennbar. Wenn in den letzteren Jahrhunderten
die Schnelligkeit der gemachten Fortschritte, die Menge und
Ausbreitung künstlicher Erfindungen, die Grösse der gegrün-
deten Werke am meisten unsere Aufmerksamkeit an sich
zieht; so fesselt uns in dem Alterthum vor Allem die Grösse,
welche immer mit dem Leben Eines Menschen dahin ist, die
Blüthe der Phantasie, die Tiefe des Geistes, die Stärke des
Willens, die Einheit des ganzen Wesens, welche allein dem
Menschen wahren Werth giebt. Der Mensch und zwar seine
Kraft und seine Bildung war es, welche jede Thätigkeit rege
machte; bei uns ist es nur zu oft ein ideelles Ganze, bei
dem man die Individuen beinah zu vergessen scheint,
oder wenigstens nicht ihr inneres Wesen, sondern ihre
Ruhe, ihr Wohlstand, ihre Glückseligkeit. Die Alten
suchten ihre Glückseligkeit in der Tugend, die Neueren
sind nur zu lange diese aus jener zu entwickeln bemüht
gewesen Nie ist dieser Unterschied auffallender, als wenn alte Philosophen von
neueren beurtheilt werden. Ich führe als ein Beispiel eine Stelle Tiede-
manns über eins der schönsten Stücke aus Platos Republik an: Quanquam
autem per se sit iustitia grata nobis: tamen si exercitium eius nullam omnino
afferret utilitatem, si iusto ea omnia essent patienda, quae fratres commemorant;
iniustitia iustitiae foret praeferenda; quae enim ad felicitatem maxime faciunt
nostram, sunt absque dubio aliis praeponenda. Jam corporis cruciatus, omnium
rerum inopia, fames, infamia, quaeque alia evenire iusto fratres dixerunt, animi
illam e iustitia manantem voluptatem dubio procul longe superant, essetque adeo
iniustitia iustitiae antehabenda et in virtutum numero collocanda. Tiedemann
in argumentis dialogorum Platonis. Ad 1. 2. de republica.; und der selbst Kant über das höchste Gut in den Anfangsgründen der Metaphysik der
Sitten [genauer: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Riga 1785], und in
der Kritik der praktischen Vernunft., welcher die Moralität in ihrer
höchsten Reinheit sah und darstellte, glaubt, durch eine sehr
künstliche Maschinerie seinem Ideal des Menschen die Glück-
seligkeit, wahrlich mehr, wie eine fremde Belohnung, als wie
ein eigen errungenes Gut, zuführen zu müssen. Ich verliere
kein Wort über diese Verschiedenheit. Ich schliesse nur mit
einer Stelle aus Aristoteles Ethik: „Was einem Jeden, seiner
„Natur nach, eigenthümlich ist, ist ihm das Beste und Süsseste.
„Daher auch den Menschen das Leben nach der Vernunft,
„wenn nämlich darin am meisten der Mensch besteht, am mei-
„sten beseligt Το οικειον ἑκαστῳ τῃ φυσει, κϱατιστον και ἡδιστον εσϑ̕ ἑκαστῳ και
τῳ ανϑρωπῳ δη ὁ κατα τον νουν βιος, ειπερ μαλιστα τουτο ανϑρωπος, οὑτος
αρα και ευδαιμονεστατος. Aristotelis Ηϑικων Νικομαχ. l. X. c. 7. in fin..“
Schon mehr als Einmal ist unter den Staatsrechtslehrern
gestritten worden, ob der Staat allein Sicherheit, oder über-
haupt das ganze physische und moralische Wohl der Nation
beabsichten müsse? Sorgfalt für die Freiheit des Privatlebens
hat vorzüglich auf die erstere Behauptung geführt; indess die
natürliche Idee, dass der Staat mehr, als allein Sicherheit
gewähren könne, und ein Missbrauch in der Beschrän-
kung der Freiheit wohl möglich, aber nicht nothwen-
dig sei, der letzteren das Wort redete. Auch ist diese
unläugbar sowohl in der Theorie, als in der Ausführung die
herrschende. Dies zeigen die meisten Systeme des Staats-
rechts, die neueren philosophischen Gesetzbücher, und die
Geschichte der Verordnungen der meisten Staaten. Ackerbau,
Handwerke, Industrie aller Art, Handel, Künste und Wissen-
schaften selbst, alles erhält Leben und Lenkung vom Staat.
Nach diesen Grundsätzen hat das Studium der Staatswissen-
schaften eine veränderte Gestalt erhalten, wie Kameral- und
Polizeiwissenschaft z. B. beweisen, nach diesen sind völlig
neue Zweige der Staatsverwaltung entstanden, Kameral-,
Manufaktur- und Finanz-Kollegia. So allgemein indess auch
dieses Princip sein mag; so verdient es, dünkt mich, doch
noch allerdings eine nähere Prüfung, und diese Prü[fung muss
von dem einzelnen Menschen und seinen höchsten Endzwecken aus-
gehen.]
II.
Betrachtung des einzelnen Menschen, und der höchsten Endzwecke
des Daseins desselben.
Der höchste und letzte Zweck jedes Menschen ist die höchste und proportionir-
lichste Ausbildung seiner Kräfte in ihrer individuellen Eigenthümlichkeit. —
Die nothwendigen Bedingungen der Erreichung desselben: Freiheit des Han-
delns, und Mannigfaltigkeit der Situationen. — Nähere Anwendung dieser Sätze
auf das innere Leben des Menschen. — Bestätigung derselben aus der
Geschichte. — Höchster Grundsatz für die ganze gegenwärtige Untersuchung,
auf welchen diese Betrachtungen führen.
Der wahre Zweck des Menschen, nicht der, welchen die
wechselnde Neigung, sondern welchen die ewig unveränderliche
Vernunft ihm vorschreibt — ist die höchste und proportionir-
lichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen. Zu dieser
Bildung ist Freiheit die erste und unerlässliche Bedingung.
Allein ausser der Freiheit erfordert die Entwickelung der
menschlichen Kräfte noch etwas anderes, obgleich mit der Frei-
heit eng verbundenes, — Mannigfaltigkeit der Situationen.
Auch der freieste und unabhängigste Mensch, in einförmige
Lagen versetzt, bildet sich minder aus. Zwar ist nun eines-
theils diese Mannigfaltigkeit allemal Folge der Freiheit, und
anderntheils giebt es auch eine Art der Unterdrückung, die,
statt den Menschen einzuschränken, den Dingen um ihn her
eine beliebige Gestalt giebt, so dass beide gewissermassen Eins
und dasselbe sind. Indess ist es der Klarheit der Ideen den-
noch angemessener, beide noch von einander zu trennen. Jeder
Mensch vermag auf Einmal nur mit Einer Kraft zu wirken,
oder vielmehr sein ganzes Wesen wird auf Einmal nur zu Einer
Thätigkeit gestimmt. Daher scheint der Mensch zur Einsei-
tigkeit bestimmt, indem er seine Energie schwächt, sobald er
sich auf mehrere Gegenstände verbreitet. Allein dieser Ein-
seitigkeit entgeht er, wenn er die einzelnen, oft einzeln geübten
Kräfte zu vereinen, den beinah schon verloschnen wie den erst
künftig hell aufflammenden Funken in jeder Periode seines
Lebens zugleich mitwirken zu lassen, und statt der Gegen-
stände, auf die er wirkt, die Kräfte, womit er wirkt, durch
Verbindung zu vervielfältigen strebt. Was hier gleichsam die
Verknüpfung der Vergangenheit und der Zukunft mit der
Gegenwart wirkt, das wirkt in der Gesellschaft die Verbindung
mit andern. Denn auch durch alle Perioden des Lebens er-
reicht jeder Mensch dennoch nur Eine der Vollkommenheiten,
welche gleichsam den Charakter des ganzen Menschenge-
schlechts bilden. Durch Verbindungen also, die aus dem Innern
der Wesen entspringen, muss einer den Reichthum des andern
sich eigen machen. Eine solche charakterbildende Verbindung
ist, nach der Erfahrung aller auch sogar der rohesten Nationen,
z. B. die Verbindung der beiden Geschlechter. Allein wenn
hier der Ausdruck, sowohl der Verschiedenheit, als der Sehn-
sucht nach der Vereinigung gewissermassen stärker ist: so ist
beides darum nicht minder stark, nur schwerer bemerkbar,
obgleich eben darum auch mächtiger wirkend, auch ohne alle
Rücksicht auf jene Verschiedenheit, und unter Personen des-
selben Geschlechts. Diese Ideen weiter verfolgt und genauer
entwickelt, dürften vielleicht auf eine richtigere Erklärung des
Phänomens der Verbindungen führen, welche bei den Alten,
vorzüglich den Griechen, selbst die Gesetzgeber benutzten, und
die man oft zu unedel mit dem Namen der gewöhnlichen Liebe,
und immer unrichtig mit dem Namen der blossen Freund-
schaft belegt hat. Der bildende Nutzen solcher Verbindungen
beruht immer auf dem Grade, in welchem sich die Selbststän-
digkeit der Verbundenen zugleich mit der Innigkeit der Ver-
bindung erhält. Denn wenn ohne diese Innigkeit der eine den
andern nicht genug aufzufassen vermag, so ist die Selbststän-
digkeit nothwendig, um das Aufgefasste gleichsam in das eigne
Wesen zu verwandeln. Beides aber erfordert Kraft der Indi-
viduen, und eine Verschiedenheit, die, nicht zu gross, damit
einer den andern aufzufassen vermöge, auch nicht zu klein ist,
um einige Bewundrung dessen, was der andre besitzt, und den
Wunsch rege zu machen, es auch in sich überzutragen. Diese
Kraft nun und diese mannigfaltige Verschiedenheit vereinen
sich in der Originalität, und das also, worauf die ganze
Grösse des Menschen zuletzt beruht, wonach der einzelne
Mensch ewig ringen muss, und was der, welcher auf Menschen
wirken will, nie aus den Augen verlieren darf, ist Eigen-
thümlichkeit der Kraft und der Bildung. Wie diese
Eigenthümlichkeit durch Freiheit des Handelns und Mannig-
faltigkeit des Handelnden gewirkt wird; so bringt sie beides
wiederum hervor. Selbst die leblose Natur, welche nach ewig
unveränderlichen Gesetzen einen immer gleichmässigen Schritt
hält, erscheint dem eigengebildeten Menschen eigenthümlicher.
Er trägt gleichsam sich selbst in sie hinüber, und so ist es im
höchsten Verstande wahr, dass jeder immer in eben dem Grade
Fülle und Schönheit ausser sich wahrnimmt, in welchem er
beide im eignen Busen bewahrt. Wieviel ähnlicher aber noch
muss die Wirkung der Ursache da sein, wo der Mensch nicht
bloss empfindet und äussere Eindrücke auffasst, sondern selbst
thätig wird?
Versucht man es, diese Ideen durch nähere Anwendungen
auf den einzelnen Menschen, noch genauer zu prüfen; so redu-
cirt sich in diesem alles auf Form und Materie. Die reinste
Form mit der leichtesten Hülle nennen wir Idee, die am wenig-
sten mit Gestalt begabte Materie, sinnliche Empfindung. Aus
der Verbindung der Materie geht die Form hervor. Je grösser
die Fülle und Mannigfaltigkeit der Materie, je erhabener die
Form. Ein Götterkind ist nur die Frucht unsterblicher Eltern.
Die Form wird wiederum gleichsam Materie einer noch schö-
neren Form. So wird die Blüthe zur Frucht, und aus dem
Saamenkorn der Frucht entspringt der neue, von neuem
blüthenreiche Stamm. Je mehr die Mannigfaltigkeit zugleich
mit der Feinheit der Materie zunimmt, desto höher die Kraft.
Denn desto inniger der Zusammenhang. Die Form scheint
gleichsam in die Materie, in die Materie die Form verschmol-
zen; oder, um ohne Bild zu reden, je ideenreicher die Gefühle
des Menschen, und je gefühlvoller seine Ideen, desto unerreich-
barer seine Erhabenheit. Denn auf diesem ewigen Begatten
der Form und der Materie, oder des Mannigfaltigen mit der
Einheit beruht die Verschmelzung der beiden im Menschen
vereinten Naturen, und auf dieser seine Grösse. Aber die
Stärke der Begattung hängt von der Stärke der Begattenden
ab. Der höchste Moment des Menschen ist dieser Moment der
Blüthe Blüthe, Reife. Neues deutsches Museum, 1791. Junius, 22, 3.. Die minder reizende, einfache Gestalt der Frucht
weist gleichsam selbst auf die Schönheit der Blüthe hin, die
sich durch sie entfalten soll. Auch eilt nur alles der Blüthe zu.
Was zuerst dem Saamenkorn entspriesst, ist noch fern von
ihrem Reiz. Der volle dicke Stengel, die breiten, aus einander
fallenden Blätter bedürfen noch einer mehr vollendeten Bil-
dung. Stufenweise steigt diese, wie sich das Auge am Stamme
erhebt; zartere Blätter sehnen sich gleichsam, sich zu verei-
nigen, und schliessen sich enger und enger, bis der Kelch das
Verlangen zu stillen scheint Göthe, über die Metamorphose der Pflanzen.. Indess ist das Geschlecht der
Pflanzen nicht von dem Schicksal gesegnet. Die Blüthe fällt
ab, und die Frucht bringt wieder den gleich rohen, und gleich
sich verfeinernden Stamm hervor. Wenn im Menschen die
Blüthe welkt; so macht sie nur jener schönern Platz, und den
Zauber der schönsten birgt unserm Auge erst die ewig uner-
forschbare Unendlichkeit. Was nun der Mensch von aussen
empfängt, ist nur Saamenkorn. Seine energische Thätigkeit
muss es, sei’s auch das schönste, erst auch zum seegenvollsten
für ihn machen. Aber wohlthätiger ist es ihm immer in dem
Grade, in welchem es kraftvoll, und eigen in sich ist. Das
höchste Ideal des Zusammenexistirens menschlicher Wesen
wäre mir dasjenige, in dem jedes nur aus sich selbst, und um
seiner selbst willen sich entwickelte. Physische und mora-
lische Natur würden diese Menschen schon noch an einander
führen, und wie die Kämpfe des Kriegs ehrenvoller sind, als
die der Arena, wie die Kämpfe erbitterter Bürger höheren
Ruhm gewähren, als die getriebener Miethsoldaten; so würde
auch das Ringen der Kräfte dieser Menschen die höchste
Energie zugleich beweisen und erzeugen.
Ist es nicht eben das, was uns an das Zeitalter Griechen-
lands und Roms, und jedes Zeitalter allgemein an ein entfern-
teres, hingeschwundenes so namenlos fesselt? Ist es nicht
vorzüglich, dass diese Menschen härtere Kämpfe mit dem
Schicksal, härtere mit Menschen zu bestehen hatten? Dass die
grössere ursprüngliche Kraft und Eigenthümlichkeit einander
begegnete, und neue wunderbare Gestalten schuf. Jedes folgende
Zeitalter — und in wieviel schnelleren Graden muss dieses Ver-
hältniss von jetzt an steigen? — muss den vorigen an Mannig-
faltigkeit nachstehen, an Mannigfaltigkeit der Natur — die
ungeheuren Wälder sind ausgehauen, die Moräste getrocknet
u. s. f. — an Mannigfaltigkeit der Menschen, durch die immer
grössere Mittheilung und Vereinigung der menschlichen Werke,
durch die beiden vorigen Gründe Eben dies bemerkt einmal Rousseau im Emil.. Dies ist eine der vorzüg-
lichsten Ursachen, welche die Idee des Neuen, Ungewöhnlichen,
Wunderbaren so viel seltner, das Staunen, Erschrecken bei-
nahe zur Schande, und die Erfindung neuer, noch unbekannter
Hülfsmittel, selbst nur plötzliche, unvorbereitete und dringende
Entschlüsse bei weitem seltner nothwendig macht. Denn theils
ist das Andringen der äusseren Umstände gegen den Menschen,
welcher mit mehr Werkzeugen, ihnen zu begegnen, versehen
ist, minder gross; theils ist es nicht mehr gleich möglich, ihnen
allein durch diejenigen Kräfte Widerstand zu leisten, welche
die Natur jedem giebt, und die er nur zu benutzen braucht;
theils endlich macht das ausgearbeitetere Wissen das Erfinden
weniger nothwendig, und das Lernen stumpft selbst die Kraft
dazu ab. Dagegen ist es unläugbar, dass, wenn die physische
Mannigfaltigkeit geringer wurde, eine bei weitem reichere und
befriedigendere intellectuelle und moralische an ihre Stelle
trat, und dass Gradationen und Verschiedenheiten von
unserm mehr verfeinten Geiste wahrgenommen, und unserm,
wenn gleich nicht eben so stark gebildeten, doch reizbaren
kultivirten Charakter ins praktische Leben übergetragen wer-
den, die auch vielleicht den Weisen des Alterthums, oder doch
wenigstens nur ihnen nicht unbemerkt geblieben wären. Es
ist im ganzen Menschengeschlecht, wie im einzelnen Menschen
gegangen. Das Gröbere ist abgefallen, das Feinere ist geblie-
ben. Und so wäre es ohne allen Zweifel seegenvoll, wenn das
Menschengeschlecht Ein Mensch wäre, oder die Kraft eines
Zeitalters ebenso als seine Bücher, oder Erfindungen auf das
folgende überginge. Allein dies ist bei weitem der Fall nicht.
Freilich besitzt nun auch unsere Verfeinerung eine Kraft, und
die vielleicht jene gerade um den Grad ihrer Feinheit an Stärke
übertrifft; aber es fragt sich, ob nicht die frühere Bildung durch
das Gröbere immer vorangehen muss? Ueberall ist doch die
Sinnlichkeit der erste Keim, wie der lebendigste Ausdruck
alles Geistigen. Und wenn es auch nicht hier der Ort ist,
selbst nur den Versuch dieser Erörterung zu wagen; so folgt
doch gewiss soviel aus dem Vorigen, dass man wenigstens die-
jenige Eigenthümlichkeit und Kraft, nebst allen Nahrungsmit-
teln derselben, welche wir noch besitzen, sorgfältigst bewachen
müsse.
Bewiesen halte ich demnach durch das vorige, dass die
wahre Vernunft dem Menschen keinen andern Zu-
stand als einen solchen wünschen kann, in welchem
nicht nur jeder Einzelne der ungebundensten Frei-
heit geniesst, sich aus sich selbst, in seiner Eigen-
thümlichkeit zu entwickeln, sondern in welchem
auch die physische Natur keine andre Gestalt von
Menschenhänden empfängt, als ihr jeder Einzelne,
nach dem Maasse seines Bedürfnisses und seiner
Neigung, nur beschränkt durch die Gränzen seiner
Kraft und seines Rechts, selbst und willkührlich
giebt. Von diesem Grundsatz darf, meines Erachtens, die
Vernunft nie mehr nachgeben, als zu seiner eignen Erhaltung
selbst nothwendig ist. Er musste daher auch jeder Politik,
und besonders der Beantwortung der Frage, von der hier die
Rede ist, immer zum Grunde liegen.
III.
Uebergang zur eigentlichen Untersuchung. Eintheilung derselben.
Sorgfalt des Staats für das positive, insbesondere physische,
Wohl der Bürger.
Umfang dieses Abschnitts. — Die Sorgfalt des Staats für das positive Wohl der
Bürger ist schädlich. Denn sie — bringt Einförmigkeit hervor; — schwächt
die Kraft; — stört und verhindert die Rückwirkung der äusseren, auch bloss
körperlichen Beschäftigungen, und der äusseren Verhältnisse überhaupt auf den
Geist und den Charakter der Menschen; — muss auf eine gemischte Menge
gerichtet werden, und schadet daher den Einzelnen durch Maassregeln, welche
auf einen jeden von ihnen, nur mit beträchtlichen Fehlern passen; — hindert die
Entwickelung der Individualität und Eigenthümlichkeit des Menschen; — er-
schwert die Staatsverwaltung selbst, vervielfältigt die dazu erforderlichen Mittel,
und wird dadurch eine Quelle mannigfaltiger Nachtheile; — verrückt endlich
die richtigen und natürlichen Gesichtspunkte der Menschen, bei den wichtigsten
Gegenständen. — Rechtfertigung gegen den Einwurf der Uebertreibung der
geschilderten Nachtheile. — Vortheile des, dem eben bestrittenen entgegenge-
setzten Systems. — Höchster, aus diesem Abschnitt gezogener Grundsatz. —
Mittel einer auf das positive Wohl der Bürger gerichteten Sorgfalt des Staats. —
Schädlichkeit derselben. — Unterschied der Fälle, wenn etwas vom Staat, als
Staat, und wenn dasselbe von einzelnen Bürgern gethan wird. — Prüfung des
Einwurfs: ob eine Sorgfalt des Staats für das positive Wohl nicht nothwendig
ist, weil es vielleicht nicht möglich ist, ohne sie, dieselben äussern Zwecke zu
erreichen, dieselben nothwendigen Resultate zu erhalten? — Beweis dieser
Möglichkeit, — vorzüglich durch freiwillige gemeinschaftliche Veranstaltungen
der Bürger. — Vorzug dieser Veranstaltungen vor den Veranstaltungen
des Staats.
In einer völlig allgemeinen Formel ausgedrückt, könnte
man den wahren Umfang der Wirksamkeit des Staats alles
dasjenige nennen, was er zum Wohl der Gesellschaft zu thun
vermöchte, ohne jenen oben ausgeführten Grundsatz zu ver-
letzen; und es würde sich unmittelbar hieraus auch die nähere
Bestimmung ergeben, dass jedes Bemühen des Staats ver-
werflich sei, sich in die Privatangelegenheiten der Bürger
überall da einzumischen, wo dieselben nicht unmittelbaren Bezug
auf die Kränkung der Rechte des einen durch den andern
haben. Indess ist es doch, um die vorgelegte Frage ganz zu
erschöpfen, nothwendig, die einzelnen Theile der gewöhn-
lichen oder möglichen Wirksamkeit der Staaten genau durch-
zugehen.
Der Zweck des Staats kann nämlich ein doppelter sein; er
kann Glück befördern, oder nur Uebel verhindern wollen, und
im letzteren Fall Uebel der Natur oder Uebel der Menschen.
Schränkt er sich auf das letztere ein, so sucht er nur Sicher-
heit, und diese Sicherheit sei es mir erlaubt, einmal allen
übrigen möglichen Zwecken, unter dem Namen des positiven
Wohlstandes vereint entgegen zu setzen. Auch die Verschie-
denheit der vom Staat angewendeten Mittel giebt seiner Wirk-
samkeit eine verschiedene Ausdehnung. Er sucht nämlich
seinen Zweck entweder unmittelbar zu erreichen, sei’s durch
Zwang — befehlende und verbietende Gesetze, Strafen — oder
durch Ermunterung und Beispiel; oder mit allen, indem er
entweder der Lage der Bürger eine demselben günstige Gestalt
giebt, und sie gleichsam anders zu handeln hindert, oder end-
lich, indem er sogar ihre Neigung mit demselben übereinstim-
mend zu machen, auf ihren Kopf oder ihr Herz zu wirken
strebt. Im ersten Falle bestimmt er zunächst nur einzelne
Handlungen; im zweiten schon mehr die ganze Handlungs-
weise; und im dritten endlich, Charakter und Denkungsart.
Auch ist die Wirkung der Einschränkung im ersten Falle am
kleinsten, im zweiten grösser, im dritten am grössesten, theils
weil auf Quellen gewirkt wird, aus welchen mehrere Handlungen
entspringen, theils weil die Möglichkeit der Wirkung selbst
mehrere Veranstaltungen erfordert. So verschieden indess hier
gleichsam die Zweige der Wirksamkeit des Staats scheinen, so
giebt es schwerlich eine Staatseinrichtung, welche nicht zu
mehreren zugleich gehörte, da z. B. Sicherheit und Wohlstand
so sehr von einander abhängen, und was auch nur einzelne
Handlungen bestimmt, wenn es durch öftere Wiederkehr
Gewohnheit hervorbringt, auf den Charakter wirkt. Es ist
2
daher sehr schwierig, hier eine, dem Gange der Untersuchung
angemessene Eintheilung des Ganzen zu finden. Am besten
wird es indess sein, zuvörderst zu prüfen, ob der Staat auch
den positiven Wohlstand der Nation oder bloss ihre Sicherheit
abzwecken soll, bei allen Einrichtungen nur auf das zu sehen,
was sie hauptsächlich zum Gegenstande, oder zur Folge
haben, und bei jedem beider Zwecke zugleich die Mittel zu
prüfen, deren der Staat sich bedienen darf.
Ich rede daher hier von dem ganzen Bemühen des Staats,
den positiven Wohlstand der Nation zu erhöhen, von aller Sorg-
falt für die Bevölkerung des Landes, den Unterhalt der Ein-
wohner, theils geradezu durch Armenanstalten, theils mittel-
bar durch Beförderung des Ackerbaues, der Industrie und des
Handels, von allen Finanz- und Münzoperationen, Ein- und
Ausfuhr-Verboten u. s. f. (in so fern sie diesen Zweck haben)
endlich allen Veranstaltungen zur Verhütung oder Herstellung
von Beschädigungen durch die Natur, kurz von jeder Einrich-
tung des Staats, welche das physische Wohl der Nation zu
erhalten, oder zu befördern die Absicht hat. Denn da das
Moralische nicht leicht um seiner selbst willen, sondern mehr
zum Behuf der Sicherheit befördert wird, so komme ich zu die-
sem erst in der Folge.
Alle diese Einrichtungen nun, behaupte ich, haben nach-
theilige Folgen, und sind einer wahren, von den höchsten, aber
immer menschlichen Gesichtspunkten ausgehenden Politik
unangemessen.
1. Der Geist der Regierung herrscht in einer jeden solchen
Einrichtung, und wie weise und heilsam auch dieser Geist sei,
so bringt er Einförmigkeit und eine fremde Handlungsweise
in der Nation hervor. Statt dass die Menschen in Gesell-
schaft traten, um ihre Kräfte zu schärfen, sollten sie auch
dadurch an ausschliessendem Besitz und Genuss verlieren; so
erlangen sie Güter auf Kosten ihrer Kräfte. Gerade die
aus der Vereinigung Mehrerer entstehende Mannigfaltigkeit ist
das höchste Gut, welches die GssellschaftGesellschaft giebt, und diese
Mannigfaltigkeit geht gewiss immer in dem Grade der Ein-
mischung des Staats verloren. Es sind nicht mehr eigentlich
die Mitglieder einer Nation, die mit sich in Gemeinschaft leben,
sondern einzelne Unterthanen, welche mit dem Staat, d. h. dem
Geiste, welcher in seiner Regierung herrscht, in Verhältniss
kommen, und zwar in ein Verhältniss, in welchem schon die
überlegene Macht des Staats das freie Spiel der Kräfte hemmt.
Gleichförmige Ursachen haben gleichförmige Wirkungen. Je
mehr also der Staat mitwirkt, desto ähnlicher ist nicht bloss
alles Wirkende, sondern auch alles Gewirkte. Auch ist dies
gerade die Absicht der Staaten. Sie wollen Wohlstand und
Ruhe. Beide aber erhält man immer in eben dem Grade leicht,
in welchem das Einzelne weniger mit einander streitet. Allein
was der Mensch beabsichtet und beabsichten muss, ist ganz
etwas anders, es ist Mannigfaltigkeit und Thätigkeit. Nur
dies giebt vielseitige und kraftvolle Charaktere, und gewiss ist
noch kein Mensch tief genug gesunken, um für sich selbst
Wohlstand und Glück der Grösse vorzuziehen. Wer aber für
andre so raisonniret, den hat man, und nicht mit Unrecht, in
Verdacht, dass er die Menschheit miskennt, und aus Menschen
Maschinen machen will.
2. Das wäre also die zweite schädliche Folge, dass diese
Einrichtungen des Staats die Kraft der Nation schwächen. So
wie durch die Form, welche aus der selbstthätigen Materie
hervorgeht, die Materie selbst mehr Fülle und Schönheit er-
hält — denn was ist sie anders, als die Verbindung dessen,
was erst stritt? eine Verbindung, zu welcher allemal die Auf-
findung neuer Vereinigungspunkte, folglich gleichsam eine
Menge neuer Entdeckungen nothwendig ist, die immer in Ver-
hältniss mit der grösseren, vorherigen Verschiedenheit steigt —
eben so wird die Materie vernichtet durch diejenige, die man
2*
ihr von aussen giebt. Denn das Nichts unterdrückt da das
Etwas. Alles im Menschen ist Organisation. Was in ihm
gedeihen soll, muss in ihm gesäet werden. Alle Kraft setzt
Enthusiasmus voraus, und nur wenige Dinge nähren diesen so
sehr, als den Gegenstand desselben als ein gegenwärtiges, oder
künftiges Eigenthum anzusehen. Nun aber hält der Mensch
das nie so sehr für sein, was er besitzt, als was er thut, und
der Arbeiter, welcher einen Garten bestellt, ist vielleicht
in einem wahreren Sinne Eigenthümer, als der müssige
Schwelger, der ihn geniesst. Vielleicht scheint dies zu allge-
meine Raisonnement keine Anwendung auf die Wirklichkeit
zu verstatten. Vielleicht scheint es sogar, als diente vielmehr
die Erweiterung vieler Wissenschaften, welche wir diesen und
ähnlichen Einrichtungen des Staats, welcher allein Versuche
im Grossen anzustellen vermag, vorzüglich danken, zur Erhö-
hung der intellectuellen Kräfte und dadurch der Kultur und des
Charakters überhaupt. Allein nicht jede Bereicherung durch
Kenntnisse ist unmittelbar auch eine Veredlung, selbst nur der
intellectuellen Kraft, und wenn eine solche wirklich dadurch
veranlasst wird, so ist dies nicht sowohl bei der ganzen Nation,
als nur vorzüglich bei dem Theile, welcher mit zur Regierung
gehört. Ueberhaupt wird der Verstand des Menschen doch,
wie jede andere seiner Kräfte, nur durch eigne Thätigkeit,
eigne Erfindsamkeit, oder eigne Benutzung fremder Erfindungen
gebildet. Anordnungen des Staats aber führen immer, mehr
oder minder, Zwang mit sich, und selbst, wenn dies der Fall
nicht ist, so gewöhnen sie den Menschen zu sehr, mehr fremde
Belehrung, fremde Leitung, fremde Hülfe zu erwarten, als
selbst auf Auswege zu denken. Die einzige Art beinah, auf
welche der StaatdieStaat die Bürger belehren kann, besteht darin, dass
er das, was er für das Beste erklärt, gleichsam das Resultat
seiner Untersuchungen, aufstellt, und entweder direkt durch
ein Gesetz, oder indirekt durch irgend eine, die Bürger bin-
dende Einrichtung anbefiehlt, oder durch sein Ansehn und
ausgesetzte Belohnungen, oder andre Ermunterungsmittel da-
zu anreizt, oder endlich es bloss durch Gründe empfiehlt; aber
welche Methode er von allen diesen befolgen mag, so entfernt
er sich immer sehr weit von dem besten Wege des Lehrens.
Denn dieser besteht unstreitig darin, gleichsam alle mögliche
Auflösungen des Problems vorzulegen, um den Menschen nur
vorzubereiten, die schicklichste selbst zu wählen, oder noch
besser, diese Auflösung selbst nur aus der gehörigen Darstel-
lung aller Hindernisse zu erfinden. Diese Lehrmethode
kann der Staat bei erwachsenen Bürgern nur auf eine negative
Weise, durch Freiheit, die zugleich Hindernisse entstehen
lässt, und zu ihrer Hinwegräumung Stärke und Geschicklich-
keit giebt; auf eine positive Weise aber nur bei den erst sich
bildenden durch eine wirkliche Nationalerziehung befolgen.
Eben so wird in der Folge der Einwurf weitläuftiger geprüft
werden, der hier leicht entstehen kann, dass es nämlich bei
Besorgung der Geschäfte, von welchen hier die Rede ist, mehr
darauf ankomme, dass die Sache geschehe, als wie der, welcher
sie verrichtet, darüber unterrichtet sei, mehr, dass der Acker
wohl gebaut werde, als dass der Ackerbauer gerade der geschick-
teste Landwirth sei.
Noch mehr aber leidet durch eine zu ausgedehnte Sorgfalt
des Staats die Energie des Handlens überhaupt, und der mora-
lische Charakter. Dies bedarf kaum einer weiteren Ausfüh-
rung. Wer oft und viel geleitet wird, kommt leicht dahin, den
Ueberrest seiner Selbstthätigkeit gleichsam freiwillig zu opfern.
Er glaubt sich der Sorge überhoben, die er in fremden Händen
sieht, und genug zu thun, wenn er ihre Leitung erwartet und
ihr folgt. Damit verrücken sich seine Vorstellungen von Ver-
dienst und Schuld. Die Idee des ersteren feuert ihn nicht an,
das quälende Gefühl der letzteren ergreift ihn seltener und
minder wirksam, da er dieselbe bei weitem leichter auf seine
Lage, und auf den schiebt, der dieser die Form gab. Kommt
nun noch dazu, dass er die Absichten des Staats nicht für völ-
lig rein hält, dass er nicht seinen Vortheil allein, sondern
wenigstens zugleich einen fremdartigen Nebenzweck beabsichtet
glaubt, so leidet nicht allein die Kraft, sondern auch die Güte
des moralischen Willens. Er glaubt sich nun nicht bloss von
jeder Pflicht frei, welche der Staat nicht ausdrücklich auflegt,
sondern sogar jeder Verbesserung seines eignen Zustandes
überhoben, die er manchmal sogar, als eine neue Gelegenheit,
welche der Staat benutzen möchte, fürchten kann. Und den
Gesetzen des Staats selbst sucht er, soviel er vermag, zu ent-
gehen, und hält jedes Entwischen für Gewinn. Wenn man
bedenkt, dass bei einem nicht kleinen Theil der Nation die
Gesetze und Einrichtungen des Staats gleichsam den Umfang
der Moralität abzeichnen; so ist es ein niederschlagender An-
blick, oft die heiligsten Pflichten und die willkührlichsten
Anordnungen von demselben Munde ausgesprochen, ihre Ver-
letzung nicht selten mit gleicher Strafe belegt zu sehen. Nicht
minder sichtbar ist jener nachtheilige Einfluss in dem Betragen
der Bürger gegen einander. Wie jeder sich selbst auf die
sorgende Hülfe des Staats verlässt, so und noch weit mehr
übergiebt er ihr das Schicksal seines Mitbürgers. Dies aber
schwächt die Theilnahme, und macht zu gegenseitiger Hülfs-
leistung träger. Wenigstens muss die gemeinschaftliche Hülfe
da am thätigsten sein, wo das Gefühl am lebendigsten ist, dass
auf ihm allein alles beruhe, und die Erfahrung zeigt auch, dass
gedrückte, gleichsam von der Regierung verlassene Theile
eines Volks immer doppelt fest unter einander verbunden sind.
Wo aber der Bürger kälter ist gegen den Bürger, da ist es
auch der Gatte gegen den Gatten, der Hausvater gegen die
Familie.
Sich selbst in allem Thun und Treiben überlassen, von
jeder fremden Hülfe entblösst, die sie nicht selbst sich ver-
schafften, würden die Menschen auch oft, mit und ohne ihre
Schuld, in Verlegenheit und Unglück gerathen. Aber das
Glück, zu welchem der Mensch bestimmt ist, ist auch kein
andres, als welches seine Kraft ihm verschafft; und diese
Lagen gerade sind es, welche den Verstand schärfen, und den
Charakter bilden. Wo der Staat die Selbstthätigkeit durch
zu specielles Einwirken verhindert, da — entstehen etwa solche
Uebel nicht? Sie entstehen auch da, und überlassen den ein-
mal auf fremde Kraft sich zu lehnen gewohnten Menschen nun
einem weit trostloseren Schicksal. Denn so wie Ringen und
thätige Arbeit das Unglück erleichtern, so und in zehnfach
höherem Grade erschwert es hoffnungslose, vielleicht getäuschte
Erwartung. Selbst den besten Fall angenommen, gleichen die
Staaten, von denen ich hier rede, nur zu oft den Aerzten,
welche die Krankheit nähren und den Tod entfernen. Ehe es
Aerzte gab, kannte man nur Gesundheit oder Tod.
3. Alles, womit sich der Mensch beschäftigt, wenn es gleich
nur bestimmt ist, physische Bedürfnisse mittelbar oder unmit-
telbar zu befriedigen, oder überhaupt äussere Zwecke zu er-
reichen, ist auf das genaueste mit innern Empfindungen ver-
knüpft. Manchmal ist auch, neben dem äusseren Endzweck,
noch ein innerer, und manchmal ist sogar dieser der eigentlich
beabsichtete, jener nur, nothwendig oder zufällig, damit ver-
bunden. Je mehr Einheit der Mensch besitzt, desto freier ent-
springt das äussere Geschäft, das er wählt, aus seinem innern
Sein; und desto häufiger und fester knüpft sich dieses an jenes
da an, wo dasselbe nicht frei gewählt wurde. Daher ist der
interessante Mensch in allen Lagen und allen Geschäften in-
teressant; daher blüht er zu einer entzückenden Schönheit
auf in einer Lebensweise, die mit seinem Charakter über-
einstimmt.
So liessen sich vielleicht aus allen Bauern und Handwer-
kern Künstler bilden, d. h. Menschen, die ihr Gewerbe um
ihres Gewerbes willen liebten, durch eigen gelenkte Kraft und
eigne Erfindsamkeit verbesserten, und dadurch ihre intellec-
tuellen Kräfte kultivirten, ihren Charakter veredelten, ihre
Genüsse erhöhten. So würde die Menschheit durch eben die
Dinge geadelt, die jetzt, wie schön sie auch an sich sind, so oft
dazu dienen, sie zu entehren. Je mehr der Mensch in Ideen
und Empfindungen zu leben gewohnt ist, je stärker und feiner
seine intellectuelle und moralische Kraft ist; desto mehr sucht
er allein solche äussere Lagen zu wählen, welche zugleich dem
innern Menschen mehr Stoff geben, oder denjenigen, in welche
ihn das Schicksal wirft, wenigstens solche Seiten abzuge-
winnen. Der Gewinn, welchen der Mensch an Grösse und
Schönheit einerntet, wenn er unaufhörlich dahin strebt, dass
sein inneres Dasein immer den ersten Platz behaupte, dass es
immer der erste Quell, und das letzte Ziel alles Wirkens, und
alles Körperliche und Aeussere nur Hülle und Werkzeug des-
selben sei, ist unabsehlich.
Wie sehr zeichnet sich nicht, um ein Beispiel zu wählen, in
der Geschichte der Charakter aus, welchen der ungestörte
Landbau in einem Volke bildet. Die Arbeit, welche es dem
Boden widmet, und die Ernte, womit derselbe es wieder
belohnt, fesseln es süss an seinen Acker und seinen Heerd;
Theilnahme der segenvollen Mühe und gemeinschaftlicher
Genuss des Gewonnenen schlingen ein liebevolles Band um
jede Familie, von dem selbst der mitarbeitende Stier nicht ganz
ausgeschlossen wird. Die Frucht, die gesäet und geerntet wer-
den muss, aber alljährlich wiederkehrt, und nur selten die
Hoffnung täuscht, macht geduldig, vertrauend und sparsam;
das unmittelbare Empfangen aus der Hand der Natur, das
immer sich aufdringende Gefühl: dass, wenn gleich die Hand
des Menschen den Saamen ausstreuen muss, doch nicht sie es
ist, von welcher Wachsthum und Gedeihen kommt; die ewige
Abhängigkeit von günstiger und ungünstiger Witterung,
flösst den Gemüthern bald schauderhafte, bald frohe Ahndungen
höherer Wesen, wechselweis Furcht und Hoffnung ein, und
führt zu Gebet und Dank; das lebendige Bild der einfachsten
Erhabenheit, der ungestörtesten Ordnung, und der mildesten
Güte bildet die Seelen einfach gross, sanft, und der Sitte und
dem Gesetz froh unterworfen. Immer gewohnt hervorzubringen,
nie zu zerstören, ist der Ackerbau friedlich, und von Belei-
digung und Rache fern, aber erfüllt von dem Gefühl der Unge-
rechtigkeit eines ungereizten Angriffs und gegen jeden Störer
seines Friedens mit unerschrockenem Muth beseelt.
Allein freilich ist Freiheit die nothwendige Bedingung, ohne
welche selbst das seelenvollste Geschäft keine heilsamen
Wirkungen dieser Art hervor zu bringen vermag. Was nicht
von dem Menschen selbst gewählt, worin er auch nur einge-
schränkt und geleitet wird, das geht nicht in sein Wesen über,
das bleibt ihm ewig fremd, das verrichtet er nicht eigentlich
mit menschlicher Kraft, sondern mit mechanischer Fertigkeit.
Die Alten, vorzüglich die Griechen, hielten jede Beschäftigung,
welche zunächst die körperliche Kraft angeht, oder Erwerbung
äusserer Güter, nicht innere Bildung, zur Absicht hat, für
schädlich und entehrend. Ihre menschenfreundlichsten Philo-
sophen billigten daher die Sklaverei, gleichsam um durch ein
ungerechtes und barbarisches Mittel einem Theile der Mensch-
heit durch Aufopferung eines andern die höchste Kraft und
Schönheit zu sichern. Allein den Irrthum, welcher diesem
ganzen Raisonnement zum Grunde liegt, zeigen Vernunft und
Erfahrung leicht. Jede Beschäftigung vermag den Menschen
zu adeln, ihm eine bestimmte, seiner würdige Gestalt zu geben.
Nur auf die Art, wie sie betrieben wird, kommt es an; und
hier lässt sich wohl als allgemeine Regel annehmen, dass sie
heilsame Wirkungen äussert, so lange sie selbst, und die darauf
verwandte Energie vorzüglich die Seele füllt, minder wohl-
thätige, oft nachtheilige hingegen, wenn man mehr auf das
Resultat sieht, zu dem sie führt, und sie selbst nur als Mittel
betrachtet. Denn alles, was in sich selbst reizend ist, erweckt
Achtung und Liebe, was nur als Mittel Nutzen verspricht,
bloss Interesse; und nun wird der Mensch durch Achtung und
Liebe eben so sehr geadelt, als er durch Interesse in Gefahr
ist, entehrt zu werden. Wenn nun der Staat eine solche posi-
tive Sorgfalt übt, als die, von der ich hier rede, so kann er
seinen Gesichtspunkt nur auf die Resultate richten, und nun
die Regeln feststellen, deren Befolgung der Vervollkommnung
dieser am zuträglichsten ist.
Dieser beschränkte Gesichtspunkt richtet nirgends grösseren
Schaden an, als wo der wahre Zweck des Menschen völlig mora-
lisch, oder intellectuell ist, oder doch die Sache selbst, nicht
ihre Folgen beabsichtet, und diese Folgen nur nothwendig oder
zufällig damit zusammenhängen. So ist es bei wissenschaft-
lichen Untersuchungen, und religiösen Meinungen, so mit
allen Verbindungen der Menschen unter einander, und mit der
natürlichsten, die für den einzelnen Menschen, wie für den
Staat, die wichtigste ist, mit der Ehe.
Eine Verbindung von Personen beiderlei Geschlechts, welche
sich gerade auf die Geschlechtsverschiedenheit gründet, wie
vielleicht die Ehe am richtigsten definirt werden könnte, lässt
sich auf eben so mannigfaltige Weise denken, als mannigfaltige
Gestalten die Ansicht jener Verschiedenheit, und die, aus der-
selben entspringenden Neigungen des Herzens und Zwecke der
Vernunft anzunehmen vermögen; und bei jedem Menschen
wird sein ganzer moralischer Charakter, vorzüglich die Stärke,
und die Art seiner Empfindungskraft darin sichtbar sein. Ob
der Mensch mehr äussere Zwecke verfolgt, oder lieber sein
innres Wesen beschäftigt? ob sein Verstand thätiger ist oder
sein Gefühl? ob er lebhaft umfasst und schnell verlässt; oder
langsam eindringt und treu bewahrt? ob er losere Bande
knüpft, oder sich enger anschliesst? ob er bei der innigsten
Verbindung mehr oder minder Selbstständigkeit behält? und
eine unendliche Menge andrer Bestimmungen modifiziren anders
und anders sein Verhältniss im ehelichen Leben. Wie das-
selbe aber auch immer bestimmt sein mag; so ist die Wirkung
davon auf sein Wesen und seine Glückseligkeit unverkennbar,
und ob der Versuch die Wirklichkeit nach seiner innern Stim-
mung zu finden oder zu bilden, glücke oder misslinge? davon
hängt grösstentheils die höhere Vervollkommnung, oder die
Erschlaffung seines Wesens ab. Vorzüglich stark ist dieser
Einfluss bei den interessantesten Menschen, welche am zar-
testen und leichtesten auffassen, und am tiefsten bewahren.
Zu diesen kann man mit Recht im Ganzen mehr das weibliche,
als das männliche Geschlecht rechnen, und daher hängt der
Charakter des ersteren am meisten von der Art der Familien-
verhältnisse in einer Nation ab. Von sehr vielen äusseren
Beschäftigungen gänzlich frei; fast nur mit solchen umgeben,
welche das innere Wesen beinah ungestört sich selbst über-
lassen; stärker durch das, was sie zu sein, als was sie zu thun
vermögen; ausdrucksvoller durch die stille, als die geäusserte
Empfindung; mit aller Fähigkeit des unmittelbarsten, zeichen-
losesten Ausdrucks, bei dem zarteren Körperbau, dem beweg-
licheren Auge, der mehr ergreifenden Stimme, reicher ver-
sehen; im Verhältniss gegen andre mehr bestimmt, zu erwar-
ten und aufzunehmen, als entgegen zu kommen; schwächer
für sich, und doch nicht darum, sondern aus Bewunderung der
fremden Grösse und Stärke inniger anschliessend; in der Ver-
bindung unaufhörlich strebend, mit dem vereinten Wesen zu
empfangen, das Empfangene in sich zu bilden, und gebildet
zurück zu geben; zugleich höher von dem Muthe beseelt,
welchen Sorgfalt der Liebe, und Gefühl der Stärke einflösst,
die nicht dem Widerstande aber dem Erliegen im Dulden
trotzt — sind die Weiber eigentlich dem Ideale der Mensch-
heit näher, als der Mann; und wenn es nicht unwahr ist,
dass sie es seltner erreichen, als er, so ist es vielleicht nur,
weil es überall schwerer ist, den unmittelbaren steilen Pfad,
als den Umweg zu gehen. Wie sehr aber nun ein Wesen, das
so reizbar, so in sich Eins ist, bei dem folglich nichts ohne
Wirkung bleibt, und jede Wirkung nicht einen Theil son-
dern das Ganze ergreift, durch äussre Missverhältnisse gestört
wird, bedarf nicht ferner erinnert zu werden. Dennoch hängt
von der Ausbildung des weiblichen Charakters in der Gesell-
schaft so unendlich viel ab. Wenn es keine unrichtige Vor-
stellung ist, dass jede Gattung der Trefflichkeit sich — wenn
ich so sagen darf — in einer Art der Wesen darstellt; so
bewahrt der weibliche Charakter den ganzen Schatz der
Sittlichkeit.
Nach Freiheit strebt der Mann, das Weib nach Sitte Göthe’s Torquato Tasso II. 1.,
und wenn, nach diesem tief und wahr empfundenen Ausspruch
des Dichters, der Mann sich bemüht, die äusseren Schranken
zu entfernen, welche dem Wachsthum hinderlich sind, so zieht
die sorgsame Hand der Frauen die wohlthätige innere, in
welcher allein die Fülle der Kraft sich zur Blüthe zu läutern
vermag, und zieht sie um so feiner, als die Frauen das innre
Dasein des Menschen tiefer empfinden, seine mannigfaltigen
Verhältnisse feiner durchschauen, als ihnen jeder Sinn am
willigsten zu Gebote steht, und sie des Vernünftelns überhebt,
das so oft die Wahrheit verdunkelt.
Sollte es noch nothwendig scheinen, so würde auch die
Geschichte diesem Raisonnement Bestätigung leihen, und die
Sittlichkeit der Nationen mit der Achtung des weiblichen
Geschlechts überall in enger Verbindung zeigen. Es erhellt
demnach aus dem Vorigen, dass die Wirkungen der Ehe eben
so mannigfaltig sind, als der Charakter der Individuen; und
dass es also die nachtheiligsten Folgen haben muss, wenn der
Staat eine, mit der jedesmaligen Beschaffenheit der Individuen
so eng verschwisterte Verbindung, durch Gesetze zu bestim-
men, oder durch seine Einrichtungen, von andern Dingen, als
von der blossen Neigung, abhängig zu machen versucht. Dies
muss um so mehr der Fall sein, als er bei diesen Bestimmungen
beinah nur auf die Folgen, auf Bevölkerung, Erziehung der
Kinder u. s. f. sehen kann. Zwar lässt sich gewiss darthun,
dass dass eben diese Dinge auf dieselben Resultate mit der
höchsten Sorgfalt für das schönste innere Dasein führen. Denn
bei sorgfältig angestellten Versuchen, hat man die ungetrennte,
dauernde Verbindung Eines Mannes mit Einer Frau der
Bevölkerung am zuträglichsten gefunden, und unläugbar ent-
springt gleichfalls keine andre aus der wahren, natürlichen,
unverstimmten Liebe. Eben so wenig führt diese ferner auf
andre, als eben die Verhältnisse, welche die Sitte und das
Gesetz bei uns mit sich bringen; Kindererzeugung, eigne
Erziehung, Gemeinschaft des Lebens, zum Theil der Güter,
Anordnung der äussern Geschäfte durch den Mann, Verwal-
tung des Hauswesens durch die Frau. Allein, der Fehler
scheint mir darin zu liegen, dass das Gesetz befiehlt, da
doch ein solches Verhältniss nur aus Neigung, nicht aus
äussern Anordnungen entstehn kann, und wo Zwang oder Lei-
tung der Neigung widersprechen, diese noch weniger zum
rechten Wege zurückkehrt. Daher, dünkt mich, sollte der
Staat nicht nur die Bande freier und weiter machen, sondern
— wenn es mir erlaubt ist, hier, wo ich nicht von der Ehe über-
haupt, sondern einem einzelnen, bei ihr sehr in die Augen
fallenden Nachtheil einschränkender Staatseinrichtungen rede,
allein nach den im Vorigen gewagten Behauptungen zu ent-
scheiden — überhaupt von der Ehe seine ganze Wirksamkeit
entfernen, und dieselbe vielmehr der freien Willkühr der
Individuen, und der von ihnen errichteten mannigfaltigen Ver-
träge, sowohl überhaupt, als in ihren Modifikationen, gänzlich
überlassen. Die Besorgniss, dadurch alle Familienverhältnisse
zu stören, oder vielleicht gar ihre Entstehung überhaupt zu
verhindern — so gegründet dieselbe auch, bei diesen oder jenen
Lokalumständen, sein möchte — würde mich, in so fern ich
allein auf die Natur der Menschen und Staaten im Allgemeinen
achte, nicht abschrecken. Denn nicht selten zeigt die Erfah-
rung, dass gerade, was das Gesetz löst, die Sitte bindet; die
Idee des äussern Zwangs ist einem, allein auf Neigung und
innrer Pflicht beruhenden Verhältniss, wie die Ehe, völlig
fremdartig; und die Folgen zwingender Einrichtungen ent-
sprechen der Absicht schlechterdings nicht.
[4. Die Sorgfalt des Staats für das positive Wohl der Bürger ist
ferner darum schädlich, weil sie auf eine gemischte Menge gerichtet wer-
den muss, und daher den Einzelnen durch Maassregeln schadet, welche
auf einen Jeden von ihnen nur mit beträchtlichen Fehlern passen.
5. Sie hindert die Entwicklung der Individualität und Eigenthüm-
lichkeit des Menschen] . . . . . . . . . . . . . . .
in dem moralischen und überhaupt praktischen Leben des
Menschen, sofern er nur auch hier gleichsam die Regeln
beobachtet — die sich aber vielleicht allein auf die Grund-
sätze des Rechts beschränken — überall den höchsten
Gesichtspunkt der eigenthümlichsten Ausbildung seiner
selbst und anderer vor Augen hat, überall von dieser rei-
nen Absicht geleitet wird, und vorzüglich jedes andere Inter-
esse diesem ohne alle Beimischung sinnlicher Beweggründe
erkannten Gesetze unterwirft. Allein alle Seiten, welche
der Mensch zu kultiviren vermag, stehen in einer wunderbar
engen Verknüpfung, und wenn schon in der intellektuellen
Welt der Zusammenhang wenn nicht inniger, doch wenig-
stens deutlicher und bemerkbarer ist, als in der physischen; so
ist er es noch bei weitem mehr in der moralischen. Daher
müssen sich die Menschen unter einander verbinden, nicht um
an Eigenthümlichkeit, aber an ausschliessendem Isolirtsein
zu verlieren; die Verbindung muss nicht ein Wesen in das
andre verwandeln, aber gleichsam Zugänge von einem zum
andern eröffnen; was jeder für sich besitzt, muss er mit dem,
von andern Empfangenen vergleichen, und danach modificiren,
nicht aber dadurch unterdrücken lassen. Denn wie in dem
Reiche des Intellektuellen nie das Wahre, so streitet in dem
Gebiete der Moralität nie das des Menschen wahrhaft Wür-
dige mit einander; und enge und mannigfaltige Verbindungen
eigenthümlicher Charaktere mit einander sind daher eben so
nothwendig, um zu vernichten, was nicht neben einander bestehen
kann, und daher auch für sich nicht zu Grösse und Schönheit
führt, als das, dessen Dasein gegenseitig ungestört bleibt, zu
erhalten, zu nähren, und zu neuen, noch schöneren Geburten zu
befruchten. Daher scheint ununterbrochenes Streben, die
innerste Eigenthümlichkeit des andern zu fassen, sie zu benutzen,
und, von der innigsten Achtung für sie, als die Eigenthümlich-
keit eines freien Wesens, durchdrungen, auf sie zu wirken —
ein Wirken, bei welchem jene Achtung nicht leicht ein andres
Mittel erlauben wird, als sich selbst zu zeigen und gleichsam
vor den Augen des andern mit ihm zu vergleichen — der
höchste Grundsatz der Kunst des Umganges, welche vielleicht
unter allen am meisten bisher noch vernachlässigt worden ist.
Wenn aber auch diese Vernachlässigung leicht eine Art der
Entschuldigung davon borgen kann, dass der Umgang eine
Erholung nicht eine mühevolle Arbeit sein soll, und dass
leider sehr vielen Menschen kaum irgend eine interessante
eigenthümliche Seite abzugewinnen ist; so sollte doch jeder zu
viel Achtung für sein eignes Selbst besitzen, um eine andre
Erholung, als den Wechsel interessanter Beschäftigung, und
noch dazu eine solche zu suchen, welche gerade seine edelsten
Kräfte unthätig lässt, und zu viel Ehrfurcht für die Mensch-
heit, um auch nur Eins ihrer Mitglieder für völlig unfähig zu
erklären, benutzt, oder durch Einwirkung anders modificirt zu
werden. Wenigstens aber darf derjenige diesen Gesichtspunkt
nicht übersehen, welcher sich Behandlung der Menschen und
Wirken auf sie zu einem eigentlichen Geschäft macht, und in-
sofern folglich der Staat, bei positiver Sorgfalt auch nur für
das, mit dem innern Dasein immer eng verknüpfte äussere und
physische Wohl, nicht umhin kann, der Entwickelung der In-
dividualität hinderlich zu werden, so ist dies ein neuer Grund
eine solche Sorgfalt nie, ausser dem Fall einer absoluten Noth-
wendigkeit, zu verstatten.
Dies möchten etwa die vorzüglichsten nachtheiligen Folgen
sein, welche aus einer positiven Sorgfalt des Staats für den
Wohlstand der Bürger entspringen, und die zwar mit gewissen
Arten der Ausübung derselben vorzüglich verbunden, aber über-
haupt doch von ihr meines Erachtens nicht zu trennen sind. Ich
wollte jetzt nur von der Sorgfalt für das physische Wohl
reden, und gewiss bin ich auch überall von diesem Gesichts-
punkte ausgegangen, und habe alles genau abgesondert, was
sich nur auf das moralische allein bezieht. Allein ich erinnerte
gleich anfangs, dass der Gegenstand selbst keine genaue Tren-
nung erlaubt, und dies möge also zur Entschuldigung dienen,
wenn sehr Vieles des im Vorigen entwickelten Raisonnements
von der ganzen positiven Sorgfalt überbaupt gilt. Ich habe
indess bis jetzt angenommen, dass die Einrichtungen des
Staats, von welchen ich hier rede, schon wirklich getroffen
wären, und ich muss daher noch von einigen Hindernissen reden,
welche sich eigentlich bei der Anordnung selbst zeigen.
6. Nichts wäre gewiss bei dieser so nothwendig, als die
Vortheile, die man beabsichtet, gegen die Nachtheile, und
vorzüglich gegen die Einschränkungen der Freiheit, welche
immer damit verbunden sind, abzuwägen. Allein eine
solche Abwägung lässt sich nur sehr schwer, und genau
und vollständig vielleicht schlechterdings nicht zu Stande
bringen. Denn jede einschränkende Einrichtung kollidirt mit
der freien und natürlichen Aeusserung der Kräfte, bringt bis
ins Unendliche gehend neue Verhältnisse hervor, und so lässt
sich die Menge der folgenden, welche sie nach sich zieht, (selbst
den gleichmässigsten Gang der Begebenheiten angenommen,
und alle irgend wichtige unvermuthete Zufälle, die doch nie
fehlen, abgerechnet) nicht voraussehen. Jeder, der sich mit
der höheren Staatsverwaltung zu beschäftigen Gelegenheit hat,
fühlt gewiss aus Erfahrung, wie wenig Maassregeln eigentlich
eine unmittelbare, absolute, wie viele hingegen eine bloss rela-
tive, mittelbare, von andern vorhergegangenen abhängende
Nothwendigkeit haben. Dadurch wird daher eine bei weitem
grössere Menge von Mitteln nothwendig, und eben diese Mit-
tel werden der Erreichung des eigentlichen Zweckes ent-
zogen. Nicht allein dass ein solcher Staat grösserer Einkünfte
bedarf, sondern er erfordert auch künstlichere Anstalten zur
Erhaltung der eigentlichen politischen Sicherheit, die Theile
hängen weniger von selbst fest zusammen, die Sorgfalt des
Staats muss bei weitem thätiger sein. Daraus entspringt nun
eine gleich schwierige, und leider nur zu oft vernachlässigte
Berechnung, ob die natürlichen Kräfte des Staats zu Herbei-
schaffung aller nothwendig erforderlichen Mittel hinreichend
sind? und fällt diese Berechnung unrichtig aus, ist ein wahres
Missverhältniss vorhanden, so müssen neue künstliche Veran-
staltungen die Kräfte überspannen, ein Uebel, an welchem nur
zu viele neuere Staaten, wenn gleich nicht allein aus dieser
Ursache, kranken.
Vorzüglich ist hiebei ein Schade nicht zu übersehen, weil
er den Menschen und seine Bildung so nahe betrifft, nämlich
dass die eigentliche Verwaltung der Staatsgeschäfte dadurch
eine Verflechtung erhält, welche, um nicht Verwirrung zu
werden, eine unglaubliche Menge detaillirter Einrichtungen
bedarf und eben so viele Personen beschäftigt. Von diesen
haben indess doch die meisten nur mit Zeichen und Formeln
3
der Dinge zu thun. Dadurch werden nun nicht bloss viele,
vielleicht treffliche Köpfe dem Denken, viele, sonst nützlicher
beschäftigte Hände der reellen Arbeit entzogen; sondern ihre
Geisteskräfte selbst leiden durch diese zum Theil leere, zum
Theil zu einseitige Beschäftigung. Es entsteht nun ein neuer
und gewöhnlicher Erwerb, Besorgung von Staatsgeschäften,
und dieser macht die Diener des Staats so viel mehr von dem
regierenden Theile des Staats, der sie besoldet, als eigentlich
von der Nation abhängig. Welche ferneren Nachtheile aber
noch hieraus erwachsen, welches Warten auf die Hülfe des
Staats, welcher Mangel der Selbstständigkeit, welche falsche
Eitelkeit, welche Unthätigkeit sogar und Dürftigkeit, beweist
die Erfahrung am unwidersprechlichsten. Dasselbe Uebel,
aus welchem dieser Nachtheil entspringt, wird wieder von dem-
selben wechselsweis hervorgebracht. Die, welche einmal die
Staatsgeschäfte auf diese Weise verwalten, sehen immer mehr
und mehr von der Sache hinweg und nur auf die Form hin,
bringen immerfort bei dieser, vielleicht wahre, aber nur, mit
nicht hinreichender Hinsicht auf die Sache selbst, und daher
oft zum Nachtheil dieser ausschlagende Verbesserungen an,
und so entstehen neue Formen, neue Weitläuftigkeiten, oft
neue einschränkende Anordnungen, aus welchen wiederum sehr
natürlich eine neue Vermehrung der Geschäftsmänner erwächst.
Daher nimmt in den meisten Staaten von Jahrzehend zu Jahr-
zehend das Personale der Staatsdiener, und der Umfang
der Registraturen zu, und die Freiheit der Unterthanen ab.
Bei einer solchen Verwaltung kommt freilich alles auf die
genaueste Aufsicht, auf die pünktlichste und ehrlichste Besor-
gung an, da die Gelegenheiten, in beiden zu fehlen, so viel
mehr sind. Daher sucht man insofern nicht mit Unrecht, alles
durch so viel Hände, als möglich gehen zu lassen, und selbst
die Möglichkeit von Irrthümern oder Unterschleifen zu ent-
fernen. Dadurch aber werden die Geschäfte beinah völlig
mechanisch, und die Menschen Maschinen; und die wahre
Geschicklichkeit und Redlichkeit nehmen immer mit dem Zu-
trauen zugleich ab. Endlich werden, da die Beschäftigungen,
von denen ich hier rede, eine grosse Wichtigkeit erhalten, und
um konsequent zu sein, allerdings erhalten müssen, dadurch
überhaupt dem Gesichtspunkte des Wichtigen und Unwich-
tigen, Ehrenvollen und Verächtlichen, des letzteren und der
untergeordneten Endzwecke verrückt. Und da die Nothwen-
digkeit von Beschäftigungen dieser Art auch wiederum durch
manche leicht in die Augen fallende heilsame Folgen für ihre
Nachtheile entschädigt; so halte ich mich hiebei nicht länger
auf, und gehe nunmehr zu der letzten Betrachtung, zu welcher
alles bisher Entwickelte, gleichsam als eine Vorbereitung, noth-
wendig war, zu der Verrückung der Gesichtspunkte überhaupt
über, welche eine positive Sorgfalt des Staats veranlasst.
7. Die Menschen — um diesen Theil der Untersuchung
mit einer allgemeinen, aus den höchsten Rücksichten geschöpf-
ten Betrachtung zu schliessen — werden um der Sachen, die
Kräfte um der Resultate willen vernachlässigt. Ein Staat
gleicht nach diesem System mehr einer aufgehäuften Menge
von leblosen und lebendigen Werkzeugen der Wirksamkeit und
des Genusses, als einer Menge thätiger und geniessender
Kräfte. Bei der Vernachlässigung der Selbstthätigkeit der
handelnden Wesen scheint nur auf Glückseligkeit und Genuss
gearbeitet zu sein. Allein wenn, da über Glückseligkeit und
Genuss nur die Empfindung des Geniessenden richtig urtheilt,
die Berechnung auch richtig wäre; so wäre sie dennoch immer
weit von der Würde der Menschheit entfernt. Denn woher
käme es sonst, dass eben dies nur Ruhe abzweckende System
auf den menschlich höchsten Genuss, gleichsam aus Besorgniss
vor seinem Gegentheil, willig Verzicht thut? Der Mensch
geniesst am meisten in den Momenten, in welchen er sich in
dem höchsten Grade seiner Kraft und seiner Einheit fühlt.
3*
Freilich ist er auch dann dem höchsten Elend am nächsten.
Denn auf den Moment der Spannung vermag nur eine gleiche
Spannung zu folgen, und die Richtung zum Genuss oder zum
Entbehren liegt in der Hand des unbesiegten Schicksals.
Allein wenn das Gefühl des Höchsten im Menschen nur Glück
zu heissen verdient, so gewinnt auch Schmerz und Leiden eine
veränderte Gestalt. Der Mensch in seinem Innern wird der
Sitz des Glücks und des Unglücks, und er wechselt ja nicht
mit der wallenden Fluth, die ihn trägt. Jenes System führt,
meiner Empfindung nach, auf ein fruchtloses Streben, dem
Schmerz zu entrinnen. Wer sich wahrhaft auf Genuss ver-
steht, erduldet den Schmerz, der doch den Flüchtigen ereilt,
und freuet sich unaufhörlich am ruhigen Gange des Schick-
sals; und der Anblick der Grösse fesselt ihn süss, es mag ent-
stehen oder vernichtet werden. So kommt er — doch freilich
nur der Schwärmer in andern, als seltnen Momenten — selbst
zu der Empfindung, dass sogar der Moment des Gefühls der
eignen Zerstörung ein Moment des Entzückens ist.
Vielleicht werde ich beschuldigt, die hier aufgezählten Nach-
theile übertrieben zu haben; allein ich musste die volle Wirkung
des Einmischens des Staats — von dem hier die Rede ist —
schildern, und es versteht sich von selbst, dass jene Nachtheile,
nach dem Grade und nach der Art dieses Einmischens selbst,
sehr verschieden sind. Ueberhaupt sei mir die Bitte erlaubt,
bei allem, was diese Blätter Allgemeines enthalten, von Ver-
gleichungen mit der Wirklichkeit gänzlich zu abstrahiren. In
dieser findet man selten einen Fall voll und rein, und selbst
dann sieht man nicht abgeschnitten und für sich die einzelnen
Wirkungen einzelner Dinge. Dann darf man auch nicht ver-
gessen, dass, wenn einmal schädliche Einflüsse vorhanden sind,
das Verderben mit sehr beschleunigten Schritten weiter eilt.
Wie grössere Kraft, mit grösserer vereint, doppelt grössere
hervorbringt, so artet auch geringere mit geringerer in doppelt
geringere aus. Welcher Gedanke selbst wagt es nun, die
Schnelligkeit dieser Fortschritte zu begleiten? Indess auch
sogar zugegeben, die Nachtheile wären minder gross; so, glaube
ich, bestätigt sich die vorgetragene Theorie doch noch bei wei-
tem mehr durch den wahrlich namenlosen Seegen, der aus ihrer
Befolgung — wenn diese, wie freilich manches zweifeln lässt,
je ganz möglich wäre — entstehen müsste. Denn die immer
thätige, nie ruhende, den Dingen innewohnende Kraft kämpft
gegen jede, ihr schädliche Einrichtung, und befördert jede, ihr
heilsame; so dass es im höchsten Verstande wahr ist, dass
auch der angestrengteste Eifer nie so viel Böses zu wirken
vermag, als immer und überall von selbst Gutes hervorgeht.
Ich könnte hier ein erfreuliches Gegenbild eines Volkes
aufstellen, das in der höchsten und ungebundensten Freiheit,
und in der grössesten Mannigfaltigkeit seiner eignen und der
übrigen Verhältnisse um sich her existirte; ich könnte zeigen,
wie hier, noch in eben dem Grade schönere, höhere und wun-
derbarere Gestalten der Mannigfaltigkeit und der Originalität
erscheinen müssten, als in dem, schon so unnennbar reizen-
den Alterthum, in welchem die Eigenthümlichkeit eines
minder kultivirten Volks allemal roher und gröber ist, in
welchem mit der Feinheit auch allemal die Stärke, und selbst
der Reichthum des Charakters wächst, und in welchem, bei der
fast gränzenlosen Verbindung aller Nationen und Welttheile
mit einander, schon die Elemente gleichsam zahlreicher sind;
zeigen welche Stärke hervorblühen müsste, wenn jedes Wesen
sich aus sich selbst organisirte, wenn es, ewig von den schön-
sten Gestalten umgeben, mit uneingeschränkter und ewig
durch die Freiheit ermunterter Selbstthätigkeit diese Gestalten
in sich verwandelte; wie zart und fein das innere Dasein des
Menschen sich ausbilden, wie es die angelegentlichere Beschäf-
tigung desselben werden, wie alles Physische und Aeussere in
das Innere moralische und intellektuelle übergehen, und das
Band, welches beide Naturen im Menschen verknüpft, an
Dauer gewinnen würde, wenn nichts mehr die freie Rückwir-
kung aller menschlichen Beschäftigungen auf den Geist und
den Charakter störte; wie keiner dem andern gleichsam auf-
geopfert würde, wie jeder seine ganze, ihm zugemessene Kraft
für sich behielte, und ihn eben darum eine noch schönere
Bereitwilligkeit begeisterte, ihr eine, für andre wohlthätige
Richtung zu geben; wie, wenn jeder in seiner Eigenthümlich-
keit fortschritte, mannigfaltigere und feinere Nüancen des
schönen menschlichen Charakters entstehen, und Einseitigkeit
um so seltener sein würde, als sie überhaupt immer nur eine
Folge der Schwäche und Dürftigkeit ist, und als jeder, wenn
nichts mehr den andern zwänge, sich ihm gleich zu machen,
durch die immer fortdauernde Nothwendigkeit der Verbindung
mit andern, dringender veranlasst werden würde, sich nach
ihnen anders und anders selbst zu modificiren; wie in diesem
Volke keine Kraft und keine Hand für die Erhöhung und den
Genuss des Menschendaseins verloren ginge; endlich zeigen,
wie schon dadurch eben so auch die Gesichtspunkte aller nun
dahin gerichtet, und von jedem andern falschen, oder doch min-
der der Menschheit würdigen Endzweck abgewandt werden
würden. Ich könnte dann damit schliessen, aufmerksam darauf
zu machen, wie diese wohlthätigen Folgen einer solchen Kon-
stitution, unter einem Volke, welches es sei, ausgestreut, selbst
dem freilich nie ganz tilgbaren Elende der Menschen, den Ver-
heerungen der Natur, dem Verderben der feindseligen Neigungen,
und den Ausschweifungen einer zu üppigen Genussesfülle, einen
unendlich grossen Theil seiner Schrecklichkeit nehmen würden.
Allein ich begnüge mich, das Gegenbild geschildert zu haben;
es ist mir genug, Ideen hinzuwerfen, damit ein reiferes Urtheil
sie prüfe.
Wenn ich aus dem ganzen bisherigen Raisonnement das
letzte Resultat zu ziehen versuche; so muss der erste
Grundsatz dieses Theils der gegenwärtigen Untersuchung
der sein:
der Staat enthalte sich aller Sorgfalt für den positiven
Wohlstand der Bürger, und gehe keinen Schritt weiter,
als zu ihrer Sicherstellung gegen sich selbst und gegen
auswärtige Feinde nothwendig ist; zu keinem andern
Endzwecke beschränke er ihre Freiheit.
Ich müsste mich jetzt zu den Mitteln wenden, durch welche
eine solche Sorgfalt thätig geübt wird; allein, da ich sie selbst,
meinen Grundsätzen gemäss, gänzlich missbillige, so kann ich
hier von diesen Mitteln schweigen, und mich begnügen nur
allgemein zu bemerken, dass die Mittel, wodurch die Freiheit
zum Behuf des Wohlstandes beschränkt wird, von sehr man-
nigfaltiger Natur sein können, direkte: Gesetze, Ermun-
terungen, Preise; indirekte: wie dass der Landesherr selbst
der beträchtlichste Eigenthümer ist, und dass er einzelnen
Bürgern überwiegende Rechte, Monopolien u. s. f. einräumt,
und dass alle, einen, obgleich dem Grade und der Art nach,
sehr verschiedenen Nachtheil mit sich führen. Wenn man hier
auch gegen das Erstere und Letztere keinen Einwurf erregte;
so scheint es dennoch sonderbar, dem Staate wehren zu wollen,
was jeder Einzelne darf, Belohnungen aussetzen, unterstützen,
Eigenthümer sein. Wäre es in der Ausübung möglich, dass
der Staat eben so eine zwiefache Person ausmachte, als er es
in der Abstraktion thut; so wäre hiergegen nichts zu erinnern.
Es wäre dann gerade nicht anders, als wenn eine Privatperson
einen mächtigen Einfluss erhielte. Allein da, jenen Unterschied
zwischen Theorie und Praxis noch abgerechnet, der Einfluss
einer Privatperson durch Konkurrenz andrer, Versplitterung
ihres Vermögens, selbst durch ihren Tod aufhören kann, lauter
Dinge, die beim Staate nicht zutreffen; so steht noch immer
der Grundsatz, dass der Staat sich in nichts mischen darf, was
nicht allein die Sicherheit angeht, um so mehr entgegen, als
derselbe schlechterdings nicht durch Beweise unterstützt wor-
den ist, welche gerade aus der Natur des Zwanges allein her-
genommen gewesen wären. Auch handelt eine Privatperson
aus andern Gründen, als der Staat. Wenn z. B. ein einzelner
Bürger Prämien aussetzt, die ich auch — wie es doch wohl nie
ist — an sich gleich wirksam mit denen des Staats annehmen
will; so thut er dies seines Vortheils halber. Sein Vortheil
aber steht, wegen des ewigen Verkehrs mit allen übrigen Bür-
gern, und wegen der Gleichheit seiner Lage mit der ihrigen,
mit dem Vortheile oder Nachtheile anderer, folglich mit ihrem
Zustande in genauem Verhältniss. Der Zweck, den er er-
reichen will, ist also schon gewissermaassen in der Gegenwart
vorbereitet, und wirkt folglich darum heilsam. Die Gründe
des Staats hingegen sind Ideen und Grundsätze, bei welchen
auch die genaueste Berechnung oft täuscht; und sind es aus
der Privatlage des Staats geschöpfte Gründe, so ist diese schon
an sich nur zu oft für den Wohlstand und die Sicherheit der
Bürger bedenklich, und auch die Lage der Bürger nie in eben
dem Grade gleich. Wäre sie dies, nun so ist’s auch in der
Wirklichkeit nicht der Staat mehr, der handelt, und die Natur
dieses Raisonnements selbst verbietet dann seine Anwendung.
Eben dies, und das ganze vorige Raisonnement aber ging
allein aus Gesichtspunkten aus, welche blos die Kraft des
Menschen, als solchen, und seine innere Bildung zum Gegen-
stand hatten. Mit Recht würde man dasselbe der Einseitig-
keit beschuldigen, wenn es die Resultate, deren Dasein so noth-
wendig ist, damit jene Kraft nur überhaupt wirken kann, ganz
vernachlässigte. Es entsteht also hier noch die Frage: ob eben
diese Dinge, von welchen hier die Sorgfalt des Staats entfernt
wird, ohne ihn und für sich gedeihen können? Hier wäre es nun
der Ort, die einzelnen Arten der Gewerbe, Ackerbau, Indu-
strie, Handel und alles Uebrige, wovon ich hier zusammenge-
nommen rede, einzeln durchzugehen, und mit Sachkenntniss
aus einander zu setzen, welche Nachtheile und Vortheile Frei-
heit und Selbstüberlassung ihnen gewährt. Mangel eben dieser
Sachkenntniss hindert mich, eine solche Erörterung einzu-
gehen. Auch halte ich dieselbe für die Sache selbst nicht mehr
nothwendig. Indess, gut und vorzüglich historisch ausgeführt,
würde sie den sehr grossen Nutzen gewähren, diese Ideen mehr
zu empfehlen, und zugleich die Möglichkeit einer sehr modi-
ficirten Ausführung — da die einmal bestehende wirkliche
Lage der Dinge schwerlich in irgend einem Staat eine unein-
geschränkte erlauben dürfte — zu beurtheilen. Ich begnüge
mich an einigen wenigen allgemeinen Bemerkungen. Jedes
Geschäft — welcher Art es auch sei — wird besser betrieben,
wenn man es um seiner selbst willen, als den Folgen zu Liebe
treibt. Dies liegt so sehr in der Natur des Menschen, dass
gewöhnlich, was man anfangs nur des Nutzens wegen wählt,
zuletzt für sich Reiz gewinnt. Nun aber rührt dies blos daher,
weil dem Menschen Thätigkeit lieber ist, als Besitz, allein
Thätigkeit nur, insofern sie Selbstthätigkeit ist. Gerade der
rüstigste und thätigste Mensch würde am meisten einer er-
zwungenen Arbeit Müssiggang vorziehn. Auch wächst die Idee
des Eigenthums nur mit der Idee der Freiheit, und gerade die
am meisten energische Thätigkeit danken wir dem Gefühle des
Eigenthums. Jede Erreichung eines grossen Endzwecks erfor-
dert Einheit der Anordnung. Das ist gewiss. Eben so auch
jede Verhütung oder Abwehrung grosser Unglücksfälle, Hun-
gersnoth, Ueberschwemmungen u. s. f. Allein diese Einheit
lässt sich auch durch Nationalanstalten, nicht blos durch
Staatsanstalten hervorbringen. Einzelnen Theilen der Nation,
und ihr selbst im Ganzen muss nur Freiheit gegeben werden,
sich durch Verträge zu verbinden. Es bleibt immer ein
unläugbar wichtiger Unterschied zwischen einer Nationalan-
stalt und einer Staatseinrichtung. Jene hat nur eine mittel-
bare, diese eine unmittelbare Gewalt. Bei jener ist daher mehr
Freiheit im Eingehen, Trennen und Modificiren der Verbin-
dung. Anfangs sind höchst wahrscheinlich alle Staatsverbin-
dungen nichts, als dergleichen Nationenvereine gewesen. Allein
hier zeigt eben die Erfahrung die verderblichen Folgen, wenn
die Absicht Sicherheit zu erhalten, und andre Endzwecke zu
erreichen mit einander verbunden wird. Wer dieses Geschäft
besorgen soll, muss, um der Sicherheit willen, absolute Gewalt
besitzen. Diese aber dehnt er nun auch auf das Uebrige aus,
und jemehr sich die Einrichtung von ihrer Entstehung ent-
fernt, desto mehr wächst die Macht, und desto mehr ver-
schwindet die Erinnerung des Grundvertrags. Eine Anstalt
im Staat hingegen hat nur Gewalt, insofern sie diesen Vertrag
und sein Ansehn erhält. Schon dieser Grund allein könnte
hinreichend scheinen. Allein dann, wenn auch der Grundver-
trag genau beachtet würde, und die Staatsverbindung im eng-
sten Verstande eine Nationalverbindung wäre; so könnte den-
noch der Wille der einzelnen Individuen sich nur durch Reprä-
sentation erklären; und ein Repräsentant Mehrerer kann
unmöglich ein so treues Organ der Meinung der einzelnen
Repräsentirten sein. Nun aber führen alle im Vorigen ent-
wickelten Gründe auf die Nothwendigkeit der Einwilligung
jedes Einzelnen. Eben diese schliesst auch die Entscheidung
nach der Stimmenmehrheit aus, und doch liesse sich keine
andere in einer solchen Staatsverbindung, welche sich auf diese,
das positive Wohl der Bürger betreffende Gegenstände ver-
breitete, denken. Den nicht Einwilligenden bliebe also nichts
übrig, als aus der Gesellschaft zu treten, dadurch ihrer Gerichts-
barkeit zu entgehen, und die Stimmenmehrheit nicht mehr für
sich geltend zu machen. Allein dies ist beinah bis zur Unmög-
lichkeit erschwert, wenn aus dieser Gesellschaft gehen, zugleich
aus dem Staate gehen heisst. Ferner ist es besser, wenn bei
einzelnen Veranlassungen einzelne Verbindungen eingegangen,
als allgemeinere für unbestimmte künftige Fälle geschlossen
werden. Endlich entstehen auch Vereinigungen freier Menschen
in einer Nation mit grösserer Schwierigkeit. Wenn nun dies
auf der einen Seite auch der Erreichung der Endzwecke scha-
det — wogegen doch immer zu bedenken bleibt, dass allge-
mein, was schwerer entsteht, weil gleichsam die langgeprüfte
Kraft sich in einander fügt, auch eine festere Dauer gewinnt —
so ist doch gewiss überhaupt jede grössere Vereinigung minder
heilsam. Je mehr der Mensch für sich wirkt, desto mehr bil-
det er sich. In einer grossen Vereinigung wird er zu leicht
Werkzeug. Auch sind diese Vereinigungen Schuld, dass oft
das Zeichen an die Stelle der Sache tritt, welches der Bildung
allemal hinderlich ist. Die todte Hieroglyphe begeistert nicht,
wie die lebendige Natur. Ich erinnere hier nur statt alles
Beispiels an Armenanstalten. Tödtet etwas Andres so sehr
alles wahre Mitleid, alle hoffende aber anspruchlose Bitte, alles
Vertrauen des Menschen auf Menschen? Verachtet nicht jeder
den Bettler, dem es lieber wäre, ein Jahr im Hospital bequem
ernährt zu werden, als, nach mancher erduldeten Noth, nicht
auf eine hinwerfende Hand, aber auf ein theilnehmendes Herz
zu stossen? Ich gebe es also zu, wir hätten diese schnellen
Fortschritte ohne die grossen Massen nicht gemacht, in welchen
das Menschengeschlecht, wenn ich so sagen darf, in den letzten
Jahrhunderten gewirkt hat; allein nur die schnellen nicht.
Die Frucht wäre langsamer, aber dennoch gereift. Und sollte
sie nicht seegenvoller gewesen sein? Ich glaube daher von diesem
Einwurf zurückkehren zu dürfen. Zwei andre bleiben der
Folge zur Prüfung aufbewahrt, nämlich, ob auch, bei der Sorg-
losigkeit, die dem Staate hier vorgeschrieben wird, die Erhal-
tung der Sicherheit möglich ist? und ob nicht wenigstens die
Verschaffung der Mittel, welche dem Staate nothwendig zu
seiner Wirksamkeit eingeräumt werden müssen, ein vielfacheres
Eingreifen der Räder der Staatsmaschine in die Verhältnisse
der Bürger nothwendig macht?
IV.
Sorgfalt des Staats für das negative Wohl der Bürger, für ihre
Sicherheit.
Diese Sorgfalt ist nothwendig, — macht den eigentlichen Endzweck des Staats
aus. — Höchster, aus diesem Abschnitt gezogener Grundsatz. — Bestätigung
desselben durch die Geschichte.
Wäre es mit dem Uebel, welches die Begierde der Menschen,
immer über die, ihnen rechtmässig gezogenen Schranken in
das Gebiet andrer einzugreifen Was ich hier umschreibe, bezeichnen die Griechen mit dem einzigen
Worte πλεονεξια, für das ich aber in keiner andern Sprache ein völlig gleich-
bedeutendes finde. Indess liesse sich vielleicht im Deutschen: Begierde nach
Mehr sagen; obgleich dies nicht zugleich die Idee der Unrechtmässigkeit an-
deutet, welche in dem griechischen Ausdruck, wenn gleich nicht dem Wortsinne,
aber doch (so viel mir wenigstens vorgekommen ist) dem beständigen Gebrauch
der Schriftsteller nach, liegt. Passender, obgleich, wenigstens dem Sprach-
gebrauche nach, wohl auch nicht von völlig gleichem Umfang, möchte noch
Uebervortheilung sein., und die daraus entspringende
Zwietracht stiftet, wie mit den physischen Uebeln der Natur,
und denjenigen, diesen hierin wenigstens gleichkommenden
moralischen, welche durch Uebermaass des Geniessens oder
Entbehrens, oder durch andere, mit den nothwendigen Bedin-
gungen der Erhaltung nicht übereinstimmende Handlungen
auf eigne Zerstörung hinauslaufen; so wäre schlechterdings
keine Staatsvereinigung nothwendig. Jenen würde der Muth,
die Klugheit und Vorsicht der Menschen, diesen die, durch
Erfahrung belehrte Weisheit von selbst steuern, und wenigstens
ist in beiden mit dem gehobenen Uebel immer Ein Kampf
beendigt. Es ist daher keine letzte, widerspruchlose Macht
nothwendig, welche doch im eigentlichsten Verstande den Begriff
des Staats ausmacht. Ganz anders aber verhält es sich mit
den Uneinigkeiten der Menschen, und sie erfordern allemal
schlechterdings eine solche eben beschriebene Gewalt. Denn
bei der Zwietracht entstehen Kämpfe aus Kämpfen. Die
Beleidigung fordert Rache, und die Rache ist eine neue Belei-
digung. Hier muss man also auf eine Rache zurückkommen,
welche keine neue Rache erlaubt — und diese ist die Strafe des
Staats — oder auf eine Entscheidung, welche die Partheien
sich zu beruhigen nöthigt, die Entscheidung des Richters.
Auch bedarf nichts so eines zwingenden Befehls und eines
unbedingten Gehorsams, als die Unternehmungen der Menschen
gegen den Menschen, man mag an die Abtreibung eines aus-
wärtigen Feindes, oder an Erhaltung der Sicherheit im Staate
selbst denken. Ohne Sicherheit vermag der Mensch weder
seine Kräfte auszubilden, noch die Frucht derselben zu geniessen;
denn ohne Sicherheit ist keine Freiheit. Es ist aber zugleich
etwas, das der Mensch sich selbst allein nicht verschaffen kann;
dies zeigen die eben mehr berührten als ausgeführten Gründe,
und die Erfahrung, dass unsre Staaten, die sich doch, da so
viele Verträge und Bündnisse sie mit einander verknüpfen, und
Furcht so oft den Ausbruch von Thätlichkeiten hindert, gewiss
in einer bei weitem günstigeren Lage befinden, als es erlaubt
ist, sich den Menschen im Naturstande zu denken, den-
noch die Sicherheit nicht geniessen, welcher sich auch in
der mittelmässigsten Verfassung der gemeinste Unterthan
zu erfreuen hat. Wenn ich daher in dem Vorigen die Sorg-
falt des Staats darum von vielen Dingen entfernt habe,
weil die Nation sich selbst diese Dinge gleich gut, und ohne
die bei der Besorgung des Staats mit einfliessenden Nachtheile
verschaffen kann; so muss ich dieselbe aus gleichem Grunde
jetzt auf die Sicherheit richten, als das Einzige La sureté et la liberté personelle sont les seules choses qu’un être isolé ne
puisse s’assurer par lui même. Mirabeau s. l’éducat, publique. p. 119., welches der
einzelne Mensch mit seinen Kräften allein nicht zu erlangen
vermag. Ich glaube daher hier als den ersten positiven — aber
in der Folge noch genauer zu bestimmenden und einzuschrän-
kenden — Grundsatz aufstellen zu können:
dass die Erhaltung der Sicherheit sowohl gegen auswär-
tige Feinde, als innerliche Zwistigkeiten den Zweck des
Staats ausmachen, und seine Wirksamkeit beschäftigen
muss;
da ich bisher nur negativ zu bestimmen versuchte, dass er die
Gränzen seiner Sorgfalt wenigstens nicht weiter ausdehnen
dürfe.
Diese Behauptung wird auch durch die Geschichte so sehr
bestätigt, dass in allen früheren Nationen die Könige nichts
andres waren, als Anführer im Kriege, oder Richter im Frieden.
Ich sage die Könige. Denn — wenn mir diese Abschweifung
erlaubt ist — die Geschichte zeigt uns, wie sonderbar es auch
scheint, gerade in der Epoche, wo dem Menschen, welcher, mit
noch sehr wenigem Eigenthum versehen, nur persönliche Kraft
kennt und schätzt, und in die ungestörteste Ausübung der-
selben den höchsten Genuss setzt, das Gefühl seiner Freiheit
das theuerste ist, nichts als Könige und Monarchien. So alle
Staatsverfassungen Asiens, so die ältesten Griechenlands, Ita-
liens, und der freiheitliebendsten Stämme, der germanischen Reges (nam in terris nomen imperii id primum fuit) cet. Sallustius in
Catilina. c. 2. Κατ̕ αϱχας ἁπασα πολις Ελλας εβασιλευετο. Dion. Halicarn.
Antiquit. Rom. 1. 5. (Zuerst wurden alle griechische Städte von Königen
beherrscht u. s. f.).
Denkt man über die Gründe hiervon nach, so wird man gleich-
sam von der Wahrheit überrascht, dass gerade die Wahl einer
Monarchie ein Beweis der höchsten Freiheit der Wählenden
ist. Der Gedanke eines Befehlshabers entsteht, wie oben
gesagt, nur durch das Gefühl der Nothwendigkeit eines An-
führers, oder eines Schiedsrichters. Nun ist Ein Führer oder
Entscheider unstreitig das Zweckmässigste. Die Besorgniss,
dass der Eine aus einem Führer und Schiedsrichter ein Herr-
scher werden möchte, kennt der wahrhaft freie Mann, die Möglich-
keit selbst ahnet er nicht; er traut keinem Menschen die
Macht, seine Freiheit unterjochen zu können, und keinem
Freien den Willen zu, Herrscher zu sein — wie denn auch in
der That der Herrschsüchtige, nicht empfänglich für die hohe
Schönheit der Freiheit, die Sklaverei liebt, nur dass er nicht
der Sklave sein will — und so ist, wie die Moral mit dem
Laster, die Theologie mit der Ketzerei, die Politik mit der
Knechtschaft entstanden. Nur führen freilich unsere Monarchen
nicht eine so honigsüsse Sprache, als die Könige bei Homer
und Hesiodus Ὁντινα τιμησουσι Διος κουϱαι μεγαλοιο,
Γεινομενον τ̕ εσιδωσι διοτϱεφεων βασιληων,
Τῳ μεν επι γλωσσῃ γλυκεϱην χειουσι εε̃ ϱσην,
Του δ̕ επε̕ εκ στοματος ϱει μειλιχα.
und
Τουνεκα γαϱ βασιληες εχεφϱονες, ὁυνεκα λαοις
Βλαπτομενοις αγοϱῃφι μετατϱοπα εϱγα τελευσι
Ρηϊδιως, μαλακοις παϱαιφαμενοι επεεσσιν.
Hesiodus in Theogonia. [v. 81 sqq. 88 sqq.]
(Wen der götterentsprossenen Könige Zeus des Erhabnen
Töchter ehren, auf wen ihr Auge bei seiner Geburt blickt,
Dem beträufeln sie mit holdem Thaue die Zunge,
Honigsüss entströmet seinen Lippen die Rede.
und
Darum herrschen verständige Könige, dass sie die Völker,
Wenn ein Zwist sie spaltet, in der Versammlung zur Eintracht
Sonder Mühe bewegen, mit sanften Worten sie lenkend.).
V.
Sorgfalt des Staats für die Sicherheit gegen auswärtige Feinde.
Bei dieser Betrachtung gewählter Gesichtspunkt. — Einfluss des Kriegs über-
haupt auf den Geist und den Charakter der Nation. — Damit angestellte Ver-
gleichung des Zustandes desselben, und aller sich auf ihn beziehenden Einrich-
tungen bei uns. — Mannigfaltige Nachtheile dieses Zustandes für die innere
Bildung des Menschen. — Höchster, aus dieser Vergleichung geschöpfter
Grundsatz.
Von der Sicherheit gegen auswärtige Feinde brauchte ich
— um zu meinem Vorhaben zurückzukehren — kaum ein Wort
zu sagen, wenn es nicht die Klarheit der Hauptidee vermehrte,
sie auf alle einzelne Gegenstände nach und nach anzuwenden.
Allein diese Anwendung wird hier um so weniger unnütz sein,
als ich mich allein auf die Wirkung des Krieges auf den Cha-
rakter der Nation, und folglich auf den Gesichtspunkt beschrän-
ken werde, den ich in der ganzen Untersuchung, als den herr-
schenden, gewählt habe. Aus diesem nun die Sache betrachtet,
ist mir der Krieg eine der heilsamsten Erscheinungen zur Bil-
dung des Menschengeschlechts, und ungern seh’ ich ihn nach
und nach immer mehr vom Schauplatz zurücktreten. Es ist
das freilich furchtbare Extrem, wodurch jeder thätige Muth
gegen Gefahr, Arbeit und Mühseligkeit geprüft und gestählt
wird, der sich nachher in so verschiedene Nüancen im Menschen-
leben modificirt, und welcher allein der ganzen Gestalt die
Stärke und Mannigfaltigkeit giebt, ohne welche Leichtigkeit
Schwäche, und Einheit Leere ist.
Man wird mir antworten, dass es, neben dem Kriege, noch
andere Mittel dieser Art giebt, physische Gefahren bei man-
cherlei Beschäftigungen, und — wenn ich mich des Ausdrucks
bedienen darf — moralische von verschiedener Gattung, welche
den festen, unerschütterten Staatsmann im Kabinet, wie den
freimüthigen Denker in seiner einsamen Zelle treffen können.
Allein es ist mir unmöglich, mich von der Vorstellung loszu-
reissen, dass, wie alles Geistige nur eine feinere Blüthe des
Körperlichen, so auch dieses es ist. Nun lebt zwar der Stamm,
auf dem sie hervorspriessen kann, in der Vergangenheit. Allein
das Andenken der Vergangenheit tritt immer weiter zurück,
die Zahl derer, auf welche es wirkt, vermindert sich immer in
der Nation, und selbst auf diese wird die Wirkung schwächer.
Andern, obschon gleich gefahrvollen Beschäftigungen, Seefahr-
ten, dem Bergbau u. s. f. fehlt, wenn gleich mehr und minder,
die Idee der Grösse und des Ruhms, die mit dem Kriege so eng
verbunden ist. Und diese Idee ist in der That nicht chimärisch.
Sie beruht auf einer Vorstellung von überwiegender Macht.
Den Elementen sucht man mehr zu entrinnen, ihre Gewalt
mehr auszudauern, als sie zu besiegen:
— mit Göttern
soll sich nicht messen
irgend ein Mensch Göthe in dem Gedicht: Grenzen der Menschheit. II. p. 69. (Ausg.
v. 1840.);
Rettung ist nicht Sieg; was das Schicksal wohlthätig schenkt,
und menschlicher Muth, oder menschliche Empfindsamkeit nur
benutzt, ist nicht Frucht, oder Beweis der Obergewalt. Auch
denkt jeder im Kriege, das Recht auf seiner Seite zu haben,
jeder eine Beleidigung zu rächen. Nun aber achtet der natür-
liche Mensch, und mit einem Gefühl, das auch der kultivirteste
nicht abläugnen kann, es höher, seine Ehre zu reinigen, als Be-
darf fürs Leben zu sammeln.
Niemand wird es mir zutrauen, den Tod eines gefallenen
Kriegers schöner zu nennen, als den Tod eines kühnen Plinius,
oder, um vielleicht nicht genug geehrte Männer zu nennen, den
Tod von Robert und Pilatre du Rozier. Allein diese Beispiele
sind selten, und wer weiss, ob ohne jene sie überhaupt nur
wären? Auch habe ich für den Krieg gerade keine günstige
Lage gewählt. Man nehme die Spartaner bei Thermopylä. Ich
frage einen jeden, was solch ein Beispiel auf eine Nation wirkt?
Wohl weiss ichs, eben dieser Muth, eben diese Selbstverläug-
nung kann sich in jeder Situation des Lebens zeigen, und zeigt
sich wirklich in jeder. Aber will man es dem sinnlichen Men-
schen verargen, wenn der lebendigste Ausdruck ihn auch am
meisten hinreisst, und kann man es läugnen, dass ein Ausdruck
dieser Art wenigstens in der grössesten Allgemeinheit wirkt?
Und bei alle dem, was ich auch je von Uebeln hörte, welche
schrecklicher wären, als der Tod; ich sah noch keinen Men-
schen, der das Leben in üppiger Fülle genoss, und der — ohne
4
Schwärmer zu sein — den Tod verachtete. Am wenigsten aber
existirten diese Menschen im Alterthum, wo man noch die
Sache höher, als den Namen, die Gegenwart höher, als die Zu-
kunft schätzte. Was ich daher hier von Kriegern sage, gilt
nur von solchen, die, nicht gebildet, wie jene in Platos Republik Diese sind nämlich so gebildet, dass ihnen der Tod nicht als etwas Schreck-
liches erscheint, sondern als das Gegentheil. Republ. III. init.,
die Dinge, Leben und Tod, nehmen für das, was sie sind; von
Kriegern, welche, das Höchste im Auge, das Höchste aufs
Spiel setzen. Alle Situationen, in welchen sich die Extreme
gleichsam an einander knüpfen, sind die interessantesten und
bildendsten. Wo ist dies aber mehr der Fall, als im Kriege,
wo Neigung und Pflicht, und Pflicht des Menschen und des
Bürgers in unaufhörlichem Streite zu sein scheinen, und wo
dennoch — sobald nur gerechte Vertheidigung die Waffen in die
Hand gab — alle diese Kollisionen die vollste Auflösung finden?
Schon der Gesichtspunkt, aus welchem allein ich den Krieg
für heilsam und nothwendig halte, zeigt hinlänglich, wie, meiner
Meinung nach, im Staate davon Gebrauch gemacht werden
müsste. Dem Geist, den er wirkt, muss Freiheit gewährt wer-
den, sich durch alle Mitglieder der Nation zu ergiessen. Schon
dies spricht gegen die stehenden Armeen. Ueberdies sind
sie und die neuere Art des Krieges überhaupt, freilich weit von
dem Ideal entfernt, das für die Bildung des Menschen das nütz-
lichste wäre. Wenn schon überhaupt der Krieger, mit Auf-
opferung seiner Freiheit, gleichsam Maschine werden muss; so
muss er es noch in weit höherem Grade bei unserer Art der
Kriegführung, bei welcher es soviel weniger auf die Stärke,
Tapferkeit und Geschicklichkeit des Einzelnen ankommt. Wie
verderblich muss es nun sein, wenn beträchtliche Theile der
Nationen, nicht bloss einzelne Jahre, sondern oft ihr Leben hin-
durch im Frieden, nur zum Behuf des möglichen Krieges, in
diesem maschinenmässigen Leben erhalten werden?
Vielleicht ist es nirgends so sehr, als hier, der Fall, dass
mit der Ausbildung der Theorie der menschlichen Unterneh-
mungen, der Nutzen derselben für diejenigen sinkt, welche sich
mit ihnen beschäftigen. Unläugbar hat die Kriegskunst unter
den Neueren unglaubliche Fortschritte gemacht, aber ebenso
unläugbar ist der edle Charakter der Krieger seltner geworden,
seine höchste Schönheit existirt nur noch in der Geschichte des
Alterthums, wenigstens — wenn man dies für übertrieben
halten sollte — hat der kriegerische Geist bei uns sehr oft
blos schädliche Folgen für die Nationen, da wir ihn im
Alterthum so oft von so heilsamen begleitet sehen. Allein
unsere stehende Armeen bringen, wenn ich so sagen darf, den
Krieg mitten in den Schooss des Friedens. Kriegsmuth ist nur
in Verbindung mit den schönsten friedlichen Tugenden, Kriegs-
zucht nur in Verbindung mit dem höchsten Freiheitsgefühle
ehrwürdig. Beides getrennt — und wie sehr wird eine solche
Trennung durch den im Frieden bewaffneten Krieger begünstigt?
— artet diese sehr leicht in Sklaverei, jener in Wildheit und
Zügellosigkeit aus.
Bei diesem Tadel der stehenden Armeen sei mir die Erin-
nerung erlaubt, dass ich hier nicht weiter von ihnen rede,
als mein gegenwärtiger Gesichtspunkt erfordert. Ihren gros-
sen, unbestrittenen Nutzen — wodurch sie dem Zuge das Gleich-
gewicht halten, mit dem sonst ihre Fehler sie, wie jedes irdische
Wesen, unaufhaltbar zum Untergange dahinreissen würden —
zu verkennen, sei fern von mir. Sie sind ein Theil des Ganzen,
welches nicht Plane eitler menschlicher Vernunft, sondern die
sichere Hand des Schicksals gebildet hat. Wie sie in alles
Andere, unserem Zeitalter Eigenthümliche, eingreifen, wie sie
mit diesem die Schuld und das Verdienst des Guten und Bösen
theilen, das uns auszeichnen mag, müsste das Gemälde schil-
dern, welches uns, treffend und vollständig gezeichnet, der
Vorwelt an die Seite zu stellen wagte.
4*
Auch müsste ich sehr unglücklich in Auseinandersetzung
meiner Ideen gewesen sein, wenn man glauben könnte, der
Staat sollte, meiner Meinung nach, von Zeit zu Zeit Krieg
erregen. Er gebe Freiheit und dieselbe Freiheit geniesse ein
benachbarter Staat. Die Menschen sind in jedem Zeitalter
Menschen, und verlieren nie ihre ursprünglichen Leidenschaften.
Es wird Krieg von selbst entstehen; und entsteht er nicht, nun
so ist man wenigstens gewiss, dass der Friede weder durch
Gewalt erzwungen, noch durch künstliche Lähmung hervorge-
bracht ist; und dann wird der Friede den Nationen freilich ein
eben so wohlthätigeres Geschenk sein, wie der friedliche Pflüger
ein holderes Bild ist, als der blutige Krieger. Und gewiss ist es,
denkt man sich ein Fortschreiten der ganzen Menschheit von
Generation zu Generation; so müssten die folgenden Zeitalter
immer die friedlicheren sein. Aber dann ist der Friede aus den
inneren Kräften der Wesen hervorgegangen, dann sind die
Menschen, und zwar die freien Menschen friedlich geworden.
Jetzt — das beweist Ein Jahr Europäischer Geschichte —
geniessen wir die Früchte des Friedens, aber nicht die der
Friedlichkeit. Die menschlichen Kräfte, unaufhörlich nach
einer gleichsam unendlichen Wirksamkeit strebend, wenn sie
einander begegnen, vereinen oder bekämpfen sich. Welche
Gestalt der Kampf annehme, ob die des Krieges, oder des
Wetteifers, oder welche sonst man nüanciren möge? hängt
vorzüglich von ihrer Verfeinerung ab.
Soll ich jetzt auch aus diesem Raisonnement einen zu mei-
nem Endziel dienenden Grundsatz ziehen;
so muss der Staat den Krieg auf keinerlei Weise befördern,
allein auch ebensowenig, wenn die Notwendigkeit ihn for-
dert, gewaltsam verhindern; dem Einflusse desselben auf
Geist und Charakter sich durch die ganze Nation zu
ergiessen völlige Freiheit verstatten; und vorzüglich sich
aller positiven Einrichtungen enthalten, die Nation zum
Kriege zu bilden, oder ihnen, wenn sie denn, wie z. B.
Waffenübungen der Bürger, schlechterdings nothwendig
sind, eine solche Richtung geben, dass sie derselben nicht
blos die Tapferkeit, Fertigkeit und Subordination eines
Soldaten beibringen, sondern den Geist wahrer Krieger,
oder vielmehr edler Bürger einhauchen, welche für ihr
Vaterland zu fechten immer bereit sind.
VI.
Sorgfalt des Staats für die Sicherheit der Bürger unter einander.
Mittel, diesen Endzweck zu erreichen. Veranstaltungen, welche
auf die Umformung des Geistes und Charakters der Bürger
gerichtet sind. Oeffentliche Erziehung.
Möglicher Umfang der Mittel, diese Sicherheit zu befördern. — Moralische Mittel.
— Oeffentliche Erziehung. — Ist nachtheilig, vorzüglich weil sie die Mannigfal-
tigkeit der Ausbildung hindert; — unnütz, weil es in einer Nation, die einer gehö-
rigen Freiheit geniesst, an guter Privaterziehung nicht fehlen wird; — wirkt zu
viel, weil die Sorgfalt für die Sicherheit nicht gänzliche Umformung der Sitten
nothwendig macht; — liegt daher ausser den Gränzen der Wirksamkeit des
Staats.
Eine tiefere und ausführlichere Prüfung erfordert die Sorg-
falt des Staats für die innere Sicherheit der Bürger unter ein-
ander, zu der ich mich jetzt wende. Denn es scheint mir nicht
hinlänglich, demselben blos allgemein die Erhaltung derselben
zur Pflicht zu machen, sondern ich halte es vielmehr für noth-
wendig, die besondern Gränzen dabei zu bestimmen, oder wenn
dies allgemein nicht möglich sein sollte, wenigstens die Gründe
dieser Unmöglichkeit auseinanderzusetzen, und die Merkmale
anzugeben, an welchen sie in gegebenen Fällen zu erkennen
sein möchten. Schon eine sehr mangelhafte Erfahrung lehrt,
dass diese Sorgfalt mehr oder minder weit ausgreifen kann,
ihren Endzweck zu erreichen. Sie kann sich begnügen, began-
gene Unordnungen wieder herzustellen, und zu bestrafen. Sie
kann schon ihre Begehung überhaupt zu verhüten suchen, und
sie kann endlich zu diesem Endzweck den Bürgern, ihrem Cha-
rakter und ihrem Geist, eine Wendung zu ertheilen bemüht
sein, die hierauf abzweckt. Auch gleichsam die Extension ist
verschiedener Grade fähig. Es können blos Beleidigungen
der Rechte der Bürger, und unmittelbaren Rechte des Staats
untersucht und gerügt werden; oder man kann, indem man den
Bürger als ein Wesen ansieht, das dem Staate die Anwendung
seiner Kräfte schuldig ist, und also durch Zerstörung oder
Schwächung dieser Kräfte ihn gleichsam seines Eigenthums
beraubt, auch auf Handlungen ein wachsames Auge haben,
deren Folgen sich nur auf den Handelnden selbst erstrecken.
Alles dies fasse ich hier auf einmal zusammen, und rede daher
allgemein von allen Einrichtungen des Staats, welche in der
Absicht der Beförderung der öffentlichen Sicherheit geschehen.
Zugleich werden sich hier von selbst alle diejenigen darstellen,
die, sollten sie auch nicht überall, oder nicht blos auf Sicherheit
abzwecken, das moralische Wohl der Bürger angehen, da, wie
ich schon oben bemerkt, die Natur der Sache selbst keine
genaue Trennung erlaubt, und diese Einrichtungen doch gewöhn-
lich die Sicherheit und Ruhe des Staats vorzüglich beabsichten.
Ich werde dabei demjenigen Gange getreu bleiben, den ich bis-
her gewählt habe. Ich habe nämlich zuerst die grösseste mög-
liche Wirksamkeit des Staats angenommen, und nun nach und
nach zu prüfen versucht, was davon abgeschnitten werden
müsse. Jetzt ist mir nur die Sorge für die Sicherheit übrig
geblieben. Bei dieser muss nun aber wiederum auf gleiche
Weise verfahren werden, und ich werde daher dieselbe zuerst
in ihrer grössesten Ausdehnung betrachten, um durch allmäh-
liche Einschränkungen auf diejenigen Grundsätze zu kommen,
welche mir die richtigen scheinen. Sollte dieser Gang vielleicht
für zu langsam und weitläuftig gehalten werden; so gebe ich
gern zu, dass ein dogmatischer Vortrag gerade die entgegen-
gesetzte Methode erfordern würde. Allein bei einem blos
untersuchenden, wie der gegenwärtige, ist man wenigstens
gewiss, den ganzen Umfang des Gegenstandes umspannt, nichts
übersehen, und die Grundsätze gerade in der Folge entwickelt
zu haben, in welcher sie wirklich aus einander herfliessen.
Man hat, vorzüglich seit einiger Zeit, so sehr auf die Ver-
hütung gesetzwidriger Handlungen und auf Anwendung mora-
lischer Mittel im Staate gedrungen. Ich, so oft ich dergleichen
oder ähnliche Aufforderungen höre, freue mich, gesteh’ ich, dass
eine solche freiheitbeschränkende Anwendung bei uns immer
weniger gemacht, und, bei der Lage fast aller Staaten, immer
weniger möglich wird.
Man beruft sich auf Griechenland und Rom, aber eine
genauere Kenntniss ihrer Verfassungen würde bald zeigen, wie
unpassend diese Vergleichungen sind. Jene Staaten waren
Republiken, ihre Anstalten dieser Art waren Stützen der freien
Verfassung, welche die Bürger mit einem Enthusiasmus erfüllte,
welcher den nachtheiligen Einfluss der Einschränkung der Pri-
vatfreiheit minder fühlen, und die Energie des Charakters
minder schädlich werden liess. Dann genossen sie auch übrigens
einer grösseren Freiheit, als wir, und was sie aufopferten,
opferten sie einer andern Thätigkeit, dem Antheil an der Regie-
rung, auf. In unsern, meistentheils monarchischen Staaten ist
das alles ganz anders. Was die Alten von moralischen Mitteln
anwenden mochten, Nationalerziehung, Religion, Sittengesetze,
alles würde bei uns minder fruchten, und einen grösseren Scha-
den bringen. Dann war auch das Meiste, was man jetzt so oft
für Wirkung der Klugheit des Gesetzgebers hält, blos schon
wirkliche, nur vielleicht wankende, und daher der Sanktion des
Gesetzes bedürfende Volkssitte. Die Uebereinstimmung der
Einrichtungen des Lykurgus mit der Lebensart der meisten
unkultivirten Nationen hat schon FregusonAn essay on the history of civil society. Basel 1789. p. 123—146. Of
rude nations prior to the establishment of property. meisterhaft gezeigt,
und da höhere Kultur die Nation verfeinerte, erhielt sich auch
in der That nicht mehr, als der Schatten jener Einrichtungen.
Endlich steht, dünkt mich, das Menschengeschlecht jetzt auf
einer Stufe der Kultur, von welcher es sich nur durch Ausbil-
dung der Individuen höher emporschwingen kann; und daher
sind alle Einrichtungen, welche diese Ausbildung hindern, und
die Menschen mehr in Massen zusammendrängen, jetzt schäd-
licher als ehmals.
Schon diesen wenigen Bemerkungen zufolge erscheint, um
zuerst von demjenigen moralischen Mittel zu reden, was am
weitesten gleichsam ausgreift, öffentliche, d. i. vom Staat ange-
ordnete oder geleitete Erziehung wenigstens von vielen Seiten
bedenklich. Nach dem ganzen vorigen Raisonnement kommt
schlechterdings Alles auf die Ausbildung des Menschen in der
höchsten Mannigfaltigkeit an; öffentliche Erziehung aber muss,
selbst wenn sie diesen Fehler vermeiden, wenn sie sich blos
darauf einschränken wollte, Erzieher anzustellen und zu unter-
halten, immer eine bestimmte Form begünstigen. Es treten
daher alle die Nachtheile bei derselben ein, welche der erste
Theil dieser Untersuchung hinlänglich dargestellt hat, und ich
brauche nur noch hinzuzufügen, dass jede Einschränkung ver-
derblicher wird, wenn sie sich auf den moralischen Menschen
bezieht, und dass, wenn irgend etwas Wirksamkeit auf das
einzelne Individuum fordert, dies gerade die Erziehung ist,
welche das einzelne Individuum bilden soll. Es ist unläugbar,
dass gerade daraus sehr heilsame Folgen entspringen, dass der
Mensch in der Gestalt, welche ihm seine Lage und die Um-
stände gegeben haben, im Staate selbst thätig wird, und nun
durch den Streit — wenn ich so sagen darf — der ihm vom
Staat angewiesenen Lage, und der von ihm selbst gewählten,
zum Theil er anders geformt wird, zum Theil die Verfassung
des Staats selbst Aenderungen erleidet, in denen dergleichen,
obgleich freilich auf einmal fast unbemerkbare Aenderungen, nach
den Modifikationen des Nationalcharakters, bei allen Staaten
unverkennbar sind. Dies aber hört wenigstens immer in dem
Grade auf, in welchem der Bürger von seiner Kindheit an schon
zum Bürger gebildet wird. Gewiss ist es wohlthätig, wenn die
Verhältnisse des Menschen und des Bürgers soviel als möglich
zusammenfallen; aber es bleibt dies doch nur alsdann, wenn
das des Bürgers so wenig eigenthümliche Eigenschaften fordert,
dass sich die natürliche Gestalt des Menschen, ohne etwas auf-
zuopfern, erhalten kann — gleichsam das Ziel, wohin alle Ideen,
die ich in dieser Untersuchung zu entwickeln wage, allein hin-
streben. Ganz und gar aber hört es auf, heilsam zu sein, wenn
der Mensch dem Bürger geopfert wird. Denn wenn gleich als-
dann die nachtheiligen Folgen des Missverhältnisses hinweg-
fallen; so verliert auch der Mensch dasjenige, welches er gerade
durch die Vereinigung in einen Staat zu sichern bemüht war.
Daher müsste, meiner Meinung zufolge, die freieste, so wenig
als möglich schon auf die bürgerlichen Verhältnisse gerichtete
Bildung des Menschen überall vorangehen. Der so gebildete
Mensch müsste dann in den Staat treten, und die Verfassung
des Staats sich gleichsam an ihm prüfen. Nur bei einem sol-
chen Kampfe würde ich wahre Verbesserung der Verfassung
durch die Nation mit Gewissheit hoffen, und nur bei einem sol-
chen schädlichen Einfluss der bürgerlichen Einrichtung auf den
Menschen nicht besorgen. Denn selbst wenn die letztere sehr
fehlerhaft wäre, liesse sich denken, wie gerade durch ihre einen-
genden Fesseln die widerstrebende, oder, trotz derselben, sich
in ihrer Grösse erhaltende Energie des Menschen gewänne.
Aber dies könnte nur sein, wenn dieselbe vorher sich in ihrer
Freiheit entwickelt hätte. Denn welch ein ungewöhnlicher
Grad gehörte dazu, sich auch da, wo jene Fesseln von der ersten
Jugend an drückten, noch zu erheben und zu erhalten? Jede
öffentliche Erziehung aber, da immer der Geist der Regierung in
ihr herrscht, giebt dem Menschen eine gewisse bürgerliche Form.
Wo nun eine solche Form an sich bestimmt und in sich,
wenn gleich einseitig, doch schön ist, wie wir es in den alten
Staaten, und vielleicht noch jetzt in mancher Republik finden,
da ist nicht allein die Ausführung leichter, sondern auch die
Sache selbst minder schädlich. Allein in unsern monarchischen
Verfassungen existirt — und gewiss zum nicht geringen Glück
für die Bildung des Menschen — eine solche bestimmte Form
ganz und gar nicht. Es gehört offenbar zu ihren, obgleich auch
von manchen Nachtheilen begleiteten Vorzügen, dass, da doch
die Staatsverbindung immer nur als ein Mittel anzusehen ist,
nicht soviel Kräfte der Individuen auf dies Mittel verwandt zu
werden brauchen, als in Republiken. Sobald der Unterthan
den Gesetzen gehorcht, und sich und die seinigen im Wohl-
stande und einer nicht schädlichen Thätigkeit erhält, kümmert
den Staat die genauere Art seiner Existenz nicht. Hier hätte
daher die öffentliche Erziehung, die, schon als solche, sei es
auch unvermerkt, den Bürger oder Unterthan, nicht den Men-
schen, wie die Privaterziehung, vor Augen hat, nicht Eine
bestimmte Tugend oder Art zu sein zum Zweck; sie suchte
vielmehr gleichsam ein Gleichgewicht aller, da nichts so sehr,
als gerade dies, die Ruhe hervorbringt und erhält, welche eben
diese Staaten am eifrigsten beabsichten. Ein solches Streben
aber gewinnt, wie ich schon bei einer andern Gelegenheit zu
zeigen versucht habe, entweder keinen Fortgang, oder führt
auf Mangel an Energie; da hingegen die Verfolgung einzelner
Seiten, welche der Privaterziehung eigen ist, durch das Leben
in verschiedenen Verhältnissen und Verbindungen jenes Gleich-
gewicht sichrer und ohne Aufopferung der Energie hervorbringt.
Will man aber der öffentlichen Erziehung alle positive Be-
förderung dieser oder jener Art der Ausbildung untersagen,
will man es ihr zur Pflicht machen, blos die eigene Entwickelung
der Kräfte zu begünstigen; so ist dies einmal an sich nicht
ausführbar, da was Einheit der Anordnung hat, auch allemal
eine gewisse Einförmigkeit der Wirkung hervorbringt, und
dann ist auch unter dieser Voraussetzung der Nutzen einer
öffentlichen Erziehung nicht abzusehen. Denn ist es blos die
Absicht zu verhindern, dass Kinder nicht ganz unerzogen blei-
ben; so ist es ja leichter und minder schädlich, nachlässigen
Eltern Vormünder zu setzen, oder dürftige zu unterstützen.
Ferner erreicht auch die öffentliche Erziehung nicht einmal die
Absicht, welche sie sich vorsetzt, nämlich die Umformung der
Sitten nach dem Muster, welches der Staat für das ihm ange-
messenste hält. So wichtig und auf das ganze Leben einwirkend
auch der Einfluss der Erziehung sein mag; so sind doch noch
immer wichtiger die Umstände, welche den Menschen durch
das ganze Leben begleiten. Wo also nicht alles zusammen-
stimmt, da vermag diese Erziehung allein nicht durchzudringen.
Ueberhaupt soll die Erziehung nur, ohne Rücksicht auf bestimmte,
den Menschen zu ertheilende bürgerliche Formen, Menschen
bilden; so bedarf es des Staats nicht. Unter freien Menschen
gewinnen alle Gewerbe bessern Fortgang; blühen alle Künste
schöner auf; erweitern sich alle Wissenschaften. Unter ihnen
sind auch alle Familienbande enger, die Eltern eifriger bestrebt
für ihre Kinder zu sorgen, und, bei höherem Wohlstande, auch
vermögender, ihrem Wunsche hierin zu folgen. Bei freien Men-
schen entsteht Nacheiferung, und es bilden sich bessere Erzieher,
wo ihr Schicksal von dem Erfolg ihrer Arbeiten, als wo es von
der Beförderung abhängt, die sie vom Staate zu erwarten haben.
Es wird daher weder an sorgfältiger Familienerziehung, noch
an Anstalten so nützlicher und nothwendiger gemeinschaft-
licher Erziehung fehlen Dans une société bien ordonnée, au contraire, tout invite les hommes à cul-
tiver leurs moyens naturels: sans qu’on s’en mêle, l’éducation sera bonne; elle sera
même d’autant meilleure, qu’on aura plus laissé à faire à l’industrie des mâitres,
et à l’émulation des élèves. Mirabeau s. l’éducat. publ. p. 12.. Soll aber öffentliche Erziehung dem
Menschen eine bestimmte Form ertheilen, so ist, was man auch
sagen möge, zur Verhütung der Uebertretung der Gesetze, zur
Befestigung der Sicherheit so gut als nichts gethan. Denn
Tugend und Laster hängen nicht an dieser oder jener Art des
Menschen zu sein, sind nicht mit dieser oder jener Charakter-
seite nothwendig verbunden; sondern es kommt in Rücksicht
auf sie weit mehr auf die Harmonie oder Disharmonie der ver-
schiedenen Charakterzüge, auf das Verhältniss der Kraft zu der
Summe der Neigungen u. s. f. an. Jede bestimmte Charakter-
bildung ist daher eigener Ausschweifungen fähig, und artet in
dieselben aus. Hat daher eine ganze Nation ausschliesslich vor-
züglich eine gewisse erhalten, so fehlt es an aller entgegenstre-
benden Kraft, und mithin an allem Gleichgewicht. Vielleicht
liegt sogar hierin auch ein Grund der häufigen Veränderungen
der Verfassung der alten Staaten. Jede Verfassung wirkte so
sehr auf den Nationalcharakter, dieser, bestimmt gebildet, artete
aus, und brachte eine neue hervor. Endlich wirkt öffentliche
Erziehung, wenn man ihr völlige Erreichung ihrer Absicht zuge-
stehn will, zu viel. Um die in einem Staat nothwendige Sicher-
heit zu erhalten, ist Umformung der Sitten selbst nicht noth-
wendig. Allein die Gründe, womit ich diese Behauptung zu
unterstützen gedenke, bewahre ich der Folge auf, da sie auf
das ganze Bestreben des Staats, auf die Sitten zu wirken, Be-
zug haben, und mir noch vorher von einem Paar einzelner, zu
demselben gehöriger Mittel zu reden übrig bleibt. Oeffentliche
Erziehung scheint mir daher ganz ausserhalb der Schranken zu
liegen, in welchen der Staat seine Wirksamkeit halten muss Ainsi c’est peut-être un problême de savoir, si les législateurs Français doi-
veut s’occuper de l’éducation publique autrement que pour en protéger les progrès,
et si la constitution la plus favorable au développement du moi humain et les
lois les plus propres à mettre chacun à sa place ne sont pas la seule éducation,
que le peuple doive attendre d’eux. l. c. p. 11. D’après cela, les principes rigou-
reux sembleraient exiger que l’Assemblée Nationale ne s’occupât de l’éducation
que pour l’enlever à des pouvoirs, ou à des corps qui peuvent en dépraver l’in-
fluence. l. c. p. 12..
VII.
Religion.
Historischer Blick auf die Art, wie die Staaten sich der Religion bedient haben.
— Jedes Einmischen des Staats in die Religion führt Begünstigung gewisser Mei-
nungen, mit Ausschliessung andrer, und einen Grad der Leitung der Bürger mit
sich. — Allgemeine Betrachtungen über den Einfluss der Religion auf den Geist
und den Charakter des Menschen. — Religion und Moralität sind nicht unzertrenn-
lich mit einander verbunden. Denn — der Ursprung aller Religionen ist gänz-
lich subjektiv; — Religiosität und der gänzliche Mangel derselben können gleich
wohlthätige Folgen für die Moralität hervorbringen; — die Grundsätze der Moral
sind von der Religion völlig unabhängig; — und die Wirksamkeit aller Religion
beruht allein auf der individuellen Beschaffenheit des Menschen; — so dass das-
jenige, was allein auf die Moralität wirkt, nicht der Inhalt gleichsam der Reli-
gionssysteme ist, sondern die Form des innern Annehmens derselben. — Anwen-
dung dieser Betrachtungen auf die gegenwärtige Untersuchung, und Prüfung der
Frage: ob der Staat sich der Religion, als eines Wirkungsmittels bedienen müsse?
— Alle Beförderung der Religion durch den Staat bringt aufs Höchste gesetz-
mässige Handlungen hervor. — Dieser Erfolg aber darf dem Staate nicht genü-
gen, welcher die Bürger dem Gesetze folgsam, nicht blos ihre Handlungen mit
demselben übereinstimmend machen soll. — Derselbe ist auch an sich ungewiss,
sogar unwahrscheinlich, und wenigstens durch andere Mittel besser erreichbar,
als durch jenes. — Jenes Mittel führt überdies so überwiegende Nachtheile mit
sich, dass schon diese den Gebrauch desselben gänzlich verbieten. — Gelegent-
liche Beantwortung eines hiebei möglichen, von dem Mangel an Kultur mehrerer
Volksklassen hergenommenen Einwurfs. — Endlich, was die Sache aus den
höchsten und allgemeinsten Gesichtspunkten entscheidet, ist dem Staat gerade
zu dem Einzigen, was wahrhaft auf die Moralität wirkt, zu der Form des innern
Annehmens von Religionsbegriffen, der Zugang gänzlich verschlossen. — Daher
liegt alles, was die Religion betrifft, ausserhalb der Gränzen der Wirksamkeit
des Staats.
Ausser der eigentlichen Erziehung der Jugend gibt es noch
ein anderes Mittel auf den Charakter und die Sitten der Nation
zu wirken, durch welches der Staat gleichsam den erwachsenen,
reif gewordenen Menschen erzieht, sein ganzes Leben hindurch
seine Handlungsweise und Denkungsart begleitet, und dersel-
ben diese oder jene Richtung zu ertheilen, oder sie wenigstens
vor diesem oder jenem Abwege zu bewahren versucht — die
Religion. Alle Staaten, soviel uns die Geschichte aufzeigt,
haben sich dieses Mittels, obgleich in sehr verschiedener Ab-
sicht, und in verschiedenem Maasse bedient. Bei den Alten war
die Religion mit der Staatsverfassung innigst verbunden, eigent-
lich politische Stütze oder Triebfeder derselben, und es gilt
daher davon alles das, was ich im Vorigen über ähnliche Ein-
richtungen der Alten bemerkt habe. Als die christliche Reli-
gion, statt der ehemaligen Partikulargottheiten der Nationen,
eine allgemeine Gottheit aller Menschen lehrte, dadurch eine
der gefährlichsten Mauern umstürzte, welche die verschiedenen
Stämme des Menschengeschlechts von einander absonderten,
und damit den wahren Grund aller wahren Menschentugend,
Menschenentwickelung und Menschenvereinigung legte, ohne
welche Aufklärung, und Kenntnisse und Wissenschaften selbst
noch sehr viel länger, wenn nicht immer, ein seltenes Eigenthum
einiger Wenigen geblieben wären; wurde das Band zwischen
der Verfassung des Staats und der Religion lockerer. Als
aber nachher der Einbruch barbarischer Völker die Aufklärung
verscheuchte, Missverstand eben jener Religion einen blinden
und intoleranten Eifer Proselyten zu machen eingab, und die
politische Gestalt der Staaten zugleich so verändert war, dass
man, statt der Bürger, nur Unterthanen, und nicht sowohl des
Staats, als des Regenten fand, wurde Sorgfalt für die Erhal-
tung und Ausbreitung der Religion aus eigener Gewissenhaf-
tigkeit der Fürsten geübt, welche dieselbe ihnen von der Gott-
heit selbst anvertraut glaubten. In neueren Zeiten ist zwar
dies Vorurtheil seltener geworden, allein der Gesichtspunkt der
innerlichen Sicherheit und der Sittlichkeit — als ihrer festesten
Schutzwehr — hat die Beförderung der Religion durch Gesetze
und Staatseinrichtungen nicht minder dringend empfohlen.
Dies, glaube ich, wären etwa die Hauptepochen in der Reli-
gionsgeschichte der Staaten, ob ich gleich nicht läugnen will,
dass jede der angeführten Rücksichten, und vorzüglich die
letzte überall mitwirken mochte, indess freilich Eine die vor-
züglichste war. Bei dem Bemühen, durch Religionsideen auf
die Sitten zu wirken, muss man die Beförderung einer bestimm-
ten Religion von der Beförderung der Religiösität überhaupt
unterscheiden. Jene ist unstreitig drückender und verderb-
licher, als diese. Allein überhaupt ist nur diese nicht leicht,
ohne jene, möglich. Denn wenn der Staat einmal Moralität
und Religiösität unzertrennbar vereint glaubt, und es für
möglich und erlaubt hält, durch dies Mittel zu wirken; so ist
es kaum möglich, dass er nicht, bei der verschiedenen Ange-
messenheit verschiedener Religionsmeinungen zu der wahren
oder angenommenen Ideen nach geformten Moralität eine
vorzugsweise vor der andern in Schutz nehme. Selbst wenn
er dies gänzlich vermeidet, und gleichsam als Beschützer und
Vertheidiger aller Religionspartheien auftritt; so muss er doch,
da er nur nach den äusseren Handlungen zu urtheilen vermag,
die Meinungen dieser Partheien mit Unterdrückung der
möglichen abweichenden Meinungen Einzelner begünstigen;
und wenigstens interessirt er sich auf alle Fälle insofern für
Eine Meinung, als er den auf’s Leben einwirkenden Glauben
an eine Gottheit allgemein zum herrschenden zu machen
sucht. Hierzu kommt nun noch über dies alles, dass, bei der
Zweideutigkeit aller Ausdrücke, bei der Menge der Ideen,
welche sich Einem Wort nur zu oft unterschieben lassen, der
Staat selbst dem Ausdruck Religiösität eine bestimmte Bedeu-
tung unterlegen müsste, wenn er sich desselben irgend, als
einer Richtschnur bedienen wollte. So ist daher, meines Erach-
tens, schlechterdings keine Einmischung des Staats in Reli-
gionssachen möglich, welche sich nicht, nur mehr oder minder,
die Begünstigung gewisser bestimmter Meinungen zu Schul-
den kommen liesse, und folglich nicht die Gründe gegen sich
gelten lassen müsste, welche von einer solchen Begünstigung
hergenommen sind. Eben so wenig halte ich eine Art dieses
Einmischens möglich, welche nicht wenigstens gewissermaassen
eine Leitung, eine Hemmung der Freiheit der Individuen mit
sich führte. Denn wie verschieden auch sehr natürlich der Ein-
fluss von eigentlichem Zwange, blosser Aufforderung, und
endlich blosser Verschaffung leichterer Gelegenheit zu Beschäf-
tigung mit Religionsideen ist; so ist doch selbst in dieser letz-
teren, wie im Vorigen bei mehreren ähnlichen Einrichtungen
ausführlicher zu zeigen versucht worden ist, immer ein gewisses,
die Freiheit einengendes Uebergewicht der Vorstellungsart des
Staats. Diese Bemerkungen habe ich vorausschicken zu müssen
geglaubt, um bei der folgenden Untersuchung dem Einwurfe
zu begegnen, dass dieselbe nicht von der Sorgfalt für die Beför-
derung der Religion überhaupt, sondern nur von einzelnen
Gattungen derselben rede, und um dieselbe nicht durch eine
ängstliche Durchgehung der einzelnen möglichen Fälle zu sehr
zerstückeln zu dürfen.
Alle Religion — und zwar rede ich hier von Religion, inso-
fern sie sich auf Sittlichkeit und Glückseligkeit bezieht, und
folglich in Gefühl übergegangen ist, nicht insofern die Ver-
nunft irgend eine Religionswahrheit wirklich erkennt, oder zu
erkennen meint, da Einsicht der Wahrheit unabhängig ist von
allen Einflüssen des Wollens oder Begehrens, oder insofern
Offenbarung irgend eine bekräftigt, da auch der historische
Glaube dergleichen Einflüssen nicht unterworfen sein darf —
alle Religion, sage ich, beruht auf einem Bedürfniss der Seele.
Wir hoffen, wir ahnden, weil wir wünschen. Da, wo noch alle
Spur geistiger Kultur fehlt, ist auch das Bedürfniss bloss sinn-
lich. Furcht und Hoffnung bei Naturbegebenheiten, welche die
Einbildungskraft in selbstthätige Wesen verwandelt, machen
den Inbegriff der ganzen Religion aus. Wo geistige Kultur
anfängt, genügt dies nicht mehr. Die Seele sehnt sich dann
nach dem Anschauen einer Vollkommenheit, von der ein Funke
in ihr glimmt, von der sie aber ein weit höheres Maass ausser
sich ahndet. Dies Anschauen geht in Bewunderung, und wenn
der Mensch sich ein Verhältniss zu jenem Wesen hinzudenkt,
in Liebe über, aus welcher Begierde des Aehnlichwerdens, der
Vereinigung entspringt. Dies findet sich auch bei denjenigen
Völkern, welche noch auf den niedrigsten Stufen der Bildung
stehen. Denn daraus entspringt es, wenn selbst bei den
rohesten Völkern die Ersten der Nation sich von den Göttern
abzustammen, zu ihnen zurückzukehren wähnen. Nur ver-
schieden ist die Vorstellung der Gottheit nach der Verschie-
denheit der Vorstellung von Vollkommenheit, die in jedem Zeit-
alter und unter jeder Nation herrscht. Die Götter der ältesten
Griechen und Römer, und die Götter unserer entferntesten
Vorfahren waren Ideale körperlicher Macht und Stärke. Als
die Idee des sinnlich Schönen entstand und verfeinert ward,
erhob man die personificirte sinnliche Schönheit auf den Thron
der Gottheit, und so entstand die Religion, welche man Reli-
gion der Kunst nennen könnte. Als man sich von dem Sinn-
lichen zum rein Geistigen, von dem Schönen zum Guten und
Wahren erhob, wurde der Inbegriff aller intellektuellen und
moralischen Vollkommenheit Gegenstand der Anbetung, und
die Religion ein Eigenthum der Philosophie. Vielleicht könnte
nach diesem Maassstabe der Werth der verschiedenen Reli-
gionen gegen einander abgewogen werden, wenn Religionen
nach Nationen oder Partheien, nicht nach einzelnen Individuen
verschieden wären. Allein so ist Religion ganz subjektiv,
beruht allein auf der Eigenthümlichkeit der Vorstellungsart
jedes Menschen.
Wenn die Idee einer Gottheit die Frucht wahrer geistiger
Bildung ist; so wirkt sie schön und wohlthätig auf die innere
Vollkommenheit zurück. Alle Dinge erscheinen uns in verän-
derter Gestalt, wenn sie Geschöpfe planvoller Absicht, als
wenn sie ein Werk eines vernunftlosen Zufalls sind. Die Ideen
von Weisheit, Ordnung, Absicht, die uns zu unserm Handeln,
und selbst zur Erhöhung unsrer intellektuellen Kräfte so noth-
wendig sind, fassen festere Wurzel in unserer Seele, wenn wir
5
sie überall entdecken. Das Endliche wird gleichsam unendlich,
das Hinfällige bleibend, das Wandelbare stät, das Verschlun-
gene einfach, wenn wir uns Eine ordnende Ursach an der Spitze
der Dinge, und eine endlose Dauer der geistigen Substanzen
denken. Unser Forschen nach Wahrheit, unser Streben nach
Vollkommenheit gewinnt mehr Festigkeit und Sicherheit,
wenn es ein Wesen für uns giebt, das der Quell aller Wahr-
heit, der Inbegriff aller Vollkommenheit ist. Widrige Schick-
sale werden der Seele weniger fühlbar, da Zuversicht und
Hoffnung sich an sie knüpft. Das Gefühl, alles, was man
besitzt, aus der Hand der Liebe zu empfangen, erhöht zugleich
die Glückseligkeit und die moralische Güte. Durch Dankbar-
keit bei der genossenen, durch hinlehnendes Vertrauen bei der
ersehnten Freude geht die Seele aus sich heraus, brütet nicht
immer, in sich verschlossen, über den eignen Empfindungen,
Planen, Besorgnissen, Hoffnungen. Wenn sie das erhebende
Gefühl entbehrt, sich allein alles zu danken; so geniesst sie das
entzückende, in der Liebe eines andern Wesens zu leben, ein
Gefühl, worin die eigne Vollkommenheit sich mit der Vollkom-
menheit jenes Wesens gattet. Sie wird gestimmt, andren zu
sein, was andre ihr sind; will nicht, dass andre ebenso alles
aus sich selbst nehmen sollen, als sie nichts von andern empfängt.
Ich habe hier nur die Hauptmomente dieser Untersuchung
berührt. Tiefer in den Gegenstand einzugehen, würde, nach
Garves meisterhafter Ausführung, unnütz und vermessen sein.
So mitwirkend aber auf der einen Seite religiöse Ideen bei
der moralischen Vervollkommnung sind; so wenig sind sie
doch auf der andern Seite unzertrennlich damit verbunden.
Die blosse Idee geistiger Vollkommenheit ist gross und füllend
und erhebend genug, um nicht mehr einer andern Hülle oder
Gestalt zu bedürfen. Und doch liegt jeder Religion eine Per-
sonificirung, eine Art der Versinnlichung zum Grunde, ein
Anthropomorphismus in höherem oder geringerem Grade.
Jene Idee der Vollkommenheit wird auch demjenigen unauf-
hörlich vorschweben, der nicht gewohnt ist, die Summe alles
moralisch Guten in Ein Ideal zusammenzufassen, und sich in
Verhältniss zu diesem Wesen zu denken; sie wird ihm Antrieb
zur Thätigkeit, Stoff aller Glückseligkeit sein. Fest durch die
Erfahrung überzeugt, dass seinem Geiste Fortschreiten in
höherer moralischer Stärke möglich ist, wird er mit muthigem
Eifer nach dem Ziele streben, das er sich steckt. Der Gedanke
der Möglichkeit der Vernichtung seines Daseins wird ihn nicht
schrecken, sobald seine täuschende Einbildungskraft nicht mehr
im Nichtsein das Nichtsein noch fühlt. Seine unabänderliche
Abhängigkeit von äusseren Schicksalen drückt ihn nicht;
gleichgültiger gegen äusseres Geniessen und Entbehren, blickt
er nur auf das rein Intellektuelle und Moralische hin, und kein
Schicksal vermag etwas über das Innere seiner Seele. Sein
Geist fühlt sich durch Selbstgenügsamkeit unabhängig, durch
die Fülle seiner Ideen, und das Bewusstsein seiner innern
Stärke über den Wandel der Dinge gehoben. Wenn er nun in
seine Vergangenheit zurückgeht, Schritt vor Schritt aufsucht,
wie er jedes Ereigniss bald auf diese, bald auf jene Weise
benutzte, wie er nach und nach zu dem ward, was er jetzt ist,
wenn er so Ursach und Wirkung, Zweck und Mittel, alles in
sich vereint sieht, und dann, voll des edelsten Stolzes, dessen
endliche Wesen fähig sind, ausruft:
Hast du nicht alles selbst vollendet,
Heilig glühend Herz Göthe. Prometheus II. p. 63. (Ausg. v. 1840.)?
wie müssen da in ihm alle die Ideen von Alleinsein, von Hülf-
losigkeit, von Mangel an Schutz und Trost und Beistand ver-
schwinden, die man gewöhnlich da glaubt, wo eine persönliche,
ordnende, vernünftige Ursach der Kette des Endlichen fehlt?
Dieses Selbstgefühl, dieses in und durch sich Sein wird ihn
5*
auch nicht hart und unempfindlich gegen andre Wesen machen,
sein Herz nicht der theilnehmenden Liebe und jeder wohl-
wollenden Neigung verschliessen. Eben diese Idee der Voll-
kommenheit, die warlich nicht blos kalte Idee des Verstandes
ist, sondern warmes Gefühl des Herzens sein kann, auf die sich
seine ganze Wirksamkeit bezieht, trägt sein Dasein in das
Dasein andrer über. Es liegt ja in ihnen gleiche Fähigkeit zu
grösserer Vollkommenheit, diese Vollkommenheit kann er her-
vorbringen oder erhöhen. Er ist noch nicht ganz von dem
höchsten Ideale aller Moralität durchdrungen, so lange er noch
sich oder andre einzeln zu betrachten vermag, so lange nicht
alle geistige Wesen in der Summe der in ihnen einzeln zer-
streut liegenden Vollkommenheit in seiner Vorstellung zusam-
menfliessen. Vielleicht ist seine Vereinigung mit den übrigen,
ihm gleichartigen Wesen noch inniger, seine Theilnahme an
ihrem Schicksale noch wärmer, je mehr sein und ihr Schicksal,
seiner Vorstellung nach, allein von ihm und von ihnen abhängt.
Setzt man vielleicht, und nicht mit Unrecht dieser Schil-
derung den Einwurf entgegen, dass sie, um Realität zu erhal-
ten, eine ausserordentliche, nicht blos gewöhnliche Stärke des
Geistes und des Charakters erfordert; so darf man wiederum
nicht vergessen, dass dies in gleichem Grade da der Fall ist,
wo religiöse Gefühle ein wahrhaft schönes, von Kälte und
Schwärmerei gleich fernes Dasein hervorbringen sollen. Auch
würde dieser Einwurf überhaupt nur passend sein, wenn ich
die Beförderung der zuletzt geschilderten Stimmung vorzugs-
weise empfohlen hätte. Allein so geht meine Absicht schlech-
terdings allein dahin, zu zeigen, dass die Moralität, auch bei
der höchsten Konsequenz des Menschen, schlechterdings nicht
von der Religion abhängig, oder überhaupt nothwendig mit ihr
verbunden ist, und dadurch auch an meinem Theile zu der Ent-
fernung auch des mindesten Schattens von Intoleranz, und der
Beförderung derjenigen Achtung beizutragen, welche den
Menschen immer für die Denkungs- und Empfindungsweise
des Menschen erfüllen sollte. Um diese Vorstellungsart noch
mehr zu rechtfertigen, könnte ich jetzt auf der andern Seite
auch den nachtheiligen Einfluss schildern, welches die religiöseste
Stimmung, wie die am meisten entgegengesetzte, fähig ist.
Allein es ist gehässig, bei so wenig angenehmen Gemälden zu
verweilen, und die Geschichte schon stellt ihrer zur Genüge auf.
Vielleicht führt es auch sogar eine grössere Evidenz mit sich,
auf die Natur der Moralität selbst, und auf die genaue Ver-
bindung, nicht blos der Religiösität, sondern auch der Reli-
gionssysteme der Menschen mit ihren Empfindungssystemen
einen flüchtigen Blick zu werfen.
Nun ist weder dasjenige, was die Moral, als Pflicht vor-
schreibt, noch dasjenige, was ihren Gesetzen gleichsam die
Sanktion giebt, was ihnen Interesse für den Willen leiht, von
Religionsideen abhängig. Ich führe hier nicht an, dass eine
solche Abhängigkeit sogar der Reinheit des moralischen Willens
Abbruch thun würde. Man könnte vielleicht diesem Grundsatz
in einem, aus der Erfahrung geschöpften, und auf die Erfah-
rung anzuwendenden Raisonnement, wie das gegenwärtige, die
hinlängliche Gültigkeit absprechen. Allein die Beschaffen-
heiten einer Handlung, welche dieselbe zur Pflicht machen,
entspringen theils aus der Natur der menschlichen Seele, theils
aus der näheren Anwendung auf die Verhältnisse der Menschen
gegen einander; und wenn dieselben auch unläugbar in einem
ganz vorzüglichen Grade durch religiöse Gefühle empfohlen
werden, so ist dies weder das einzige, noch auch bei weitem
ein auf alle Charaktere anwendbares Mittel. Vielmehr beruht
die Wirksamkeit der Religion schlechterdings auf der indivi-
duellen Beschaffenheit der Menschen, und ist im strengsten
Verstande subjektiv. Der kalte, bloss nachdenkende Mensch,
in dem die Erkenntniss nie in Empfindung übergeht, dem es
genug ist, das Verhältniss der Dinge und Handlungen einzu-
sehen, um seinen Willen darnach zu bestimmen, bedarf keines
Religionsgrundes, um tugendhaft zu handeln, und, soviel es
seinem Charakter nach möglich ist, tugendhaft zu sein. Ganz
anders ist es hingegen, wo die Fähigkeit zu empfinden sehr stark
ist, wo jeder Gedanke leicht Gefühl wird. Allein auch hier
sind die Nuancen unendlich verschieden. Wo die Seele einen
starken Hang fühlt, aus sich hinaus in andre überzugehen, an
andre sich anzuschliessen, da werden Religionsideen wirksame
Triebfedern sein. Dagegen giebt es Charaktere, in welchen
eine so innige Konsequenz aller Ideen und Empfindungen
herrscht, die eine so grosse Tiefe der Erkenntniss und des
Gefühls besitzen, dass daraus eine Stärke und Selbstständig-
keit hervorgeht, welche das Hingeben des ganzen Seins an ein
fremdes Wesen, das Vertrauen auf fremde Kraft, wodurch sich
der Einfluss der Religion so vorzüglich äussert, weder fordert
noch erlaubt. Selbst die Lagen, welche erfordert werden, um
auf Religionsideen zurückzukommen, sind nach Verschieden-
heit der Charaktere verschieden. Bei dem einen ist jede starke
Rührung — Freude oder Kummer — bei dem andern nur das
frohe Gefühl aus dem Genuss entspringender Dankbarkeit
dazu hinreichend. Die letzteren Charaktere verdienen vielleicht
nicht die wenigste Schätzung. Sie sind auf der einen Seite
stark genug, um im Unglück nicht fremde Hülfe zu suchen,
und haben auf der andern zu viel Sinn für das Gefühl geliebt
zu werden, um nicht an die Idee des Genusses gern die Idee
eines liebevollen Gebers zu knüpfen. Oft hat auch die Sehn-
sucht nach religiösen Ideen noch einen edleren, reineren, wenn
ich so sagen darf, mehr intellektuellen Quell. Was der Mensch
irgend um sich her erblickt, vermag er allein durch die Vermittlung
seiner Organe aufzufassen; nirgends offenbart sich ihm unmit-
telbar das reine Wesen der Dinge; gerade das, was am hef-
tigsten seine Liebe erregt, am unwiderstehlichsten sein ganzes
Inneres ergreift, ist mit dem dichtesten Schleier umhüllt; sein
ganzes Leben hindurch ist seine Thätigkeit Bestreben, den
Schleier zu durchdringen, seine Wollust Ahnden der Wahrheit
in dem Räthsel des Zeichens, Hoffen der unvermittelten An-
schauung in anderen Perioden seines Daseins. Wo nun, in
wundervoller und schöner Harmonie, nach der unvermittelten
Anschauung des wirklichen Daseins der Geist rastlos forscht,
und das Herz sehnsuchtsvoll verlangt, wo der Tiefe der Denk-
kraft nicht die Dürftigkeit des Begriffs, und der Wärme des
Gefühls nicht das Schattenbild der Sinne und der Phantasie
genügt; da folgt der Glaube unaufhaltbar dem eigenthüm-
lichen Triebe der Vernunft, jeden Begriff, bis zur Hinwegräu-
mung aller Schranken, bis zum Ideal zu erweitern, und heftet
sich fest an ein Wesen, das alle andre Wesen umschliesst, und
rein und ohne Vermittlung existirt, anschaut und schafft.
Allein oft beschränkt auch eine genügsame Bescheidenheit den
Glauben innerhalb des Gebiets der Erfahrung; oft vergnügt
sich zwar das Gefühl gern an dem der Vernunft so eignen
Ideal, findet aber einen wollustvolleren Reiz in dem Bestreben,
eingeschränkt auf die Welt, für die ihm Empfänglichkeit
gewährt ist, die sinnliche und unsinnliche Natur enger zu ver-
weben, dem Zeichen einen reicheren Sinn, und der Wahrheit
ein verständlicheres, ideenfruchtbareres Zeichen zu leihen; und
oft wird so der Mensch für das Entbehren jener trunkenen
Begeisterung hoffender Erwartung, indem er seinem Blicke in
unendliche Fernen zu schweifen verbietet, durch das ihn immer
begleitende Bewusstsein des Gelingens seines Bestrebens ent-
schädigt. Sein minder kühner Gang ist doch sichrer; der Begriff
des Verstandes, an den er sich festhält, bei minderem Reich-
thum, doch klarer; die sinnliche Anschauung, wenn gleich
weniger der Wahrheit treu, doch für ihn tauglicher, zur Erfah-
rung verbunden zu werden. Nichts bewundert der Geist des
Menschen überhaupt so willig und mit so voller Einstimmung
seines Gefühls, als weisheitsvolle Ordnung in einer zahllosen
Menge mannigfaltiger, vielleicht sogar mit einander streitender
Individuen. Indess ist diese Bewunderung einigen noch in
einem bei weitem vorzüglicheren Grade eigen, und diese ver-
folgen daher vor allem gern die Vorstellungsart, nach welcher
Ein Wesen die Welt schuf und ordnete, und mit sorgender
Weisheit erhält. Allein andern ist gleichsam die Kraft des
Individuums heiliger, andre fesselt diese mehr, als die Allge-
meinheit der Anordnung, und es stellt sich ihnen daher öfter
und natürlicher der, wenn ich so sagen darf, entgegengesetzte
Weg dar, der nämlich, auf welchen das Wesen der Individuen
selbst, indem es sich in sich entwickelt, und durch Einwirkung
gegenseitig modificirt, sich selbst zu der Harmonie stimmt, in
welcher allein der Geist, wie das Herz des Menschen, zu ruhen
vermag. Ich bin weit entfernt zu wähnen, mit diesen wenigen
Schilderungen die Mannigfaltigkeit des Stoffs, dessen Reich-
thum jeder Klassifikation widerstrebt, erschöpft zu haben. Ich
habe nur an ihnen, wie an Beispielen zeigen wollen, dass die
wahre Religiösität, so wie auch jedes wahre Religionssystem,
im höchsten Verstande aus dem innersten Zusammenhange der
Empfindungsweise des Menschen entspringt. Unabhängig von
der Empfindung und der Verschiedenheit des Charakters ist
nun zwar das, was in den Religionsideen rein Intellektuelles
liegt, die Begriffe von Absicht, Ordnung, Zweckmässigkeit,
Vollkommenheit. Allein einmal ist hier nicht sowohl von diesen
Begriffen an sich, als von ihrem Einfluss auf die Menschen die
Rede, welcher letztere unstreitig keinesweges eine gleiche
Unabhängigkeit behauptet; und dann sind auch diese der Reli-
gion nicht ausschliessend eigen. Die Idee von Vollkommenheit
wird zuerst aus der lebendigen Natur geschöpft, dann auf die
leblose übergetragen, endlich nach und nach, bis zu dem All-
vollkommenen hinauf von allen Schranken entblösst. Nun aber
bleiben lebendige und leblose Natur dieselben, und ist es nicht
möglich, die ersten Schritte zu thun, und doch vor dem letzten
stehen zu bleiben? Wenn nun alle Religiösität so gänzlich auf
den mannigfaltigen Modifikationen des Charakters und vor-
züglich des Gefühls beruht; so muss auch ihr Einfluss auf die
Sittlichkeit ganz und gar nicht von der Materie gleichsam des
Inhalts der angenommenen Sätze, sondern von der Form des
Annehmens, der Ueberzeugung, des Glaubens abhängig sein.
Diese Bemerkung, die mir gleich in der Folge von grossem
Nutzen sein wird, hoffe ich durch das Bisherige hinlänglich
gerechtfertigt zu haben. Was ich vielleicht allein hier noch
fürchten darf, ist der Vorwurf, in allem, was ich sagte, nur den
sehr von der Natur und den Umständen begünstigten, interes-
santen, und eben darum seltenen Menschen vor Augen gehabt
zu haben. Allein die Folge wird, hoffe ich, zeigen, dass ich
den freilich grösseren Haufen keineswegs übersehe, und es
scheint mir unedel, überall da, wo es der Mensch ist, welcher
die Untersuchung beschäftigt, nicht aus den höchsten Gesichts-
punkten auszugehen.
Kehre ich jetzt — nach diesem allgemeinen, auf die Religion
und ihren Einfluss im Leben geworfenen Blick — auf die Frage
zurück, ob der Staat durch die Religion auf die Sitten der Bür-
ger wirken darf oder nicht? so ist es gewiss, dass die Mittel,
welche der Gesetzgeber zum Behuf der moralischen Bildung
anwendet, immer in dem Grade nützlich und zweckmässig sind,
in welchem sie die innere Entwickelung der Fähigkeiten und
Neigungen begünstigen. Denn alle Bildung hat ihren Ursprung
allein in dem Innern der Seele, und kann durch äussere Veran-
staltungen nur veranlasst, nie hervorgebracht werden. Dass
nun die Religion, welche ganz auf Ideen, Empfindungen und
innerer Ueberzeugung beruht, ein solches Mittel sei, ist unläug-
bar. Wir bilden den Künstler, indem wir sein Auge an den
Meisterwerken der Kunst üben, seine Einbildungskraft mit den
schönen Gestalten der Produkte des Alterthums nähren. Ebenso
muss der sittliche Mensch gebildet werden durch das Anschauen
hoher moralischer Vollkommenheit, im Leben durch Umgang,
und durch zweckmässiges Studium der Geschichte, endlich
durch das Anschauen der höchsten, idealischen Vollkommenheit
im Bilde der Gottheit. Aber diese letztere Ansicht ist, wie ich
im Vorigen gezeigt zu haben glaube, nicht für jedes Auge
gemacht, oder um ohne Bild zu reden, diese Vorstellungsart ist
nicht jedem Charakter angemessen. Wäre sie es aber auch;
so ist sie doch nur da wirksam, wo sie aus dem Zusammenhange
aller Ideen und Empfindungen entspringt, wo sie mehr von
selbst aus dem Innern der Seele hervorgeht, als von aussen in
dieselbe gelegt wird. Wegräumung der Hindernisse, mit Reli-
gionsideen vertraut zu werden, und Begünstigung des freien
Untersuchungsgeistes sind folglich die einzigen Mittel, deren
der Gesetzgeber sich bedienen darf; geht er weiter, sucht er die
Religiosität direkt zu befördern, oder zu leiten, oder nimmt er
gar gewisse bestimmte Ideen in Schutz, fordert er, statt wah-
rer Ueberzeugung, Glauben auf Autorität; so hindert er das
Aufstreben des Geistes, die Entwicklung der Seelenkräfte; so
bringt er vielleicht durch Gewinnung der Einbildungskraft,
durch augenblickliche Rührungen Gesetzmässigkeit der Hand-
lungen seiner Bürger, aber nie wahre Tugend hervor. Denn
wahre Tugend ist unabhängig von aller, und unverträglich mit
befohlner, und auf Autorität geglaubter Religion.
Wenn jedoch gewisse Religionsgrundsätze auch nur gesetz-
mässige Handlungen hervorbringen, ist dies nicht genug, um
den Staat zu berechtigen, sie, auch auf Kosten der allgemeinen
Denkfreiheit, zu verbreiten? Die Absicht des Staats wird
erreicht, wenn seine Gesetze streng befolgt werden; und der
Gesetzgeber hat seiner Pflicht ein Genüge gethan, wenn er
weise Gesetze giebt, und ihre Beobachtung von seinen Bürgern
zu erhalten weiss. Ueberdies passt jener aufgestellte Begriff
von Tugend nur auf einige wenige Klassen der Mitglieder eines
Staats, nur auf die, welche ihre äussere Lage in den Stand
setzt, einen grossen Theil ihrer Zeit und ihrer Kräfte dem Ge-
schäfte ihrer inneren Bildung zu weihen. Die Sorgfalt des
Staats muss sich auf die grössere Anzahl erstrecken, und diese
ist jenes höheren Grades der Moralität unfähig.
Ich erwähne hier nicht mehr die Sätze, welche ich in dem
Anfange dieses Aufsatzes zu entwickeln versucht habe, und die
in der That den Grund dieser Einwürfe umstossen, die Sätze
nämlich, dass die Staatseinrichtung an sich nicht Zweck, son-
dern nur Mittel zur Bildung des Menschen ist, und dass es
daher dem Gesetzgeber nicht genügen kann, seinen Aussprüchen
Autorität zu verschaffen, wenn nicht zugleich die Mittel, wodurch
diese Autorität bewirkt wird, gut, oder doch unschädlich sind.
Es ist aber auch unrichtig, dass dem Staate allein die Hand-
lungen seiner Bürger und ihre Gesetzmässigkeit wichtig sei.
Ein Staat ist eine so zusammengesetzte und verwickelte Ma-
schine, dass Gesetze, die immer nur einfach, allgemein, und von
geringer Anzahl sein müssen, unmöglich allein darin hinreichen
können. Das Meiste bleibt immer den freiwilligen einstimmi-
gen Bemühungen der Bürger zu thun übrig. Man braucht nur
den Wohlstand kultivirter und aufgeklärter Nationen mit der
Dürftigkeit roher und ungebildeter Völker zu vergleichen, um
von diesem Satze überzeugt zu werden. Daher sind auch die
Bemühungen aller, die sich je mit Staatseinrichtungen beschäf-
tigt haben, immer dahin gegangen, das Wohl des Staats zum
eignen Interesse des Bürgers zu machen, und den Staat in eine
Maschine zu verwandeln, die durch die innere Kraft ihrer Trieb-
federn in Gang erhalten würde, und nicht unaufhörlich neuer
äusserer Einwirkungen bedürfte. Wenn die neueren Staaten
sich eines Vorzugs vor den alten rühmen dürfen; so ist es vor-
züglich weil sie diesen Grundsatz mehr realisirten. Selbst dass
sie sich der Religion, als eines Bildungsmittels bedienen, ist ein
Beweis davon. Doch auch die Religion, insofern nämlich durch
gewisse bestimmte Sätze nur gute Handlungen hervorgebracht,
oder durch positive Leitung überhaupt auf die Sitten gewirkt
werden soll, wie es hier der Fall ist, ist ein fremdes, von aussen
einwirkendes Mittel. Daher muss es immer des Gesetzgebers
letztes, aber — wie ihn wahre Kenntniss des Menschen bald
lehren wird — nur durch Gewährung der höchsten Freiheit
erreichbares Ziel bleiben, die Bildung der Bürger bis dahin zu
erhöhen, dass sie alle Triebfedern zur Beförderung des Zwecks
des Staats allein in der Idee des Nutzens finden, welchen ihnen
die Staatseinrichtung zu Erreichung ihrer individuellen Ab-
sichten gewährt. Zu dieser Einsicht aber ist Aufklärung und
hohe Geistesbildung nothwendig, welche da nicht emporkom-
men können, wo der freie Untersuchungsgeist durch Gesetze
beschränkt wird.
Nur dass man sich überzeugt hält, ohne bestimmte, geglaubte
Religionssätze oder wenigstens ohne Aufsicht des Staats auf
die Religion der Bürger, können auch äussere Ruhe und Sitt-
lichkeit nicht bestehen, ohne sie sei es der bürgerlichen Gewalt
unmöglich, das Ansehen der Gesetze zu erhalten, macht, dass
man jenen Betrachtungen kein Gehör giebt. Und doch bedurfte
der Einfluss, den Religionssätze, die auf diese Weise angenom-
men werden und überhaupt jede, durch Veranstaltungen des
Staats beförderte Religiosität haben soll, wohl erst einer stren-
geren und genaueren Prüfung. Bei dem rohen Theile des Volks
rechnet man von allen Religionswahrheiten am meisten auf
die Ideen künftiger Belohnungen und Bestrafungen. Diese
mindern den Hang zu unsittlichen Handlungen nicht, beför-
dern nicht die Neigung zum Guten, verbessern also den
Charakter nicht, sie wirken blos auf die Einbildungskraft,
haben folglich, wie Bilder der Phantasie überhaupt, Ein-
fluss auf die Art zu handeln, ihr Einfluss wird aber auch
durch alles das vermindert, und aufgehoben, was die Leb-
haftigkeit der Einbildungskraft schwächt. Nimmt man nun
hinzu, dass diese Erwartungen so entfernt, und darum, selbst
nach den Vorstellungen der Gläubigsten, so ungewiss sind,
dass die Ideen von nachheriger Reue, künftiger Besserung,
gehoffter Verzeihung, welche durch gewisse Religionsbegriffe so
sehr begünstigt werden — ihnen einen grossen Theil ihrer
Wirksamkeit wiederum nehmen; so ist es unbegreiflich, wie
diese Ideen mehr wirken sollten, als die Vorstellung bürger-
licher Strafen, die nah, bei guten Polizeianstalten gewiss, und
weder durch Reue, noch nachfolgende Besserung abwendbar
sind, wenn man nur von Kindheit an die Bürger ebenso mit
diesen, als mit jenen Folgen sittlicher und unsittlicher Hand-
lungen bekannt machte. Unläugbar wirken freilich auch weni-
ger aufgeklärte Religionsbegriffe bei einem grossen Theile des
Volks auf eine edlere Art. Der Gedanke, Gegenstand der
Fürsorge eines allweisen und vollkommenen Wesens zu sein,
giebt ihnen mehr Würde, die Zuversicht einer endlosen Dauer
führt sie auf höhere Gesichtspunkte, bringt mehr Absicht und
Plan in ihre Handlungen, das Gefühl der liebevollen Güte der
Gottheit giebt ihrer Seele eine ähnliche Stimmung, kurz die
Religion flösst ihnen Sinn für die Schönheit der Tugend ein.
Allein wo die Religion diese Wirkungen haben soll, da muss
sie schon in den Zusammenhang der Ideen und Empfindungen
ganz übergegangen sein, welches nicht leicht möglich ist, wenn
der freie Untersuchungsgeist gehemmt, und alles auf den Glau-
ben zurückgeführt wird; da muss auch schon Sinn für bessere
Gefühle vorhanden sein; da entspringt sie mehr aus einem,
nur noch unentwickelten Hange zur Sittlichkeit, auf den sie
hernach nur wieder zurückwirkt. Und überhaupt wird ja nie-
mand den Einfluss der Religion auf die Sittlichkeit ganz
abläugnen wollen; es fragt sich nur immer, ob er von einigen
bestimmten Religionssätzen abhängt? und dann ob er so ent-
schieden ist, dass Moralität und Religion darum in unzertrenn-
licher Verbindung mit einander stehen? Beide Fragen müssen,
glaube ich, verneint werden. Die Tugend stimmt so sehr mit
den ursprünglichen Neigungen des Menschen überein, die Ge-
fühle der Liebe, der Verträglichkeit, der Gerechtigkeit haben
so etwas Süsses, die der uneigennützigen Thätigkeit, der Auf-
opferung für andre so etwas Erhebendes, die Verhältnisse,
welche daraus im häuslichen und gesellschaftlichen Leben über-
haupt entspringen, sind so beglückend, dass es weit weniger
nothwendig ist, neue Triebfedern zu tugendhaften Handlungen
hervorzusuchen, als nur denen, welche schon von selbst in der
Seele liegen, freiere und ungehindertere Wirksamkeit zu ver-
schaffen.
Wollte man aber auch weiter gehen, wollte man neue Beför-
derungsmittel hinzufügen; so dürfte man doch nie einseitig
vergessen, ihren Nutzen gegen ihren Schaden abzuwägen. Wie
vielfach aber der Schade eingeschränkter Denkfreiheit ist, bedarf
wohl, nachdem es so oft gesagt, und wieder gesagt ist, keiner
weitläufigen Auseinandersetzung mehr; und ebenso enthält der
Anfang dieses Aufsatzes schon alles, was ich über den Nach-
theil jeder positiven Beförderung der Religiosität durch den
Staat zu sagen für nothwendig halte. Erstreckte sich dieser
Schade blos auf die Resultate der Untersuchungen, brächte er
blos Unvollständigkeit oder Unrichtigkeit in unsrer wissen-
schaftlichen Erkenntniss hervor; so möchte es vielleicht einigen
Schein haben, wenn man den Nutzen, den man von dem Cha-
rakter davon erwartet — auch erwarten darf? — dagegen
abwägen wollte. Allein so ist der Nachtheil bei weitem beträcht-
licher. Der Nutzen freier Untersuchung dehnt sich auf unsre
ganze Art, nicht blos zu denken, sondern zu handeln aus. In
einem Manne, der gewohnt ist, Wahrheit und Irrthum, ohne
Rücksicht auf äussere Verhältnisse für sich und gegen andre zu
beurtheilen, und von andren beurtheilt zu hören, sind alle Prin-
cipien des Handelns durchdachter, konsequenter, aus höheren
Gesichtspunkten hergenommen, als in dem, dessen Unter-
suchungen unaufhörlich von Umständen geleitet werden, die
nicht in der Untersuchung selbst liegen. Untersuchung und
Ueberzeugung, die aus der Untersuchung entspringt, ist Selbst-
thätigkeit; Glaube Vertrauen auf fremde Kraft, fremde intel-
lektuelle oder moralische Vollkommenheit. Daher entsteht in
dem untersuchenden Denker mehr Selbstständigkeit, mehr
Festigkeit; in dem vertrauenden Gläubigen mehr Schwäche,
mehr Unthätigkeit. Es ist wahr, dass der Glaube, wo er ganz
herrscht, und jeden Zweifel erstickt, sogar einen noch unüber-
windlicheren Muth, eine noch ausdauerndere Stärke hervor-
bringt, die Geschichte aller Schwärmer lehrt es. Allein diese
Stärke ist nur da wünschenswerth, wo es auf einen äussern
bestimmten Erfolg ankommt, zu welchem blos maschinenmäs-
siges Wirken erfordert wird; nicht da, wo man eignes Be-
schliessen, durchdachte, auf Gründen der Vernunft beruhende
Handlungen, oder gar innere Vollkommenheit erwartet. Denn
diese Stärke selbst beruht nur auf der Unterdrückung aller eig-
nen Thätigkeit der Vernunft. Zweifel sind nur dem quälend,
welcher glaubt, nie dem, welcher blos der eignen Untersuchung
folgt. Denn überhaupt sind diesem die Resultate weit weniger
wichtig, als jenem. Er ist sich, während der Untersuchung,
der Thätigkeit, der Stärke seiner Seele bewusst, er fühlt, dass
seine wahre Vollkommenheit, seine Glückseligkeit eigentlich
auf dieser Stärke beruht; statt dass Zweifel an den Sätzen, die
er bisher für wahr hielt, ihn drücken sollten, freut es ihn, dass
seine Denkkraft so viel gewonnen hat, Irrthümer einzusehen,
die ihm vorher verborgen blieben. Der Glaube hingegen kann
nur Interesse an dem Resultat selbst finden, denn für ihn liegt
in der erkannten Wahrheit nichts mehr. Zweifel, die seine
Vernunft erregt, peinigen ihn. Denn sie sind nicht, wie in dem
selbstdenkenden Kopfe, neue Mittel zur Wahrheit zu gelangen;
sie nehmen ihm blos die Gewissheit, ohne ihm ein Mittel anzu-
zeigen, dieselbe auf eine andre Weise wieder zu erhalten. Diese
Betrachtung, weiter verfolgt, führt auf die Bemerkung, dass es
überhaupt nicht gut ist, einzelnen Resultaten eine so grosse
Wichtigkeit beizumessen, zu glauben, dass entweder so viele
andere Wahrheiten, oder so viele äussere oder innere nützliche
Folgen von ihnen abhängen. Es wird dadurch zu leicht ein
Stillstand in der Untersuchung hervorgebracht, und so arbeiten
manchmal die freiesten und aufgeklärtesten Behauptungen
gerade gegen den Grund, ohne den sie selbst nie hätten empor-
kommen können. So wichtig ist Geistesfreiheit, so schädlich
jede Einschränkung derselben. Auf der andren Seite hingegen
fehlt es dem Staate nicht an Mitteln, die Gesetze aufrecht zu
erhalten, und Verbrechen zu verhüten. Man verstopfe, so viel
es möglich ist, diejenigen Quellen unsittlicher Handlungen,
welche sich in der Staatseinrichtung selbst finden, man schärfe
die Aufsicht der Polizei auf begangene Verbrechen, man strafe
auf eine zweckmässige Weise, und man wird seines Zwecks
nicht verfehlen. Und vergisst man denn, dass die Geistesfrei-
heit selbst, und die Aufklärung, die nur unter ihrem Schutze
gedeiht, das wirksamste aller Beförderungsmittel der Sicherheit
ist? Wenn alle übrige nur den Ausbrüchen wehren, so wirkt
sie auf Neigungen und Gesinnungen; wenn alle übrige nur eine
Uebereinstimmung äussrer Handlungen hervorbringen, so schafft
sie eine innere Harmonie des Willens und des Bestrebens. Wann
wird man aber auch endlich aufhören, die äusseren Folgen der
Handlungen höher zu achten, als die innere geistige Stimmung,
aus welcher sie fliessen? wann wird der Mann aufstehen, der
für die Gesetzgebung ist, was Rousseau der Erziehung war,
der den Gesichtspunkt von den äussren physischen Erfolgen
hinweg auf die innere Bildung des Menschen zurückzieht?
Man glaube auch nicht, dass jene Geistesfreiheit und Auf-
klärung nur für einige Wenige des Volks sei, dass für den grös-
seren Theil desselben, dessen Geschäftigkeit freilich durch die
Sorge für die physischen Bedürfnisse des Lebens erschöpft wird,
sie unnütz bleibe, oder gar nachtheilig werde, dass man auf ihn
nur durch Verbreitung bestimmter Sätze, durch Einschränkung
der Denkfreiheit wirken könne. Es liegt schon an sich etwas
die Menschheit Herabwürdigendes in dem Gedanken, irgend
einem Menschen das Recht abzusprechen, ein Mensch zu sein.
Keiner steht auf einer so niedrigen Stufe der Kultur, dass er zu
Erreichung einer höheren unfähig wäre; und sollten auch die
aufgeklärteren religiösen und philosophischen Ideen auf einen
grossen Theil der Bürger nicht unmittelbar übergehen können,
sollte man dieser Klasse von Menschen, um sich an ihre Ideen
anzuschmiegen, die Wahrheit in einem andern Kleide vortragen
müssen, als man sonst wählen würde, sollte man genöthigt sein,
mehr zu ihrer Einbildungskraft und zu ihrem Herzen, als zu
ihrer kalten Vernunft zu reden; so verbreitet sich doch die Er-
weiterung, welche alle wissenschaftliche Erkenntniss durch Frei-
heit und Aufklärung erhält, auch bis auf sie herunter, so dehnen
sich doch die wohlthätigen Folgen der freien, uneingeschränkten
Untersuchung auf den Geist und den Charakter der ganzen
Nation bis in ihre geringsten Individua hin aus.
Um diesem Raisonnement, weil es sich grossentheils nur
auf den Fall bezieht, wenn der Staat gewisse Religionssätze zu
verbreiten bemüht ist, eine grössere Allgemeinheit zu geben,
muss ich noch an den, im Vorigen entwickelten Satz erinnern,
dass aller Einfluss der Religion auf die Sittlichkeit weit mehr
— wenn nicht allein — von der Form abhängt, in welcher
gleichsam die Religion im Menschen existirt, als von dem In-
halte der Sätze, welche sie ihm heilig macht. Nun aber wirkt
jede Veranstaltung des Staats, wie ich gleichfalls im Vorigen
zu zeigen versucht habe, nur mehr oder minder, auf diesen In-
halt, indess der Zugang zu jener Form — wenn ich mich dieses
Ausdrucks ferner bedienen darf — ihm so gut als gänzlich ver-
schlossen ist. Wie Religion in einem Menschen von selbst entstehe?
wie er sie aufnehme? dies hängt gänzlich von seiner ganzen
Art zu sein, zu denken und zu empfinden ab. Auch nun ange-
6
nommen, der Staat wäre im Stande, diese auf eine, seinen Ab-
sichten bequeme Weise umzuformen — wovon doch die Unmög-
lichkeit wohl unläugbar ist so wäre ich in der Rechtfertigung
der, in dem ganzen bisherigen Vortrage aufgestellten Behaup-
tungen sehr unglücklich gewesen, wenn ich hier noch alle die
Gründe wiederholen müsste, welche es dem Staate überall ver-
bieten, sich des Menschen, mit Uebersehung der individuellen
Zwecke desselben, eigenmächtig zu seinen Absichten zu bedie-
nen. Dass auch hier nicht absolute Nothwendigkeit eintritt,
welche allein vielleicht eine Ausnahme zu rechtfertigen ver-
möchte, zeigt die Unabhängigkeit der Moralität von der Reli-
gion, die ich darzuthun versucht habe, und werden diejenigen
Gründe noch in ein helleres Licht stellen, durch die ich bald
zu zeigen gedenke, dass die Erhaltung der innerlichen Sicher-
heit in einem Staate keineswegs es erfordert, den Sitten über-
haupt eine eigene bestimmte Richtung zu geben. Wenn aber
irgend etwas in den Seelen der Bürger einen fruchtbaren Boden
für die Religion zu bereiten vermag, wenn irgend etwas die fest
aufgenommene und in das Gedanken- wie in das Empfindungs-
system übergegangene Religion wohlthätig auf die Sittlichkeit
zurückwirken lässt; so ist es die Freiheit, welche doch immer,
wie wenig es auch sei, durch eine positive Sorgfalt des Staats
leidet. Denn je mannigfaltiger und eigenthümlicher der Mensch
sich ausbildet, je höher sein Gefühl sich emporschwingt; desto
leichter richtet sich auch sein Blick von dem engen, wechseln-
den Kreise, der ihn umgiebt, auf das hin, dessen Unendlichkeit
und Einheit den Grund jener Schranken und jenes Wechsels
enthält, er mag nun ein solches Wesen zu finden, oder nicht zu
finden vermeinen. Je freier ferner der Mensch ist, desto selbst-
ständiger wird er in sich, und desto wohlwollender gegen andere.
Nun aber führt nichts so der Gottheit zu, als wohlwollende
Liebe; und macht nichts so das Entbehren der Gottheit der
Sittlichkeit unschädlich, als Selbstständigkeit, die Kraft, die
sich in sich genügt, und sich auf sich beschränkt. Je höher end-
lich das Gefühl der Kraft in dem Menschen, je ungehemmter
jede Aeusserung derselben; desto williger sucht er ein inneres
Band, das ihn leite und führe, und so bleibt er der Sittlichkeit
hold, es mag nun dies Band ihm Ehrfurcht und Liebe der Gott-
heit, oder Belohnung des eignen Selbstgefühls sein. Der Unter-
schied scheint mir demnach der: der in Religionssachen völlig
sich selbst gelassene Bürger wird, nach seinem individuellen
Charakter religiöse Gefühle in sein Inneres verweben, oder
nicht; aber in jedem Fall wird sein Ideensystem konsequenter,
seine Empfindung tiefer, in seinem Wesen mehr Einheit sein,
und so wird ihn Sittlichkeit und Gehorsam gegen die Ge-
setze mehr auszeichnen. Der durch mancherlei Anordnungen
beschränkte hingegen wird — trotz derselben — eben so ver-
schieden Religionsideen aufnehmen, oder nicht; allein in jedem
Fall wird er weniger Konsequenz der Ideen, weniger Innigkeit
des Gefühls, weniger Einheit des Wesens besitzen, und so wird
er die Sittlichkeit minder ehren, und dem Gesetz öfter aus-
weichen wollen.
Ohne also weitere Gründe hinzuzufügen, glaube ich dem-
nach den auch an sich nicht neuen Satz aufstellen zu dürfen,
dass alles, was die Religion betrifft, ausserhalb der Grän-
zen der Wirksamkeit des Staats liegt, und dass die Pre-
diger, wie der ganze Gottesdienst überhaupt, eine, ohne
alle besondere Aufsicht des Staats zu lassende Einrich-
tung der Gemeinen sein müssten.
6*
VIII.
Sittenverbesserung.
Mögliche Mittel zu derselben. — Sie reducirt sich vorzüglich auf Beschränkung
der Sinnlichkeit. — Allgemeine Betrachtungen über den Einfluss der Sinnlich-
keit auf den Menschen, — Einfluss der sinnlichen Empfindungen, dieselben an
sich und allein, als solche, betrachtet, — Verschiedenheit dieses Einflusses, nach
ihrer eignen verschiednen Natur, vorzüglich Verschiedenheit des Einflusses der
energisch wirkenden, und der übrigen sinnlichen Empfindungen. — Verbindung
des Sinnlichen mit dem Unsinnlichen durch das Schöne und Erhabene. — Ein-
fluss der Sinnlichkeit auf die forschenden, intellektuellen, — auf die schaffenden,
moralischen Kräfte des Menschen, — Nachtheile und Gefahren der Sinnlichkeit,
— Anwendung dieser Betrachtungen auf die gegenwärtige Untersuchung, und
Prüfung der Frage: ob der Staat positiv auf die Sitten zu wirken versuchen
dürfe? — Jeder solcher Versuch wirkt nur auf die äussern Handlungen — und
bringt mannigfaltige und wichtige Nachtheile hervor, — Sogar das Sittenver-
derbniss selbst, dem er entgegen steuert, ermangelt nicht aller heilsamen Folgen
— und macht wenigstens die Anwendung eines, die Sitten überhaupt umformen-
den Mittels nicht nothwendig. — Ein solches Mittel liegt daher ausserhalb der
Gränzen der Wirksamkeit des Staats, — Höchster aus diesem, und den beiden
vorhergehenden Abschnitten gezogener Grundsatz.
Das letzte Mittel, dessen sich die Staaten zu bedienen pfle-
gen, um eine, ihrem Endzweck der Beförderung der Sicherheit
angemessene Umformung der Sitten zu bewirken, sind einzelne
Gesetze und Verordnungen. Da aber dies ein Weg ist, auf
welchem Sittlichkeit und Tugend nicht unmittelbar befördert
werden kann; so müssen sich einzelne Einrichtungen dieser
Art natürlich darauf beschränken, einzelne Handlungen der
Bürger zu verbieten, oder zu bestimmen, die theils an sich,
jedoch ohne fremde Rechte zu kränken, unsittlich sind, theils
leicht zur Unsittlichkeit führen.
Dahin gehören vorzüglich alle Luxus einschränkende Ge-
setze. Denn nichts ist unstreitig eine so reiche und gewöhn-
liche Quelle unsittlicher, selbst gesetzwidriger Handlungen, als
das zu grosse Uebergewicht der Sinnlichkeit in der Seele, oder
das Missverhältniss der Neigungen und Begierden überhaupt
gegen die Kräfte der Befriedigung, welche die äussere Lage
darbietet. Wenn Enthaltsamkeit und Mässigkeit die Menschen
mit den ihnen angewiesenen Kreisen zufrieden macht; so suchen
sie minder, dieselben auf eine, die Rechte andrer beleidigende,
oder wenigstens ihre eigne Zufriedenheit und Glückseligkeit
störende Weise zu verlassen. Es scheint daher dem wahren
Endzweck des Staats angemessen, die Sinnlichkeit — aus wel-
cher eigentlich alle Kollisionen unter den Menschen entsprin-
gen, da das, worin geistige Gefühle überwiegend sind, immer
und überall harmonisch mit einander bestehen kann — in den
gehörigen Schranken zu halten; und, weil dies freilich das leich-
teste Mittel hierzu scheint, so viel als möglich zu unterdrücken.
Bleibe ich indess den bisher behaupteten Grundsätzen getreu,
immer erst an dem wahren Interesse des Menschen die Mittel
zu prüfen, deren der Staat sich bedienen darf; so wird es noth-
wendig sein, mehr den Einfluss der Sinnlichkeit auf das Leben,
die Bildung, die Thätigkeit und die Glückseligkeit des Men-
schen, soviel es zu dem gegenwärtigen Endzwecke dient, zu unter-
suchen — eine Untersuchung, welche, indem sie den thätigen
und geniessenden Menschen überhaupt in seinem Innern zu
schildern versucht, zugleich anschaulicher darstellen wird, wie
schädlich oder wohlthätig demselben überhaupt Einschränkung
und Freiheit ist. Erst wenn dies geschehen ist, dürfte sich die
Befugniss des Staats, auf die Sitten der Bürger positiv zu wir-
ken, in der höchsten Allgemeinheit beurtheilen, und damit die-
ser Theil der Auflösung der vorgelegten Frage beschliessen
lassen.
Die sinnlichen Empfindungen, Neigungen und Leidenschaf-
ten sind es, welche sich zuerst und in den heftigsten Aeusse-
rungen im Menschen zeigen. Wo sie, ehe noch Kultur sie ver-
feinert, oder der Energie der Seele eine andre Richtung gegeben
hat, schweigen; da ist auch alle Kraft erstorben, und es kann
nie etwas Gutes und Grosses gedeihen. Sie sind es gleichsam,
welche wenigstens zuerst der Seele eine belebende Wärme ein-
hauchen, zuerst zu einer eigenen Thätigkeit anspornen. Sie
bringen Leben und Strebekraft in dieselbe; unbefriedigt machen
sie thätig, zur Anlegung von Planen erfindsam, muthig zur
Ausübung; befriedigt befördern sie ein leichtes, ungehindertes
Ideenspiel. Ueberhaupt bringen sie alle Vorstellungen in grös-
sere und mannigfaltigere Bewegung, zeigen neue Ansichten,
führen auf neue, vorher unbemerkt gebliebene Seiten; unge-
rechnet, wie die verschiedne Art ihrer Befriedigung auf den
Körper und die Organisation, und diese wieder auf eine Weise,
die uns freilich nur in den Resultaten sichtbar wird, auf die
Seele zurückwirkt.
Indess ist ihr Einfluss in der Intension, wie in der Art des
Wirkens verschieden. Dies beruht theils auf ihrer Stärke oder
Schwäche, theils aber auch — wenn ich mich so ausdrücken
darf — auf ihrer Verwandtschaft mit dem Unsinnlichen, auf der
grösseren oder minderen Leichtigkeit, sie von thierischen Ge-
nüssen zu menschlichen Freuden zu erheben. So leiht das
Auge der Materie seiner Empfindung die für uns so genussreiche
und ideenfruchtbare Form der Gestalt, so das Ohr die der ver-
hältnissmässigen Zeitfolge der Töne. Ueber die verschiedene
Natur dieser Empfindungen, und die Art ihrer Wirkung liesse
sich vielleicht viel Schönes und manches Neue sagen, wozu aber
schon hier nicht einmal der Ort ist. Nur Eine Bemerkung
über ihren verschiedenen Nutzen zur Bildung der Seele.
Das Auge, wenn ich so sagen darf, liefert dem Verstande
einen mehr vorbereiteten Stoff. Das Innere des Menschen wird
uns gleichsam mit seiner, und der übrigen, immer in unserer
Phantasie auf ihn bezogenen Dinge Gestalt, bestimmt, und in
einem einzelnen Zustande, gegeben. Das Ohr, blos als Sinn
betrachtet, und insofern es nicht Worte aufnimmt, gewährt eine
bei weitem geringere Bestimmtheit. Darum räumt auch Kant
den bildenden Künsten den Vorzug vor der Musik ein Kritik der Urtheilskraft. 2te Aufl. (Berlin 1793). p. 220 f.. Allein
er bemerkt sehr richtig, dass dies auch zum Maassstabe die
Kultur voraussetzt, welche die Künste dem Gemüth verschaffen,
und ich möchte hinzusetzen, welche sie ihm unmittelbar ver-
schaffen.
Es fragt sich indess, ob dies der richtige Maassstab sei?
Meiner Idee nach, ist Energie die erste und einzige Tugend des
Menschen. Was seine Energie erhöht, ist mehr werth, als was
ihm nur Stoff zur Energie an die Hand giebt. Wie nun aber
der Mensch auf Einmal nur Eine Sache empfindet, so wirkt
auch das am meisten, was nur Eine Sache zugleich ihm dar-
stellt; und wie in einer Reihe auf einander folgender Empfin-
dungen jede einen, durch alle vorige gewirkten, und auf alle
folgende wirkenden Grad hat, das, in welchem die einzelnen
Bestandtheile in einem ähnlichen Verhältnisse stehen. Dies
alles aber ist der Fall der Musik. Ferner ist der Musik blos
diese Zeitfolge eigen; nur diese ist in ihr bestimmt. Die Reihe,
welche sie darstellt, nöthigt sehr wenig zu einer bestimmten
Empfindung. Es ist gleichsam ein Thema, dem man unendlich
viele Texte unterlegen kann. Was ihr also die Seele des
Hörenden — insofern derselbe nur überhaupt und gleichsam
der Gattung nach, in einer verwandten Stimmung ist — wirk-
lich unterlegt, entspringt völlig frei und ungebunden aus ihrer
eignen Fülle, und so umfasst sie es unstreitig wärmer, als was
ihr gegeben wird, und was oft mehr beschäftigt, wahrgenom-
men, als empfunden zu werden. Andre Eigenthümlichkeiten
und Vorzüge der Musik, z. B. dass sie, da sie aus natürlichen
Gegenständen Töne hervorlockt, der Natur weit näher bleibt, als
Malerei, Plastik und Dichtkunst, übergehe ich hier, da es mir
nicht darauf ankommt, eigentlich sie und ihre Natur zu prüfen,
sondern ich sie nur als ein Beispiel brauche, um an ihr die ver-
schiedene Natur der sinnlichen Empfindungen deutlicher dar-
zustellen.
Die eben geschilderte Art zu wirken, ist nun nicht der
Musik allein eigen. Kant Kritik der Urtheilskraft p. 211. ff. bemerkt eben sie als möglich bei
einer wechselnden Farbenmischung, und in noch höherem Grade
ist sie es bei dem, was wir durch das Gefühl empfinden. Selbst
bei dem Geschmack ist sie unverkennbar. Auch im Geschmack
ist ein Steigen des Wohlgefallens, das sich gleichsam nach
einer Auflösung sehnt, und nach der gefundnen Auflösung in
schwächeren Vibrationen nach und nach verschwindet. Am
dunkelsten dürfte dies bei dem Geruch sein. Wie nun im
empfindenden Menschen der Gang der Empfindung, ihr Grad,
ihr wechselndes Steigen und Fallen, ihre — wenn ich mich so
ausdrücken darf — reine und volle Harmonie eigentlich das
anziehendste, und anziehender ist, als der Stoff selbst, insofern
man nämlich vergisst, dass die Natur des Stoffes vorzüglich
den Grad, und noch mehr die Harmonie jenes Ganges bestimmt;
und wie der empfindende Mensch — gleichsam das Bild des
blüthetreibenden Frühlings—gerade das interessanteste Schau-
spiel ist, so sucht auch der Mensch gleichsam dies Bild seiner
Empfindung, mehr als irgend etwas andres, in allen schönen
Künsten. So macht die Malerei, selbst die Plastik es sich eigen.
Das Auge der Guido Reni’schen Madonna hält sich gleichsam
nicht in den Schranken eines flüchtigen Augenblicks. Die
angespannte Muskel des Borghesischen Fechters verkündet den
Stoss, den er zu vollführen bereit ist. Und in noch höherem
Grade benutzt dies die Dichtkunst. Ohne hier eigentlich von
dem Range der schönen Künste reden zu wollen, sei es mir
erlaubt, nur noch Folgendes hinzuzusetzen, um meine Idee
deutlich zu machen. Die schönen Künste bringen eine doppelte
Wirkung hervor, welche man immer bei jeder vereint, aber auch
bei jeder in sehr verschiedener Mischung antrifft; sie geben
unmittelbar Ideen, oder regen die Empfindung auf, stimmen
den Ton der Seele, oder, wenn der Ausdruck nicht zu gekün-
stelt scheint, bereichern oder erhöhen mehr ihre Kraft. Je mehr
nun die eine Wirkung die andre zu Hülfe nimmt, desto mehr
schwächt sie ihren eignen Eindruck. Die Dichtkunst vereinigt
am meisten und vollständigsten beide, und darum ist dieselbe
auf der einen Seite die vollkommenste aller schönen Künste,
aber auf der andern Seite auch die schwächste. Indem sie den
Gegenstand weniger lebhaft darstellt, als die Malerei und die
Plastik, spricht sie die Empfindung weniger eindringend an, als
der Gesang und die Musik. Allein freilich vergisst man diesen
Mangel leicht, da sie — jene vorhin bemerkte Vielseitigkeit
noch abgerechnet — dem innern, wahren Menschen gleichsam
am nächsten tritt, den Gedanken, wie die Empfindung, mit der
leichtesten Hülle bekleidet.
Die energisch wirkenden sinnlichen Empfindungen — denn
nur um diese zu erläutern, rede ich hier von Künsten — wirken
wiederum verschieden, theils je nachdem ihr Gang wirklich das
abgemessenste Verhältniss hat, theils je nachdem die Bestand-
theile selbst, gleichsam die Materie, die Seele stärker ergreifen.
So wirkt die gleich richtige und schöne Menschenstimme mehr
als ein todtes Instrument. Nun aber ist uns nie etwas näher,
als das eigne körperliche Gefühl. Wo also dieses selbst mit im
Spiele ist, da ist die Wirkung am höchsten. Aber wie immer
die unverhältnissmässige Stärke der Materie gleichsam die zarte
Form unterdrückt; so geschieht es auch hier oft, und es muss
also zwischen beiden ein richtiges Verhältniss sein. Das Gleich-
gewicht bei einem unrichtigen Verhältniss kann hergestellt
werden durch Erhöhung der Kraft des einen, oder Schwächung
der Stärke des andern. Allein es ist immer falsch, durch
Schwächung zu bilden, oder die Stärke müsste denn nicht natür-
lich, sondern erkünstelt sein. Wo sie aber das nicht ist, da
schränke man sie nie ein. Es ist besser, dass sie sich zerstöre,
als dass sie langsam hinsterbe. Doch genug hievon. Ich hoffe
meine Idee hinlänglich erläutert zu haben, obgleich ich gern die
Verlegenheit gestehe, in der ich mich bei dieser Untersuchung
befinde, da auf der einen Seite das Interesse des Gegenstandes,
und die Unmöglichkeit, nur die nöthigen Resultate aus andern
Schriften — da ich keine kenne, welche gerade aus meinem
gegenwärtigen Gesichtspunkt ausginge — zu entlehnen, mich
einlud, mich weiter auszudehnen; und auf der andern Seite die
Betrachtung, dass diese Ideen nicht eigentlich für sich, sondern
nur als Lehnsätze, hierhergehören, mich immer in die gehörigen
Schranken zurückwies. Die gleiche Entschuldigung muss ich,
auch bei dem nun Folgenden, nicht zu vergessen bitten.
Ich habe bis jetzt — obgleich eine völlige Trennung nie
möglich ist — von der sinnlichen Empfindung nur als sinnlicher
Empfindung zu reden versucht. Aber Sinnlichkeit und Unsinn-
lichkeit verknüpft ein geheimnissvolles Band, und wenn es
unserm Auge versagt ist, dieses Band zu sehen, so ahnet es
unser Gefühl. Dieser zwiefachen Natur der sichtbaren und
unsichtbaren Welt, dem angebornen Sehnen nach dieser, und
dem Gefühl der gleichsam süssen Unentbehrlichkeit jener, dan-
ken wir alle, wahrhaft aus dem Wesen des Menschen entsprun-
gene, konsequente philosophische Systeme, so wie eben daraus
auch die sinnlosesten Schwärmereien entstehen. Ewiges Stre-
ben, beide dergestalt zu vereinen, dass jede so wenig als mög-
lich der andren raube, schien mir immer das wahre Ziel des
menschlichen Weisen. Unverkennbar ist überall dies ästheti-
sche Gefühl, mit dem uns die Sinnlichkeit Hülle des Geistigen,
und das Geistige belebendes Princip der Sinnenwelt ist. Das
ewige Studium dieser Physiognomik der Natur bildet den eigentli-
chen Menschen. Denn nichts ist von so ausgebreiteter Wirkung
auf den ganzen Charakter, als der Ausdruck des Unsinnlichen im
Sinnlichen, des Erhabenen, des Einfachen, des Schönen in
allen Werken der Natur und Produkten der Kunst, die uns
umgeben. Und hier zeigt sich zugleich wieder der Unterschied
der energisch wirkenden, und der übrigen sinnlichen Empfin-
dungen. Wenn das letzte Streben alles unsres menschlichsten
Bemühens nur auf das Entdecken, Nähren und Erschaffen des
einzig wahrhaft Existirenden, obgleich in seiner Urgestalt
ewig Unsichtbaren, in uns und andren gerichtet ist, wenn es
allein das ist, dessen Ahnung uns jedes seiner Symbole so
theuer und heilig macht; so treten wir ihm einen Schritt näher,
wenn wir das Bild seiner ewig regen Energie anschauen. Wir
reden gleichsam mit ihm in schwerer und oft unverstandner,
aber auch oft mit der gewissesten Wahrheitsahnung über-
raschender Sprache, indess die Gestalt — wieder, wenn ich so
sagen darf, das Bild jener Energie — weiter von der Wahrheit
entfernt ist.
Auf diesem Boden, wenn nicht allein, doch vorzüglich, blüht
auch das Schöne, und noch weit mehr das Erhabene auf, das
die Menschen der Gottheit gleichsam noch näher bringt. Die
Nothwendigkeit eines reinen, von allen Zwecken entfernten
Wohlgefallens an einem Gegenstande, ohne Begriff, bewährt
ihm gleichsam seine Abstammung von dem Unsichtbaren, und
seine Verwandtschaft damit; und das Gefühl seiner Unange-
messenheit zu dem überschwenglichen Gegenstande verbindet,
auf die menschlich göttlichste Weise, unendliche Grösse mit
hingebender Demuth. Ohne das Schöne, fehlte dem Menschen
die Liebe der Dinge um ihrer selbst willen; ohne das Erhabene,
der Gehorsam, welcher jede Belohnung verschmäht, und nie-
drige Furcht nicht kennt. Das Studium des Schönen gewährt
Geschmack, des Erhabnen — wenn es auch hiefür ein Studium
giebt, und nicht Gefühl und Darstellung des Erhabenen allein
Frucht des Genies ist — richtig abgewägte Grösse. Der Ge-
schmack allein aber, dem allemal Grösse zum Grunde liegen
muss, weil nur das Grosse des Maasses, und nur das Gewaltige
der Haltung bedarf, vereint alle Töne des vollgestimmten We-
sens in eine reizende Harmonie. Er bringt in alle unsre, auch
blos geistigen Empfindungen und Neigungen, so etwas Gemäs-
sigtes, Gehaltnes, auf Einen Punkt hin Gerichtetes. Wo er
fehlt, da ist die sinnliche Begierde roh und ungebändigt, da
haben selbst wissenschaftliche Untersuchungen vielleicht Scharf-
sinn und Tiefsinn, aber nicht Feinheit, nicht Politur, nicht
Fruchtbarkeit in der Anwendung. Ueberhaupt sind ohne ihn
die Tiefen des Geistes, wie die Schätze des Wissens todt und
unfruchtbar, ohne ihn der Adel und die Stärke des moralischen
Willens selbst rauh und ohne erwärmende Segenskraft.
Forschen und Schaffen — darum drehen und darauf beziehen
sich wenigstens, wenn gleich mittelbarer oder unmittelbarer,
alle Beschäftigungen des Menschen. Das Forschen, wenn es
die Gründe der Dinge, oder die Schranken der Vernunft erreichen
soll, setzt, ausser der Tiefe, einen mannigfaltigen Reichthum
und eine innige Erwärmung des Geistes, eine Anstrengung der
vereinten menschlichen Kräfte voraus. Nur der blos analy-
tische Philosoph kann vielleicht durch die einfachen Opera-
tionen der, nicht blos ruhigen, sondern auch kalten Vernunft
seinen Endzweck erreichen. Allein um das Band zu entdecken,
welches synthetische Sätze verknüpft, ist eigentliche Tiefe und
ein Geist erforderlich, welcher allen seinen Kräften gleiche
Stärke zu verschaffen gewusst hat. So wird Kants — man
kann wohl mit Wahrheit sagen — nie übertroffener Tiefsinn
noch oft in der Moral und Aesthetik der Schwärmerei beschul-
digt werden, wie er es schon wurde, und — wenn mir das
Geständniss erlaubt ist — wenn mir selbst einige, obgleich
seltne Stellen (ich führe hier, als ein Beispiel, die Deutung der
Regenbogenfarben in der Kritik der Urtheilskraft an 2. Aufl. (Berlin 1793) p. 172. Kant nennt die Modificationen des Lichts
in der Farbengebung eine Sprache, die die Natur zu uns führt und die einen
höheren Sinn zu haben scheint. „So scheint die weisse Farbe der Lilie das
Gemüth zu Ideen der Unschuld, und nach der Ordnung der sieben Farben, von
der rothen an bis zur violetten, 1) zur Idee der Erhabenheit, 2) der Kühnheit,
3) der Freimüthigkeit, 4) der Freundlichkeit, 5) der Bescheidenheit, 6) der
Standhaftigkeit, und 7) der Zärtlichkeit zu stimmen.“ darauf
hinzuführen scheinen; so klage ich allein den Mangel der Tiefe
meiner intellektuellen Kräfte an. Könnte ich diese Ideen hier
weiter verfolgen, so würde ich auf die gewiss äusserst schwie-
rige, aber auch ebenso interessante Untersuchung stossen:
welcher Unterschied eigentlich zwischen der Geistesbildung
des Metapkysikers und des Dichters ist? und wenn nicht viel-
leicht eine vollständige, wiederholte Prüfung die Resultate mei-
nes bisherigen Nachdenkens hierüber wiederum umstiesse, so
würde ich diesen Unterschied blos darauf einschränken, dass
der Philosoph sich allein mit Perceptionen, der Dichter hin-
gegen mit Sensationen beschäftigt, beide aber übrigens des-
selben Maasses und derselben Bildung der Geisteskräfte bedürfen.
Allein dies würde mich zu weit von meinem gegenwärtigen
Endzwecke entfernen, und ich hoffe selbst durch die wenigen,
im Vorigen angeführten Gründe, hinlänglich bescheinigt zu
haben, dass, auch um den ruhigsten Denker zu bilden, Genuss
der Sinne und der Phantasie oft um die Seele gespielt haben
muss. Gehen wir aber gar von transcendentalen Untersuchun-
gen zu psychologischen über, wird der Mensch, wie er erscheint,
unser Studium, wie wird da nicht der das gestaltenreiche
Geschlecht am tiefsten erforschen, und am wahrsten und leben-
digsten darstellen, dessen eigner Empfindung selbst die wenig-
sten dieser Gestalten fremd sind?
Daher erscheint der also gebildete Mensch in seiner höch-
sten Schönheit, wenn er ins praktische Leben tritt, wenn er,
was er in sich aufgenommen hat, zu neuen Schöpfungen in und
ausser sich fruchtbar macht. Die Analogie zwischen den
Gesetzen der plastischen Natur, und denen des geistigen
Schaffens ist schon mit einem wahrlich unendlich genievollen
Blicke beobachtet, und mit treffenden Bemerkungen bewährt
worden F. v. Dalberg vom Bilden und Erfinden.. Doch vielleicht wäre eine noch anziehendere Aus-
führung möglich gewesen; statt der Untersuchung unerforsch-
barer Gesetze der Bildung des Keims, hätte die Psychologie
vielleicht eine reichere Belehrung erhalten, wenn das geistige
Schaffen gleichsam als eine feinere Blüthe des körperlichen
Erzeugens näher gezeigt worden wäre.
Um auch in dem moralischen Leben von demjenigen zuerst
zu reden, was am meisten blosses Werk der kalten Vernunft
scheint; so macht es die Idee des Erhabenen allein möglich,
dem unbedingt gebietenden Gesetze zwar allerdings, durch das
Medium des Gefühls, auf eine menschliche, und doch, durch
den völligen Mangel der Rücksicht auf Glückseligkeit oder
Unglück, auf eine göttlich uneigennützige Weise zu gehorchen.
Das Gefühl der Unangemessenheit der menschlichen Kräfte
zum moralischen Gesetz, das tiefe Bewusstsein, dass der Tugend-
hafteste nur der ist, welcher am innigsten empfindet, wie uner-
reichbar hoch das Gesetz über ihn erhaben ist, erzeugt die
Achtung — eine Empfindung, welche nicht mehr körperliche
Hülle zu umgeben scheint, als nöthig ist, sterbliche Augen
nicht durch den reinen Glanz zu verblenden. Wenn nun das
moralische Gesetz jeden Menschen, als einen Zweck in sich zu
betrachten nöthigt, so vereint sich mit ihm das Schönheits-
gefühl, das gern jedem Staube Leben einhaucht, um, auch in
ihm, an einer eignen Existenz sich zu freuen, und das um so
viel voller und schöner den Menschen aufnimmt und umfasst,
als es, unabhängig vom Begriff, nicht auf die kleine Anzahl der
Merkmale beschränkt ist, welche der Begriff, und noch dazu
nur abgeschnitten und einzeln, allein zu umfassen vermag.
Die Beimischung des Schönheitsgefühls scheint der Rein-
heit des moralischen Willens Abbruch zu thun, und sie könnte
es allerdings, und würde es auch in der That, wenn dies Gefühl
eigentlich dem Menschen Antrieb zur Moralität sein sollte.
Allein es soll blos die Pflicht auf sich haben, gleichsam mannig-
faltigere Anwendungen für das moralische Gesetz aufzufinden,
welche dem kalten und darum hier allemal unfeinen Verstande
entgehen würden, und soll das Recht geniessen, dem Menschen
— dem es nicht verwehrt ist, die mit der Tugend so eng ver-
schwisterte Glückseligkeit zu empfangen, sondern nur mit der
Tugend gleichsam um diese Glückseligkeit zu handlen — die
süssesten Gefühle zu gewähren. Je mehr ich überhaupt über
diesen Gegenstand nachdenken mag, desto weniger scheint mir
der Unterschied, den ich eben bemerkte, blos subtil, und viel-
leicht schwärmerisch zu sein. Wie strebend der Mensch nach
Genuss ist, wie sehr er sich Tugend und Glückseligkeit ewig,
auch unter den ungünstigsten Umständen, vereint denken
möchte; so ist doch auch seine Seele für die Grösse des mora-
lischen Gesetzes empfänglich. Sie kann sich der Gewalt nicht
erwehren, mit welcher diese Grösse sie zu handeln nöthigt,
und, nur von diesem Gefühle durchdrungen, handelt sie schon
darum ohne Rücksicht auf Genuss, weil sie nie das volle Bewusst-
sein verliert, dass die Vorstellung jedes Unglücks ihr kein
andres Betragen abnöthigen würde.
Allein diese Stärke gewinnt die Seele freilich nur auf einem,
dem ähnlichen Wege, von welchem ich im Vorigen rede; nur
durch mächtigen inneren Drang und mannigfaltigen äussern
Streit. Alle Stärke — gleichsam die Materie — stammt aus
der Sinnlichkeit, und, wie weit entfernt von dem Stamme, ist
sie doch noch immer, wenn ich so sagen darf, auf ihm ruhend.
Wer nun seine Kräfte unaufhörlich zu erhöhen, und durch
häufigen Genuss zu verjüngen sucht, wer die Stärke seines
Charakters oft braucht, seine Unabhängigkeit vor der Sinn-
lichkeit zu behaupten, wer so diese Unabhängigkeit mit der
höchsten Reizbarkeit zu vereinen bemüht ist, wessen gerader
und tiefer Sinn der Wahrheit unermüdet nachforscht, wessen
richtiges und feines Schönheitsgefühl keine reizende Gestalt
unbemerkt lässt, wessen Drang, das ausser sich Empfundene
in sich aufzunehmen und das in sich Aufgenommene zu neuen
Geburten zu befruchten, jede Schönheit in seine Individualität
zu verwandeln, und, mit jeder sein ganzes Wesen gattend, neue
Schönheit zu erzeugen strebt; der kann das befriedigende
Bewusstsein nähren, auf dem richtigen Wege zu sein, dem
Ideale sich zu nahen, das selbst die kühnste Phantasie der
Menschheit vorzuzeichnen wagt.
Ich habe durch dies, an und für sich politischen Unter-
suchungen ziemlich fremdartige, allein in der von mir gewähl-
ten Folge der Ideen nothwendige Gemälde zu zeigen versucht,
wie die Sinnlichkeit, mit ihren heilsamen Folgen, durch das
ganze Leben, und alle Beschäftigungen des Menschen ver-
flochten ist. Ihr dadurch Freiheit und Achtung zu erwerben,
war meine Absicht. Vergessen darf ich indess nicht, dass
gerade die Sinnlichkeit auch die Quelle einer grossen Menge
physischer und moralischer Uebel ist. Selbst moralisch nur
dann heilsam, wenn sie in richtigem Verhältniss mit der
Uebung der geistigen Kräfte steht, erhält sie so leicht ein
schädliches Uebergewicht. Dann wird menschliche Freude
thierischer Genuss, der Geschmack verschwindet, oder erhält
unnatürliche Richtungen. Bei diesem letzteren Ausdruck kann
ich mich jedoch nicht enthalten, vorzüglich in Hinsicht auf
gewisse einseitige Beurtheilungen, noch zu bemerken, dass
nicht unnatürlich heissen muss, was nicht gerade diesen oder
jenen Zweck der Natur erfüllt, sondern was den allgemeinen
Endzweck derselben mit dem Menschen vereitelt. Dieser aber
ist, dass sein Wesen sich zu immer höherer Vollkommenheit
bilde, und daher vorzüglich, dass seine denkende und empfin-
dende Kraft, beide in verhältnissmässigen Graden der Stärke,
sich unzertrennlich vereinen. Es kann aber ferner ein Miss-
verhältniss entstehen, zwischen der Art, wie der Mensch seine
Kräfte ausbildet, und überhaupt in Thätigkeit setzt, und zwi-
schen den Mitteln des Wirkens und Geniessens, die seine Lage
ihm darbietet, und dies Missverhältniss ist eine neue Quelle von
Uebeln. Nach den im Vorigen ausgeführten Grundsätzen aber
ist es dem Staat nicht erlaubt, mit positiven Endzwecken auf
die Lage der Bürger zu wirken. Diese Lage erhält daher nicht
eine so bestimmte und erzwungene Form, und ihre grössere
Freiheit, wie dass sie in eben dieser Freiheit selbst gröss-
tentheils von der Denkungs- und Handlungsart der Bür-
ger ihre Richtung erhält, vermindert schon jenes Missverhält-
niss. Dennoch könnte indess die, immer übrig bleibende, wahr-
lich nicht unbedeutende Gefahr die Vorstellung der Nothwen-
digkeit erregen, der Sittenverderbniss durch Gesetze und
Staatseinrichtungen entgegenzukommen.
Allein, wären dergleichen Gesetze und Einrichtungen auch
wirksam, so würde nur mit dem Grade ihrer Wirksamkeit auch
ihre Schädlichkeit steigen. Ein Staat, in welchem die Bürger
durch solche Mittel genöthigt oder bewogen würden, auch den
besten Gesetzen zu folgen, könnte ein ruhiger, friedliebender,
wohlhabender Staat sein; allein er würde mir immer ein Haufe
ernährter Sklaven, nicht eine Vereinigung freier, nur, wo sie
die Gränze des Rechts übertreten, gebundener Menschen schei-
nen. Blos gewisse Handlungen, Gesinnungen hervorzubringen,
giebt es freilich sehr viele Wege. Keiner von allen aber führt
zur wahren, moralischen Vollkommenheit. Sinnliche Antriebe
zur Begehung gewisser Handlungen, oder Nothwendigkeit sie
zu unterlassen, bringen Gewohnheit hervor; durch die Gewohn-
heit wird das Vergnügen, das anfangs nur mit jenen Antrieben
verbunden war, auf die Handlung selbst übergetragen, oder die
Neigung, welche anfangs nur vor der Nothwendigkeit schwieg,
gänzlich erstickt; so wird der Mensch zu tugendhaften Hand-
lungen, gewissermassen auch zu tugendhaften Gesinnungen
geleitet. Allein die Kraft seiner Seele wird dadurch nicht
erhöht; weder seine Ideen über seine Bestimmung und seinen
Werth erhalten dadurch mehr Aufklärung, noch sein Wille
mehr Kraft, die herrschende Neigung zu besiegen; an wahrer,
7
eigentlicher Vollkommenheit gewinnt er folglich nichts. Wer
also Menschen bilden, nicht zu äussern Zwecken ziehen will,
wird sich dieser Mittel nie bedienen. Denn abgerechnet, dass
Zwang und Leitung nie Tugend hervorbringen; so schwächen
sie auch noch immer die Kraft. Was sind aber Sitten, ohne
moralische Stärke und Tugend? Und wie gross auch das Uebel
des Sittenverderbnisses sein mag, es ermangelt selbst der heil-
samen Folgen nicht. Durch die Extreme müssen die Menschen
zu der Weisheit und Tugend mittlerem Pfad gelangen. Extreme
müssen, gleich grossen, in die Ferne leuchtenden Massen, weit
wirken. Um den feinsten Adern des Körpers Blut zu ver-
schaffen, muss eine beträchtliche Menge in den grossen vor-
handen sein. Hier die Ordnung der Natur stören wollen, heisst
moralisches Uebel anrichten, um physisches zu verhüten.
Es ist aber auch, meines Erachtens, unrichtig, dass die
Gefahr des Sittenverderbnisses so gross und dringend sei; und
so manches auch schon zu Bestätigung dieser Behauptung im
Vorigen gesagt worden ist, so mögen doch noch folgende
Bemerkungen dazu dienen, sie ausführlicher zu beweisen:
1. Der Mensch ist an sich mehr zu wohlthätigen, als eigen-
nützigen Handlungen geneigt. Dies zeigt sogar die Geschichte
der Wilden. Die häuslichen Tugenden haben so etwas Freund-
liches, die öffentlichen des Bürgers so etwas Grosses und Hin-
reissendes, dass auch der blos unverdorbene Mensch ihrem
Reiz selten widersteht.
2. Die Freiheit erhöht die Kraft, und führt, wie immer die
grössere Stärke, allemal eine Art der Liberalität mit sich.
Zwang erstickt die Kraft, und führt zu allen eigennützigen
Wünschen, und allen niedrigen Kunstgriffen der Schwäche.
Zwang hindert vielleicht manche Vergehung, raubt aber selbst
den gesetzmässigen Handlungen von ihrer Schönheit. Frei-
heit veranlasst vielleicht manche Vergehung, giebt aber selbst
dem Laster eine minder unedle Gestalt.
3. Der sich selbst überlassene Mensch kommt schwerer
auf richtige Grundsätze, allein sie zeigen sich unaustilgbar in
seiner Handlungsweise. Der absichtlich geleitete empfängt
sie leichter, aber sie weichen auch sogar seiner doch geschwäch-
ten Energie.
4. Alle Staatseinrichtungen, indem sie ein mannigfaltiges
und sehr verschiedenes Interesse in eine Einheit bringen sollen,
verursachen vielerlei Kollisionen. Aus den Kollisionen ent-
stehen Missverhältnisse zwischen dem Verlangen und dem
Vermögen der Menschen; und aus diesen Vergehungen. Je
müssiger also — wenn ich so sagen darf — der Staat, desto
geringer die Anzahl dieser. Wäre es, vorzüglich in gegebenen
Fällen möglich, genau die Uebel aufzuzählen, welche Polizei-
einrichtungen veranlassen, und welche sie verhüten, die Zahl
der ersteren würde allemal grösser sein.
5. Wieviel strenge Aufsuchung der wirklich begangenen
Verbrechen, gerechte und wohl abgemessene, aber unerläss-
liche Strafe, folglich seltne Straflosigkeit vermag, ist praktisch
noch nie hinreichend versucht worden.
Ich glaube nunmehr für meine Absicht hinlänglich gezeigt
zu haben, wie bedenklich jedes Bemühen des Staats ist, irgend
einer — nur nicht unmittelbar fremdes Recht kränkenden Aus-
schweifung der Sitten entgegen, oder gar zuvorzukommen, wie
wenig dann insbesondere heilsame Folgen auf die Sittlichkeit
selbst zu erwarten sind, und wie ein solches Wirken auf den
Charakter der Nation, selbst zur Erhaltung der Sicherheit,
nicht nothwendig ist. Nimmt man nun noch hinzu die im
Anfange dieses Aufsatzes entwickelten Gründe, welche jede
auf positive Zwecke gerichtete Wirksamkeit des Staats miss-
billigen, und die hier um so mehr gelten, als gerade der mora-
lische Mensch jede Einschränkung am tiefsten fühlt; und ver-
gisst man nicht, dass, wenn irgend eine Art der Bildung der
Freiheit ihre höchste Schönheit dankt, dies gerade die Bildung
7*
der Sitten und des Charakters ist; so dürfte die Richtigkeit
des folgenden Grundsatzes keinem weiteren Zweifel unter-
worfen sein, des Grundsatzes nämlich:
dass der Staat sich schlechterdings alles Bestrebens, direkt
oder indirekt auf die Sitten und den Charakter der Nation
anders zu wirken, als insofern dies als eine natürliche, von
selbst entstehende Folge seiner übrigen schlechterdings
nothwendigen Maassregeln unvermeidlich ist, gänzlich
enthalten müsse, und dass alles, was diese Absicht beför-
dern kann, vorzüglich alle besondere Aufsicht auf Erzie-
hung, Religionsanstalten, Luxusgesetze u. s. f. schlechter-
dings ausserhalb der Schranken seiner Wirksamkeit liege.
IX.
Nähere, positive Bestimmung der Sorgfalt des Staats für die
Sicherheit. Entwickelung des Begriffs der Sicherheit.
Rückblick auf den Gang der ganzen Untersuchung. — Aufzählung des noch
Mangelnden. — Bestimmung des Begriffs der Sicherheit. — Definition. — Rechte,
für deren Sicherheit gesorgt werden muss. — Rechte der einzelnen Bürger. —
Rechte des Staats. — Handlungen, welche die Sicherheit stören. — Eintheilung
des noch übrigen Theils der Untersuchung.
Nachdem ich jetzt die wichtigsten und schwierigsten Theile
der gegenwärtigen Untersuchung geendigt habe, und ich mich
nun der völligen Auflösung der vorgelegten Frage nähere, ist
es nothwendig, wiederum einmal einen Blick zurück auf das
bis hieher entwickelte Ganze zu werfen. Zuerst ist die Sorg-
falt des Staats von allen denjenigen Gegenständen entfernt
worden, welche nicht zur Sicherheit der Bürger, der auswär-
tigen sowohl als der innerlichen, gehören. Dann ist aber diese
Sicherheit als der eigentliche Gegenstand der Wirksamkeit
des Staats dargestellt, und endlich das Princip festgesetzt
worden, dass, um dieselbe zu befördern und zu erhalten, nicht
auf die Sitten und den Charakter der Nation selbst zu wirken,
diesem eine bestimmte Richtung zu geben, oder zu nehmen,
versucht werden dürfe. Gewissermassen könnte daher die
Frage: in welchen Schranken der Staat seine Wirksamkeit
halten müsse? schon vollständig beantwortet scheinen, indem
diese Wirksamkeit auf die Erhaltung der Sicherheit, und in
Absicht der Mittel hiezu noch genauer auf diejenigen einge-
schränkt ist, welche sich nicht damit befassen, die Nation zu
den Endzwecken des Staats gleichsam bilden, oder vielmehr
ziehen zu wollen. Denn wenn diese Bestimmung gleich nur
negativ ist, so zeigt sich doch das, was, nach geschehener
Absonderung, übrig bleibt, von selbst deutlich genug. Der
Staat wird nämlich allein sich auf Handlungen, welche unmit-
telbar und geradezu in fremdes Recht eingreifen, ausbreiten,
nur das streitige Recht entscheiden, das verletzte wieder her-
stellen und die Verletzer bestrafen dürfen. Allein der Begriff
der Sicherheit, zu dessen näherer Bestimmung bis jetzt nichts
andres gesagt ist, als dass von der Sicherheit vor auswärtigen
Feinden, und vor Beeinträchtigungen der Mitbürger selbst die
Rede sei, ist zu weit und vielumfassend, um nicht einer genaueren
Auseinandersetzung zu bedürfen. Denn so verschieden auf der
einen Seite die Nüancen von dem blos Ueberzeugung beabsich-
tenden Rath zur zudringlichen Empfehlung, und von da z um
nöthigenden Zwange, und eben so verschieden und vielfach die
Grade der Unbilligkeit oder Ungerechtigkeit von der, inner-
halb der Schranken des eignen Rechts ausgeübten, aber dem
andern möglicherweise schädlichen Handlung, bis zu der,
gleichfalls sich nicht aus jenen Schranken entfernenden, aber
den andern im Genuss seines Eigenthums sehr leicht, oder
immer störenden, und von da bis zu einem wirklichen Eingriff
in fremdes Eigenthum sind; ebenso verschieden ist auch der
Umfang des Begriffs der Sicherheit, indem man darunter
Sicherheit von einem solchen oder solchen Grade des Zwanges,
oder einer so nah oder so fern das Recht kränkenden Hand-
lung verstehen kann. Gerade aber dieser Umfang ist von über-
aus grosser Wichtigkeit, und wird er zu weit ausgedehnt, oder
zu eng eingeschränkt; so sind wiederum, wenn gleich unter
andern Namen, alle Gränzen vermischt. Ohne eine genaue
Bestimmung jenes Umfangs also ist an eine Berichtigung dieser
Gränzen nicht zu denken. Dann müssen auch die Mittel,
deren sich der Staat bedienen darf, oder nicht, noch bei weitem
genauer auseinandergesetzt und geprüft werden. Denn wenn
gleich ein auf die wirkliche Umformung der Sitten gerichtetes
Bemühen des Staats, nach dem Vorigen, nicht rathsam scheint,
so ist hier doch noch für die Wirksamkeit des Staats ein viel
zu unbestimmter Spielraum gelassen, und z. B. die Frage noch
sehr wenig erörtert, wie weit die einschränkenden Gesetze des
Staats sich von der, unmittelbar das Recht andrer beleidigen-
den Handlung entfernen? inwiefern derselbe wirkliche Ver-
brechen durch Verstopfung ihrer Quellen, nicht in dem Cha-
rakter der Bürger, aber in den Gelegenheiten der Ausübung
verhüten darf? Wie sehr aber, und mit wie grossem Nachtheile
hierin zu weit gegangen werden kann, ist schon daraus klar,
dass gerade Sorgfalt für die Freiheit mehrere gute Köpfe ver-
mocht hat, den Staat für das Wohl der Bürger überhaupt ver-
antwortlich zu machen, indem sie glaubten, dass dieser allge-
meinere Gesichtspunkt die ungehemmte Thätigkeit der Kräfte
befördern würde. Diese Betrachtungen nöthigen mich daher
zu dem Geständniss, bis hieher mehr grosse, und in der That
ziemlich sichtbar ausserhalb der Schranken der Wirksamkeit
des Staats liegende Stücke abgesondert, als die genaueren
Gränzen, und gerade da, wo sie zweifelhaft und streitig schei-
nen konnten, bestimmt zu haben. Dies bleibt mir jetzt zu
thun übrig, und sollte es mir auch selbst nicht völlig gelingen,
so glaube ich doch wenigstens dahin streben zu müssen, die
Gründe dieses Misslingens so deutlich und vollständig als
möglich darzustellen. Auf jeden Fall aber hoffe ich, mich nur
sehr kurz fassen zu können, da alle Grundsätze, deren ich zu
dieser Arbeit bedarf, schon im Vorigen — wenigstens so viel
es meine Kräfte erlaubten — erörtert und bewiesen wor-
den sind.
Sicher nenne ich die Bürger in einem Staat, wenn sie in
der Ausübung der ihnen zustehenden Rechte, dieselben mögen
nun ihre Person, oder ihr Eigenthum betreffen, nicht durch
fremde Eingriffe gestört werden; Sicherheit folglich — wenn
der Ausdruck nicht zu kurz, und vielleicht dadurch undeutlich
scheint, Gewissheit der gesetzmässigen Freiheit.
Diese Sicherheit wird nun nicht durch alle diejenigen Hand-
lungen gestört, welche den Menschen an irgend einer Thätig-
keit seiner Kräfte, oder irgend einem Genuss seines Vermögens
hindern, sondern nur durch solche, welche dies widerrecht-
lich thun. Diese Bestimmung, so wie die obige Definition,
ist nicht willkürlich von mir hinzugefügt, oder gewählt worden.
Beide fliessen unmittelbar aus dem oben entwickelten Raison-
nement. Nur wenn man dem Ausdrucke der Sicherheit diese
Bedeutung unterlegt, kann jenes Anwendung finden. Denn
nur wirkliche Verletzungen des Rechts bedürfen einer andern
Macht, als die ist, welche jedes Individuum besitzt; nur was
diese Verletzungen verhindert, bringt der wahren Menschenbil-
dung reinen Gewinn, indess jedes andre Bemühen des Staats
ihr gleichsam Hindernisse in den Weg legt; nur das endlich
fliesst aus dem untrüglichen Princip der Nothwendigkeit, da
alles andre blos auf den unsichern Grund einer, nach täu-
schenden Wahrscheinlichkeiten berechneten Nützlichkeit
gebaut ist.
Diejenigen, deren Sicherheit erhalten werden muss, sind
auf der einen Seite alle Bürger, in völliger Gleichheit, auf der
andern der Staat selbst. Die Sicherheit des Staats selbst hat
ein Objekt von grösserem oder geringerem Umfange, je weiter
man seine Rechte ausdehnt, oder je enger man sie beschränkt,
und daher hängt hier die Bestimmung von der Bestimmung des
Zwecks derselben ab. Wie ich nun diese hier bis jetzt ver-
sucht habe, dürfte er für nichts andres Sicherheit fordern
können, als für die Gewalt, welche ihm eingeräumt, und das
Vermögen, welches ihm zugestanden worden. Hingegen Hand-
lungen in Hinsicht auf diese Sicherheit einschränken, wodurch
ein Bürger, ohne eigentliches Recht zu kränken — und folglich
vorausgesetzt, dass er nicht in einem besondern persönlichen,
oder temporellen Verhältnisse mit dem Staat stehe, wie z. B.
zur Zeit eines Krieges — sich oder sein Eigenthum ihm ent-
zieht, könnte er nicht. Denn die Staatsvereinigung ist blos
ein untergeordnetes Mittel, welchem der wahre Zweck, der
Mensch, nicht aufgeopfert werden darf, es müsste denn der
Fall einer solchen Kollision eintreten, dass, wenn auch der
Einzelne nicht verbunden wäre, sich zum Opfer zu geben, doch
die Menge das Recht hätte, ihn als Opfer zu nehmen. Ueber-
dies aber darf, den entwickelten Grundsätzen nach, der Staat
nicht für das Wohl der Bürger sorgen, und um ihre Sicherheit
zu erhalten, kann das nicht nothwendig sein, was gerade die
Freiheit und mithin auch die Sicherheit aufhebt.
Gestört wird die Sicherheit entweder durch Handlungen, welche
an und für sich in fremdes Recht eingreifen, oder durch solche,
von deren Folgen nur dies zu besorgen ist. Beide Gattungen
der Handlungen muss der Staat jedoch mit Modificationen,
welche gleich der Gegenstand der Untersuchung sein werden,
verbieten, zu verhindern suchen; wenn sie geschehen sind,
durch rechtlich bewirkten Ersatz des angerichteten Schadens,
soviel es möglich ist, unschädlich, und, durch Bestrafung, für
die Zukunft seltner zu machen bemüht sein. Hieraus ent-
springen Polizei- Civil- und Kriminalgesetze, um den gewöhn-
lichen Ausdrücken treu zu bleiben. Hiezu kommt aber noch
ein anderer Gegenstand, welcher, seiner eigenthümlichen Natur
nach, eine völlig eigne Behandlung verdient. Es giebt nämlich
eine Klasse der Bürger, auf welche die im Vorigen entwickelten
Grundsätze, da sie doch immer den Menschen in seinen gewöhn-
lichen Kräften voraussetzen, nur mit manchen Verschieden-
heiten passen, ich meine diejenigen, welche noch nicht das
Alter der Reife erlangt haben, oder welche Verrücktheit oder
Blödsinn des Gebrauchs ihrer menschlichen Kräfte beraubt.
Für die Sicherheit dieser muss der Staat gleichfalls Sorge tra-
gen, und ihre Lage kann, wie sich schon voraussehen lässt,
leicht eine eigne Behandlung erfordern. Es muss also noch
zuletzt das Verhältniss betrachtet werden, in welchem der
Staat — wie man sich auszudrücken pflegt — als Ober-Vor-
mund, zu allen Unmündigen unter den Bürgern steht. So
glaube ich — da ich von der Sicherheit gegen auswärtige Feinde
wohl, nach dem im Vorigen Gesagten, nichts mehr hinzuzu-
setzen brauche — die Aussenlinien aller Gegenstände gezeich-
net zu haben, auf welche der Staat seine Aufmerksamkeit rich-
ten muss. Weit entfernt nun in alle, hier genannte, so weit-
läuftige und schwierige Materien irgend tief eindringen zu
wollen, werde ich mich begnügen, bei einer jeden, so kurz als
möglich, die höchsten Grundsätze, insofern sie die gegenwär-
tige Untersuchung angehen, zu entwickeln. Erst wenn dies
geschehen ist, wird auch nur der Versuch vollendet heissen
können, die vorgelegte Frage gänzlich zu erschöpfen, und die
Wirksamkeit des Staats von allen Seiten her mit den gehö-
rigen Gränzen zu umschliessen.
X.
Sorgfalt des Staats für die Sicherheit durch Bestimmung solcher
Handlungen der Bürger, welche sich unmittelbar und geradezu
nur auf den Handlenden selbst beziehen. (Polizeigesetze.)
Ueber den Ausdruck Polizeigesetze. — Der einzige Grund, welcher den Staat
hier zu Beschränkungen berechtigt, ist, wenn die Folgen solcher Handlungen die
Rechte andrer schmälern. — Beschaffenheit der Folgen, welche eine solche
Schmälerung enthalten. — Erläuterung durch das Beispiel Aergerniss erregender
Handlungen. — Vorsichtsregeln für den Staat für den Fall solcher Handlungen,
deren Folgen dadurch den Rechten andrer gefährlich werden können, weil ein
seltner Grad der Beurtheilungskraft und der Kenntnisse erfordert wird, um der
Gefahr zu entgehen, — Welche Nähe der Verbindung jener Folgen mit der
Handlung selbst nothwendig ist, um Beschränkungen zu begründen? — Höchster
aus dem Vorigen gezogener Grundsatz. — Ausnahmen desselben. — Vortheile,
wenn die Bürger freiwillig durch Verträge bewirken, was der Staat sonst durch
Gesetze bewirken muss. — Prüfung der Frage: ob der Staat zu positiven
Handlungen zwingen kann. — Verneinung, weil — ein solcher Zwang schäd-
lich, — zur Erhaltung der Sicherheit nicht nothwendig ist. — Ausnahmen des
Nothrechts. — Handlungen, welche auf gemeinschaftlichem Eigenthum
geschehen, oder dasselbe betreffen.
Um — wie es jetzt geschehen muss — dem Menschen durch
alle die mannigfaltigen Verhältnisse des Lebens zu folgen,
wird es gut sein, bei demjenigen zuerst anzufangen, welches
unter allen das einfachste ist, bei dem Falle nämlich, wo der
Mensch, wenn gleich in Verbindung mit andern lebend, doch
völlig innerhalb der Schranken seines Eigenthums bleibt, und
nichts vornimmt, was sich unmittelbar und geradezu auf andre
bezieht. Von diesem Fall handeln die meisten der sogenannten
Polizeigesetze. Denn so schwankend auch dieser Ausdruck
ist; so ist dennoch wohl die wichtigste und allgemeinste Bedeu-
tung die, dass diese Gesetze, ohne selbst Handlungen zu betref-
fen, wodurch fremdes Recht unmittelbar gekränkt wird, nur
von Mitteln reden, dergleichen Kränkungen vorzubeugen; sie
mögen nun entweder solche Handlungen beschränken, deren
Folgen selbst dem fremden Rechte leicht gefährlich werden
können, oder solche, welche gewöhnlich zu Uebertretungen der
Gesetze führen, oder endlich dasjenige bestimmen, was zur
Erhaltung oder Ausübung der Gewalt des Staats selbst noth-
wendig ist. Dass auch diejenigen Verordnungen, welche nicht
die Sicherheit, sondern das Wohl der Bürger zum Zweck haben,
ganz vorzüglich diesen Namen erhalten, übergehe ich hier, weil
es nicht zu meiner Absicht dient. Den im Vorigen festgesetz-
ten Principien zufolge, darf nun der Staat hier, in diesem ein-
fachen Verhältnisse des Menschen, nichts weiter verbieten, als
was mit Grund Beeinträchtigung seiner eignen Rechte, oder
der Rechte der Bürger besorgen lässt. Und zwar muss in
Absicht der Rechte des Staats hier dasjenige angewandt wer-
den, was von dem Sinne dieses Ausdrucks so eben allgemein
erinnert worden ist. Nirgends also, wo der Vortheil oder der
Schade nur den Eigenthümer allein trifft, darf der Staat sich
Einschränkungen durch Prohibitiv-Gesetze erlauben. Allein
es ist auch, zur Rechtfertigung solcher Einschränkungen nicht
genug, dass irgend eine Handlung einem andren blos Abbruch
thue; sie muss auch sein Recht schmälern. Diese zweite
Bestimmung erfordert also eine weitere Erklärung. Schmä-
lerung des Rechts nämlich ist nur überall da, wo jemandem,
ohne seine Einwilligung, oder gegen dieselbe, ein Theil seines
Eigenthums, oder seiner persönlichen Freiheit entzogen wird.
Wo hingegen keine solche Entziehung geschieht, wo nicht der
eine gleichsam in den Kreis des Rechts des andern eingreift,
da ist, welcher Nachtheil auch für ihn entstehen möchte, keine
Schmälerung der Befugnisse. Ebensowenig ist diese da, wo
selbst der Nachtheil nicht eher entsteht, als bis der, welcher
ihn leidet, auch seinerseits thätig wird, die Handlung — um
mich so auszudrücken — auffasst, oder wenigstens der Wirkung
derselben nicht wie er könnte entgegenarbeitet.
Die Anwendung dieser Bestimmungen ist von selbst klar;
ich erinnere nur hier an ein Paar merkwürdige Beispiele. Es
fällt nämlich, diesen Grundsätzen nach, schlechterdings alles
weg, was man von Aergerniss erregenden Handlungen in Ab-
sicht auf Religion und Sitten besonders sagt. Wer Dinge
äussert, oder Handlungen vornimmt, welche das Gewissen und
die Sittlichkeit des andern beleidigen, mag allerdings unmo-
ralisch handeln, allein, so fern er sich keine Zudringlichkeit zu
Schulden kommen lässt, kränkt er kein Recht. Es bleibt dem
andern unbenommen, sich von ihm zu entfernen, oder macht
die Lage dies unmöglich, so trägt er die unvermeidliche Unbe-
quemlichkeit der Verbindung mit ungleichen Charakteren, und
darf nicht vergessen, dass vielleicht auch jener durch den An-
blick von Seiten gestört wird, die ihm eigenthümlich sind, da,
auf wessen Seite sich das Recht befinde? immer nur da
wichtig ist, wo es nicht an einem Rechte zu entscheiden fehlt.
Selbst der doch gewiss weit schlimmere Fall, wenn der Anblick
dieser oder jener Handlung, das Anhören dieses oder jenen
Raisonnements die Tugend oder die Vernunft und den gesun-
den Verstand andrer verführte, würde keine Einschränkung der
Freiheit erlauben. Wer so handelte, oder sprach, beleidigte
dadurch an sich Niemandes Recht, und es stand dem andren
frei, dem üblen Eindruck bei sich selbst Stärke des Willens,
oder Gründe der Vernunft entgegenzusetzen. Daher denn
auch, wie gross sehr oft das hieraus entspringende Uebel sein
mag, wiederum auf der andren Seite nie der gute Erfolg aus-
bleibt, dass in diesem Fall die Stärke des Charakters, in dem
vorigen die Toleranz und die Vielseitigkeit der Ansicht geprüft
wird und gewinnt. Ich brauche hier wohl nicht zu erinnern,
dass ich an diesen Fällen hier nichts weiter betrachte, als ob sie
die Sicherheit der Bürger stören? Denn ihr Verhältniss zur
Sittlichkeit der Nation, und was dem Staat in dieser Hinsicht
erlaubt sein kann, oder nicht? habe ich schon im Vorigen aus-
einanderzusetzen versucht.
Da es indess mehrere Dinge giebt, deren Beurtheilung posi-
tive, nicht jedem eigne Kenntnisse erfordert, und wo daher die
Sicherheit gestört werden kann, wenn jemand vorsätzlicher
oder unbesonnener Weise die Unwissenheit andrer zu seinem
Vortheile benutzt; so muss es den Bürgern frei stehen, in die-
sen Fällen den Staat gleichsam um Rath zu fragen. Vorzüg-
lich auffallende Beispiele hievon geben theils wegen der Häufig-
keit des Bedürfnisses, theils wegen der Schwierigkeit der Be-
urtheilung und endlich wegen der Grösse des zu besorgenden
Nachtheils, Aerzte, und zum Dienst der Partheien bestimmte
Rechtsgelehrte ab. Um nun in diesen Fällen dem Wunsche
der Nation zuvorzukommen, ist es nicht blos rathsam, sondern
sogar nothwendig, dass der Staat diejenigen, welche sich zu
solchen Geschäften bestimmen — insofern sie sich einer Prüfung
unterwerfen wollen — prüfe, und wenn die Prüfung gut aus-
fällt, mit einem Zeichen der Geschicklichkeit versehe, und nun
den Bürgern bekannt mache, dass sie ihr Vertrauen nur den-
jenigen gewiss schenken können, welche auf diese Weise bewährt
gefunden worden sind. Weiter aber dürfte er auch nie gehen,
nie weder denen, welche entweder die Prüfung ausgeschlagen,
oder in derselben unterlegen, die Uebung ihres Geschäfts, noch
der Nation den Gebrauch derselben untersagen. Dann dürfte
er dergleichen Veranstaltungen auch auf keine andre Geschäfte
ausdehnen, als auf solche, wo einmal nicht auf das Innere, son-
dern nur auf das Aeussere des Menschen gewirkt werden soll,
wo dieser folglich nicht selbst mitwirkend, sondern nur folgsam
und leidend zu sein braucht, und wo es demnach nur auf die
Wahrheit oder Falschheit der Resultate ankommt; und wo
zweitens die Beurtheilung Kenntnisse voraussetzt, die ein ganz
abgesondertes Gebiet für sich ausmachen, nicht durch Uebung
des Verstandes, und der praktischen Urtheilskraft erworben
werden, und deren Seltenheit selbst das Rathfragen erschwert.
Handelt der Staat gegen die letztere Bestimmung, so geräth
er in Gefahr, die Nation träge, unthätig, immer vertrauend auf
fremde Kenntniss und fremden Willen zu machen, da gerade
der Mangel sicherer, bestimmter Hülfe sowohl zu Bereicherung
der eigenen Erfahrung und Kenntniss mehr anspornt, als auch
die Bürger unter einander enger und mannigfaltiger verbindet,
indem sie mehr einer von dem Rathe des andern abhängig sind.
Bleibt er der ersteren Bestimmung nicht getreu; so entsprin-
gen, neben dem eben erwähnten, noch alle, im Anfange dieses
Aufsatzes weiter ausgeführte Nachtheile. Schlechterdings
müsste daher eine solche Veranstaltung wegfallen, um auch
hier wiederum ein merkwürdiges Beispiel zu wählen, bei Reli-
gionslehrern. Denn was sollte der Staat bei ihnen prüfen?
Bestimmte Sätze — davon hängt, wie oben genauer gezeigt ist,
die Religion nicht ab; das Maass der intellectuellen Kräfte
überhaupt — allein bei dem Religionslehrer, welcher bestimmt
ist, Dinge vorzutragen, die in so genauem Zusammenhange mit
der Individualität seiner Zuhörer stehen, kommt es beinah ein-
zig auf das Verhältniss seines Verstandes, zu dem Verstande
dieser an, und so wird schon dadurch die Beurtheilung unmög-
lich; die Rechtschaffenheit und den Charakter — allein dafür
giebt es keine andere Prüfung, als gerade eine solche, zu wel-
cher die Lage des Staats sehr unbequem ist, Erkundigung nach
den Umständen, dem bisherigen Betragen des Menschen u. s. f.
Endlich müsste überhaupt, auch in den oben von mir selbst
gebilligten Fällen, eine Veranstaltung dieser Art doch nur
immer da gemacht werden, wo der nicht zweifelhafte Wille der
Nation sie forderte. Denn an sich ist sie unter freien, durch
Freiheit selbst kultivirten Menschen, nicht einmal nothwendig,
und immer könnte sie doch manchem Missbrauch unterworfen
sein. Da es mir überhaupt hier nicht um Ausführung einzelner
Gegenstände, sondern nur um Bestimmung der Grundsätze zu
thun ist, so will ich noch einmal kurz den Gesichtspunkt ange-
ben, aus welchem allein ich einer solchen Einrichtung erwähnte.
Der Staat soll nämlich auf keine Weise für das positive Wohl
der Bürger sorgen, daher auch nicht für ihr Leben und ihre
Gesundheit — es müssten denn Handlungen andrer ihnen Ge-
fahr drohen — aber wohl für ihre Sicherheit. Und nur, insofern
die Sicherheit selbst leiden kann, indem Betrügerei die Unwis-
senheit benutzt, könnte eine solche Aufsicht innerhalb der
Gränzen der Wirksamkeit des Staats liegen. Indess muss
doch bei einem Betruge dieser Art der Betrogene immer zur
Ueberzeugung überredet werden, und da das Ineinander-
fliessen der verschiedenen Nüancen hiebei schon eine allgemeine
Regel beinah unmöglich macht, auch gerade die, durch die Frei-
heit übriggelassne Möglichkeit des Betrugs die Menschen zu
grösserer Vorsicht und Klugheit schärft; so halte ich es für
besser und den Principien gemässer, in der, von bestimmten
Anwendungen fernen Theorie, Prohibitivgesetze nur auf die-
jenigen Fälle auszudehnen, wo ohne, oder gar gegen den Willen
des andern gehandelt wird. Das vorige Raisonnement wird
jedoch immer dazu dienen, zu zeigen, wie auch andre Fälle —
wenn die Nothwendigkeit es erforderte — in Gemässheit der
aufgestellten Grundsätze behandelt werden müssten Es könnte scheinen, als gehörten die hier angeführten Fälle nicht zu
dem gegenwärtigen, sondern mehr zu dem folgenden Abschnitt, da sie Handlun-
gen betreffen, welche sich geradezu auf den andern beziehn. Aber ich sprach
auch hier nicht von dem Fall, wenn z. B. ein Arzt einen Kranken wirklich behan-
delt, ein Rechtsgelehrter einen Prozess wirklich übernimmt, sondern von dem,
wenn jemand diese Art zu leben und sich zu ernähren wählt. Ich fragte mich
ob der Staat eine solche Wahl beschränken darf, und diese blosse Wahl bezieht
sich noch geradezu auf niemand..
Wenn bis jetzt die Beschaffenheit der Folgen einer Hand-
lung auseinandergesetzt ist, welche dieselbe der Aufsicht des
Staats unterwirft; so fragt sich noch, ob jede Handlung einge-
schränkt werden darf, bei welcher nur die Möglichkeit einer
solchen Folge vorauszusehen ist, oder nur solche, mit welcher
dieselbe nothwendig verbunden ist? In dem ersteren Fall
geriethe die Freiheit, in dem letzteren die Sicherheit in Gefahr
zu leiden. Es ist daher freilich soviel ersichtlich, dass ein Mit-
telweg getroffen werden muss. Diesen indess allgemein zu
zeichnen halte ich für unmöglich. Freilich müsste die Berath-
schlagung über einen Fall dieser Art, durch die Betrachtung
des Schadens, der Wahrscheinlichkeit des Erfolgs, und der Ein-
schränkung der Freiheit im Fall eines gegebenen Gesetzes
zugleich geleitet werden. Allein keins dieser Stücke erlaubt
eigentlich ein allgemeines Maass; vorzüglich täuschen immer
Wahrscheinlichkeitsberechnungen. Die Theorie kann daher
nicht mehr, als jene Momente der Ueberlegung, angeben. In
der Anwendung müsste man, glaube ich, allein auf die specielle
Lage sehen, nicht aber sowohl auf die allgemeine Natur der
Fälle, und nur, wenn Erfahrung der Vergangenheit und Be-
trachtung der Gegenwart eine Einschränkung nothwendig
machte, dieselbe verfügen. Das Naturrecht, wenn man es auf
das Zusammenleben mehrerer Menschen anwendet, scheidet die
Gränzlinie scharf ab. Es missbilligt alle Handlungen, bei wel-
chen der eine mit seiner Schuld in den Kreis des andern
eingreift, alle folglich, wo der Schade entweder aus einem
eigentlichen Versehen entsteht, oder, wo derselbe immer, oder
doch in einem solchen Grade der Wahrscheinlichkeit mit der
Handlung verbunden ist, dass der Handlende ihn entweder ein-
sieht, oder wenigstens nicht, ohne dass es ihm zugerechnet
werden müsste, übersehn kann. Ueberall, wo sonst Schaden
entsteht, ist es Zufall, den der Handelnde zu ersetzen nicht
verbunden ist. Eine weitere Ausdehnung liesse sich nur aus
einem stillschweigenden Vertrage der Zusammenlebenden, und
also schon wiederum aus etwas Positivem herleiten. Allein
hiebei auch im Staate stehen zu bleiben, könnte mit Recht
bedenklich scheinen, vorzüglich wenn man die Wichtigkeit des
zu besorgenden Schadens, und die Möglichkeit bedenkt, die
Einschränkung der Freiheit der Bürger nur wenig nachtheilig
zu machen. Auch lässt sich das Recht des Staats hiezu nicht
bestreiten, da er nicht blos insofern für die Sicherheit sorgen
soll, dass er, bei geschehenen Kränkungen des Rechts zur Ent-
schädigung zwinge, sondern auch so, dass er Beeinträchtigun-
gen verhindre. Auch kann ein Dritter, der einen Ausspruch
thun soll, nur nach äussren Kennzeichen entscheiden. Unmög-
lich darf daher der Staat dabei stehen bleiben, abzuwarten, ob
die Bürger es nicht werden an der gehörigen Vorsicht bei
gefährlichen Handlungen mangeln lassen, noch kann er sich allein
darauf verlassen, ob sie die Wahrscheinlichkeit des Schadens
voraussehen; er muss vielmehr — wo wirklich die Lage die
Besorgniss dringend macht — die an sich unschädliche Hand-
lung selbst einschränken.
Vielleicht liesse sich demnach der folgende Grundsatz auf-
stellen:
um für die Sicherheit der Bürger Sorge zu tragen, muss
der Staat diejenigen, sich unmittelbar allein auf den Hand-
lenden beziehenden Handlungen verbieten, oder einschrän-
ken, deren Folgen die Rechte andrer kränken, die ohne
oder gegen die Einwilligung derselben ihre Freiheit oder
ihren Besitz schmälern, oder von denen dies wahrscheinlich
zu besorgen ist, eine Wahrscheinlichkeit, bei welcher allemal
auf die Grösse des zu besorgenden Schadens und die Wich-
tigkeit der durch ein Prohibitivgesetz entstehenden Frei-
heitseinschränkung zugleich Rücksicht genommen werden
muss. Jede weitere, oder aus andren Gesichtspunkten
gemachte Beschränkung der Privatfreiheit aber, liegt aus-
serhalb der Gränzen der Wirksamkeit des Staats.
Da, meinen hier entwickelten Ideen nach, der einzige Grund
solcher Einschränkungen die Rechte andrer sind; so müssten die-
selben natürlich sogleich wegfallen, als dieser Grund aufhörte, und
sobald also z. B. da bei den meisten Polizeiveranstaltungen
die Gefahr sich nur auf den Umfang der Gemeinheit, des
Dorfs, der Stadt erstreckt, eine solche Gemeinheit ihre Auf-
hebung ausdrücklich und einstimmig verlangte. Der Staat
8
müsste alsdann zurücktreten, und sich begnügen, die, mit vor-
sätzlicher, oder schuldbarer Kränkung der Rechte vorgefallenen
Beschädigungen zu bestrafen. Denn dies allein, die Hemmung
der Uneinigkeiten der Bürger unter einander, ist das wahre und
eigentliche Interesse des Staats, an dessen Beförderung ihn nie
der Wille einzelner Bürger, wären es auch die Beleidigten
selbst, hindern darf. Denkt man sich aufgeklärte, von ihrem
wahren Vortheil unterrichtete, und daher gegenseitig wohlwol-
lende Menschen in enger Verbindung mit einander; so werden
leicht von selbst freiwillige, auf ihre Sicherheit abzweckende
Verträge unter ihnen entstehen, Verträge z. B. dass dies oder
jenes gefahrvolle Geschäft nur an bestimmten Orten, oder
zu gewissen Zeiten, betrieben werden, oder auch ganz unter-
bleiben soll. Verträge dieser Art sind Verordnungen des Staats
bei weitem vorzuziehen. Denn, da diejenigen selbst sie schlies-
sen, welche den Vortheil und Schaden davon unmittelbar, und
eben so, wie das Bedürfniss dazu, selbst fühlen, so entstehen
sie erstlich gewiss nicht leicht anders, als wenn sie wirklich
nothwendig sind; freiwillig eingegangen werden sie ferner bes-
ser und strenger befolgt; als Folgen der Selbstthätigkeit,
schaden sie endlich, selbst bei beträchtlicher Einschränkung
der Freiheit, dennoch dem Charakter minder, und vielmehr, wie
sie nur bei einem gewissen Maasse der Aufklärung und des
Wohlwollens entstehen, so tragen sie wiederum dazu bei, beide
zu erhöhen. Das wahre Bestreben des Staats muss daher dahin
gerichtet sein, die Menschen durch Freiheit dahin zu führen,
dass leichter Gemeinheiten entstehen, deren Wirksamkeit in
diesen und vielfältigen ähnlichen Fällen an die Stelle des Staats
treten könne.
Ich habe hier gar keiner Gesetze erwähnt, welche den Bür-
gern positive Pflichten, dies, oder jenes für den Staat, oder für
einander aufzuopfern, oder zu thun, auflegten, dergleichen es
doch bei uns überall giebt. Allein die Anwendung der Kräfte
abgerechnet, welche jeder Bürger dem Staate, wo es erfordert
wird, schuldig ist, und von der ich in der Folge noch Gelegen-
heit haben werde zu reden, halte ich es auch nicht für gut, wenn
der Staat einen Bürger zwingt, zum Besten des andern irgend
etwas gegen seinen Willen zu thun, möchte er auch auf die
vollständigste Weise dafür entschädigt werden. Denn da jede
Sache, und jedes Geschäft, der unendlichen Verschiedenheit der
menschlichen Launen und Neigungen nach, jedem einen so
unübersehbar verschiedenen Nutzen gewähren, und da dieser
Nutzen auf gleich mannigfaltige Weise interessant, wichtig,
und unentbehrlich sein kann; so führt die Entscheidung, wel-
ches Gut des einen welchem des andren vorzuziehen sei? —
selbst wenn auch nicht die Schwierigkeit gänzlich davon zurück-
schreckt — immer etwas Hartes, über die Empfindung und In-
dividualität des andren Absprechendes mit sich. Aus eben
diesem Grunde ist auch, da eigentlich nur das Gleichartige,
eines die Stelle des andren ersetzen kann, wahre Entschädigung
oft ganz unmöglich, und fast nie allgemein bestimmbar. Zu
diesen Nachtheilen auch der besten Gesetze dieser Art, kommt
nun noch die Leichtigkeit des möglichen Missbrauchs. Auf
der andren Seite macht die Sicherheit — welche doch allein dem
Staat die Gränzen richtig vorschreibt, innerhalb welcher er
seine Wirksamkeit halten muss — Veranstaltungen dieser Art
überhaupt nicht nothwendig, da freilich jeder Fall, wo dies sich
findet, eine Ausnahme sein muss; auch werden die Menschen
wohlwollender gegen einander, und zu gegenseitiger Hülfslei-
stung bereitwilliger, je weniger sich ihre Eigenliebe und ihr
Freiheitssinn durch ein eigentliches Zwangsrecht des andern
gekränkt fühlt; und selbst, wenn die Laune und der völlig
grundlose Eigensinn eines Menschen ein gutes Unternehmen
hindert, so ist diese Erscheinung nicht gleich von der Art, dass
die Macht des Staats sich ins Mittel schlagen muss. Sprengt
sie doch nicht in der physischen Natur jeden Fels, der dem
8*
Wanderer in dem Wege steht! Hindernisse beleben die Ener-
gie, und schärfen die Klugheit; nur diejenigen, welche die Un-
gerechtigkeiten der Menschen hervorbringen, hemmen ohne zu
nützen; ein solches aber ist jener Eigensinn nicht, der zwar
durch Gesetze für den einzelnen Fall gebeugt, aber nur durch
Freiheit gebessert werden kann. Diese hier nur kurz zusam-
mengenommenen Gründe sind, dünkt mich, stark genug, um
blos der ehernen Nothwendigkeit zu weichen, und der Staat
muss sich daher begnügen, die, schon ausser der positiven Ver-
bindung existirenden Rechte der Menschen, ihrem eignen Un-
tergange die Freiheit oder das Eigenthum des andern aufzu-
opfern, zu schützen.
Endlich entstehen eine nicht unbeträchtliche Menge von
Polizeigesetzen aus solchen Handlungen, welche innerhalb der
Gränzen des eignen aber nicht alleinigen, sondern gemein-
schaftlichen Rechts vorgenommen werden. Bei diesen sind
Freiheitsbeschränkungen natürlich bei weitem minder bedenk-
lich, da in dem gemeinschaftlichen Eigenthum jeder Miteigen-
thümer ein Recht zu widersprechen hat. Solch ein gemein-
schaftliches Eigenthum sind z. B. Wege, Flüsse, die mehrere
Besitzungen berühren, Plätze und Strassen in Städten u. s. f.
XI.
Sorgfalt des Staats für die Sicherheit durch Bestimmung solcher
Handlungen der Bürger, welche sich unmittelbar und geradezu auf
andre beziehen. (Civilgesetze.)
Handlungen, welche die Rechte andrer kränken. — Pflicht des Staats, — dem
Beleidigten zur Entschädigung zu verhelfen, — und den Beleidiger vor der Rache
jenes zu schützen. — Handlungen mit gegenseitiger Einwilligung. — Willenser-
klärungen. — Doppelte Pflicht des Staats in Rücksicht auf sie, — einmal die
gültigen aufrecht zu erhalten, — zweitens den rechtswidrigen den Schutz der Ge-
setze zu versagen, und zu verhüten, dass die Menschen sich, auch durch gültige,
nicht zu drückende Fesseln anlegen. — Gültigkeit der Willenserklärungen. —
Erleichterung der Trennung gültig geschlossener Verträge, als eine Folge der
zweiten eben erwähnten Pflicht des Staats; — allein bei Verträgen, welche die
Person betreffen; — mit verschiedenen Modifikationen, nach der eigenthümlichen
Natur der Verträge. — Dispositionen von Todeswegen. — Gültigkeit derselben
nach allgemeinen Grundsätzen des Rechts? — Nachtheile derselben. — Gefahren
einer blossen Intestaterbfolge, und Vortheile der Privatdispositionen. — Mittel-
weg, welcher diese Vortheile zu erhalten, und jene Nachtheile zu entfernen ver-
sucht. — Intestaterbfolge. — Bestimmung des Pflichttheils. — Inwiefern müssen
Verträge unter Lebendigen auf die Erben übergehen? — Nur insofern, als das
hinterlassene Vermögen dadurch eine andre Gestalt erhalten hat. — Vorsichts-
regeln für den Staat, hier freiheitsbeschränkende Verhältnisse zu verhindern. —
Moralische Personen. — Ihre Nachtheile. — Grund derselben. — Werden geho-
ben, wenn man jede moralische Person blos als eine Vereinigung der jedesmali-
gen Mitglieder ansieht. — Höchste, aus diesem Abschnitt gezogene Grundsätze.
Verwickelter, allein für die gegenwärtige Untersuchung mit
weniger Schwierigkeit verbunden, ist der Fall solcher Hand-
lungen, welche sich unmittelbar und geradezu auf andre beziehen.
Denn wo durch dieselben Rechte gekränkt werden, da muss der
Staat natürlich sie hemmen, und die Handlenden zum Ersatze
des zugefügten Schadens zwingen. Sie kränken aber, nach den
im Vorigen gerechtfertigten Bestimmungen, das Recht nur dann,
wenn sie dem andren gegen, oder ohne seine Einwilligung
etwas von seiner Freiheit, oder seinem Vermögen entziehen.
Wenn jemand von dem andern beleidigt worden ist, hat er ein
Recht auf Ersatz, allein, da er in der Gesellschaft seine Privat-
rache dem Staat übertragen hat, auf nichts weiter, als auf die-
sen. Der Beleidiger ist daher dem Beleidigten auch nur zur
Erstattung des Entzognen, oder, wo dies nicht möglich ist, zur
Entschädigung verbunden, und muss dafür mit seinem Vermö-
gen, und seinen Kräften, insofern er durch diese zu erwerben
vermögend ist, einstehen. Beraubung der Freiheit, die z. B. bei
uns bei unvermögenden Schuldnern eintritt, kann nur als ein
untergeordnetes Mittel, um nicht Gefahr zu laufen, mit der
Person des Verpflichteten, seinen künftigen Erwerb zu verlie-
ren, stattfinden. Nun darf der Staat zwar den Beleidigten kein
rechtmässiges Mittel zur Entschädigung versagen, allein er
muss auch verhüten, dass nicht Rachsucht sich dieses Vorwands
gegen den Beleidiger bediene. Er muss dies um so mehr, als
im aussergesellschaftlichen Zustande diese dem Beleidigten,
wenn derselbe die Gränzen des Rechts überschritte, Wider-
stand leisten würde, und hingegen hier die unwiderstehliche
Macht des Staats ihn trifft, und als allgemeine Bestimmungen,
die immer da nothwendig sind, wo ein Dritter entscheiden soll,
dergleichen Vorwände immer eher begünstigen. Die Versiche-
rung der Person der Schuldner z. B. dürfte daher leicht noch
mehr Ausnahmen erfordern, als die meisten Gesetze davon
verstatten.
Handlungen, die mit gegenseitiger Einwilligung vorgenom-
men werden, sind völlig denjenigen gleich, welche Ein Mensch
für sich, ohne unmittelbare Beziehung auf andre ausübt, und
ich könnte daher bei ihnen nur dasjenige wiederholen, was ich
im Vorigen von diesen gesagt habe. Indess giebt es dennoch
unter ihnen Eine Gattung, welche völlig eigne Bestimmungen
nothwendig macht, diejenigen nämlich, die nicht gleich und auf
Einmal vollendet werden, sondern sich auf die Folge erstrecken.
Von dieser Art sind alle Willenserklärungen, aus welchen voll-
kommene Pflichten der Erklärenden entspringen, sie mögen
einseitig oder gegenseitig geschehen. Sie übertragen einen
Theil des Eigenthums von dem einen auf den andren, und die
Sicherheit wird gestört, wenn der Uebertragende durch Nicht-
erfüllung des Versprechens das Uebertragene wiederum zurück-
zunehmen sucht. Es ist daher eine der wichtigsten Pflichten
des Staats, Willenserklärungen aufrecht zu erhalten. Allein
der Zwang, welchen jede Willenserklärung auflegt, ist nur dann
gerecht und heilsam, wenn einmal blos der Erklärende dadurch
eingeschränkt wird, und zweitens dieser, wenigstens mit gehö-
riger Fähigkeit der Ueberlegung — überhaupt und in dem Mo-
ment der Erklärung — und mit freier Beschliessung handelte.
Ueberall, wo dies nicht der Fall ist, ist der Zwang eben so
ungerecht, als schädlich. Auch ist auf der einen Seite die Ueber-
legung für die Zukunft nur immer auf eine sehr unvollkommene
Weise möglich; und auf der andern sind manche Verbindlich-
keiten von der Art, dass sie der Freiheit Fesseln anlegen, welche
der ganzen Ausbildung des Menschen hinderlich sind. Es ent-
steht also die zweite Verbindlichkeit des Staats, rechts widrigen
Willenserklärungen den Beistand der Gesetze zu versagen, und
auch alle, nur mit der Sicherheit des Eigenthums vereinbare
Vorkehrungen zu treffen, um zu verhindern, dass nicht die Un-
überlegtheit Eines Moments dem Menschen Fesseln anlege,
welche seine ganze Ausbildung hemmen oder zurückhalten.
Was zur Gültigkeit eines Vertrags, oder einer Willenserklärung
überhaupt erfordert wird, setzen die Theorien des Rechts gehö-
rig auseinander. Nur in Absicht des Gegenstandes derselben,
bleibt mir hier zu erinnern übrig, dass der Staat, dem, den vor-
hin entwickelten Grundsätzen gemäss, schlechterdings blos die
Erhaltung der Sicherheit obliegt, keine andern Gegenstände
ausnehmen darf, als diejenigen, welche entweder schon die all-
gemeinen Begriffe des Rechts selbst ausnehmen, oder deren
Ausnahme gleichfalls durch die Sorge für die Sicherheit gerecht-
fertigt wird. Als hieher gehörig aber zeichnen sich vorzüglich
nur folgende Fälle aus: 1., wo der Versprechende kein Zwangs-
recht übertragen kann, ohne sich selbst blos zu einem Mittel
der Absichten des andren herabzuwürdigen, wie z. B. jeder auf
Sklavereihinauslaufende Vertrag wäre; 2. wo der Versprechende
selbst über die Leistung des Versprochenen, der Natur dessel-
ben nach, keine Gewalt hat, wie z. B. bei Gegenständen der
Empfindung und des Glaubens der Fall ist; 3. wo das Ver-
sprechen, entweder an sich, oder in seinen Folgen den Rechten
andrer entweder wirklich entgegen, oder doch gefährlich ist,
wobei alle, bei Gelegenheit der Handlungen einzelner Menschen
entwickelte Grundsätze eintreten. Der Unterschied zwischen
diesen Fällen ist nun der, dass in dem ersten und zweiten der
Staat blos das Zwangsrecht der Gesetze versagen muss, übri-
gens aber weder Willenserklärungen dieser Art, noch auch ihre
Ausübung, insofern diese nur mit gegenseitiger Bewilligung
geschieht, hindern darf, da er hingegen in dem zuletzt aufge-
führten auch die blosse Willenserklärung an sich untersagen
kann, und muss.
Wo aber gegen die Rechtmässigkeit eines Vertrags oder
einer Willenserklärung kein Einwand zu machen ist; da kann
der Staat dennoch, um den Zwang zu erleichtern, welchen selbst
der freie Wille der Menschen sich unter einander auflegt, indem
er die Trennung der, durch den Vertrag eingegangenen Ver-
bindung minder erschwert, verhindern, dass nicht der zu einer
Zeit gefasste Entschluss auf einen zu grossen Theil des Lebens
hinaus, die Willkühr beschränke. Wo ein Vertrag blos auf
Uebertragung von Sachen, ohne weiteres persönliches Verhält-
niss, abzweckt, halte ich eine solche Veranstaltung nicht rath-
sam. Denn einmal sind dieselben weit seltener von der Art,
dass sie auf ein dauerndes Verhältniss der Kontrahenten führen;
dann stören auch, bei ihnen vorgenommene Einschränkungen
die Sicherheit der Geschäfte auf eine bei weitem schädlichere
Weise; und endlich ist es von manchen Seiten, und vorzüglich
zur Ausbildung der Beurtheilungskraft, und zur Beförderung
der Festigkeit des Charakters gut, dass das einmal gegebene
Wort unwiderruflich binde, so dass man diesen Zwang nie,
ohne eine wahre Nothwendigkeit, erleichtern muss, welche bei
der Uebertragung von Sachen, wodurch zwar diese oder jene
Ausübung der menschlichen Thätigkeit gehemmt, aber die
Energie selbst nicht leicht geschwächt werden kann, nicht ein-
tritt. Bei Verträgen hingegen, welche persönliche Leistungen
zur Pflicht machen, oder gar eigentliche persönliche Verhältnisse
hervorbringen, ist es bei weitem anders. Der Zwang ist bei
ihnen den edelsten Kräften des Menschen nachtheilig, und da
das Gelingen der Geschäfte selbst, die durch sie bewirkt wer-
den, obgleich mehr oder minder, von der fortdauernden Ein-
willigung der Partheien abhängt; so ist auch bei ihnen eine
Einschränkung dieser Art minder schädlich. Wo daher durch
den Vertrag ein solches persönliches Verhältniss entsteht, das
nicht blos einzelne Handlungen fordert, sondern im eigentlich-
sten Sinn die Person und die ganze Lebensweise betrifft, wo
dasjenige, was geleistet, oder dasjenige, dem entsagt wird, in
dem genauesten Zusammenhange mit inneren Empfindungen
steht, da muss die Trennung zu jeder Zeit, und ohne Anführung
aller Gründe erlaubt sein. So bei der Ehe. Wo das Verhält-
niss zwar weniger eng ist, indess gleichfalls die persönliche
Freiheit eng beschränkt, da, glaube ich, müsste der Staat eine
Zeit festsetzen, deren Länge auf der einen Seite nach der Wich-
tigkeit der Beschränkung, auf der andern nach der Natur des
Geschäfts zu bestimmen wäre, binnen welcher zwar keiner bei-
der Theile einseitig abgehen dürfte, nach Verlauf welcher aber
der Vertrag ohne Erneuerung, kein Zwangsrecht nach sich
ziehen könnte, selbst dann nicht, wenn die Partheien, bei Ein-
gehung des Vertrags, diesem Gesetze entsagt hätten. Denn
wenn es gleich scheint, als sei eine solche Anordnung eine blosse
Wohlthat des Gesetzes, und dürfte sie, ebensowenig als irgend
eine andre, jemanden aufgedrungen werden; so wird ja nieman-
den hierdurch die Befugniss genommen, auch das ganze Leben
hindurch dauernde Verhältnisse einzugehen, sondern blos dem
einen das Recht, den andern da zu zwingen, wo der Zwang den
höchsten Zwecken desselben hinderlich sein würde. Ja es ist
um so weniger eine blosse Wohlthat, als die hier genannten
Fälle, und vorzüglich der der Ehe (sobald nämlich die freie
Willkühr nicht mehr das Verhältniss begleitet) nur dem Grade
nach von denjenigen verschieden sind, worin der eine sich zu
einem blossen Mittel der Absicht des andern macht, oder viel-
mehr von dem andern dazu gemacht wird; und die Befugniss
hier die Gränzlinie zu bestimmen zwischen dem, ungerechter,
und gerechter Weise aus dem Vertrag entstehenden Zwangs-
recht, kann dem Staat, d. i. dem gemeinsamen Willen der Ge-
sellschaft, nicht bestritten werden, da ob die, aus einem
Vertrage entstehende Beschränkung den, welcher seine Willens-
meinung geändert hat, wirklich nur zu einem Mittel des andern
macht? völlig genau, und der Wahrheit angemessen zu ent-
scheiden, nur in jeglichem speciellen Fall möglich sein würde.
Endlich kann es auch nicht eine Wohlthat aufdringen heissen,
wenn man die Befugniss aufhebt, ihr im Voraus zu entsagen.
Die ersten Grundsätze des Rechts lehren von selbst, und es
ist auch im Vorigen schon ausdrücklich erwähnt worden, dass
niemand gültigerweise über etwas andres einen Vertrag schlies-
sen, oder überhaupt seinen Willen erklären kann, als über das,
was wirklich sein Eigenthum ist, seine Handlungen, oder sei-
nen Besitz. Es ist auch gewiss, dass der wichtigste Theil der
Sorgfalt des Staats für die Sicherheit der Bürger, insofern Ver-
träge oder Willenserklärungen auf dieselbe Einfluss haben, darin
besteht, über die Ausübung dieses Satzes zu wachen. Dennoch
finden sich noch ganze Gattungen der Geschäfte, bei welchen
man seine Anwendung gänzlich vermisst. So alle Dispositionen
von Todeswegen, auf welche Art sie geschehen mögen, ob direkt,
oder indirekt, nur bei Gelegenheit eines andern Vertrags, ob in
einem Vertrage, Testamente, oder irgend einer andren Dispo-
sition, welcher Art sie sei. Alles Recht kann sich unmittelbar
nur immer auf die Person beziehn; auf Sachen ist es nicht
anders denkbar, als insofern die Sachen durch Handlungen mit
der Person verknüpft sind. Mit dem Aufhören der Person fällt
daher auch dies Recht weg. Der Mensch darf daher zwar, bei
seinem Leben mit seinen Sachen nach Gefallen schalten, sie
ganz oder zum Theil, ihre Substanz, oder ihre Benutzung, oder
ihren Besitz veräussern, auch seine Handlungen, seine Dispo-
sition über sein Vermögen, wie er es gut findet, im Voraus
beschränken. Keinesweges aber steht ihm die Befugniss zu,
auf eine, für andre verbindliche Weise zu bestimmen, wie es mit
seinem Vermögen nach seinem Tode gehalten werden, oder wie
der künftige Besitzer desselben handlen oder nicht handlen
solle? Ich verweile nicht bei den Einwürfen, welche sich gegen
diese Sätze erheben lassen. Die Gründe und Gegengründe sind
schon hinlänglich in der bekannten Streitfrage über die Gültig-
keit der Testamente nach dem Naturrecht auseinandergesetzt
worden, und der Gesichtspunkt des Rechts ist hier überhaupt
minder wichtig, da freilich der ganzen Gesellschaft die Befug-
niss nicht bestritten werden kann, letztwilligen Erklärungen
die, ihnen sonst mangelnde Gültigkeit positiv beizulegen. Allein
wenigstens in der Ausdehnung, welche ihnen die meisten unsrer
Gesetzgebungen beilegen, nach dem System unsres gemeinen
Rechts, in welchem sich hier die Spitzfindigkeit Römischer
Rechtsgelehrten, mit der, eigentlich auf die Trennung aller Ge-
sellschaft hinauslaufenden Herrschsucht des Lehnwesens ver-
eint, hemmen sie die Freiheit, deren die Ausbildung des Men-
schen nothwendig bedarf, und streiten gegen alle, in diesem
ganzen Aufsatz entwickelte Grundsätze. Denn sie sind das
vorzüglichste Mittel, wodurch eine Generation der andern Ge-
setze vorschreibt, wodurch Missbräuche und Vorurtheile, die
sonst nicht leicht die Gründe überleben würden, welche ihr Ent-
stehen unvermeidlich, oder ihr Dasein unentbehrlich machen,
von Jahrhunderten zu Jahrhunderten forterben, wodurch end-
lich, statt dass die Menschen den Dingen die Gestalt geben
sollten, diese die Menschen selbst ihrem Joche unterwerfen.
Auch lenken sie am meisten den Gesichtspunkt der Menschen
von der wahren Kraft und ihrer Ausbildung ab, und auf den
äussren Besitz, und das Vermögen hin, da dies nun einmal das
Einzige ist, wodurch dem Willen noch nach dem Tode Gehor-
sam erzwungen werden kann. Endlich dient die Freiheit letzt-
williger Verordnungen sehr oft und meistentheils gerade den
unedleren Leidenschaften des Menschen, dem Stolze, der
Herrschsucht, der Eitelkeit u. s. f. so wie überhaupt viel häufi-
ger nur die minder Weisen und minder Guten davon Gebrauch
machen, da der Weisere sich in Acht nimmt, etwas für eine
Zeit zu verordnen, deren individuelle Umstände seiner Kurzsich-
tigkeit verborgen sind, und der Bessere sich freut, auf keine
Gelegenheit zu stossen, wo er den Willen andrer einschränken
muss, statt dieselben noch begierig hervorzusuchen. Nicht
selten mag sogar das Geheimniss und die Sicherheit vor dem
Urtheil der Mitwelt Dispositionen begünstigen, die sonst die
Schaam unterdrückt hätte. Diese Gründe zeigen, wie es mir
scheint hinlänglich die Nothwendigkeit, wenigstens gegen die
Gefahr zu sichern, welche die testamentarischen Dispositionen
der Freiheit der Bürger drohen.
Was soll aber, wenn der Staat die Befugniss gänzlich auf-
hebt, Verordnungen zu machen, welche sich auf den Fall des
Todes beziehen — wie denn die Strenge der Grundsätze dies
allerdings erfordert — an ihre Stelle treten? Da Ruhe und
Ordnung allen erlaubte Besitznehmung unmöglich machen,
unstreitig nichts anders als eine vom Staat festgesetzte In-
testat-Erbfolge. Allein dem Staate einen so mächtigen posi-
tiven Einfluss, als er durch diese Erbfolge, bei gänzlicher
Abschaffung der eignen Willenserklärungen der Erblasser, er-
hielte, einzuräumen, verbieten auf der andren Seite manche der
im Vorigen entwickelten Grundsätze. Schon mehr als einmal
ist der genaue Zusammenhang der Gesetze der Intestatsucces-
sion mit den politischen Verfassungen der Staaten bemerkt
worden, und leicht liesse sich dieses Mittel auch zu andern
Zwecken gebrauchen. Ueberhaupt ist im Ganzen der mannig-
faltige und wechselnde Wille der einzelnen Menschen dem ein-
förmigen und unveränderlichen des Staats vorzuziehen. Auch
scheint es, welcher Nachtheile man immer mit Recht die Testa-
mente beschuldigen mag, dennoch hart, dem Menschen die
unschuldige Freude des Gedankens zu rauben, diesem oder
jenem mit seinem Vermögen noch nach seinem Tode wohl-
thätig zu werden; und wenn grosse Begünstigung derselben
der Sorgfalt für das Vermögen eine zu grosse Wichtigkeit
giebt, so führt auch gänzliche Aufhebung vielleicht wiederum
zu dem entgegengesetzten Uebel. Dazu entsteht durch die
Freiheit der Menschen, ihr Vermögen willkührlich zu hinter-
lassen, ein neues Band unter ihnen, das zwar oft sehr gemiss-
braucht, allein auch oft heilsam benutzt werden kann. Und
die ganze Absicht der hier vorgetragenen Ideen liesse sich ja
vielleicht nicht unrichtig darin setzen, dass sie alle Fesseln in
der Gesellschaft zu zerbrechen, aber auch dieselbe mit so viel
Banden, als möglich, unter einander zu verschlingen bemüht
sind. Der Isolirte vermag sich eben so wenig zu bilden, als der
Gefesselte. Endlich ist der Unterschied so klein, ob jemand in
dem Moment seines Todes sein Vermögen wirklich verschenkt,
oder durch ein Testament hinterlässt, da er doch zu dem Erste-
ren ein unbezweifeltes und unentreissbares Recht hat.
Der Widerspruch, in welchen die hier aufgeführten Gründe
und Gegengründe zu verwickeln schienen, löst sich, dünkt mich,
durch die Betrachtung, dass eine letztwillige Verordnung zweier-
lei Bestimmungen enthalten kann, 1. wer unmittelbar der
nächste Besitzer des Nachlasses sein? 2. wie er damit schalten,
wem er ihn wiederum hinterlassen, und wie es überhaupt in der
Folge damit gehalten werden soll? und dass alle vorhin
erwähnte Nachtheile nur von den letztren, alle Vortheile hin-
gegen allein von den ersteren gelten. Denn haben die Gesetze
nur, wie sie allerdings müssen, durch gehörige Bestimmung
eines Pflichttheils Sorge getragen, dass kein Erblasser eine
wahre Unbilligkeit oder Ungerechtigkeit begehen kann, so scheint
mir von der blos wohlwollenden Meinung, jemanden noch nach
seinem Tode zu beschenken, keine sonderliche Gefahr zu be-
fürchten zu sein. Auch werden die Grundsätze, nach welchen die
Menschen hierin verfahren werden, zu Einer Zeit gewiss immer
ziemlich dieselben sein, und die grössere Häufigkeit oder Sel-
tenheit der Testamente wird dem Gesetzgeber selbst zugleich
zu einem Kennzeichen dienen, ob die von ihm eingeführte Inte-
staterbfolge noch passend ist, oder nicht? Dürfte es daher viel-
leicht nicht rathsam sein, nach der zwiefachen Natur dieses Ge-
genstandes, auch die Maassregeln des Staats in Betreff seiner
zu theilen? auf der einen Seite zwar jedem zu gestatten, die
Einschränkung in Absicht des Pflichttheils ausgenommen, zu
bestimmen, wer sein Vermögen nach seinem Tode besitzen
solle? aber ihm auf der andern zu verbieten, gleichfalls auf
irgend eine nur denkbare Weise zu verordnen, wie derselbe
übrigens damit schalten, oder walten solle? Leicht könnte nun
zwar das, was der Staat erlaubte, als ein Mittel gemissbraucht
werden, auch das zu thun, was er untersagte. Allein diesem
müsste die Gesetzgebung durch einzelne und genaue Bestim-
mungen zuvorzukommen bemüht sein. Als solche Bestimmun-
gen liessen sich z. B. da die Ausführung dieser Materie nicht
hieher gehört, folgende vorschlagen, dass der Erbe durch keine
Bedingung bezeichnet werden dürfte, die er, nach dem Tode
des Erblassers, vollbringen müsste, um wirklich Erbe zu sein;
dass der Erblasser immer nur den nächsten Besitzer seines
Vermögens, nie aber einen folgenden ernennen, und dadurch
die Freiheit des früheren beschränken dürfte; dass er zwar
mehrere Erben ernennen könnte, aber dies geradezu thun müsste;
eine Sache zwar dem Umfange, nie aber den Rechten nach z. B.
Substanz und Niessbrauch, theilen dürfte u. s. f. Denn hieraus,
wie auch aus der hiermit noch verbundnen Idee, dass der Erbe
den Erblasser vorstellt — die sich, wenn ich mich nicht sehr
irre, wie so vieles andre, in der Folge für uns noch äusserst
wichtig Gewordene, auf eine Formalität der Römer, und also
auf die mangelhafte Einrichtung der Gerichtsverfassung eines
erst sich bildenden Volkes gründet—entspringen mannigfaltige
Unbequemlichkeiten, und Freiheitsbeschränkungen. Allen die-
sen aber wird es möglich sein zu entgehen, wenn man den Satz
nicht aus den Augen verliert, dass dem Erblasser nichts weiter
verstattet sein darf, als auf’s Höchste seinen Erben zu nennen;
dass der Staat, wenn dies gültig geschehen ist, diesem Erben
zum Besitze verhelfen, aber jeder weitergehenden Willenser-
klärung des Erblassers seine Unterstützung versagen muss.
Für den Fall, wo keine Erbesernennung von dem Erblasser
geschehen ist, muss der Staat eine Intestaterbfolge anordnen.
Allein die Ausführung der Sätze, welche dieser, so wie der Be-
stimmung des Pflichttheils zum Grunde liegen müssen, gehört
nicht zu meiner gegenwärtigen Absicht, und ich kann mich mit
der Bemerkung begnügen, dass der Staat auch hier nicht posi-
tive Endzwecke, z. B. Aufrechthaltung des Glanzes und des
Wohlstandes der Familien, oder in dem entgegengesetzten Ex-
treme Versplitterung des Vermögens durch Vervielfachung der
Theilnehmer, oder gar reichlichere Unterstützung des grösseren
Bedürfnisses, vor Augen haben darf; sondern allein den Begrif-
fen des Rechts folgen muss, die sich hier vielleicht blos auf den
Begriff des ehemaligen Miteigenthums bei dem Leben des Erb-
lassers beschränken, und so das erste Recht der Familie, das
fernere der Gemeine u. s. w. einräumen Sehr vieles in dem vorigen Raisonnement habe ich aus Mirabeaus Rede
über eben diesen Gegenstand entlehnt; und ich würde noch mehr davon haben. Sehr nah verwandt
mit der Erbschaftsmaterie ist die Frage, inwiefern Verträge
unter Lebendigen auf die Erben übergehen müssen? Die Ant-
wort muss sich aus dem festgestellten Grundsatz ergeben.
Dieser aber war folgender: der Mensch darf bei seinem Leben
seine Handlungen beschränken und sein Vermögen veräussern,
wie er will, auf die Zeit seines Todes aber weder die Handlun-
gen dessen bestimmen wollen, der alsdann sein Vermögen be-
sitzt, noch auch hierüber eine Anordnung irgend einer Gattung
(man müsste denn die blosse Ernennung eines Erben billigen)
treffen. Es müssen daher alle diejenigen Verbindlichkeiten auf
den Erben übergehn, und gegen ihn erfüllt werden, welche wirk-
lich die Uebertragung eines Theils des Eigenthums in sich
schliessen, folglich das Vermögen des Erblassers entweder ver-
ringert oder vergrössert haben; hingegen keine von denjenigen,
welche entweder in Handlungen des Erblassers bestanden, oder
sich nur auf die Person desselben bezogen. Selbst aber mit
diesen Einschränkungen bleibt die Möglichkeit, seine Nachkom-
menschaft durch Verträge, die zur Zeit des Lebens geschlossen
sind, in bindende Verhältnisse zu verwickeln, noch immer zu
gross. Denn man kann ebensogut Rechte, als Stücke seines
Vermögens veräussern, eine solche Veräusserung muss noth-
wendig für die Erben, die in keine andre Lage treten können,
als in welcher der Erblasser selbst war, verbindlich sein, und
nun führt der getheilte Besitz mehrerer Rechte auf Eine und
die nämliche Sache allemal zwingende persönliche Verhältnisse
mit sich. Es dürfte daher wohl, wenn nicht nothwendig, doch
aufs mindeste sehr rathsam sein, wenn der Staat entweder
untersagte, Verträge dieser Art anders als auf die Lebenszeit
zu machen, oder wenigstens die Mittel erleichterte, eine wirk-
liche Trennung des Eigenthums da zu bewirken, wo ein solches
benutzen können, wenn nicht Mirabeau einen, der gegenwärtigen Absicht völlig
fremden, politischen Gesichtspunkt verfolgt hätte. S. Collection complette des
travaux de Mr. Mirabeau l’ainé à l’Assemblée nationale. T. V. p 498—524.
Verhältniss einmal entstanden wäre. Die genauere Ausführung
einer solchen Anordnung gehört wiederum nicht hieher, und das
um so weniger, als, wie es mir scheint, dieselbe nicht sowohl
durch Feststellung allgemeiner Grundsätze, als durch einzelne,
auf bestimmte Verträge gerichtete Gesetze zu machen sein
würde.
Je weniger der Mensch anders zu handeln vermocht wird,
als sein Wille verlangt, oder seine Kraft ihm erlaubt, desto
günstiger ist seine Lage im Staat. Wenn ich in Bezug auf
diese Wahrheit — um welche allein sich eigentlich alle in die-
sem Aufsatze vorgetragene Ideen drehen, das Feld unserer
Civiljurisprudenz übersehe; so zeigt sich mir neben andren,
minder erheblichen Gegenständen, noch ein äusserst wichtiger,
die Gesellschaften nämlich, welche man, im Gegensatze der
physischen Menschen, moralische Personen zu nennen pflegt.
Da sie immer eine, von der Zahl der Mitglieder, welche sie aus-
machen, unabhängige Einheit enthalten, welche sich, mit nur
unbeträchtlichen Veränderungen, durch eine lange Reihe von
Jahren hindurch erhält; so bringen sie aufs mindeste alle die
Nachtheile hervor, welche im Vorigen als Folgen letztwilliger
Verordnungen dargestellt worden sind. Denn wenn gleich ein
sehr grosser Theil ihrer Schädlichkeit bei uns, aus einer, nicht
nothwendig mit ihrer Natur verbundnen Einrichtung — den
ausschliesslichen Privilegien nämlich, welche ihnen bald der
Staat ausdrücklich, bald die Gewohnheit stillschweigend ertheilt,
und durch welche sie oft wahre politische Corps werden — ent-
steht; so führen sie doch auch an sich noch immer eine beträcht-
liche Menge von Unbequemlichkeiten mit sich. Diese aber ent-
stehen allemal nur dann, wenn die Verfassung derselben ent-
weder alle Mitglieder, gegen ihren Willen, zu dieser oder jener
Anwendung der gemeinschaftlichen Mittel zwingt, oder doch
dem Willen der kleineren Zahl, durch Nothwendigkeit der Ueber-
einstimmung aller, erlaubt, den der grösseren zu fesseln. Uebri-
9
gens sind Gesellschaften und Vereinigungen, weit entfernt an
sich schädliche Folgen hervorzubringen, gerade eins der sicher-
sten und zweckmässigsten Mittel, die Ausbildung des Menschen
zu befördern und zu beschleunigen. Das Vorzüglichste, was
man hiebei vom Staat zu erwarten hätte, dürfte daher nur die
Anordnung sein, dass jede moralische Person oder Gesellschaft
für nichts weiter, als für die Vereinigung der jedesmaligen Mit-
glieder anzusehen sei, und daher nichts diese hindern könne,
über die Verwendung der gemeinschaftlichen Kräfte und Mittel
durch Stimmenmehrheit nach Gefallen zu beschliessen. Nur
muss man sich wohl in Acht nehmen für diese Mitglieder blos
diejenigen anzusehen, auf welchen wirklich die Gesellschaft
beruht, nicht aber diejenigen, welcher sich diese nur etwa als
Werkzeuge bedienen — eine Verwechslung, welche nicht selten,
und vorzüglich, bei Beurtheilung der Rechte der Geistlichkeit,
gemacht worden ist.
Aus diesem bisherigen Raisonnement nun rechtfertigen sich,
glaube ich, folgende Grundsätze.
Da, wo der Mensch nicht blos innerhalb des Kreises seiner
Kräfte und seines Eigenthums bleibt, sondern Handlungen
vornimmt, welche sich unmittelbar auf den andren beziehen,
legt die Sorgfalt für die Sicherheit dem Staat folgende
Pflichten auf.
1. Bei denjenigen Handlungen, welche ohne, oder gegen
den Willen des andren vorgenommen werden, muss er ver-
bieten, dass dadurch der andre in dem Genuss seiner Kräfte,
oder dem Besitz seines Eigenthums gekränkt werde; im
Fall der Uebertretung, den Beleidiger zwingen, den ange-
richteten Schaden zu ersetzen, aber den Beleidigten ver-
hindern, unter diesem Vorwande, oder ausserdem eine
Privatrache an demselben zu üben.
2. Diejenigen Handlungen, welche mit freier Bewilligung
des andern geschehen, muss er in eben denjenigen, aber
keinen engern Schranken halten, als welche den Handlun-
gen einzelner Menschen im Vorigen vorgeschrieben sind.
(S. S. 112. 113).
3. Wenn unter den eben erwähnten Handlungen solche
sind, aus welchen Rechte und Verbindlichkeiten für die
Folge unter den Partheien entstehen (einseitige und gegen-
seitige Willenserklärungen, Verträge u. s. f.), so muss der
Staat das, aus denselben entspringende Zwangsrecht zwar
überall da schützen, wo dasselbe in dem Zustande der
Fähigkeit gehöriger Ueberlegung, in Absicht eines, der
Disposition des Uebertragenden unterworfenen Gegen-
standes, und mit freier Beschliessung übertragen wurde;
hingegen niemals da, wo es entweder den Handlenden
selbst an einem dieser Stücke fehlt, oder wo ein Dritter,
gegen, oder ohne seine Einwilligung widerrechtlich
beschränkt werden würde.
4. Selbst bei gültigen Verträgen muss er, wenn aus den-
selben solche persönliche Verbindlichkeiten, oder vielmehr
ein solches persönliches Verhältniss entspringt, welches
die Freiheit sehr eng beschränkt, die Trennung, auch gegen
den Willen Eines Theils immer in dem Grade der Schäd-
lichkeit der Beschränkung für die innere Ausbildung er-
leichtern; und daher da, wo die Leistung der, aus dem
Verhältniss entspringenden Pflichten mit inneren Empfin-
dungen genau verschwistert ist, dieselbe unbestimmt und
immer, da hingegen, wo, bei zwar enger Beschränkung,
doch gerade dies nicht der Fall ist, nach einer, zugleich
nach der Wichtigkeit der Beschränkung und der Natur des
Geschäfts zu bestimmenden Zeit erlauben.
5. Wenn jemand über sein Vermögen auf den Fall seines
Todes disponiren will; so dürfte es zwar rathsam sein, die
Ernennung des nächsten Erben, ohne Hinzufügung irgend
einer, die Fähigkeit desselben, mit dem Vermögen nach
9*
Gefallen zu schalten, einschränkenden Bedingung, zu
gestatten; hingegen
6. ist es nothwendig alle weitere Disposition dieser Art
gänzlich zu untersagen; und zugleich eine Intestaterbfolge
und einen bestimmten Pflichttheil festzusetzen.
7. Wenn gleich unter Lebendigen geschlossene Verträge
insofern auf die Erben übergehn und gegen die Erben erfüllt
werden müssen, als sie dem hinterlassenen Vermögen eine
andre Gestalt geben; so darf doch der Staat nicht nur
keine weitere Ausdehnung dieses Satzes gestatten, sondern
es wäre auch allerdings rathsam, wenn derselbe einzelne
Verträge, welche ein enges und beschränkendes Verhältniss
unter den Partheien hervorbringen (wie z. B. die Theilung
der Rechte auf Eine Sache zwischen Mehreren) entweder
nur auf die Lebenszeit zu schliessen erlaubte, oder doch
dem Erben des einen oder andren Theils die Trennung
erleichterte. Denn wenn gleich hier nicht dieselben Gründe,
als im Vorigen bei persönlichen Verhältnissen eintreten;
so ist auch die Einwilligung der Erben minder frei, und
die Dauer des Verhältnisses sogar unbestimmt lang.
Wäre mir die Aufstellung dieser Grundsätze völlig meiner
Absicht nach gelungen; so müssten dieselben allen denjenigen
Fällen die höchste Richtschnur vorschreiben, in welchen die
Civilgesetzgebung für die Erhaltung der Sicherheit zu sor-
gen hat. So habe ich auch z. B. die moralischen Personen in
denselben nicht erwähnt, da, je nachdem eine solche Gesellschaft
durch einen letzten Willen, oder einen Vertrag entsteht, sie
nach den, von diesen redenden Grundsätzen zu beurtheilen ist.
Freilich aber verbietet mir schon der Reichthum der in der
Civilgesetzgebung enthaltenen Fälle, mir mit dem Gelingen
dieses Vorsatzes zu schmeicheln.
XII.
Sorgfalt des Staats für die Sicherheit durch rechtliche Entscheidung
der Streitigkeiten der Bürger.
Der Staat tritt hier blos an die Stelle der Partheien. — Erster, hieraus entsprin-
gender Grundsatz der Prozessordnung. — Der Staat muss die Rechte beider
Partheien gegen einander beschützen. — Daraus entspringender zweiter Grund-
satz der Prozessordnung. — Nachtheile der Vernachlässigung dieser Grundsätze.
— Nothwendigkeit neuer Gesetze zum Behuf der Möglichkeit der richterlichen
Entscheidung. — Güte der Gerichtsverfassung, das Moment, von welchem diese
Nothwendigkeit vorzüglich abhängt. — Vortheile und Nachtheile solcher Gesetze.
— Aus denselben entspringende Regeln der Gesetzgebung. — Höchste aus die-
sem Abschnitt gezogene Grundsätze.
Dasjenige, worauf die Sicherheit der Bürger in der Gesell-
schaft vorzüglich beruht, ist die Uebertragung aller eigenmäch-
tigen Verfolgung des Rechts an den Staat. Aus dieser Ueber-
tragung entspringt aber auch für diesen die Pflicht, den
Bürgern nunmehr zu leisten, was sie selbst sich nicht mehr
verschaffen dürfen, und folglich das Recht, wenn es unter ihnen
streitig ist, zu entscheiden, und den, auf dessen Seite es sich
findet, in dem Besitze desselben zu schützen. Hiebei tritt der
Staat allein, und ohne alles eigne Interesse in die Stelle der
Bürger. Denn die Sicherheit wird hier nur dann wirklich ver-
letzt, wenn derjenige, welcher Unrecht leidet, oder zu leiden
vermeint, dies nicht geduldig ertragen will, nicht aber dann,
wenn er entweder einwilligt, oder doch Gründe hat, sein Recht
nicht verfolgen zu wollen. Ja selbst wenn Unwissenheit oder
Trägheit Vernachlässigung des eignen Rechtes veranlasste,
dürfte der Staat sich nicht von selbst darin mischen. Er hat
seinen Pflichten Genüge geleistet, sobald er nur nicht durch
verwickelte, dunkle, oder nicht gehörig bekannt gemachte Ge-
setze zu dergleichen Irrthümern Gelegenheit giebt. Eben diese
Gründe gelten nun auch von allen Mitteln, deren der Staat sich
zur Ausmittelung des Rechts da bedient, wo es wirklich verfolgt
wird. Er darf darin nämlich niemals auch nur einen Schritt weiter
zu gehen wagen, als ihn der Wille der Partheien führt. Der
erste Grundsatz jeder Prozessordnung müsste daher nothwen-
dig der sein, niemals die Wahrheit an sich und schlechterdings,
sondern nur immer insofern aufzusuchen, als diejenige Parthei
es fordert, welche deren Aufsuchung überhaupt zu verlangen
berechtigt ist. Allein auch hier treten noch neue Schranken
ein. Der Staat darf nämlich nicht jedem Verlangen der Par-
theien willfahren, sondern nur demjenigen, welches zur Aufklä-
rung des streitigen Rechtes dienen kann, und auf die Anwen-
dung solcher Mittel gerichtet ist, welche, auch ausser der
Staatsverbindung, der Mensch gegen den Menschen, und zwar
in dem Falle gebrauchen kann, in welchem blos ein Recht zwi-
schen ihnen streitig ist, in welchem aber der andre ihm entweder
überhaupt nicht, oder wenigstens nicht erwiesenermaassen
etwas entzogen hat. Die hinzukommende Gewalt des Staats
darf nicht mehr thun, als nur die Anwendung dieser Mittel
sichern, und ihre Wirksamkeit unterstützen. Hieraus entsteht
der Unterschied zwischen dem Civil- und Kriminalverfahren,
dass in jenem das äusserste Mittel zur Erforschung der Wahr-
heit der Eid ist, in diesem aber der Staat einer grösseren Frei-
heit geniesst. Da der Richter bei der Ausmittelung des strei-
tigen Rechts gleichsam zwischen beiden Theilen steht, so ist
es seine Pflicht zu verhindern, dass keiner derselben durch die
Schuld des andern in der Erreichung seiner Absicht entweder
ganz gestört, oder doch hingehalten werde; und so entsteht
der zweite gleich nothwendige Grundsatz, das Verfahren der
Partheien, während des Prozesses, unter specieller Aufsicht zu
haben, und zu verhindern, dass es, statt sich dem gemeinschaft-
lichen Endzweck zu nähern, sich vielmehr davon entferne. Die
höchste und genaueste Befolgung jedes dieser beiden Grund-
sätze würde, dünkt mich, die beste Prozessordnung hervorbrin-
gen. Denn übersieht man den letzteren, so ist der Chikane der
Partheien, und der Nachlässigkeit und den eigensüchtigen Ab-
sichten der Sachwalter zuviel Spielraum gelassen; so werden
die Prozesse verwickelt, langwierig, kostspielig; und die Ent-
scheidungen dennoch schief, und der Sache, wie der Meinung
der Partheien, oft unangemessen. Ja diese Nachtheile tragen
sogar zur grösseren Häufigkeit rechtlicher Streitigkeiten und
zur Nahrung der Prozesssucht bei. Entfernt man sich hingegen
von dem ersteren Grundsatz, so wird das Verfahren inquisito-
risch, der Richter erhält eine zu grosse Gewalt, und mischt sich
in die geringsten Privatangelegenheiten der Bürger. Von bei-
den Extremen finden sich Beispiele in der Wirklichkeit, und
die Erfahrung bestätigt, dass, wenn das zuletzt geschilderte
die Freiheit zu eng und widerrechtlich beschränkt, das zuerst
aufgestellte der Sicherheit des Eigenthums nachtheilig ist.
Der Richter braucht zur Untersuchung und Erforschung der
Wahrheit Kennzeichen derselben, Beweismittel. Daher giebt
die Betrachtung, dass das Recht nicht anders wirksame Gültig-
keit erhält, als wenn es, im Fall es bestritten würde, eines Be-
weises vor dem Richter fähig ist, einen neuen Gesichtspunkt
für die Gesetzgebung an die Hand. Es entsteht nämlich hier-
aus die Nothwendigkeit neuer einschränkender Gesetze, näm-
lich solcher, welche den verhandelten Geschäften solche
Kennzeichen beizugeben gebieten, an welchen künftig ihre
Wirklichkeit oder Gültigkeit zu erkennen sei. Die Nothwendig-
keit von Gesetzen dieser Art fällt allemal in eben dem Grade,
in welchem die Vollkommenheit der Gerichtsverfassung steigt;
ist aber am grössesten da, wo diese am mangelhaftesten ist,
und daher der meisten äusseren Zeichen zum Beweise bedarf.
Daher findet man die meisten Formalitäten bei den unkultivir-
testen Völkern. Stufenweise erforderte die Vindikation eines
Ackers, bei den Römern, erst die Gegenwart der Partheien auf
dem Acker selbst, dann das Bringen einer Erdscholle desselben
ins Gericht, in der Folge feierliche Worte, und endlich auch
diese nicht mehr. Ueberall, vorzüglich aber bei minder kulti-
virten Nationen hat folglich die Gerichtsverfassung einen sehr
wichtigen Einfluss auf die Gesetzgebung gehabt, der sich sehr
oft bei weitem nicht auf blosse Formalitäten beschränkt. Ich
erinnere hier, statt eines Beispiels, an die Römische Lehre von
Pakten und Kontrakten, die wie wenig sie auch bisher noch
aufgeklärt ist, schwerlich aus einem andern Gesichtspunkt an-
gesehen werden darf. Diesen Einfluss in verschiedenen Gesetz-
gebungen verschiedner Zeitalter und Nationen zu erforschen,
dürfte nicht blos aus vielen andren Gründen, aber auch vorzüg-
lich in der Hinsicht nützlich sein, um daraus zu beurtheilen,
welche solcher Gesetze wohl allgemein nothwendig, welche nur
in Lokalverhältnissen gegründet sein möchten? Denn alle Ein-
schränkungen dieser Art aufzuheben, dürfte — auch die Mög-
lichkeit angenommen — schwerlich rathsam sein. Denn ein-
mal wird die Möglichkeit von Betrügereien, z. B. von Unter-
schiebung falscher Dokumente u. s. f. zu wenig erschwert;
dann werden die Prozesse vervielfältigt, oder, da dies vielleicht
an sich noch kein Uebel scheint, die Gelegenheiten durch erregte
unnütze Streitigkeiten die Ruhe andrer zu stören zu mannig-
faltig. Nun aber ist gerade die Streitsucht, welche sich durch
Prozesse äussert, diejenige, welche — den Schaden noch abge-
rechnet, den sie dem Vermögen, der Zeit, und der Gemüthsruhe
der Bürger zufügt — auch auf den Charakter den nachtheilig-
sten Einfluss hat, und gerade durch gar keine nützliche Folgen
für diese Nachtheile entschädigt. Der Schade der Förmlich-
keiten hingegen ist die Erschwerung der Geschäfte, und die
Einschränkung der Freiheit, die in jedem Verhältniss bedenklich
ist. Das Gesetz muss daher auch hier einen Mittelweg ein-
schlagen, Förmlichkeiten nie aus einem andern Gesichtspunkte
anordnen, als um die Gültigkeit der Geschäfte zu sichern, und
Betrügereien zu verhindern, oder den Beweis zu erleichtern;
selbst in dieser Absicht dieselben nur da fordern, wo sie den
individuellen Umständen nach nothwendig sind, wo ohne sie
jene Betrügereien zu leicht zu besorgen, und dieser Beweis zu
schwer zu führen sein würde; zu denselben nur solche Regeln
vorschreiben, deren Befolgung mit nicht grossen Schwierig-
keiten verbunden ist; und dieselben von allen denjenigen Fällen
gänzlich entfernen, in welchen die Besorgung der Geschäfte
durch sie nicht blos schwieriger, sondern so gut als unmöglich
werden würde.
Gehörige Rücksicht auf Sicherheit und Freiheit zugleich,
scheint daher auf folgende Grundsätze zu führen:
1. Eine der vorzüglichsten Pflichten des Staats ist die
Untersuchung und Entscheidung der rechtlichen Streitig-
keiten der Bürger. Derselbe tritt dabei an die Stelle der
Partheien, und der eigentliche Zweck seiner Dazwischen-
kunft besteht allein darin, auf der einen Seite gegen unge-
rechte Forderungen zu beschützen, auf der andern gerech-
ten denjenigen Nachdruck zu geben, welchen sie von den
Bürgern selbst nur auf eine die öffentliche Ruhe störende
Weise erhalten könnten. Er muss daher während der
Untersuchung des streitigen Rechts dem Willen der Par-
theien, insofern derselbe nur in dem Rechte gegründet ist,
folgen, aber jede, sich widerrechtlicher Mittel gegen die
andere zu bedienen, verhindern.
2. Die Entscheidung des streitigen Rechts durch den
Richter kann nur durch bestimmte, gesetzlich angeordnete
Kennzeichen der Wahrheit geschehen. Hieraus entspringt
die Nothwendigkeit einer neuen Gattung der Gesetze, der-
jenigen nämlich, welche den rechtlichen Geschäften gewisse
bestimmte Charaktere beizulegen verordnen. Bei der
Abfassung dieser nun muss der Gesetzgeber einmal immer
allein von dem Gesichtspunkt geleitet werden, die Authen-
ticität der rechtlichen Geschäfte gehörig zu sichern, und
den Beweis im Prozesse nicht zu sehr zu erschweren; fer-
ner aber unaufhörlich die Vermeidung des entgegenge-
setzten Extrems, der zu grossen Erschwerung der Geschäfte,
vor Augen haben, und endlich nie da eine Anordnung
treffen wollen, wo dieselbe den Lauf der Geschäfte so gut,
als gänzlich hemmen würde.
XIII.
Sorgfalt des Staats für die Sicherheit durch Bestrafung der Ueber-
tretungen der Gesetze des Staats. (Kriminalgesetze.)
Handlungen, welche der Staat bestrafen muss. — Strafen. Maas derselben;
absolutes: Höchste Gelindigkeit bei der gehörigen Wirksamkeit, — Schädlich-
keit der Strafe der Ehrlosigkeit. — Ungerechtigkeit der Strafen, welche sich,
über den Verbrecher hinaus, auf andre Personen erstrecken. — Relatives Maas
der Strafen. Grad der Nichtachtung des fremden Rechts. — Widerlegung
des Grundsatzes, welcher zu diesem Maassstab die Häufigkeit der Verbrechen,
und die Menge der, zu ihnen reizenden Antriebe annimmt; — Ungerechtig-
keit, — Schädlichkeit desselben. — Allgemeine Stufenfolge der Verbrechen in
Absicht der Härte ihrer Strafen. — Anwendung der Strafgesetze auf wirkliche
Verbrechen. — Verfahren gegen die Verbrecher, während der Untersuchung. —
Prüfung der Frage: inwiefern der Staat Verbrechen verhüten darf? — Unter-
schied zwischen der Beantwortung dieser Frage, und der Bestimmung, sich nur
auf den Handlenden selbst beziehende Handlungen im Vorigen. — Abriss der
verschiedenen, möglichen Arten, Verbrechen zu verhüten, nach der allgemeinen
Ursache der Verbrechen. — Die erste dieser Arten, welche dem Mangel an
Mitteln abhilft, der leicht zu Verbrechen führt, ist schädlich und unnütz. —
Noch schädlicher, und daher gleichfalls nicht rathsam ist die zweite, welche auf
Entfernung der, im Charakter liegenden Ursachen zu Verbrechen gerichtet
ist. — Anwendung dieser Art auf wirkliche Verbrecher. Besserung derselben. —
Behandlung der ab instantia absolvirten. — Letzte Art, Verbrechen zu ver-
hüten; Entfernung der Gelegenheiten ihrer Begehung. — Einschränkung der-
selben auf die blosse Verhütung der Ausführung schon beschlossener Ver-
brechen. — Was dagegen an die Stelle jener gemissbilligten Mittel treten muss,
um Verbrechen zu verhüten? — Die strengste Aufsicht auf begangene Ver-
brechen, und Seltenheit der Straflosigkeit. — Schädlichkeit des Begnadigungs-
und Milderungsrechts. — Veranstaltungen zur Entdeckung von Verbrechen. —
Nothwendigkeit der Publicität aller Kriminalgesetze, ohne Unterschied. —
Höchste, aus diesem Abschnitt gezogene Grundsätze.
Das letzte, und vielleicht wichtigste Mittel, für die Sicher-
heit der Bürger Sorge zu tragen, ist die Bestrafung der Ueber-
tretung der Gesetze des Staats. Ich muss daher noch auf
diesen Gegenstand die im Vorigen entwickelten Grundsätze
anwenden. Die erste Frage nun, welche hiebei entsteht, ist
die: welche Handlungen der Staat mit Strafen belegen, gleich-
sam als Verbrechen aufstellen kann? Die Antwort ist nach dem
Vorigen leicht. Denn da der Staat keinen andern Endzweck,
als die Sicherheit der Bürger, verfolgen darf; so darf er auch
keine andre Handlungen einschränken, als welche diesem End-
zweck entgegenlaufen. Diese aber verdienen auch insgesammt
angemessene Bestrafung. Denn nicht blos, dass ihr Schade,
da sie gerade das stören, was dem Menschen zum Genuss, wie
zur Ausbildung seiner Kräfte das unentbehrlichste ist, zu wich-
tig ist, um ihnen nicht durch jedes zweckmässige und erlaubte
Mittel entgegenzuarbeiten; so muss auch, schon den ersten
Rechtsgrundsätzen nach, jeder sich gefallen lassen, dass die
Strafe eben so weit gleichsam in den Kreis seines Rechts ein-
greife, als sein Verbrechen in den des fremden eingedrungen
ist. Hingegen Handlungen, welche sich allein auf den Handlen-
den beziehen, oder mit Einwilligung dessen geschehen, den sie
treffen, zu bestrafen, verbieten eben die Grundsätze, welche
dieselben nicht einmal einzuschränken erlauben; und es dürfte
daher nicht nur keins der sogenannten fleischlichen Verbrechen
(die Nothzucht ausgenommen), sie möchten Aergerniss geben
oder nicht, unternommener Selbstmord u. s. f. bestraft werden,
sondern sogar die Ermordung eines andern mit Bewilligung
desselben müsste ungestraft bleiben, wenn nicht in diesem letz-
teren Falle die zu leichte Möglichkeit eines gefährlichen Miss-
brauchs ein Strafgesetz nothwendig machte. Ausser den-
jenigen Gesetzen, welche unmittelbare Kränkungen der Rechte
anderer untersagen, giebt es noch andre verschiedener Gattung,
deren theils schon im Vorigen gedacht ist, theils noch erwähnt
werden wird. Da jedoch, bei dem, dem Staat allgemein vor-
geschriebenen Endzweck, auch diese, nur mittelbar, zur Er-
reichung jener Absicht hinstreben; so kann auch bei diesen
Bestrafung des Staats eintreten, insofern nicht schon ihre
Uebertretung allein unmittelbar eine solche mit sich führt, wie
z. B. die Uebertretung des Verbots der Fideikommisse die
Ungültigkeit der gemachten Verfügung. Es ist dies auch um
so nothwendiger, als es sonst hier gänzlich an einem Zwangs-
mittel fehlen würde, dem Gesetze Gehorsam zu verschaffen.
Von dem Gegenstande der Bestrafung wende ich mich zu
der Strafe selbst. Das Maas dieser auch nur in sehr weiten
Gränzen vorzuschreiben, nur zu bestimmen, über welchen Grad
hinaus dieselbe nie steigen dürfe, halte ich in einem allgemeinen,
schlechterdings auf gar keine Lokalverhältnisse bezogenen Rai-
sonnement für unmöglich. Die Strafen müssen Uebel sein,
welche die Verbrecher zurückschrecken. Nun aber sind die
Grade, wie die Verschiedenheiten des physischen und mora-
lischen Gefühls, nach der Verschiedenheit der Erdstriche und
Zeitalter, unendlich verschieden und wechselnd. Was daher
in einem gegebenen Falle mit Recht Grausamkeit heisst, das
kann in einem andren die Nothwendigkeit selbst erheischen.
Nur soviel ist gewiss, dass die Vollkommenheit der Strafen
immer — versteht sich jedoch bei gleicher Wirksamkeit — mit
dem Grade ihrer Gelindigkeit wächst. Denn nicht blos, dass
gelinde Strafen schon an sich geringere Uebel sind; so leiten
sie auch den Menschen auf die seiner am meisten würdige
Weise von Verbrechen ab. Denn je minder sie physisch
schmerzhaft und schrecklich sind, desto mehr sind sie es mora-
lisch; da hingegen grosses körperliches Leiden bei dem Lei-
denden selbst das Gefühl der Schande, bei dem Zuschauer das
der Missbilligung vermindert. Daher kommt es denn auch,
dass gelinde Strafen in der That viel öfter angewendet werden
können, als der erste Anblick zu erlauben scheint; indem sie
auf der andren Seite ein ersetzendes moralisches Gegengewicht
erhalten. Ueberhaupt hängt die Wirksamkeit der Strafen
ganz und gar von dem Eindruck ab, welchen dieselben auf das
Gemüth der Verbrecher machen, und beinahe liesse sich behaup-
ten, dass in einer Reihe gehörig abgestufter Stufen es einerlei
sei, bei welcher Stufe man gleichsam, als bei der höchsten,
stehen bleibe, da die Wirkung einer Strafe in der That nicht
sowohl von ihrer Natur an sich, als von dem Platze abhängt,
den sie in der Stufenleiter der Strafen überhaupt einnimmt,
und man leicht das für die höchste Strafe erkennt, was der
Staat dafür erklärt. Ich sage beinah, denn völlig würde die
Behauptung nur freilich dann richtig sein, wenn die Strafen
des Staats die einzigen Uebel wären, welche dem Bürger
drohten. Da dies hingegen der Fall nicht ist, vielmehr oft sehr
reelle Uebel ihn gerade zu Verbrechen veranlassen; so muss
freilich das Maas der höchsten Strafe, und so der Strafen über-
haupt, welche diesen Uebeln entgegenwirken sollen, auch mit
Rücksicht auf sie bestimmt werden. Nun aber wird der Bür-
ger da, wo er einer so grossen Freiheit geniesst, als diese
Blätter ihm zu sichern bemüht sind, auch in einem grösseren
Wohlstande leben; seine Seele wird heiterer, seine Phantasie
lieblicher sein, und die Strafe wird, ohne an Wirksamkeit zu
verlieren, an Strenge nachlassen können. So wahr ist es, dass
alles Gute und Beglückende in wundervoller Harmonie steht,
und dass es nur nothwendig ist, Eins herbeizuführen, um sich
des Segens alles Uebrigen zu erfreuen. Was sich daher in
dieser Materie allgemein bestimmen lässt, ist, dünkt mich,
allein dass die höchste Strafe die, den Lokalverhältnissen nach,
möglichst gelinde sein muss.
Nur Eine Gattung der Strafen müsste, glaube ich, gänzlich
ausgeschlossen werden, die Ehrlosigkeit, Infamie. Denn die
Ehre eines Menschen, die gute Meinung seiner Mitbürger von
ihm, ist keinesweges etwas, das der Staat in seiner Gewalt
hat. Auf jeden Fall reduzirt sich daher diese Strafe allein
darauf, dass der Staat dem Verbrecher die Merkmale seiner
Achtung und seines Vertrauens entziehn, und andern gestatten
kann dies gleichfalls ungestraft zu thun. So wenig ihm nun
auch die Befugniss abgesprochen werden darf, sich dieses
Rechts, wo er es für nothwendig hält, zu bedienen, und so sehr
sogar seine Pflicht es erfordern kann; so halte ich dennoch eine
allgemeine Erklärung, dass er es thun wolle, keinesweges für
rathsam. Denn einmal setzt dieselbe eine gewisse Konsequenz
im Unrechthandlen bei dem Bestraften voraus, die sich doch in
der That in der Erfahrung wenigstens nur selten findet; dann
ist sie auch, selbst bei der gelindesten Art der Abfassung,
selbst wenn sie blos als eine Erklärung des gerechten Miss-
trauens des Staats ausgedrückt wird, immer zu unbestimmt,
um nicht an sich manchem Missbrauch Raum zu geben, und um
nicht wenigstens oft, schon der Konsequenz der Grundsätze
wegen, mehr Fälle unter sich zu begreifen, als der Sache selbst
wegen nöthig wäre. Denn die Gattungen des Vertrauens,
welches man zu einem Menschen fassen kann, sind, der Ver-
schiedenheit der Fälle nach, so unendlich mannigfaltig, dass ich
kaum unter allen Verbrechen ein Einziges weiss, welches den
Verbrecher zu allen auf Einmal unfähig machte. Dazu führt
indess doch immer ein allgemeiner Ausdruck, und der Mensch,
bei dem man sich sonst nur, bei dahin passenden Gelegen-
heiten, erinnern würde, dass er dieses oder jenes Gesetz über-
treten habe, trägt nun überall ein Zeichen der Unwürdigkeit
mit sich herum. Wie hart aber diese Strafe sei, sagt das,
gewiss keinem Menschen fremde Gefühl, dass, ohne das Ver-
trauen seiner Mitmenschen, das Leben selbst wünschenswerth
zu sein aufhört. Mehrere Schwierigkeiten zeigen sich nun noch
bei der näheren Anwendung dieser Strafe. Misstrauen gegen
die Rechtschaffenheit muss eigentlich überall da die Folge sein,
wo sich Mangel derselben gezeigt hat. Auf wie viele Fälle
aber alsdann diese Strafe ausgedehnt werde, sieht man von
selbst. Nicht minder gross ist die Schwierigkeit bei der Frage:
wie lange die Strafe dauern solle? Unstreitig wird jeder Billig-
denkende sie nur auf eine gewisse Zeit hin erstrecken wollen.
Aber wird der Richter bewirken können, dass der, so lange mit
dem Misstrauen seiner Mitbürger Beladene, nach Verlauf eines
bestimmten Tages, auf einmal ihr Vertrauen wieder gewinne?
Endlich ist es den, in diesem ganzen Aufsatz vorgetragenen
Grundsätzen nicht gemäss, dass der Staat der Meinung der
Bürger, auch nur auf irgend eine Art, eine gewisse Richtung
geben wolle. Meines Erachtens wäre es daher rathsamer,
dass der Staat sich allein in den Gränzen der Pflicht hielte,
welche ihm allerdings obliegt, die Bürger gegen verdächtige
Personen zu sichern, und dass er daher überall, wo dies noth-
wendig sein kann, z. B. bei Besetzung von Stellen, Gültigkeit
der Zeugen, Fähigkeit der Vormünder u. s. f. durch ausdrück-
liche Gesetze verordnete, dass, wer dies oder jenes Verbrechen
begangen, diese oder jene Strafe erlitten hätte, davon ausge-
schlossen sein solle; übrigens aber sich aller weiteren, allge-
meinen Erklärung des Misstrauens, oder gar des Verlustes der
Ehre gänzlich enthielte. Alsdann wäre es auch sehr leicht,
eine Zeit zu bestimmen, nach Verlauf welcher ein solcher Ein-
wand nicht mehr gültig sein solle. Dass es übrigens dem Staat
immer erlaubt bleibe, durch beschimpfende Strafen auf das
Ehrgefühl zu wirken, bedarf von selbst keiner Erinnerung.
Ebensowenig brauche ich noch zu wiederholen, dass schlechter-
dings keine Strafe geduldet werden muss, die sich über die
Person des Verbrechers hinaus, auf seine Kinder, oder Ver-
wandte erstreckt. Gerechtigkeit und Billigkeit sprechen mit
gleich starken Stimmen gegen sie; und selbst die Vorsichtig-
keit, mit welcher sich, bei Gelegenheit einer solchen Strafe, das,
übrigens gewiss in jeder Rücksicht vortreffliche Preussische
Gesetzbuch ausdrückt, vermag nicht, die, in der Sache selbst
allemal liegende Härte zu mindern Thl. 2. Tit. 20. §. 95..
Wenn das absolute Maas der Strafen keine allgemeine Bestim-
mung erlaubt; so ist dieselbe hingegen um so nothwendiger bei
dem relativen. Es muss nämlich festgesetzt werden, was es
eigentlich ist, wonach sich der Grad der, auf verschiedne Ver-
brechen gesetzten Strafen bestimmen muss? Den im Vorigen
entwickelten Grundsätzen nach, kann dies, dünkt mich, nichts
andres sein, als der Grad der Nicht-Achtung des fremden
Rechts in dem Verbrechen, ein Grad, welcher, da hier nicht
von der Anwendung eines Strafgesetzes auf einen einzelnen
Verbrecher, sondern von allgemeiner Bestimmung der Strafe
überhaupt die Rede ist, nach der Natur des Rechts beurtheilt
werden muss, welches das Verbrechen kränkt. Zwar scheint
die natürlichste Bestimmung der Grad der Leichtigkeit oder
Schwierigkeit zu sein, das Verbrechen zu verhindern, so dass
die Grösse der Strafe sich nach der Quantität der Gründe rich-
ten müsste, welche zu dem Verbrechen trieben, oder davon
zurückhielten. Allein wird dieser Grundsatz richtig verstan-
den; so ist er mit dem eben aufgestellten einerlei. Denn in
einem wohlgeordneten Staate, wo nicht in der Verfassung selbst
liegende Umstände zu Verbrechen veranlassen, kann es keinen
andern eigentlichen Grund zu Verbrechen geben, als eben jene
Nicht-Achtung des fremden Rechts, welcher sich nur die zu
Verbrechen reizenden Antriebe, Neigungen, Leidenschaften
u. s. f. bedienen. Versteht man aber jenen Satz anders, meint
man, es müssten den Verbrechen immer in dem Grade grosse
Strafen entgegengesetzt werden, in welchem gerade Lokal-
oder Zeitverhältnisse sie häufiger machen, oder gar, ihrer Natur
nach (wie es bei so manchen Polizeiverbrechen der Fall ist)
moralische Gründe sich ihnen weniger eindringend widersetzen;
so ist dieser Maasstab ungerecht und schädlich zugleich. Er
ist ungerecht. Denn so richtig es wenigstens insofern ist,
Verhinderung der Beleidigungen für die Zukunft als den Zweck
aller Strafen anzunehmen, als keine Strafe je aus einem andern
Zwecke verfügt werden darf; so entspringt doch die Verbind-
lichkeit des Beleidigten, die Strafe zu dulden, eigentlich daraus,
dass jeder sich gefallen lassen muss, seine Rechte von dem
Andern in so weit verletzt zu sehen, als er selbst die Rechte
desselben gekränkt hat. Darauf beruht nicht blos diese Ver-
bindlichkeit ausser der Staatsverbindung, sondern auch in der-
selben. Denn die Herleitung derselben aus einem gegensei-
tigen Vertrag ist nicht nur unnütz, sondern hat auch die Schwie-
rigkeit, dass z. B. die, manchmal und unter gewissen Lokal-
umständen offenbar nothwendige Todesstrafe bei derselben
schwerlich gerechtfertigt werden kann, und dass jeder Ver-
brecher sich von der Strafe befreien könnte, wenn er, bevor er
sie litte, sich von dem gesellschaftlichen Vertrage lossagte, wie
z. B. in den alten Freistaaten die freiwillige Verbannung war,
die jedoch, wenn mich mein Gedächtniss nicht trügt, nur bei
Staats-, nicht bei Privat-Verbrechen geduldet ward. Dem Belei-
diger selbst ist daher gar keine Rücksicht auf die Wirksamkeit
der Strafe erlaubt; und wäre es auch noch so gewiss, dass der
Beleidigte keine zweite Beleidigung von ihm zu fürchten hätte,
so müsste er, dessen ungeachtet, die Rechtmässigkeit der Strafe
anerkennen. Allein auf der andern Seite folgt auch aus eben
diesem Grundsatz, dass er sich auch jeder, die Quantität seines
Verbrechens überschreitenden Strafe rechtmässig widersetzen
kann, wie gewiss es auch sein möchte, dass nur diese Strafe,
und schlechterdings keine gelindere völlig wirksam sein würde.
Zwischen dem inneren Gefühle des Rechts, und dem Genuss
des äusseren Glücks ist, wenigstens in der Idee des Menschen,
ein unläugbarer Zusammenhang, und es vermag nicht bestrit-
ten zu werden, dass er sich durch das Erstere zu dem Letz-
teren berechtigt glaubt. Ob diese seine Erwartung in Absicht
des Glücks gegründet ist, welches ihm das Schicksal gewährt,
oder versagt? — eine allerdings zweifelhaftere Frage — darf
hier nicht erörtert werden. Allein in Absicht desjenigen,
10
welches andre ihm willkürlich geben oder entziehen können,
muss seine Befugniss zu derselben nothwendig anerkannt wer-
den; da hingegen jener Grundsatz sie, wenigstens der That
nach, abzuläugnen scheint. Es ist aber auch ferner jener Maas-
stab, sogar für die Sicherheit selbst, nachtheilig. Denn wenn
er gleich diesem oder jenem einzelnen Gesetze vielleicht Gehor-
sam erzwingen kann; so verwirrt er gerade das, was die festeste
Stütze der Sicherheit der Bürger in einem Staate ist, das Gefühl
der Moralität, indem er einen Streit zwischen der Behandlung,
welche der Verbrecher erfährt, und der eignen Empfindung
seiner Schuld veranlasst. Dem fremden Rechte Achtung zu
verschaffen, ist das einzige sichre und unfehlbare Mittel, Ver-
brechen zu verhüten; und diese Absicht erreicht man nie, so-
bald nicht jeder, welcher fremdes Recht angreift, grade in eben
dem Maase in der Ausübung des seinigen gehemmt wird, die Un-
gleichheit möge nun im Mehr oder im Weniger bestehen. Denn
nur eine solche Gleichheit bewahrt die Harmonie zwischen der
innern moralischen Ausbildung des Menschen, und dem Gedeihen
der Veranstaltungen des Staats, ohne welche auch die künst-
lichste Gesetzgebung allemal ihres Endzwecks verfehlen wird.
Wie sehr aber nun die Erreichung aller übrigen Endzwecke des
Menschen, bei Befolgung des oben erwähnten Maasstabes, lei-
den würde, wie sehr dieselbe gegen alle in diesem Aufsatze vor-
getragene Grundsätze streitet; bedarf nicht mehr einer wei-
teren Ausführung. Die Gleichheit zwischen Verbrechen und
Strafe, welche die eben entwickelten Ideen fordern, kann wie-
derum nicht absolut bestimmt, es kann nicht allgemein gesagt
werden, dieses oder jenes Verbrechen verdient nur eine solche
oder solche Strafe. Nur bei einer Reihe, dem Grade nach ver-
schiedener Verbrechen kann die Beobachtung dieser Gleich-
heit vorgeschrieben werden, indem nun die, für diese Verbrechen
bestimmten Strafen in gleichen Graden abgestuft werden müs-
sen. Wenn daher, nach dem Vorigen, die Bestimmung des
absoluten Maases der Strafen, z. B. der höchsten Strafe sich
nach derjenigen Quantität des zugefügten Uebels richten muss,
welche erfordert wird, um das Verbrechen für die Zukunft zu
verhüten; so muss das relative Maas der übrigen, wenn jene,
oder überhaupt Eine einmal festgesetzt ist, nach dem Grade
bestimmt werden, um welchen die Verbrechen, für die sie
bestimmt sind, grösser oder kleiner als dasjenige sind, welches
jene zuerst verhängte Strafe verhüten soll. Die härteren
Strafen müssten daher diejenigen Verbrechen treffen, welche
wirklich in den Kreis des fremden Rechts eingreifen; gelin-
dere die Uebertretung derjenigen Gesetze, welche jenes nur zu
verhindern bestimmt sind, wie wichtig und nothwendig diese
Gesetze auch an sich sein möchten. Dadurch wird denn zu-
gleich die Idee bei den Bürgern vermieden, dass sie vom Staat
eine willkürliche, nicht gehörig motivirte Behandlung erführen
— ein Vorurtheil, welches sehr leicht entsteht, wenn harte
Strafen auf Handlungen gesetzt sind, die entweder wirklich nur
einen entfernten Einfluss auf die Sicherheit haben, oder deren
Zusammenhang damit doch weniger leicht einzusehen ist.
Unter jenen erstgenannten Verbrechen aber müssten diejenigen
am härtesten bestraft werden, welche unmittelbar und gerade-
zu die Rechte des Staats selbst angreifen, da, wer die Rechte
des Staats nicht achtet, auch die seiner Mitbürger nicht zu
ehren vermag, deren Sicherheit allein von jenen abhängig ist.
Wenn auf diese Weise Verbrechen und Strafe allgemein von
dem Gesetze bestimmt sind, so muss nun dies gegebene Straf-
gesetz auf einzelne Verbrechen angewendet werden. Bei die-
ser Anwendung sagen schon die Grundsätze des Rechts von
selbst, dass die Strafe nur nach dem Grade des Vorsatzes oder
der Schuld den Verbrecher treffen kann, mit welchem er die
Handlung beging. Wenn aber der oben aufgestellte Grund-
satz, dass nämlich immer die Nicht-Achtung des fremden
Rechts, und nur diese bestraft werden darf, völlig genau befolgt
10*
werden soll, so darf derselbe, auch bei der Bestrafung einzel-
ner Verbrechen, nicht vernachlässigt werden. Bei jedem ver-
übten Verbrechen muss daher der Richter bemüht sein, so viel
möglich, die Absicht des Verbrechers genau zu erforschen,
und durch das Gesetz in den Stand gesetzt werden, die allge-
meine Strafe noch nach dem individuellen Grade, in welchem er
das Recht, welches er beleidigte, ausser Augen setzte, zu
modificiren.
Das Verfahren gegen den Verbrecher, während der Unter-
suchung findet gleichfalls sowohl in den allgemeinen Grund-
sätzen des Rechts, als in dem Vorigen seine bestimmten Vor-
schriften. Der Richter muss nämlich alle rechtmässige Mittel
anwenden, die Wahrheit zu erforschen, darf sich hingegen kei-
nes erlauben, das ausserhalb der Schranken des Rechts liegt.
Er muss daher vor allen Dingen den blos verdächtigen Bür-
ger von dem überführten Verbrecher sorgfältig unterschei-
den, und nie den erstern, wie den letzteren, behandeln; über-
haupt aber nie, auch den überwiesenen Verbrecher in dem
Genuss seiner Menschen- und Bürgerrechte kränken, da er die
ersteren erst mit dem Leben, die letzteren erst durch eine
gesetzmässige richterliche Ausschliessung aus der Staatsver-
bindung verlieren kann. Die Anwendung von Mitteln, welche
einen eigentlichen Betrug enthalten, dürfte daher ebenso uner-
laubt sein, als die Folter. Denn wenn man dieselbe gleich viel-
leicht dadurch entschuldigen kann, dass der Verdächtige, oder
wenigstens der Verbrecher selbst durch seine eignen Hand-
lungen dazu berechtiget; so sind sie dennoch der Würde des
Staats, welchen der Richter vorstellt, allemal unangemessen;
und wie heilsame Folgen ein offnes und gerades Betragen,
auch gegen Verbrecher, auf den Charakter der Nation haben
würde, ist nicht nur an sich, sondern auch aus der Erfahrung
derjenigen Staaten klar, welche sich, wie z. B. England, hierin
einer edlen Gesetzgebung erfreuen.
Zuletzt muss ich, bei Gelegenheit des Kriminalrechts, noch
eine Frage zu prüfen versuchen, welche vorzüglich durch die
Bemühungen der neueren Gesetzgebung wichtig geworden ist,
die Frage nämlich, inwiefern der Staat befugt, oder verpflichtet
ist, Verbrechen, noch ehe dieselben begangen werden, zuvorzu-
kommen? Schwerlich wird irgend ein anderes Unternehmen
von gleich menschenfreundlichen Absichten geleitet, und die
Achtung, womit dasselbe jeden empfindenden Menschen noth-
wendig erfüllt, droht daher der Unpartheilichkeit der Unter-
suchung Gefahr. Dennoch halte ich, ich läugne es nicht, eine
solche Untersuchung für überaus nothwendig, da, wenn man
die unendliche Mannigfaltigkeit der Seelenstimmungen erwägt,
aus welchen der Vorsatz zu Verbrechen entstehen kann, diesen
Vorsatz zu verhindern unmöglich, und nicht allein dies, son-
dern selbst, nur der Ausübung zuvorzukommen, für die Frei-
heit bedenklich scheint. Da ich im Vorigen (S. 106—116) das
Recht des Staats, die Handlungen der einzelnen Menschen ein-
zuschränken zu bestimmen versucht habe; so könnte es schei-
nen, als hätte ich dadurch schon zugleich die gegenwärtige
Frage beantwortet. Allein wenn ich dort festsetzte, dass der
Staat diejenigen Handlungen einschränken müsse, deren Fol-
gen den Rechten andrer leicht gefährlich werden können; so
verstand ich darunter — wie auch die Gründe leicht zeigen,
womit ich diese Behauptung zu unterstützen bemüht war —
solche Folgen, die allein und an sich aus der Handlung fliessen,
und nur etwa durch grössere Vorsicht des Handlenden hätten
vermieden werden können. Wenn hingegen von Verhütung
von Verbrechen die Rede ist; so spricht man natürlich nur
von Beschränkung solcher Handlungen, aus welchen leicht eine
zweite, nämlich die Begehung des Verbrechens, entspringt.
Der wichtige Unterschied liegt daher hier schon darin, dass
die Seele des Handlenden hier thätig, durch einen neuen Ent-
schluss, mitwirken muss; da sie hingegen dort entweder gar
keinen, oder doch nur, durch Verabsäumung der Thätigkeit,
einen negativen Einfluss haben konnte. Dies allein wird, hoffe
ich, hinreichen, die Gränzen deutlich zu zeigen. Alle Verhü-
tung von Verbrechen nun muss von den Ursachen der Ver-
brechen ausgehen. Diese so mannigfaltigen Ursachen aber
liessen sich, in einer allgemeinen Formel, vielleicht durch das,
nicht durch Gründe der Vernunft gehörig in Schranken gehal-
tene Gefühl des Missverhältnisses ausdrücken, welches zwi-
schen den Neigungen des Handlenden und der Quantität der
rechtmässigen Mittel obwaltet, die in seiner Gewalt stehn.
Bei diesem Missverhältniss lassen sich wenigstens im Allge-
meinen, obgleich die Bestimmung im Einzelnen viel Schwie-
rigkeit finden würde, zwei Fälle von einander absondern, ein-
mal wenn dasselbe aus einem wahren Uebermaasse der Nei-
gungen, dann wenn es aus dem, auch für ein gewöhnliches
Maass, zu geringen Vorrath von Mitteln entspringt. Beide
Fälle muss noch ausserdem Mangel an Stärke der Gründe der
Vernunft und des moralischen Gefühls, gleichsam als dasjenige
begleiten, welches jenes Missverhältniss nicht verhindert, in
gesetzwidrige Handlungen auszubrechen. Jedes Bemühen des
Staats, Verbrechen durch Unterdrückung ihrer Ursachen in
dem Verbrecher verhüten zu wollen, wird daher, nach der Ver-
schiedenheit der beiden erwähnten Fälle, entweder dahin gerich-
tet sein müssen, solche Lagen der Bürger, welche leicht zu
Verbrechen nöthigen können, zu verändern und zu verbessern,
oder solche Neigungen, welche zu Uebertretungen der Gesetze zu
führen pflegen, zu beschränken, oder endlich den Gründen der
Vernunft und dem moralischen Gefühl eine wirksamere Stärke
zu verschaffen. Einen andern Weg, Verbrechen zu verhüten
giebt es endlich noch ausserdem durch gesetzliche Verminderung
der Gelegenheiten, welche die wirkliche Ausübung derselben
erleichtern, oder gar den Ausbruch gesetzwidriger Neigungen
begünstigen. Keine dieser verschiedenen Arten darf von der
gegenwärtigen Prüfung ausgeschlossen werden.
Die erste derselben, welche allein auf Verbesserung zu Ver-
brechen nöthigender Lagen gerichtet ist, scheint unter allen die
wenigsten Nachtheile mit sich zu führen. Es ist an sich so
wohlthätig, den Reichthum der Mittel der Kraft, wie des Ge-
nusses, zu erhöhen; die freie Wirksamkeit des Menschen wird
dadurch nicht unmittelbar beschränkt; und wenn freilich unläug-
bar auch hier alle Folgen anerkannt werden müssen, die ich,
im Anfange dieses Aufsatzes, als Wirkungen der Sorgfalt des
Staats für das physische Wohl der Bürger darstellte, so treten
sie doch hier, da eine solche Sorgfalt hier nur auf so wenige
Personen ausgedehnt wird, nur in sehr geringem Grade ein.
Allein immer finden dieselben doch wirklich Statt; gerade der
Kampf der inneren Moralität mit der äusseren Lage wird auf-
gehoben, und mit ihm seine heilsame Wirkung auf die Festig-
keit des Charakters des Handlenden, und auf das gegenseitig
sich unterstützende Wohlwollen der Bürger überhaupt; und
eben, dass diese Sorgfalt nur einzelne Personen treffen muss,
macht ein Bekümmern des Staats um die individuelle Lage
der Bürger nothwendig — lauter Nachtheile, welche nur die
Ueberzeugung vergessen machen könnte, dass die Sicherheit
des Staats, ohne eine solche Einrichtung, leiden würde. Aber
gerade diese Nothwendigkeit kann, dünkt mich, mit Recht be-
zweifelt werden. In einem Staate, dessen Verfassung den Bür-
ger nicht selbst in dringende Lagen versetzt, welcher denselben
vielmehr eine solche Freiheit sichert, als diese Blätter zu em-
pfehlen versuchen, ist es kaum möglich, dass Lagen der beschrie-
benen Art überhaupt entstehen, und nicht in der freiwilligen
Hülfsleistung der Bürger selbst, ohne Hinzukommen des Staats,
Heilmittel finden sollten; der Grund müsste denn in dem Be-
tragen des Menschen selbst liegen. In diesem Falle aber ist
es nicht gut, dass der Staat ins Mittel trete, und die Reihe der
Begebenheiten störe, welche der natürliche Lauf der Dinge aus
den Handlungen desselben entspringen lässt. Immer werden
auch wenigstens diese Lagen nur so selten eintreffen, dass es
überhaupt einer eignen Dazwischenkunft des Staats nicht be-
dürfen wird, und dass nicht die Vortheile derselben von den
Nachtheilen überwogen werden sollten, die es, nach Allem im
Vorigen Gesagten, nicht mehr nothwendig ist, einzeln ausein-
anderzusetzen.
Gerade entgegengesetzt verhalten sich die Gründe, welche
für und wider die zweite Art des Bemühens, Verbrechen zu
verhindern streiten, wider diejenige nämlich, welche auf die
Neigungen und Leidenschaften der Menschen selbst zu wirken
strebt. Denn auf der einen Seite scheint die Nothwendigkeit
grösser, da, bei minder gebundner Freiheit der Genuss üppiger
ausschweift, und die Begierden sich ein weiteres Ziel stecken,
wogegen die freilich, mit der grösseren eignen Freiheit, immer
wachsende Achtung auch des fremden Rechts dennoch vielleicht
nicht hinlänglich wirkt. Auf der andern aber vermehrt sich
auch der Nachtheil in eben dem Grade, in welchem die morali-
sche Natur jede Fessel schwerer empfindet, als die physische.
Die Gründe, aus welchen ein, auf die Verbesserung der Sitten
der Bürger gerichtetes Bemühen des Staats weder nothwendig,
noch rathsam ist, habe ich im Vorigen zu entwickeln versucht.
Eben diese nun treten in ihrem ganzen Umfange, und nur mit
dem Unterschiede auch hier ein, dass der Staat hier nicht die
Sitten überhaupt umformen, sondern nur auf das, der Befolgung
der Gesetze Gefahr drohende Betragen Einzelner wirken will.
Allein gerade durch diesen Unterschied wächst die Summe der
Nachtheile. Denn dieses Bemühen muss schon eben darum,
weil es nicht allgemein wirkt, seinen Endzweck minder errei-
chen, so dass daher nicht einmal das einseitige Gute, das es
abzweckt, für den Schaden entschädigt, den es anrichtet; und
dann setzt es nicht blos ein Bekümmern des Staats um die
Privathandlungen einzelner Individuen, sondern auch eine Macht
voraus, darauf zu wirken, welche durch die Personen noch be-
denklicher wird, denen dieselbe anvertraut werden muss. Es
muss nämlich alsdann entweder eigen dazu bestellten Leuten,
oder den schon vorhandenen Dienern des Staats eine Aufsicht
über das Betragen, und die daraus entspringende Lage entweder
aller Bürger, oder der ihnen untergebenen, übertragen werden.
Dadurch aber wird eine neue und drückendere Herrschaft ein-
geführt, als beinah irgend eine andere sein könnte; indiskreter
Neugier, einseitiger Intoleranz, selbst der Heuchelei und Ver-
stellung Raum gegeben. Man beschuldige mich hier nicht,
nur Missbräuche geschildert zu haben. Die Missbräuche sind
hier mit der Sache unzertrennlich verbunden; und ich wage es
zu behaupten, dass selbst, wenn die Gesetze die besten und
menschenfreundlichsten wären, wenn sie den Aufsehern blos
Erkundigungen auf gesetzmässigen Wegen, und den Gebrauch
von allem Zwang entfernter Rathschläge und Ermahnungen
erlaubten, und diesen Gesetzen die strengste Folge geleistet
würde, dennoch eine solche Einrichtung unnütz und schädlich
zugleich wäre. Jeder Bürger muss ungestört handlen können,
wie er will, solange er nicht das Gesetz überschreitet; jeder
muss die Befugniss haben, gegen jeden andern, und selbst gegen
alle Wahrscheinlichkeit, wie ein Dritter dieselbe beurtheilen
kann, zu behaupten: wie sehr ich mich der Gefahr, die Gesetze
zu übertreten, auch nähere, so werde ich dennoch nicht unter-
liegen. Wird er in dieser Freiheit gekränkt, so verletzt man
sein Recht, und schadet der Ausbildung seiner Fähigkeiten,
der Entwickelung seiner Individualität. Denn die Gestalten,
deren die Moralität und die Gesetzmässigkeit fähig ist, sind un-
endlich verschieden und mannigfaltig; und wenn ein Dritter
entscheidet, dieses oder jenes Betragen muss auf gesetzwidrige
Handlungen führen, so folgt er seiner Ansicht, welche, wie rich-
tig sie auch in ihm sein möge, immer nur Eine ist. Selbst aber
angenommen, er irre sich nicht, der Erfolg sogar bestätige sein
Urtheil, und der andre, dem Zwange gehorchend, oder dem
Rath, ohne innere Ueberzeugung, folgend, übertrete das Gesetz
diesmal nicht, das er sonst übertreten haben würde; so ist es
doch für den Uebertreter selbst besser, er empfinde einmal den
Schaden der Strafe, und erhalte die reine Lehre der Erfahrung,
als dass er zwar diesem einen Nachtheil entgehe, aber für seine
Ideen keine Berichtigung, für sein moralisches Gefühl keine
Uebung empfange; doch besser für die Gesellschaft, Eine Ge-
setzesübertretung mehr störe die Ruhe, aber die nachfolgende
Strafe diene zu Belehrung und Warnung, als dass zwar die Ruhe
diesmal nicht leide, aber darum das, worauf alle Ruhe und Si-
cherheit der Bürger sich gründet, die Achtung des fremden
Rechts, weder an sich wirklich grösser sei, noch auch jetzt ver-
mehrt und befördert werde. Ueberhaupt aber wird eine solche
Einrichtung nicht leicht einmal die erwähnte Wirkung haben.
Wie alle, nicht geradezu auf den innern Quell aller Handlungen
gehende Mittel, wird nur durch sie eine andre Richtung der,
den Gesetzen entgegenstrebenden Begierden, und gerade doppelt
schädliche Verheimlichung entstehen. Ich habe hierbei immer
vorausgesetzt, dass die zu dem Geschäft, wovon hier die Rede
ist, bestimmten Personen keine Ueberzeugung hervorbringen,
sondern allein durch fremdartige Gründe wirken. Es kann
scheinen, als wäre ich zu dieser Voraussetzung nicht berechtigt.
Allein dass es heilsam ist, durch wirkendes Beispiel und über-
zeugenden Rath auf seine Mitbürger und ihre Moralität Ein-
fluss zu haben, ist zu sehr in die Augen leuchtend, als dass es
erst ausdrücklich wiederholt werden dürfte. Gegen keinen der
Fälle also, wo jene Einrichtung dies hervorbringt, kann das
vorige Raisonnement gerichtet sein. Nur, scheint es mir, ist
eine gesetzliche Vorschrift hiezu nicht blos ein undienliches,
sondern sogar entgegenarbeitendes Mittel. Einmal sind schon
Gesetze nicht der Ort, Tugenden zu empfehlen, sondern nur
erzwingbare Pflichten vorzuschreiben, und nicht selten wird
nur die Tugend, die jeder Mensch nur freiwillig auszuüben
sich freut, dadurch verlieren. Dann ist jede Bitte eines Ge-
setzes, und jeder Rath, den ein Vorgesetzter kraft desselben
giebt, ein Befehl, dem die Menschen zwar in der Theorie nicht
gehorchen müssen, aber in der Wirklichkeit immer gehorchen.
Endlich muss man hiezu noch so viele Umstände rechnen,
welche die Menschen nöthigen, und so viele Neigungen, welche
sie bewegen können, einem solchen Rathe, auch gänzlich gegen
ihre Ueberzeugung, zu folgen. Von dieser Art pflegt gewöhn-
lich der Einfluss zu sein, welchen der Staat auf diejenigen hat,
die der Verwaltung seiner Geschäfte vorgesetzt sind, und durch
den er zugleich auf die übrigen Bürger zu wirken strebt. Da
diese Personen durch besondre Verträge mit ihm verbunden
sind; so ist es freilich unläugbar, dass er auch mehrere Rechte
gegen sie, als gegen die übrigen Bürger, ausüben kann. Allein
wenn er den Grundsätzen der höchsten gesetzmässigen Freiheit
getreu bleibt; so wird er nicht mehr von ihnen zu fordern ver-
suchen, als die Erfüllung der Bürgerpflichten im Allgemeinen,
und derjenigen besondren, welche ihr besondres Amt nothwen-
dig macht. Denn offenbar übt er einen zu mächtigen positiven
Einfluss auf die Bürger überhaupt aus, wenn er von jenen, ver-
möge ihres besondren Verhältnisses, etwas zu erhalten sucht,
was er den Bürgern geradezu nicht aufzulegen berechtigt ist.
Ohne dass er wirkliche positive Schritte thut, kommen ihm
hierin schon von selbst nur zuviel die Leidenschaften der Men-
schen zuvor, und das Bemühen, nur diesen, hieraus von selbst
entspringenden Nachtheil zu verhüten, wird seinen Eifer und
seinen Scharfsinn schon hinlänglich beschäftigen.
Eine nähere Veranlassung Verbrechen durch Unterdrückung
der in dem Charakter liegenden Ursachen derselben zu verhü-
ten, hat der Staat bei denjenigen, welche durch wirkliche Ueber-
tretungen der Gesetze gerechte Besorgniss für die Zukunft
erwecken. Daher haben auch die denkendsten neueren Gesetz-
geber versucht, die Strafen zugleich zu Besserungsmitteln zu
machen. Gewiss ist es nun, dass nicht blos von der Strafe der
Verbrecher schlechterdings alles entfernt werden muss, was
irgend der Moralität derselben nachtheilig sein könnte; sondern
dass ihnen auch jedes Mittel, das nur übrigens nicht dem End-
zweck der Strafe zuwider ist, freistehen muss, ihre Ideen zu be-
richtigen und ihre Gefühle zu verbessern. Allein auch dem
Verbrecher darf die Belehrung nicht aufgedrungen werden;
und wenn dieselbe schon eben dadurch Nutzen und Wirksam-
keit verliert; so läuft ein solches Aufdringen auch den Rechten
des Verbrechers entgegen, der nie zu etwas mehr verbunden
sein kann, als die gesetzmässige Strafe zu leiden.
Ein völlig specieller Fall ist noch der, wo der Angeschuldigte
zwar zu viel Gründe gegen sich hat, um nicht einen starken
Verdacht auf sich zu laden, aber nicht genug, um verurtheilt
zu werden. (Absolutio ab instantia.) Ihm alsdann die völlige
Freiheit unbescholtener Bürger zu verstatten, macht die Sorg-
falt für die Sicherheit bedenklich, und eine fortdauernde
Aufsicht auf sein künftiges Betragen ist daher allerdings noth-
wendig. Indess eben die Gründe, welche jedes positive Be-
mühen des Staats bedenklich machen, und überhaupt anrathen,
an die Stelle seiner Thätigkeit lieber, wo es geschehen kann,
die Thätigkeit einzelner Bürger zu setzen, geben auch hier
der freiwillig übernommenen Aufsicht der Bürger vor einer
Aufsicht des Staats den Vorzug; und es dürfte daher besser
sein, verdächtige Personen dieser Art sichere Bürgen stellen
zu lassen, als sie einer unmittelbaren Aufsicht des Staats zu
übergeben, die nur, in Ermanglung der Bürgschaft, eintreten
müsste. Beispiele solcher Bürgschaften giebt auch, zwar
nicht in diesem, aber in ähnlichen Fällen, die Englische Ge-
setzgebung.
Die letzte Art, Verbrechen zu verhüten, ist diejenige, welche,
ohne auf ihre Ursachen wirken zu wollen, nur ihre wirkliche
Begehung zu verhindern bemüht ist. Diese ist der Freiheit am
wenigsten nachtheilig, da sie am wenigsten einen positiven Ein-
fluss auf die Bürger hervorbringt. Indess lässt auch sie mehr
oder minder weite Schranken zu. Der Staat kann sich nämlich
begnügen, die strengste Wachsamkeit auf jedes gesetzwidrige
Vorhaben auszuüben, und dasselbe vor seiner Ausführung zu
verhindern; oder er kann weiter gehen, und solche an sich un-
schädliche Handlungen untersagen, bei welchen leicht Verbre-
chen entweder nur ausgeführt, oder auch beschlossen zu werden
pflegen. Dies Letztere greift abermals in die Freiheit der Bür-
ger ein; zeigt ein Misstrauen des Staats gegen sie, das nicht
blos auf ihren Charakter, sondern auch für den Zweck selbst,
der beabsichtet wird, nachtheilige Folgen hat; und ist aus
eben den Gründen nicht rathsam, welche mir die vorhin erwähn-
ten Arten, Verbrechen zu verhüten, zu missbilligen schienen.
Alles, was der Staat thun darf, und mit Erfolg für seinen End-
zweck, und ohne Nachtheil für die Freiheit der Bürger, thun
kann, beschränkt sich daher auf das Erstere, auf die strengste
Aufsicht auf jede, entweder wirklich schon begangene, oder erst
beschlossene Uebertretung der Gesetze; und da dies nur uneigent-
lich den Verbrechen zuvorkommen genannt werden kann; so
glaube ich behaupten zu dürfen, dass ein solches Zuvorkommen
gänzlich ausserhalb der Schranken der Wirksamkeit des Staats
liegt. Desto emsiger aber muss derselbe darauf bedacht sein,
kein begangenes Verbrechen unentdeckt, kein entdecktes unbe-
straft, ja nur gelinder bestraft zu lassen, als das Gesetz es ver-
langt. Denn die durch eine ununterbrochene Erfahrung be-
stätigte Ueberzeugung der Bürger, dass es ihnen nicht möglich
ist, in fremdes Recht einzugreifen, ohne eine, gerade verhältniss-
mässige Schmälerung des eignen zu erdulden, scheint mir zugleich
die einzige Schutzmauer der Sicherheit der Bürger, und das
einzige untrügliche Mittel, unverletzliche Achtung des fremden
Rechts zu begründen. Zugleich ist dieses Mittel die einzige
Art, auf eine des Menschen würdige Weise auf den Charakter
desselben zu wirken, da man den Menschen nicht zu Handlun-
gen unmittelbar zwingen oder leiten, sondern allein durch die
Folgen ziehen muss, welche, der Natur der Dinge nach, aus
seinem Betragen fliessen müssen. Statt aller zusammengesetz-
teren und künstlicheren Mittel, Verbrechen zu verhüten, würde
ich daher nie etwas anders, als gute und durchdachte Gesetze,
in ihrem absoluten Maasse den Lokalumständen, in ihrem rela-
tiven dem Grade der Inmoralität der Verbrechen genau ange-
messene Strafen, möglichst sorgfältige Aufsuchung jeder vor-
gefallenen Uebertretung der Gesetze, und Hinwegräumung aller
Möglichkeit auch nur der Milderung der richterlich bestimmten
Strafe vorschlagen. Wirkt dies freilich sehr einfache Mittel,
wie ich nicht läugnen will, langsam; so wirkt es dagegen auch
unfehlbar, ohne Nachtheil für die Freiheit, und mit heilsamem
Einfluss auf den Charakter der Bürger. Ich brauche mich nun
nicht länger bei den Folgen der hier aufgestellten Sätze zu ver-
weilen, wie z. B. bei der schon öfter bemerkten Wahrheit, dass
das Begnadigungs- selbst das Milderungsrecht des Landesherrn
gänzlich aufhören müsste. Sie lassen sich von selbst ohne Mühe
daraus herleiten. Die näheren Veranstaltungen, welche der
Staat treffen muss, um begangene Verbrechen zu entdecken,
oder erst beschlossenen zuvorzukommen, hängen fast ganz von
individuellen Umständen specieller Lagen ab. Allgemein kann
hier nur bestimmt werden, dass derselbe auch hier seine Rechte
nicht überschreiten, und also keine, der Freiheit und der häus-
lichen Sicherheit der Bürger überhaupt entgegenlaufende Maass-
regeln ergreifen darf. Hingegen kann er für öffentliche Orte,
wo am leichtesten Frevel verübt werden, eigene Aufseher be-
stellen; Fiskale anordnen, welche, vermöge ihres Amts, gegen
verdächtige Personen verfahren; und endlich alle Bürger durch
Gesetze verpflichten, ihm in diesem Geschäfte behülflich zu
sein, und nicht blos beschlossene, und noch nicht begangene
Verbrechen, sondern auch schon verübte, und ihre Thäter an-
zuzeigen. Nur muss er dies Letztere, um nicht auf den Cha-
rakter der Bürger nachtheilig zu wirken, immer nur als Pflicht
fordern, nicht durch Belohnungen, oder Vortheile dazu anreizen;
und selbst von dieser Pflicht diejenigen entbinden, welche der-
selben kein Genüge leisten könnten, ohne die engsten Bande
dadurch zu zerreissen.
Endlich muss ich noch, ehe ich diese Materie beschliesse, be-
merken, dass alle Kriminalgesetze, sowohl diejenigen, welche die
Strafen, als diejenigen, welche das Verfahren bestimmen, allen
Bürgern, ohne Unterschied, vollständig bekannt gemacht werden
müssen. Zwar hat man verschiedentlich das Gegentheil behauptet,
und sieh des Grundes bedient, dass dem Bürger nicht die Wahl
gelassen werden müsse, mit dem Uebel der Strafe gleichsam den
Vortheil der gesetzwidrigen Handlung zu erkaufen. Allein — die
Möglichkeit einer fortdauernden Verheimlichung auch einmal an-
genommen — so unmoralisch auch eine solche Abwägung in dem
Menschen selbst wäre, der sie vornähme; so darf der Staat, und
überhaupt ein Mensch dem andren, dieselbe doch nicht verweh-
ren. Es ist im Vorigen, wie ich hoffe, hinlänglich gezeigt wor-
den, dass kein Mensch dem andren mehr Uebel, als Strafe, zu-
fügen darf, als er selbst durch das Verbrechen gelitten hat.
Ohne gesetzliche Bestimmung müsste also der Verbrecher so
viel erwarten, als er ohngefähr seinem Verbrechen gleich achtete;
und da nun diese Schätzung bei mehreren Menschen zu ver-
schieden ausfallen würde, so ist sehr natürlich, dass man ein
festes Maass durch das Gesetz bestimme, und dass also zwar
nicht die Verbindlichkeit, Strafe zu leiden, aber doch die, bei
Zufügung der Strafe nicht willkührlich alle Gränzen zu über-
schreiten, durch einen Vertrag begründet sei. Noch ungerech-
ter aber wird eine solche VerheimlichnngVerheimlichung bei dem Verfahren
zur Aufsuchung der Verbrechen. Da könnte sie unstreitig zu
nichts andrem dienen, als Furcht vor solchen Mitteln zu erre-
gen, die der Staat selbst nicht anwenden zu dürfen glaubt, und
nie muss der Staat durch eine Furcht wirken wollen, welche
nichts anders unterhalten kann, als Unwissenheit der Bürger
über ihre Rechte, oder Mistrauen gegen seine Achtung derselben.
Ich ziehe nunmehr aus dem bisher vorgetragenen Raisonne-
ment folgende höchste Grundsätze jedes Kriminalrechts über-
haupt:
1. Eins der vorzüglichsten Mittel zur Erhaltung der
Sicherheit ist die Bestrafung der Uebertreter der Gesetze
des Staats. Der Staat darf jede Handlung mit einer Strafe
belegen, welche die Rechte der Bürger kränkt, und insofern
er selbst allein aus diesem Gesichtspunkt Gesetze anord-
net, jede, wodurch eines seiner Gesetze übertreten wird.
2. Die härteste Strafe darf keine andre, als die nach
den individuellen Zeit- und Ortverhältnissen möglichst
gelinde sein. Nach dieser müssen alle übrige gerade in
dem Verhältniss bestimmt sein, in welchem die Verbrechen,
gegen welche sie gerichtet sind, Nichtachtung des fremden
Rechts bei dem Verbrecher voraussetzen. So muss daher
die härteste Strafe denjenigen treffen, welcher das wichtigste
Recht des Staats selbst, eine minder harte denjenigen,
welcher nur ein gleich wichtiges Recht eines einzelnen
Bürgers gekränkt, eine noch gelindere endlich denjenigen,
welcher blos ein Gesetz übertreten hatte, dessen Absicht
es war, eine solche, blos mögliche Kränkung zu verhindern.
3. Jedes Strafgesetz kann nur auf denjenigen angewen-
det werden, welcher dasselbe mit Vorsatz, oder mit Schuld
übertrat, und nur in dem Grade, in welchem er dadurch
Nichtachtung des fremden Rechts bewies.
4. Bei der Untersuchung begangener Verbrechen darf
der Staat zwar jedes dem Endzweck angemessene Mittel
anwenden; hingegen keines, das den blos verdächtigen
Bürger schon als Verbrecher behandelte, noch ein solches,
das die Rechte des Menschen und des Bürgers, welche der
Staat, auch in dem Verbrecher, ehren muss, verletzte,
oder das den Staat einer unmoralischen Handlung schuldig
machen würde.
5. Eigene Veranstaltungen, noch nicht begangene Ver-
brechen zu verhüten, darf sich der Staat nicht anders erlau-
ben, als insofern dieselben die unmittelbare Begehung der-
selben verhindern. Alle übrige aber, sie mögen nun den
Ursachen zu Verbrechen entgegenarbeiten, oder an sich
unschädliche, aber leicht zu Verbrechen führende Hand-
lungen verhüten wollen, liegen ausserhalb der Gränzen sei-
ner Wirksamkeit. Wenn zwischen diesem, und dem, bei
Gelegenheit der Handlungen des einzelnen Menschen
S. 113 aufgestellten Grundsatz ein Widerspruch zu sein
scheint, so muss man nicht vergessen, dass dort von
solchen Handlungen die Rede war, deren Folgen an sich
fremde Rechte kränken können, hier hingegen von solchen,
aus welchen, um diese Wirkung hervorzubringen, erst eine
zweite Handlung entstehen muss. Verheimlichung der
Schwangerschaft also, um dies an einem Beispiel deutlich
zu machen, dürfte nicht aus dem Grunde verboten werden,
den Kindermord zu verhüten (man müsste denn dieselbe
schon als ein Zeichen des Vorsatzes zu demselben ansehen),
wohl aber als eine Handlung, welche an sich, und ohnedies,
dem Leben und der Gesundheit des Kindes gefährlich sein
kann.
11
XIV.
Sorgfalt des Staats für die Sicherheit durch Bestimmung des
Verhältnisses derjenigen Personen, welche nicht im Besitz der
natürlichen, oder gehörig gereiften menschlichen Kräfte sind.
(Unmündige und des Verstandes Beraubte.) Allgemeine Anmerkung
zu diesem und den vier vorhergehenden Abschnitten.
Unterschied der hier genannten Personen und der übrigen Bürger. — Nothwen-
digkeit einer Sorgfalt für ihr positives Wohl. — Unmündige. — Gegenseitige
Pflichten der Eltern und Kinder. — Pflichten des Staats. — Bestimmung des
Alters der Mündigkeit. — Aufsicht auf die Erfüllung jener Pflichten. — Vor-
mundschaft, nach dem Tode der Eltern. — Pflichten des Staats in Rücksicht auf
dieselbe. — Vortheile, die speciellere Ausübung dieser Pflichten, wo möglich, den
Gemeinheiten zu übertragen. — Veranstaltungen, die Unmündigen gegen Ein-
griffe in ihre Rechte zu schützen. — Des Verstandes Beraubte. — Unterschiede
zwischen ihnen und den Unmündigen. — Höchste, aus diesem Abschnitt gezogene
Grundsätze. — Gesichtspunkt bei diesem und den vier vorhergehenden Abschnit-
ten. — Bestimmung des Verhältnisses der gegenwärtigen Arbeit zur Theorie der
Gesetzgebung überhaupt. — Aufzählung der Hauptgesichtspunkte, aus welchen
alle Gesetze fliessen müssen. — Hieraus entspringende, zu jeder Gesetzgebung
nothwendige Vorarbeiten.
Alle Grundsätze, die ich bis hieher aufzustellen versucht
habe, setzen Menschen voraus, die im völligen Gebrauch ihrer
gereiften Verstandeskräfte sind. Denn alle gründen sich allein
darauf, dass dem selbstdenkenden und selbstthätigen Menschen
nie die Fähigkeit geraubt werden darf, sich, nach gehöriger
Prüfung aller Momente der Ueberlegung, willkührlich zu be-
stimmen. Sie können daher auf solche Personen keine Anwen-
dung finden, welche entweder, wie Verrückte, oder gänzlich
Blödsinnige, ihrer Vernunft so gut, als gänzlich beraubt sind;
oder bei welchen dieselbe noch nicht einmal diejenige Reife er-
langt hat, welche von der Reife des Körpers selbst abhängt.
Denn so unbestimmt, und, genau gesprochen, unrichtig auch
dieser letztere Maassstab sein mag; so ist er doch der einzige,
welcher allgemein und bei der Beurtheilung des Dritten gültig
sein kann. Alle diese Personen nun bedürfen einer im eigent-
lichsten Verstande positiven Sorgfalt für ihr physisches und
moralisches Wohl, und die blos negative Erhaltung der Sicher-
heit kann bei denselben nicht hinreichen. Allein diese Sorgfalt
ist — um bei den Kindern, als der grössesten und wichtigsten
Klasse dieser Personen anzufangen — schon vermöge der Grund-
sätze des Rechts ein Eigenthum bestimmter Personen, der
Eltern. Ihre Pflicht ist es, die Kinder, welche sie erzeugt haben,
bis zur vollkommenen Reife zu erziehen, und aus dieser Pflicht
allein entspringen alle Rechte derselben, als nothwendige Be-
dingungen der Ausübung von jener. Die Kinder behalten daher
alle ihre ursprünglichen Rechte, auf ihr Leben, ihre Gesundheit,
ihr Vermögen, wenn sie schon dergleichen besitzen, und selbst
ihre Freiheit darf nicht weiter beschränkt werden, als die Eltern
dies theils zu ihrer eignen Bildung, theils zur Erhaltung des
nun neu entstehenden Familienverhältnisses für nothwendig
erachten, und als sich diese Einschränkung nur auf die Zeit
bezieht, welche zu ihrer Ausbildung erfordert wird. Zwang zu
Handlungen, welche über diese Zeit hinaus, und vielleicht aufs
ganze Leben hin ihre unmittelbaren Folgen erstrecken, dürfen
sich daher Kinder niemals gefallen lassen. Daher niemals z. B.
Zwang zu Heirathen, oder zu Erwählung einer bestimmten
Lebensart. Mit der Zeit der Reife muss die elterliche Gewalt
natürlich ganz und gar aufhören. Allgemein bestehen daher
die Pflichten der Eltern darin die Kinder, theils durch persön-
liche Sorgfalt für ihr physisches und moralisches Wohl, theils
durch Versorgung mit den nothwendigen Mitteln in den Stand
zu setzen, eine eigne Lebensweise, nach ihrer, jedoch durch ihre
individuelle Lage beschränkten Wahl anzufangen; und die
Pflichten der Kinder dagegen darin, alles dasjenige zu thun,
was nothwendig ist, damit die Eltern jener Pflicht ein Genüge
zu leisten vermögen. Alles nähere Detail, die Aufzählung des-
sen, was diese Pflichten nun bestimmt in sich enthalten können
und müssen, übergehe ich hier gänzlich. Es gehört in eine
eigentliche Theorie der Gesetzgebung, und würde auch nicht
11*
einmal ganz in dieser Platz finden können, da es grossentheils
von individuellen Umständen specieller Lagen abhängt.
Dem Staat liegt es nun ob, für die Sicherheit der Rechte
der Kinder gegen die Eltern Sorge zu tragen, und er muss da-
her zuerst ein gesetzmässiges Alter der Reife bestimmen. Dies
muss nun natürlich nicht nur nach der Verschiedenheit des
Klima’s und selbst des Zeitalters verschieden sein, sondern auch
individuelle Lagen, je nachdem nämlich mehr oder minder Reife
der Beurtheilungskraft in denselben erfordert wird, können mit
Recht darauf Einfluss haben. Hiernächst muss er verhindern,
dass die väterliche Gewalt nicht über ihre Gränzen hinaus-
schreite, und darf daher dieselbe mit seiner genauesten Aufsicht
nicht verlassen. Jedoch muss diese Aufsicht niemals positiv
den Eltern eine bestimmte Bildung und Erziehung der Kinder
vorschreiben wollen, sondern nur immer negativ dahin gerichtet
sein, Eltern und Kinder gegenseitig in den, ihnen vom Gesetz
bestimmten Schranken zu erhalten. Daher scheint es auch
weder gerecht, noch rathsam, fortdauernde Rechenschaft von
den Eltern zu fordern; man muss ihnen zutrauen, dass sie eine
Pflicht nicht verabsäumen werden, welche ihrem Herzen so nah
liegt; und erst solche Fälle, wo entweder schon wirkliche Ver-
letzungen dieser Pflicht geschehen, oder sehr nah bevorstehen,
können den Staat, sich in diese Familienverhältnisse zu mischen
berechtigen.
Nach dem Tode der Eltern bestimmen die Grundsätze des
natürlichen Rechts minder klar, an wen die Sorgfalt der noch
übrigen Erziehung fallen soll. Der Staat muss daher genau
festsetzen, wer von den Verwandten die Vormundschaft über-
nehmen, oder, wenn von diesen keiner dazu im Stande ist, wie
einer der übrigen Bürger dazu gewählt werden soll. Ebenso
muss er die nothwendigen Eigenschaften der Fähigkeit der
Vormünder bestimmen. Da die Vormünder die Pflichten der
Eltern übernehmen; so treten sie auch in alle Rechte derselben;
da sie aber auf jeden Fall in einem minder engen Verhältniss
zu ihren Pflegbefohlenen stehen, so können sie nicht auf ein
gleiches Vertrauen Anspruch machen, und der Staat muss
daher seine Aufsicht auf sie verdoppeln. Bei ihnen dürfte da-
her auch ununterbrochene Rechenschaftsablegung eintreten
müssen. Je weniger positiven Einfluss der Staat auch nur
mittelbar ausübt, desto mehr bleibt er den, im Vorigen ent-
wickelten Grundsätzen getreu. Er muss daher die Wahl
eines Vormunds durch die sterbenden Eltern selbst, oder durch
die zurückbleibenden Verwandten, oder durch die Gemeine, zu
welcher die Pflegbefohlnen gehören, soviel erleichtern, als nur
immer die Sorgfalt für die Sicherheit dieser erlaubt. Ueberhaupt
scheint es rathsam, alle eigentlich specielle hier eintretende Auf-
sicht den Gemeinheiten zu übertragen; ihre Maassregeln wer-
den immer nicht nur der individuellen Lage der Pflegbefohlnen
angemessener, sondern auch mannigfaltiger, minder einförmig
sein, und für die Sicherheit der Pflegbefohlnen ist dennoch hin-
länglich gesorgt, sobald die Oberaufsicht in den Händen des
Staats selbst bleibt.
Ausser diesen Einrichtungen muss der Staat sich nicht blos
begnügen, Unmündige, gleich andren Bürgern, gegen fremde
Angriffe zu beschützen, sondern er muss hierin auch noch wei-
ter gehen. Es war nämlich oben festgesetzt worden, dass jeder
über seine eignen Handlungen und sein Vermögen nach Gefal-
len freiwillig beschliessen kann. Eine solche Freiheit könnte
Personen, deren Beurtheilungskraft noch nicht das gehörige
Alter gereift hat, in mehr als Einer Hinsicht gefährlich werden.
Diese Gefahren nun abzuwenden ist zwar das Geschäft der
Eltern, oder Vormünder, welche das Recht haben, die Hand-
lungen derselben zu leiten. Allein der Staat muss ihnen, und
den Unmündigen selbst hierin zu Hülfe kommen, und diejenigen
ihrer Handlungen für ungültig erklären, deren Folgen ihnen
schädlich sein würden. Er muss dadurch verhindern, dass nicht
eigennützige Absichten andrer sie täuschen, oder ihren Ent-
schluss überraschen. Wo dies geschieht, muss er nicht nur zu
Ersetzung des Schadens anhalten, sondern auch die Thäter be-
strafen; und so können aus diesem Gesichtspunkt Handlungen
strafbar werden, welche sonst ausserhalb des Wirkungskreises
des Gesetzes liegen würden. Ich führe hier als ein Beispiel
den unehelichen Beischlaf an, den, diesen Grundsätzen zufolge,
der Staat an dem Thäter bestrafen müsste, wenn er mit einer
unmündigen Person begangen würde. Da aber die mensch-
lichen Handlungen einen sehr mannigfaltig verschiednen Grad
der Beurtheilungskraft erfordern, und die Reife der letztern
gleichsam nach und nach zunimmt; so ist es gut, zum Behuf
der Gültigkeit dieser verschiedenen Handlungen gleichfalls ver-
schiedene Epochen und Stufen der Unmündigkeit zu bestimmen.
Was hier von Unmündigen gesagt worden ist, findet auch
auf Verrückte und Blödsinnige Anwendung. Der Unterschied
besteht nur darin, dass sie nicht einer Erziehung und Bildung
(man müsste denn die Bemühungen, sie zu heilen, mit diesem
Namen belegen), sondern nur der Sorgfalt und Aufsicht bedür-
fen; dass bei ihnen noch vorzüglich der Schaden verhütet wer-
den muss, den sie andren zufügen könnten; und dass sie ge-
wöhnlich in einem Zustande sind, in welchem sie weder ihrer
persönlichen Kräfte, noch ihres Vermögens geniessen können,
wobei jedoch nicht vergessen werden muss, dass, da eine Rück-
kehr der Vernunft bei ihnen immer noch möglich ist, ihnen nur
die temporelle Ausübung ihrer Rechte, nicht aber diese Rechte
selbst genommen werden können. Dies noch weiter auszu-
führen, erlaubt meine gegenwärtige Absicht nicht, und ich kann
daher diese ganze Materie mit folgenden allgemeinen Grund-
sätzen beschliessen.
1. Diejenigen Personen, welche entweder überhaupt
nicht den Gebrauch ihrer Verstandeskräfte besitzen, oder
das dazu nothwendige Alter noch nicht erreicht haben, be-
dürfen einer besondren Sorgfalt für ihr physisches, intel-
lektuelles und moralisches Wohl. Personen dieser Art
sind Unmündige und des Verstandes Beraubte. Zuerst
von jenen, dann von diesen.
2. In Absicht der Unmündigen muss der Staat die Dauer
der Unmündigkeit festsetzen. Er muss dieselbe, da sie
ohne sehr wesentlichen Nachtheil weder zu kurz, noch zu
lang sein darf, nach den individuellen Umständen der Lage
der Nation bestimmen, wobei ihm die vollendete Ausbildung
des Körpers zum ohngefähren Kennzeichen dienen kann.
Rathsam ist es, mehrere Epochen anzuordnen, und grad-
weise die Freiheit der Unmündigen zu erweitern, und die
Aufsicht auf sie verringern.
3. Der Staat muss darauf wachen, dass die Eltern ihre
Pflichten gegen ihre Kinder — nämlich dieselben, so gut
es ihre Lage erlaubt, in den Stand zu setzen, nach erreich-
ter Mündigkeit, eine eigne Lebensweise zu wählen und
anzufangen — und die Kinder ihre Pflichten gegen ihre
Eltern, — nämlich alles dasjenige zu thun, was zur Aus-
übung jener Pflicht von Seiten der Eltern nothwendig ist
— genau erfüllen; keiner aber die Rechte überschreite,
welche ihm die Erfüllung jener Pflichten einräumt. Seine
Aufsicht muss jedoch allein hierauf beschränkt sein; und
jedes Bemühen, hiebei einen positiven Endzweck zu errei-
chen, z. B. diese oder jene Art der Ausbildung der Kräfte
bei den Kindern zu begünstigen, liegt ausserhalb der
Schranken seiner Wirksamkeit.
4. Im Fall des Todes der Eltern sind Vormünder noth-
wendig. Der Staat muss daher die Art bestimmen, wie
diese bestellt werden sollen, so wie die Eigenschaften,
welche sie nothwendig besitzen müssen. Er wird aber gut
thun, soviel als möglich die Wahl derselben durch die Eltern
selbst, vor ihrem Tode, oder die übrigbleibenden Verwand-
ten, oder die Gemeine zu befördern. Das Betragen der
Vormünder erfordert eine noch genauere und doppelt wach-
same Aufsicht.
5. Um die Sicherheit der Unmündigen zu befördern,
und zu verhindern, dass man sich nicht ihrer Unerfahren-
heit oder Unbesonnenheit zu ihrem Nachtheil bediene, muss
der Staat diejenigen ihrer, allein für sich vorgenommenen
Handlungen, deren Folgen ihnen schädlich werden könnten,
für ungültig erklären, und diejenigen, welche sie zu ihrem
Vortheil auf diese Weise benutzen, bestrafen.
6. Alles was hier von Unmündigen gesagt worden, gilt
auch von solchen, die ihres Verstandes beraubt sind; nur
mit den Unterschieden, welche die Natur der Sache selbst
zeigt. Auch darf niemand eher als ein solcher angesehen
werden, ehe er nicht, nach einer, unter Aufsicht des Rich-
ters, durch Aerzte vorgenommenen Prüfung, förmlich dafür
erklärt ist; und das Uebel selbst muss immer, als mög-
licherweise wieder vorübergehend, betrachtet werden.
Ich bin jetzt alle Gegenstände durchgegangen, auf welche
der Staat seine Geschäftigkeit ausdehnen muss; ich habe bei
jedem die höchsten Principien aufzustellen versucht. Findet
man diesen Versuch zu mangelhaft, sucht man viele, in der Ge-
setzgebung wichtige Materien vergebens in demselben; so darf
man nicht vergessen, dass es nicht meine Absicht war, eine
Theorie der Gesetzgebung aufzustellen — ein Werk, dem weder
meine Kräfte, noch meine Kenntnisse gewachsen sind — son-
dern allein den Gesichtspunkt herauszuheben, inwiefern die Ge-
setzgebung in ihren verschiedenen Zweigen die Wirksamkeit
des Staats ausdehnen dürfe, oder einschränken müsse? Denn
wie sich die Gesetzgebung nach ihren Gegenständen abtheilen
lässt, eben so kann dieselbe auch nach ihren Quellen eingetheilt
werden, und vielleicht ist diese Eintheilung, vorzüglich für den
Gesetzgeber selbst, noch fruchtbarer. Dergleichen Quellen,
oder — um mich zugleich eigentlicher und richtiger auszu-
drücken — Hauptgesichtspunkte, aus welchen sich die Noth-
wendigkeit von Gesetzen zeigt, giebt es, wie mich dünkt, nur
drei. Die Gesetzgebung im Allgemeinen soll die Handlungen
der Bürger, und ihre nothwendigen Folgen bestimmen. Der
erste Gesichtspunkt ist daher die Natur dieser Handlungen
selbst, und diejenigen ihrer Folgen, welche allein aus den
Grundsätzen des Rechts entspringen. Der zweite Gesichts-
punkt ist der besondre Zweck des Staats, die Gränzen, in wel-
chen er seine Wirksamkeit zu beschränken, oder der Umfang,
auf welchen er dieselbe auszudehnen beschliesst. Der dritte
Gesichtspunkt endlich entspringt aus den Mitteln, welcher er
nothwendig bedarf, um das ganze Staatsgebäude selbst zu er-
halten, um es nur möglich zu machen, seinen Zweck überhaupt
zu erreichen. Jedes nur denkbare Gesetz muss einem dieser
Gesichtspunkte vorzüglich eigen sein; allein keines dürfte, ohne
die Vereinigung aller, gegeben werden, und gerade diese Ein-
seitigkeit der Ansicht macht einen sehr wesentlichen Fehler
mancher Gesetze aus. Aus jener dreifachen Ansicht entsprin-
gen nun auch drei vorzüglich nothwendige Vorarbeiten zu jeder
Gesetzgebung: 1. eine vollständige allgemeine Theorie des
Rechts. 2. Eine vollständige Entwicklung des Zwecks, den
der Staat sich vorsetzen sollte, oder, welches im Grunde das-
selbe ist, eine genaue Bestimmung der Grenzen, in welchen er
seine Wirksamkeit halten muss; oder eine Darstellung des be-
sondern Zwecks, welchen diese oder jene Staatsgesellschaft sich
wirklich vorsetzt. 3. Eine Theorie der, zur Existenz eines
Staats nothwendigen Mittel, und da diese Mittel theils Mittel
der innern Festigkeit, theils Mittel der Möglichkeit der Wirk-
samkeit sind, eine Theorie der Politik und der Finanzwissen-
schaften; oder wiederum eine Darstellung des einmal gewähl-
ten politischen und Finanzsystems. Bei dieser Uebersicht,
welche mannigfaltige Unterabtheilungen zulässt, bemerke ich
nur noch, dass blos das erste der genannten Stücke ewig und,
wie die Natur des Menschen im Ganzen selbst, unveränderlich
ist; die andern aber mannigfaltige Modifikationen erlauben.
Werden indess diese Modifikationen nicht nach völlig allgemei-
nen, von allen zugleich hergenommenen Rücksichten, sondern
nach andren zufälligeren Umständen gemacht, ist z. B. in einem
Staat ein festes politisches System, sind unabänderliche Finanz-
einrichtungen; so geräth das zweite der genannten Stücke in
ein sehr grosses Gedränge, und sehr oft leidet sogar hierdurch
das erste. Den Grund sehr vieler Staatsgebrechen würde man
gewiss in diesen und ähnlichen Kollisionen finden.
So, hoffe ich, wird die Absicht hinlänglich bestimmt sein,
welche ich mir bei der versuchten Aufstellung der obigen Prin-
cipien der Gesetzgebung vorsetzte. Allein, auch unter diesen
Einschränkungen, bin ich sehr weit entfernt, mir irgend mit
dem Gelingen dieser Absicht zu schmeicheln. Vielleicht leidet
die Richtigkeit der aufgestellten Grundsätze im Ganzen weni-
ger Einwürfe, aber an der nothwendigen Vollständigkeit, an
der genauen Bestimmung mangelt es ihnen gewiss. Auch um
die höchsten Principien festzusetzen, und gerade vorzüglich
zu diesem Zweck, ist es nothwendig in das genaueste Detail
einzugehen. Dies aber war mir hier, meiner Absicht nach,
nicht erlaubt, und wenn ich gleich nach allen meinen Kräften
strebte, es in mir, gleichsam als Vorarbeit zu dem Wenigen zu
thun, das ich hinschrieb; so gelingt doch ein solches Bemühen
niemals in gleichem Grade. Ich bescheide mich daher gern,
mehr die Fächer, die noch ausgefüllt werden müssten, gezeigt,
als das Ganze selbst hinlänglich entwickelt zu haben. Indess
wird doch, hoffe ich, das Gesagte immer hinreichend sein, meine
eigentliche Absicht bei diesem ganzen Aufsatz noch deutlicher
gemacht zu haben, die Absicht nämlich, dass der wichtigste
Gesichtspunkt des Staats immer die Entwickelung der Kräfte
der einzelnen Bürger in ihrer Individualität sein muss, dass er
daher nie etwas andres zu einem Gegenstand seiner Wirksam-
keit machen darf, als das, was sie allein nicht selbst sich zu
verschaffen vermögen, die Beförderung der Sicherheit, und dass
dies das einzige wahre und untrügliche Mittel ist, scheinbar
widersprechende Dinge, den Zweck des Staats im Ganzen, und
die Summe aller Zwecke der einzelnen Bürger durch ein festes
und dauerndes Band freundlich mit einander zu verknüpfen.
XV.
Verhältniss der, zur Erhaltung des Staatsgebäudes überhaupt
nothwendigen Mittel zur vorgetragenen Theorie. Schluss der
theorethischen Entwicklung.
Finanzeinrichtungen. — Innere politische Verfassung. — Betrachtung der vor-
getragenen Theorie aus dem Gesichtspunkt des Rechts. — Hauptgesichtspunkt
bei dieser ganzen Theorie. — Inwiefern Geschichte und Statistik derselben zu
Hülfe kommen könnten? — Trennung des Verhältnisses der Bürger zum Staat,
und der Verhältnisse derselben unter einander. Nothwendigkeit dieser Trennung.
Da ich jetzt vollendet habe, was mir, bei der Uebersicht
meines ganzen Plans im Vorigen (S. S. 100 — 105) nur allein
noch übrig zu bleiben schien; so habe ich nunmehr die vorlie-
gende Frage in aller der Vollständigkeit und Genauigkeit be-
antwortet, welche mir meine Kräfte erlaubten. Ich könnte
daher hier schliessen, wenn ich nicht noch eines Gegenstandes
erwähnen müsste, welcher auf das bisher Vorgetragene einen
sehr wichtigen Einfluss haben kann, nämlich der Mittel, welche
nicht nur die Wirksamkeit des Staats selbst möglich machen,
sondern ihm sogar seine Existenz sichern müssen.
Auch um den eingeschränktesten Zweck zu erfüllen, muss
der Staat hinlängliche Einkünfte haben. Schon meine Unwis-
senheit in allem, was Finanzen heisst, verbietet mir hier ein
langes Raisonnement. Auch ist dasselbe, dem von mir gewähl-
ten Plan nach, nicht nothwendig. Denn ich habe gleich anfangs
bemerkt, dass ich hier nicht von dem Falle rede, wo der Zweck
des Staats nach der Quantität der Mittel der Wirksamkeit,
welche derselbe in Händen hat, sondern wo diese nach jenem
bestimmt wird. (S. S. 16—18.) Nur des Zusammenhangs willen
muss ich bemerken, dass auch bei Finanzeinrichtungen jene
Rücksicht des Zwecks der Menschen im Staate, und der daher
entspringenden Beschränkung seines Zwecks nicht aus den
Augen gelassen werden darf. Auch der flüchtigste Blick auf
die Verwebung so vieler Polizei- und Finanzeinrichtungen lehrt
dies hinlänglich. Meines Erachtens giebt es für den Staat nur
dreierlei Arten der Einkünfte: 1. die Einkünfte aus vorbehal-
tenem, oder an sich gebrachtem Eigenthum; 2. aus direkten,
und 3. aus indirekten Abgaben. Alles Eigenthum des Staats
führt Nachtheile mit sich. Schon oben (S. S. 39 — 40.) habe
ich von dem Uebergewichte geredet, welches der Staat, als
Staat, allemal hat; und ist er Eigenthümer, so muss er in viele
Privatverhältnisse nothwendig eingehen. Da also, wo das Be-
dürfniss, um welches allein man eine Staatseinrichtung wünscht,
gar keinen Einfluss hat, wirkt die Macht mit, welche nur in
Hinsicht dieses Bedürfnisses eingeräumt wurde. Gleichfalls
mit Nachtheilen verknüpft sind die indirekten Abgaben. Die
Erfahrung lehrt, wie vielfache Einrichtungen ihre Anordnung
und ihre Hebung voraussetzt, welche das vorige Raisonnement
unstreitig nicht billigen kann. Es bleiben also nur die direkten
übrig. Unter den möglichen Systemen direkter Abgaben ist
das physiokratische unstreitig das einfachste. Allein — ein
Einwurf, der auch schon öfter gemacht worden ist — eines der
natürlichsten Produkte ist in demselben aufzuzählen vergessen
worden, die Kraft des Menschen, welche, da sie in ihren Wir-
kungen, ihren Arbeiten, bei unsren Einrichtungen mit zur
Waare wird, gleichfalls der Abgabe unterworfen sein muss.
Wenn man das System direkter Abgaben, auf welches ich hier
zurückkomme, nicht mit Unrecht das schlechteste, und un-
schicklichste aller Finanzsysteme nennt; so muss man indess
auch nicht vergessen, dass der Staat, welchem so enge Gränzen
der Wirksamkeit gesetzt sind, keiner grossen Einkünfte bedarf,
und dass der Staat, der so gar kein eignes, von dem der Bür-
ger getheiltes Interesse hat, der Hülfe einer freien d. i. nach
der Erfahrung aller Zeitalter, wohlhabenden Nation gewisser
versichert sein kann.
So wie die Einrichtung der Finanzen der Befolgung der im
Vorigen aufgestellten Grundsätze Hindernisse in den Weg
legen kann; ebenso, und vielleicht noch mehr, ist dies der Fall
bei der inneren politischen Verfassung. Es muss nämlich ein
Mittel vorhanden sein, welches den beherrschenden und den be-
herrschten Theil der Nation mit einander verbindet, welches
dem ersteren den Besitz der ihm anvertrauten Macht und dem
letzteren den Genuss der ihm übriggelassenen Freiheit sichert.
Diesen Zweck hat man in verschiedenen Staaten auf verschie-
dene Weise zu erreichen versucht; bald durch Verstärkung der
gleichsam physischen Gewalt der Regierung — welches indess
freilich für die Freiheit gefährlich ist — bald durch die Gegen-
einanderstellung mehrerer einander entgegengesetzter Mächte,
bald durch Verbreitung eines, der Konstitution günstigen, Geistes
unter der Nation. Dies letztere Mittel, wie schöne Gestalten es
auch, vorzüglich im Alterthum, hervorgebracht hat, wird der Aus-
bildung der Bürger in ihrer Individualitätleicht nachtheilig, bringt
nicht selten Einseitigkeit hervor, und ist daher am wenigsten
in dem hier aufgestellten Systeme rathsam. Vielmehr müsste,
diesem zufolge, eine politische Verfassung gewählt werden,
welche so wenig, als möglich, einen positiven speciellen Einfluss
auf den Charakter der Bürger hätte, und nichts andres, als die
höchste Achtung des fremden Rechts, verbunden mit der enthu-
siastischsten Liebe der eigenen Freiheit, in ihnen hervorbrächte.
Welche der denkbaren Verfassungen dies nun sein möchte?
versuche ich hier nicht zu prüfen. Diese Prüfung gehört offen-
bar allein in eine Theorie der eigentlichen Politik. Ich begnüge
mich nur an folgenden kurzen Bemerkungen, welche wenigstens
die Möglichkeit einer solchen Verfassung deutlicher zeigen.
Das System, das ich vorgetragen habe, verstärkt und verviel-
facht das Privatinteresse der Bürger, und es scheint daher, dass
eben dadurch das öffentliche geschwächt werde. Allein es ver-
bindet auch dieses so genau mit jenem, dass dasselbe vielmehr
nur auf jenes, und zwar, wie es jeder Bürger — da doch jeder
sicher und frei sein will — anerkennt, gegründet ist. So dürfte also
doch, gerade bei diesem System, die Liebe der Konstitution am
besten erhalten werden, die man sonst oft durch sehr künstliche
Mittel vergebens hervorzubringen strebt. Dann trifft auch hier ein,
dass der Staat, der weniger wirken soll, auch eine geringere
Macht, und die geringere Macht eine geringere Wehr braucht.
Endlich versteht sich noch von selbst, dass, so wie überhaupt
manchmal Kraft oder Genuss den Resultaten aufgeopfert wer-
den müssen, um beide vor einem grösseren Verlust zu bewah-
ren, eben dies auch hier immer angewendet werden müsste.
So hätte ich denn jetzt die vorgelegte Frage, nach dem
Maasse meiner gegenwärtigen Kräfte, vollständig beantwortet,
die Wirksamkeit des Staats von allen Seiten her mit den Grän-
zen umschlossen, welche mir zugleich erspriesslich und noth-
wendig schienen. Ich habe indess dabei nur den Gesichtspunkt
des Besten gewählt; der des Rechts könnte noch neben dem-
selben nicht uninteressant scheinen. Allein wo eine Staatsge-
sellschaft wirklich einen gewissen Zweck, sichere Gränzen der
Wirksamkeit freiwillig bestimmt hat; da sind natürlich dieser
Zweck und diese Gränzen — sobald sie nur von der Art sind,
dass ihre Bestimmung in der Macht der Bestimmenden lag —
rechtmässig. Wo eine solche ausdrückliche Bestimmung nicht
geschehen ist, da muss der Staat natürlich seine Wirksamkeit
auf diejenigen Gränzen zurückzubringen suchen, welche die
reine Theorie vorschreibt, aber sich auch von den Hindernissen
leiten lassen, deren Uebersehung nur einen grösseren Nachtheil
zur Folge haben würde. Die Nation kann also mit Recht die
Befolgung jener Theorie immer so weit, aber nie weiter erfor-
dern, als diese Hindernisse dieselbe nicht unmöglich machen.
Diese Hindernisse nun habe ich im Vorigen nicht erwähnt; ich
habe mich bis hieher begnügt, die reine Theorie zu entwickeln.
Ueberhaupt habe ich versucht, die vortheilhafteste Lage für
den Menschen im Staat aufzusuchen. Diese schien mir nun
darin zu bestehen, dass die mannigfaltigste Individualität, die
originellste Selbstständigkeit mit der gleichfalls mannigfaltig-
sten und innigsten Vereinigung mehrerer Menschen neben ein-
ander aufgestellt würde — ein Problem, welches nur die höchste
Freiheit zu lösen vermag. Die Möglichkeit einer Staatsein-
richtung, welche diesem Endzweck so wenig, als möglich,
Schranken setzte, darzuthun, war eigentlich die Absicht dieser
Bogen, und ist schon seit längerer Zeit der Gegenstand alles
meines Nachdenkens gewesen. Ich bin zufrieden, wenn ich
bewiesen habe, dass dieser Grundsatz wenigstens bei allen
Staatseinrichtungen dem Gesetzgeber, als Ideal, vorschreiben
sollte.
Eine grosse Erläuterung könnten diese Ideen durch die Ge-
schichte und Statistik — beide auf diesen Endzweck gerichtet
— erhalten. Ueberhaupt hat mir oft die Statistik einer Reform
zu bedürfen geschienen. Statt blosse Data der Grösse, der
Zahl der Einwohner, des Reichthums, der Industrie eines
Staats, aus welchen sein eigentlicher Zustand nie ganz und mit
Sicherheit zu beurtheilen ist, an die Hand zu geben; sollte sie,
von der natürlichen Beschaffenheit des Landes und seiner Be-
wohner ausgehend, das Maas und die Art ihrer thätigen, leiden-
den, und geniessenden Kräfte, und nun schrittweise die Modi-
fikationen zu schildern suchen, welche diese Kräfte theils durch
die Verbindung der Nation unter sich, theils durch die Ein-
richtung des Staats erhalten. Denn die Staatsverfassung und
der Nationalverein sollten, wie eng sie auch in einander verwebt
sein mögen, nie mit einander verwechselt werden. Wenn die
Staatsverfassung den Bürgern, seis durch Uebermacht und
Gewalt, oder Gewohnheit und Gesetz, ein bestimmtes Verhält-
niss anweist; so giebt es ausserdem noch ein andres, freiwillig
von ihnen gewähltes, unendlich mannigfaltiges, und oft wech-
selndes. Und dies letztere, das freie Wirken der Nation unter
einander, ist es eigentlich, welches alle Güter bewahrt, deren
Sehnsucht die Menschen in eine Gesellschaft führt. Die eigent-
liche Staatsverfassung ist diesem, als ihrem Zwecke, unterge-
ordnet, und wird immer nur, als ein nothwendiges Mittel, und,
da sie allemal mit Einschränkungen der Freiheit verbunden ist,
als ein nothwendiges Uebel gewählt. Die nachtheiligen Folgen
zu zeigen, welche die Verwechslung der freien Wirksamkeit
der Nation mit der erzwungenen der Staatsverfassung dem Ge-
nuss, den Kräften, und dem Charakter der Menschen bringt,
ist daher auch eine Nebenabsicht dieser Blätter gewesen.
XVI.
Anwendung der vorgetragenen Theorie auf die Wirklichkeit.
Verhältniss theoretischer Wahrheiten überhaupt zur Ausführung. — Dabei noth-
wendige Vorsicht. — Bei jeder Reform muss der neue Zustand mit dem vorher-
gehenden verknüpft werden. — Dies gelingt am besten, wenn man die Reform
bei den Ideen der Menschen anfängt. — Daraus herfliessende Grundsätze aller
Reformen. — Anwendung derselben auf die gegenwärtige Untersuchung. —
Vorzüglichste Eigenthümlichkeiten des aufgestellten Systems. Zu besorgende
Gefahren bei der Ausführung desselben. — Hieraus entspringende nothwendige
successive Schritte bei derselben. — Höchster dabei zu befolgender Grundsatz. —
Verbindung dieses Grundsatzes mit den Hauptgrundsätzen der vorgetragenen
Theorie. — Aus dieser Verbindung fliessendes Princip der Nothwendigkeit. —
Vorzüge dessselben. — Schluss.
Jede Entwicklung von Wahrheiten, welche sich auf den
Menschen, und insbesondre auf den handlenden Menschen
beziehen, führt auf den Wunsch, dasjenige, was die Theorie als
richtig bewährt, auch in der Wirklichkeit ausgeführt zu sehen.
Dieser Wunsch ist der Natur des Menschen, dem so selten der
still wohlthätige Seegen blosser Ideen genügt, angemessen
und seine Lebhaftigkeit wächst mit der wohlwollenden Theil-
nahme an dem Glück der Gesellschaft. Allein wie natürlich
derselbe auch an sich, und wie edel in seinen Quellen er sein
mag, so hat er doch nicht selten schädliche Folgen hervorge-
bracht, und oft sogar schädlichere, als die kältere Gleichgül-
tigkeit oder — da auch gerade aus dem Gegentheil dieselbe
Wirkung entstehen kann — die glühende Wärme, welche,
minder bekümmert um die Wirklichkeit, sich nur an der reinen
Schönheit der Ideen ergötzt. Denn das Wahre, sobald es —
wäre es auch nur in Einem Menschen — tief eindringende Wur-
zeln fasst, verbreitet immer, nur langsamer und geräuschloser,
heilsame Folgen auf das wirkliche Leben; da hingegen das,
was unmittelbar auf dasselbe übergetragen wird, nicht selten,
bei der Uebertragung selbst, seine Gestalt verändert, und nicht
einmal auf die Ideen zurückwirkt. Daher giebt es auch Ideen,
12
welche der Weise nie nur auszuführen versuchen würde. Ja
für die schönste, gereifteste Frucht des Geistes ist die Wirk-
lichkeit nie, in keinem Zeitalter, reif genug; das Ideal muss
der Seele des Bildners jeder Art nur immer, als unerreichbares
Muster vorschweben. Diese Gründe empfehlen demnach auch
bei der am mindesten bezweifelten, konsequentesten Theorie
mehr als gewöhnliche Vorsicht in der Anwendung derselben;
und um so mehr bewegen sie mich noch, ehe ich diese ganze
Arbeit beschliesse, so vollständig, aber zugleich so kurz, als
mir meine Kräfte erlauben, zu prüfen, inwiefern die im Vorigen
theoretisch entwickelten Grundsätze in die Wirklichkeit über-
getragen werden könnten. Diese Prüfung wird zugleich dazu
dienen, mich vor der Beschuldigung zu bewahren, als wollte
ich durch das Vorige unmittelbar der Wirklichkeit Regeln vor-
schreiben, oder auch nur dasjenige missbilligen, was demselben
etwa in ihr widerspricht — eine Anmassung, von der ich so-
gar dann entfernt sein würde, wenn ich auch alles, was ich vor-
getragen habe, als völlig richtig und gänzlich zweifellos aner-
kennte.
Bei jeglicher Umformung der Gegenwart muss auf den bis-
herigen Zustand ein neuer folgen. Nun aber bringt jede Lage,
in welcher sich die Menschen befinden, jeder Gegenstand, der
sie umgiebt, eine bestimmte, feste Form in ihrem Innern her-
vor. Diese Form vermag nicht in jede selbstgewählte überzu-
gehen, und man verfehlt zugleich seines Endzwecks und tödtet
die Kraft, wenn man ihr eine unpassende aufdringt. Wenn
man die wichtigsten Revolutionen der Geschichte übersieht, so
entdeckt man, ohne Mühe, dass die meisten derselben aus den
periodischen Revolutionen des menschlichen Geistes entstan-
den sind. Noch mehr wird man in dieser Ansicht bestätigt,
wenn man die Kräfte überschlägt, welche eigentlich alle Ver-
änderungen auf dem Erdkreis bewirken, und unter diesen die
menschlichen — da die der physischen Natur wegen ihres
gleichmässigen, ewig einförmig wiederkehrenden Ganges in
dieser Rücksicht weniger wichtig, und die der vernunftlosen
Geschöpfe in eben derselben an sich unbedeutend sind — in
dem Besitze des Hauptantheils erblickt. Die menschliche
Kraft vermag sich in Einer Periode nur auf Eine Weise zu
äussern, aber diese Weise unendlich mannigfaltig zu modifi-
ciren; sie zeigt daher in jedem Moment eine Einseitigkeit, die
aber in einer Folge von Perioden das Bild einer wunderbaren
Vielseitigkeit gewährt. Jeder vorhergehende Zustand derselben
ist entweder die volle Ursach des folgenden, oder doch wenig-
stens die beschränkende, dass die äussern, andringenden Um-
stände nur gerade diesen hervorbringen können. Eben dieser
vorhergehende Zustand und die Modifikation, welche er er-
hält, bestimmt daher auch, wie die neue Lage der Umstände
auf den Menschen wirken soll, und die Macht dieser Bestim-
mung ist so gross, dass diese Umstände selbst oft eine ganz
andre Gestalt dadurch erhalten. Daher rührt es, dass alles,
was auf der Erde geschieht, gut und heilsam genannt werden
kann, weil die innere Kraft des Menschen es ist, welche sich
alles, wie seine Natur auch sein möge, bemeistert, und diese
innere Kraft in keiner ihrer Aeusserungen, da doch jede ihr
von irgend einer Seite mehr Stärke oder mehr Bildung ver-
schafft, je anders als — nur in verschiedenen Graden — wohl-
thätig wirken kann. Daher ferner, dass sich vielleicht die ganze
Geschichte des menschlichen Geschlechts bloss als eine natür-
liche Folge der Revolutionen der menschlichen Kraft darstellen
liesse; welches nicht nur überhaupt vielleicht die lehrreichste
Bearbeitung der Geschichte sein dürfte, sondern auch jeden,
auf Menschen zu wirken Bemühten belehren würde, welchen
Weg er die menschliche Kraft mit Fortgang zn führen ver-
suchen, und welchen er niemals derselben zumuthen müsste?
Wie daher diese innere Kraft des Menschen durch ihre Ach-
tung erregende Würde die vorzüglichste Rücksicht verdient;
12*
eben so nöthigt sie auch diese Rücksicht durch die Gewalt ab,
mit welcher sie sich alle übrigen Dinge unterwirft.
Wer demnach die schwere Arbeit versuchen will, einen
neuen Zustand der Dinge in den bisherigen kunstsoll zu ver-
weben, der wird vor allem sie nie aus den Augen verlieren
dürfen. Zuerst muss er daher die volle Wirkung der Gegen-
wart auf die Gemüther abwarten; wollte er hier zerschneiden,
so könnte er zwar vielleicht die äussere Gestalt der Dinge,
aber nie die innere Stimmung der Menschen umschaffen, und
diese würde wiederum sich in alles Neue übertragen, was man
gewaltsam ihr aufgedrungen hätte. Auch glaube man nicht,
dass je voller man die Gegenwart wirken lässt, desto abge-
neigter der Mensch gegen einen andern folgenden Zustand
werde. Gerade in der Geschichte des Menschen sind die Ex-
treme am nächsten mit einander verknüpft; und jeder äussre
Zustand, wenn man ihn ungestört fortwirken lässt, arbeitet,
statt sich zu befestigen, an seinem Untergange. Dies zeigt
nicht nur die Erfahrung aller Zeitalter, sondern es ist auch
der Natur des Menschen gemäss, sowohl des thätigen, welcher
nie länger bei einem Gegenstand verweilt, als seine Energie
Stoff darin findet, und also gerade dann am leichtesten über-
geht, wenn er sich am ungestörtesten damit beschäftigt hat,
als auch des leidenden, in welchem zwar die Dauer des Drucks
die Kraft abstumpft, aber auch den Druck um so härter fühlen
lässt. Ohne nun aber die gegenwärtige Gestalt der Dinge
anzutasten, ist es möglich, auf den Geist und den Charakter
der Menschen zu wirken, möglich diesem eine Richtung zu
geben, welche jener Gestalt nicht mehr angemessen ist; und
gerade das ist es, was der Weise zu thun versuchen wird. Nur
auf diesem Wege ist es möglich, den neuen Plan gerade so in
der Wirklichkeit auszuführen, als man ihn sich in der Idee
dachte; auf jedem andren wird er, den Schaden noch abge-
rechnet, den man allemal anrichtet, wenn man den natürlichen
Gang der menschlichen Entwicklung stört, durch das, was noch
von dem vorhergehenden in der Wirklichkeit, oder in den
Köpfen der Menschen übrig ist, modificirt, verändert, entstellt.
Ist aber dies Hinderniss aus dem Wege geräumt, kann der nun
beschlossene Zustand der Dinge, des vorhergehenden und der,
durch denselben bewirkten Lage der Gegenwart ungeachtet,
seine volle Wirkung äussern; so darf auch nichts mehr der
Ausführung der Reform im Wege stehen. Die allgemeinsten
Grundsätze der Theorie aller Reformen dürften daher vielleicht
folgende sein:
1. Man trage Grundsätze der reinen Theorie allemal
alsdann, aber nie eher in die Wirklichkeit über, als bis
diese in ihrem ganzen Umfange dieselben nicht mehr hin-
dert, diejenigen Folgen zu äussern, welche sie, ohne alle
fremde Beimischung, immer hervorbringen würden.
2. Um den Uebergang von dem gegenwärtigen Zustande
zum neu beschlossenen zu bewirken, lasse man, soviel
möglich, jede Reform von den Ideen und den Köpfen der
Menschen ausgehen.
Bei den, im Vorigen aufgestellten, blos theoretischen Grund-
sätzen war ich zwar überall von der Natur des Menschen aus-
gegangen, auch hatte ich in demselben kein ausserordentliches,
sondern nur das gewöhnliche Maas der Kräfte vorausgesetzt;
allein immer hatte ich ihn mir doch bloss in der ihm nothwen-
dig eigenthümlichen Gestalt, und noch durch kein bestimmtes
Verhältniss auf diese oder jene Weise gebildet, gedacht. Nir-
gends aber existirt der Mensch so, überall haben ihm schon die
Umstände, in welchen er lebt, eine positive, nur mehr oder
minder abweichende Form gegeben. Wo also ein Staat die
Gränzen seiner Wirksamkeit, nach den Grundsätzen einer
richtigen Theorie, auszudehnen oder einzuschränken bemüht
ist, da muss er auf diese Form eine vorzügliche Rücksicht neh-
men. Das Missverhältniss zwischen der Theorie und der Wirk-
lichkeit in diesem Punkte der Staatsverwaltung wird nun zwar,
wie sich leicht voraussehen lässt, überall in einem Mangel an
Freiheit bestehen, und so kann es scheinen, als wäre die
Befreiung von Fesseln in jeglichem Zeitpunkt möglich, und in
jeglichem wohlthätig. Allein wie wahr auch diese Behauptung
an sich ist, so darf man nicht vergessen, dass, was als Fessel
von der einen Seite die Kraft hemmt, auch von der andern
Stoff wird, ihre Thätigkeit zu beschäftigen. Schon in dem
Anfange dieses Aufsatzes habe ich bemerkt, dass der Mensch
mehr zur Herrschaft, als zur Freiheit geneigt ist, und ein
Gebäude der Herrschaft freut nicht blos den Herrscher, der es
aufführt und erhält, sondern selbst die dienenden Theile erhebt
der Gedanke, Glieder Eines Ganzen zu sein, welches sich über
die Kräfte und die Dauer einzelner Generationen hinauser-
streckt. Wo daher diese Ansicht noch herrschend ist, da muss
die Energie hinschwinden, und Schlaffheit und Unthätig-
keit entstehen, wenn man den Menschen zwingen will, nur in
sich und für sich, nur in dem Raume, den seine einzelnen Kräfte
umspannen, nur für die Dauer, die er durchlebt, zu wirken.
Zwar wirkt er allein auf diese Weise auf den unbeschränktesten
Raum, für die unvergänglichste Dauer; allein er wirkt auch
nicht so unmittelbar, er streut mehr sich selbst entwickeln-
den Saamen aus, als er Gebäude aufrichtet, welche geradezu
Spuren seiner Hand aufweisen, und es ist ein höherer Grad
von Kultur nothwendig, sich mehr an der Thätigkeit zu er-
freuen, welche nur Kräfte schafft, und ihnen selbst die Erzeu-
gung der Resultate überlässt, als an derjenigen, welche unmit-
telbar diese selbst aufstellt. Dieser Grad der Kultur ist die
wahre Reife der Freiheit. Allein diese Reife findet sich nir-
gends in ihrer Vollendung, und wird in dieser — meiner Ueber-
zeugung nach — auch dem sinnlichen, so gern aus sich heraus-
gehenden Menschen ewig fremd bleiben.
Was würde also der Staatsmann zu thun haben, der eine
solche Umänderung unternehmen wollte? Einmal in jedem
Schritt, den er neu, nicht in Gefolge der einmaligen Lage der
Dinge thäte, der reinen Theorie streng folgen, es müsste denn
ein Umstand in der Gegenwart liegen, welcher, wenn man sie
ihr aufpfropfen wollte, sie verändern, ihre Folgen ganz oder zum
Theil vernichten würde. Zweitens alle Freiheitsbeschränkungen,
die einmal in der Gegenwart gegründet wären, so lange ruhig
bestehen lassen, bis die Menschen durch untrügliche Kenn-
zeichen zu erkennen geben, dass sie dieselben als einengende
Fesseln ansehen, dass sie ihren Druck fühlen, und also in diesem
Stücke zur Freiheit reif sind; dann aber dieselben ungesäumt
entfernen. Endlich die Reife zur Freiheit durch jegliches Mit-
tel befördern. Dies Letztere ist unstreitig das Wichtigste, und
zugleich in diesem System das Einfachste. Denn durch nichts
wird diese Reife zur Freiheit in gleichem Grade befördert, als
durch Freiheit selbst. Diese Behauptung dürften zwar dieje-
nigen nicht anerkennen, welche sich so oft gerade dieses Man-
gels der Reife, als eines Vorwandes bedient haben, die Unter-
drückung fortdauern zu lassen. Allein sie folgt, dünkt mich,
unwidersprechlich aus der Natur des Menschen selbst. Mangel
an Reife zur Freiheit kann nur aus Mangel intellektueller und
moralischer Kräfte entspringen; diesem Mangel wird allein
durch Erhöhung derselben entgegengearbeitet; diese Erhöhung
aber fordert Uebung, und die Uebung Selbstthätigkeit er-
weckende Freiheit. Nur freilich heisst es nicht Freiheit geben,
wenn man Fesseln löst, welche der noch nicht als solche, fühlt,
welcher sie trägt. Von keinem Menschen der Welt aber, wie
verwahrlost er auch durch die Natur, wie herabgewürdigt durch
seine Lage sei, ist dies mit allen Fesseln der Fall, die ihn
drücken. Man löse also nach und nach gerade in eben der
Folge, wie das Gefühl der Freiheit erwacht, und mit jedem
neuen Schritt wird man den Fortschritt beschleunigen. Grosse
Schwierigkeiten können noch die Kennzeichen dieses Erwachens
erregen. Allein diese Schwierigkeiten liegen nicht sowohl in
der Theorie, als in der Ausführung, die freilich nie specielle
Regeln erlaubt, sondern, wie überall, so auch hier, allein das
Werk des Genies ist. In der Theorie würde ich mir diese frei-
lich sehr schwierig verwickelte Sache auf folgende Art deutlich
zu machen suchen.
Der Gesetzgeber müsste zwei Dinge unausbleiblich vor
Augen haben: 1. die reine Theorie, bis in das genauste Detail
ausgesponnen. 2. den Zustand der individuellen Wirklichkeit,
die er umzuschaffen bestimmt wäre. Die Theorie müsste er
nicht nur in allen ihren Theilen auf das genaueste und vollstän-
digste übersehen, sondern er müsste auch die nothwendigen
Folgen jedes einzelnen Grundsatzes in ihrem ganzen Umfange,
in ihrer mannigfaltigen Verwebung, und in ihrer gegenseitigen
Abhängigkeit einer von der andern, wenn nicht alle Grundsätze
auf einmal realisirt werden könnten, vor Augen haben. Eben so
müsste er — und dies Geschäft wäre freilich unendlich schwie-
riger — sich von dem Zustande der Wirklichkeit unterrichten,
von allen Banden, welche der Staat den Bürgern, und welche
sie sich selbst, gegen die reinen Grundsätze der Theorie, unter
dem Schutze des Staats, auflegen, und von allen Folgen der-
selben. Beide Gemälde müsste er nun mit einander vergleichen,
und der Zeitpunkt, einen Grundsatz der Theorie in die Wirk-
lichkeit überzutragen, wäre der, wenn in der Vergleichung sich
fände, dass, auch nach der Uebertragung, der Grundsatz unver-
ändert bleiben, und noch eben die Folgen hervorbringen würde,
welche das erste Gemälde darstellte; oder, wenn dies nicht ganz
der Fall wäre, sich doch voraussehen liesse, dass diesem Mangel
alsdann, wenn die Wirklichkeit der Theorie noch mehr genähert
wäre, abgeholfen werden würde. Denn dies letzte Ziel, diese
gänzliche Näherung müsste den Blick des Gesetzgebers unab-
lässig an sich ziehen.
Diese gleichsam bildliche Vorstellung kann sonderbar, und
vielleicht noch mehr, als das, scheinen, man kann sagen, dass
diese Gemälde nicht einmal treu erhalten, viel weniger noch
die Vergleichung genau angestellt werden könne. Alle diese
Einwürfe sind gegründet, allein sie verlieren vieles von ihrer
Stärke, wenn man bedenkt, dass die Theorie immer nur Frei-
heit verlangt, die Wirklichkeit, insofern sie von ihr abweicht,
immer nur Zwang zeigt, die Ursach, warum man nicht Frei-
heit gegen Zwang eintauscht, immer nur Unmöglichkeit sein,
und diese Unmöglichkeit hier, der Natur der Sache nach, nur
in Einem von folgenden beiden Stücken liegen kann, entweder
dass die Menschen, oder dass die Lage noch nicht für die Frei-
heit empfänglich ist, dass also dieselbe — welches aus beiden
Gründen entspringen kann — Resultate zerstört, ohne welche
nicht nur keine Freiheit, sondern auch nicht einmal Existenz
gedacht werden kann, oder dass sie — eine allein der ersteren
Ursach eigenthümliche Folge — die heilsamen Wirkungen
nicht hervorbringt, welche sie sonst immer begleiten. Beides
aber lässt sich doch nicht anders beurtheilen, als wenn man
beides, den gegenwärtigen und den veränderten Zustand, in
seinem ganzen Umfang, sich vorstellt, und seine Gestalt und
Folgen sorgfältig mit einander vergleicht. Die Schwierigkeit
sinkt auch noch mehr, wenn man erwägt, dass der Staat selbst
nicht eher umzuändern im Stande ist, bis sich ihm gleichsam
die Anzeigen dazu in den Bürgern selbst darbieten, Fesseln
nicht eher zu entfernen, bis ihre Last drückend wird, dass er
daher überhaupt gleichsam nur Zuschauer zu sein, und wenn
der Fall, eine Freiheitsbeschränkung aufzuheben, eintritt, nur
die Möglichkeit oder Unmöglichheit zu berechnen, und sich
daher nur durch die Nothwendigkeit bestimmen zu lassen
braucht. Zuletzt brauche ich wohl nicht erst zu bemerken,
dass hier nur von dem Falle die Rede war, wo dem Staate eine
Umänderung überhaupt nicht nur physisch, sondern auch mo-
ralisch möglich ist, wo also die Grundsätze des Rechts nicht
entgegenstehen. Nur darf bei dieser letzteren Bestimmung
nicht vergessen werden, dass das natürliche und allgemeine
Recht die einzige Grundlage alles übrigen positiven ist, und
dass daher auf dieses allemal zurückgegangen werden muss,
dass folglich, um einen Rechtssatz anzuführen, welcher gleich-
sam der Quell aller übrigen ist, niemand jemals und auf irgend
eine Weise ein Recht erlangen kann, mit den Kräften, oder dem
Vermögen eines andern, ohne oder gegen dessen Einwilligung
zu schalten.
Unter dieser Voraussetzung also wage ich es, den folgen-
den Grundsatz aufzustellen:
Der Staat muss, in Absicht der Gränzen seiner Wirksam-
keit, den wirklichen Zustand der Dinge der richtigen und
wahren Theorie insoweit nähern, als ihm die Möglichkeit
dies erlaubt, und ihn nicht Gründe wahrer Nothwendig-
keit daran hindern. Die Möglichkeit aber beruht darauf,
dass die Menschen empfänglich genug für die Freiheit
sind, welche die Theorie allemal lehrt, dass diese die heil-
samen Folgen äussern kann, welche sie an sich, ohne ent-
gegenstehende Hindernisse, immer begleiten; die entgegen-
arbeitende Nothwendigkeit darauf, dass die, auf einmal
gewährte Freiheit nicht Resultate zerstöre, ohne welche
nicht nur jeder fernere Fortschritt, sondern die Existenz
selbst in Gefahr geräth. Beides muss immer aus der sorg-
fältig angestellten Vergleichung der gegenwärtigen und
der veränderten Lage und ihrer beiderseitigen Folgen
beurtheilt werden.
Dieser Grundsatz ist ganz und gar aus der Anwendung
des oben, in Absicht aller Reformen, aufgestellten (S. 181.) auf
diesen speciellen Fall entstanden. Denn sowohl, wenn es noch
an Empfänglichkeit für die Freiheit fehlt, als wenn die noth-
wendigen erwähnten Resultate durch dieselbe leiden würden,
hindert die Wirklichkeit die Grundsätze der reinen Theorie,
diejenigen Folgen zu äussern, welche sie, ohne alle fremde Bei-
mischung, immer hervorbringen würden. Ich setze auch jetzt
nichts mehr zur weiteren Ausführung des aufgestellten Grund-
satzes hinzu. Zwar könnte ich mögliche Lagen der Wirklich-
keit klassificiren, und an ihnen die Anwendung desselben zei-
gen. Allein ich würde dadurch meinen eignen Principien zu-
widerhandlen. Ich habe nämlich gesagt, dass jede solche
Anwendung die Uebersicht des Ganzen und aller seiner Theile
im genauesten Zusammenhange erfordert, und ein solches Ganze
lässt sich durch blosse Hypothesen nicht aufstellen.
Verbinde ich mit dieser Regel für das praktische Benehmen
des Staats die Gesetze, welche die, im Vorigen entwickelte
Theorie ihm auflegte; so darf derselbe seine Thätigkeit immer
nur durch die Nothwendigkeit bestimmen lassen. Denn die
Theorie erlaubt ihm allein Sorgfalt für die Sicherheit, weil die
Erreichung dieses Zwecks allein dem einzelnen Menschen un-
möglich, und daher diese Sorgfalt allein nothwendig ist; und
die Regel des praktischen Benehmens bindet ihn streng an die
Theorie, insofern nicht die Gegenwart ihn nöthigt, davon abzu-
gehn. So ist es also das Princip der Nothwendigkeit,
zu welchem alle, in diesem ganzen Aufsatz vorgetragene Ideen,
wie zu ihrem letzten Ziele, hinstreben. In der reinen Theorie
bestimmt allein die Eigenthümlichkeit des natürlichen Menschen
die Gränzen dieser Nothwendigkeit; in der Ausführung kommt
die Individualität des wirklichen hinzu. Dieses Princip der
Nothwendigkeit müsste, wie es mir scheint, jedem praktischen,
auf den Menschen gerichteten Bemühen die höchste Regel
vorschreiben. Denn es ist das Einzige, welches auf sichre, zwei-
fellose Resultate führt. Das Nützliche, was ihm entgegenge-
setzt werden kann, erlaubt keine reine und gewisse Beurthei-
lung. Es erfordert Berechnungen der Wahrscheinlichkeit,
welche noch abgerechnet, dass sie, ihrer Natur nach, nicht feh-
lerfrei sein können, Gefahr laufen, durch die geringsten unvor-
hergesehenen Umstände vereitelt zu werden; da hingegen das
Nothwendige sich selbst dem Gefühl mit Macht aufdringt, und
was die Nothwendigkeit befiehlt immer nicht nur nützlich, son-
dern sogar unentbehrlich ist. Dann macht das Nützliche, da
die Grade des Nützlichen gleichsam unendlich sind, immer neue
und neue Veranstaltungen erforderlich, da hingegen die Be-
schränkung auf das, was die Nothwendigkeit erheischt, indem
sie der eigenen Kraft einen grösseren Spielraum lässt, selbst
das Bedürfniss dieser verringert. Endlich führt Sorgfalt für
das Nützliche meistentheils zu positiven, für das Nothwen-
dige meistentheils zu negativen Veranstaltungen, da — bei
der Stärke der selbstthätigen Kraft des Menschen — Noth-
wendigkeit nicht leicht anders, als zur Befreiung von irgend
einer einengenden Fessel eintritt. Aus allen diesen Gründen
— welchen eine ausführlichere Analyse noch manchen andern
beigesellen könnte — ist kein andres Princip mit der Ehrfurcht
für die Individualität selbstthätiger Wesen, und der, aus dieser
Ehrfurcht entspringenden Sorgfalt für die Freiheit so verein-
bar, als eben dieses. Endlich ist es das einzige untrügliche
Mittel den Gesetzen Macht und Ansehen zu verschaffen, sie
allein aus diesem Princip entstehen zu lassen. Man hat viel-
erlei Wege vorgeschlagen, zu diesem Endzweck zu gelangen;
man hat vorzüglich, als das sicherste Mittel, die Bürger von
der Güte und der Nützlichkeit der Gesetze überzeugen wollen.
Allein auch diese Güte und Nützlichkeit in einem bestimmten
Falle zugegeben; so überzeugt man sich von der Nützlichkeit
einer Einrichtung nur immer mit Mühe; verschiedene Ansich-
ten bringen verschiedene Meinungen hierüber hervor; und die
Neigung selbst arbeitet der Ueberzeugung entgegen, da jeder,
wie gern er auch das selbsterkannte Nützliche ergreift, sich
doch immer gegen das ihm aufgedrungene sträubt. Unter
das Joch der Nothwendigkeit hingegen beugt jeder willig den
Nacken. Wo nun schon einmal eine verwickelte Lage vorhan-
den ist, da ist die Einsicht selbst des Nothwendigen schwie-
rieger; aber gerade mit der Befolgung dieses Princips wird
die Lage immer einfacher und diese Einsicht immer leichter.
Ich bin jetzt das Feld durchlaufen, das ich mir, bei dem
Anfange dieses Aufsatzes, absteckte. Ich habe mich dabei
von der tiefsten Achtung für die innere Würde des Menschen
und die Freiheit beseelt gefühlt, welche allein dieser Würde
angemessen ist. Möchten die Ideen, die ich vortrug, und der
Ausdruck, den ich ihnen lieh, dieser Empfindung nicht unwerth
sein!
Druck von Heinrich Richter.