Anton Reiſer .
Ein
pſychologiſcher Roman .
Herausgegeben
von
Karl Philipp Moritz .
Zweiter Theil .
Berlin , 1786 .
bei Friedrich Maurer .
U m fernern ſchiefen Urtheile , wie ſchon
einige uͤber dieß Buch gefaͤllt ſind , vorzu¬
beugen , ſehe ich mich genoͤthigt , zu er¬
klaͤren , daß dasjenige , was ich aus Urſa¬
chen , die ich fuͤr leicht zu errathen hielt , ei¬
nen pſychologiſchen Roman genannt
habe , im eigentlichſten Verſtande Biogra¬
phie , und zwar eine ſo wahre und getreue
Darſtellung eines Menſchenlebens , bis auf
ſeine kleinſten Nuancen , iſt , als es vielleicht
nur irgend eine geben kann . —
Wem nun an einer ſolchen getreuen
Darſtellung etwas gelegen iſt , der wird
ſich an das anfaͤnglich unbedeutende und
unwichtig ſcheinende nicht ſtoßen , ſondern
in Erwaͤgung ziehen , daß dieß kuͤnſtlich
verflochtne Gewebe eines Menſchenlebens
aus einer unendlichen Menge von Kleinig¬
keiten beſteht , die alle in dieſer Verflech¬
tung aͤußerſt wichtig reden , ſo unbedeu¬
tend ſie an ſich ſcheinen . —
Wer auf ſein vergangnes Leben auf¬
merkſam wird , der glaubt zuerſt oft nichts
als Zweckloſigkeit , abgerißne Faͤden , Ver¬
wirrung , Nacht und Dunkelheit zu
ſehen ; je mehr ſich aber ſein Blick darauf
heftet , deſto mehr verſchwindet die Dun¬
kelheit , die Zweckloſigkeit verliert ſich all¬
maͤlig , die abgerißnen Faͤden knuͤpfen ſich
wieder an , das Untereinandergeworfene und
Verwirrte ordnet ſich — und das mißtoͤ¬
nende loͤſet ſich unvermerkt in Harmonie
und Wohlklang auf . —
D er Umſtand , wodurch Anton Reiſers Schick¬
ſal unvermuthet eine gluͤcklichere Wendung nahm ,
war : daß er ſich auf der Straße mit ein Paar Jun¬
gen balgte , die mit ihm aus der Schule kamen ,
und ihn unterweges geneckt hatten , welches er nicht
laͤnger leiden wollte ; indem er ſich nun mit ih¬
nen bei den Haren herumzaußte , kam auf ein¬
mal der Paſtor M. . . daher gegangen — und wie
groß war nun Reiſers Beſchaͤmung und Verwir¬
rung , da ihn die beiden Jungen ſelbſt zuerſt auf¬
merkſam darauf machten , und ihm , mit einer Art
von Schadenfreude den Zorn vorſtellten , den nun
der Paſtor M. . . auf ihn werfen wuͤrde .
Was ? — ich will einſt ſelbſt ſolch ein ehrwuͤr¬
diger Mann werden , wie daher koͤmmt — wuͤn¬
ſche , daß mir das itzt ſchon ein jeder anſehen ſoll ,
damit ſich irgend einer findet , der ſich meiner an¬
nimmt , und mich aus dem Staube hervorzieht ,
und muß nun in der Stellung von dieſem Man¬
ne uͤberraſcht werden , bei dem ich konfirmirt wer¬
den ſoll , wo ich Gelegenheit haͤtte , mich in meinem
beſten Lichte zu zeigen . — Dieſer Mann , was
A
wird er nun von mir denken , wofuͤr wird er mich
halten ?
Dieſe Gedanken giengen Reiſern durch den
Kopf , und beſtuͤrmten ihn auf einmal ſo ſehr mit
Schaam , Verwirrung , und Verachtung ſeiner
ſelbſt , daß er glaubte in die Erde ſinken zu muͤſſen . —
Aber er ermannte ſich , das Selbſtzutrauen arbei¬
tete ſich unter der erſtickenden Schaam wieder her¬
vor , und floͤßte ihm zugleich Muth und Zutrauen
gegen den Paſtor M. . . ein --- er faßte ſchnell ein
Herz , gieng geradesweges auf den Paſtor M. . .
zu , und redete ihn auf oͤffentlicher Straße an , in¬
dem er zu ihm ſagte , er ſey einer von den Knaben ,
die bei ihm zur Kinderlehre giengen , und der Pa¬
ſtor M. . . moͤchte doch deswegen keinen Zorn auf
ihn werfen , daß er ſich eben itzt mit den beiden
Jungen dort geſchlagen haͤtte , dies waͤre ſonſt gar
ſeine Art nicht ; die Jungen haͤtten ihn nicht zu¬
frieden gelaſſen ; und es ſollte nie wieder geſche¬
hen . —
Dem Paſtor M. . . war es ſehr auffallend , ſich
auf der Straße von einem Knaben auf die Weiſe
angeredet zu ſehen , der ſich eben mit ein paar an¬
dern Buben herumgebalgt hatte — nach einer klei¬
nen Pauſe antwortete er : es ſey freilich ſehr un¬
recht und unſchicklich ſich zu balgen , indes haͤtte
das weiter nichts zu ſagen , wenn er es kuͤnftig
unterließe ; drauf erkundigte er ſich auch , nach ſeinem
Nahmen und Eltern , fragte ihn , wo er bis jetzt in
die Schule gegangen waͤre , u. ſ. w. und entließ
ihn ſehr guͤtig — wer war aber froher , als Rei¬
ſer , nnd und wie leicht war ihm ums Herz , da er ſich
nun wieder aus dieſer gefaͤhrlichen Situation her¬
ausgewickelt glaubte .
Und wie viel froher wuͤrde er noch geweſen
ſeyn , haͤtte er gewußt , daß dieſer ohngefaͤhre Zu¬
fall allen ſeinen aͤngſtlichen Beſorgniſſen ein En¬
de machen , und die erſte Grundlage ſeines kuͤnf¬
tigen Gluͤcks ſeyn wuͤrde . — Denn von dem
Augenblick an hatte der Paſtor M. . . den Gedan¬
ken gefaßt , ſich naͤher nach dieſem jungen Men¬
ſchen zu erkundigen , und ſich ſeiner thaͤtig anzu¬
nehmen , weil er nicht ohne Grund vermuthete ,
daß ſobald des jungen Reiſers Betragen gegen
ihn nicht Verſtellung war , es keine gemeine
Denkungsart bei einem Knaben von dem Alter
vorausſetzte — und daß es nicht Verſtellung war ,
dafuͤr ſchien ihm ſeine Miene zu buͤrgen .
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Den Sontag darauf fragte ihn der Paſtor
M... des Nachmittags in der Kinderlehre oͤfter
wie ſonſt ; und Reiſer hatte nun ſchon gewiſſer¬
maßen einen ſeiner Wuͤnſche erreicht , in der Kir¬
che , vor dem verſammelten Volke , wenigſtens auf
irgend eine Art oͤffentlich reden zu koͤnnen , indem
er die Katechismusfragen des Paſtors mit lauter
und vernehmlicher Stimme beantwortete , wobei
er ſich denn ſehr von den uͤbrigen unterſchied , in¬
dem er richtig accentuirte , da jene ihre Antwor¬
ten in dem gewoͤhnlichen ſingenden Tone der Schul¬
knaben herbeteten .
Nach geendigter Kinderlehre winkte ihn der
Paſtor M... beiſeite , und entbot ihn auf den an¬
dern Morgen zu ſich — welch eine freudige Unru¬
he bemaͤchtigte ſich nun auf einmal ſeiner Gedan¬
ken , da es ſchien , als ob ſich irgend ein Menſch
einmal naͤher um ihn bekuͤmmern wollte , — denn
damit ſchmeichelte er ſich nun freilich , daß der
Paſtor M... durch ſeine Antworten aufmerkſam
auf ihn geworden ſey ; und er nahm ſich nun auch
vor , Zutrauen zu dieſen Manne zu faſſen , und
ihm alle ſeine Wuͤnſche zu entdecken .
Als er nach einer faſt ſchlafloſen Nacht den
andern Morgen zu dem Paſtor M. . . kam , frag¬
te ihn dieſer zuerſt , was fuͤr einer Lebensart er ſich
zu widmen daͤchte , und bahnte ihm alſo den Weg ,
zu dem , was er ſchon ſelbſt vorzubringen im Sinn
hatte . --- Reiſer entdeckte ihm ſein Vorhaben .
Der Paſtor M. . . ſtellte ihm die Schwierigkeiten
vor , ſprach ihm aber doch auch zugleich wieder Muth
ein , und machte den Anfang zur thaͤtigen Ermun¬
terung damit , daß er verſprach , ihn durch ſeinen
einzigen Sohn , der die erſte Klaſſe des Lyceums
in H.. beſuchte , in der lateiniſchen Sprache un¬
terrichten zu laſſen , womit auch noch in derſelben
Woche der Anfang gemacht wurde .
Bei dem allen glaubte Reiſer in den Mienen
und dem Betragen des Paſtor M. . . zu leſen , daß
er noch irgend etwas Wichtiges zuruͤck behielte ,
welches er ihm zu ſeiner Zeit ſagen wuͤrde : in die¬
ſer Vermuthung wurde er noch mehr durch die
geheimnißvollen Ausdruͤcke des Garniſonkuͤſters
beſtaͤrkt , deſſen Lehrſtunden er noch beſuchte , und
der ihm immer einen Stuhl ſetzte , wenn er
kam , indes die andern auf Baͤnken ſaßen . ---
Dieſer pflegte denn wohl , wenn die Stunde aus
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war , zu ihm zu ſagen : ſeyn Sie ja recht auf Ih¬
rer Hur , und denken Sie , daß man genau auf
Sie acht giebt . — Es ſind große Dinge mit Ih¬
nen im Werke ! und dergleichen mehr , wodurch
nun Reiſer freilich anfieng , ſich eine wichtigere
Perſon , als bisher zu glauben , und ſeine kleine
Eitelkeit mehr wie zu viel Nahrung erhielt , die
ſich denn oft thoͤricht genug in ſeinem Gange und
und in ſeinen Mienen aͤußerte , indem er manch¬
mal in ſeinen Gedanken mit allem Ernſt und der
Wuͤrde eines Lehrers des Volks auf der Straße
einhertrat , wie er dieß denn ſchon in B. . . gethan
hatte , beſonders wenn er ſchwarze Weſte und
Beinkleider trug . Bei ſeinem Gange hatte er ſich
den Gang eines jungen Geiſtlichen , der damals
Lazarethprediger in H. . . und zugleich Konrektor
am Lyceum war , zum Muſter genommen , weil
dieſer in der Art ſein Kinn zu tragen , etwas hat¬
te , das Reiſern ganz beſonders gefiel .
Nie kann wohl jemand in irgend einem Ge¬
nuß , gluͤcklicher geweſen ſeyn , als es Reiſer da¬
mals in der Erwartung der großen Dinge war ,
die mit ihm vorgehen ſollten . — Dieß erhitzte ſei¬
ne Einbiidungskraft bis auf einen hohen Grad .
Und da nun der Zeitpunkt immer naͤher heran
ruͤckte , wo er zum Abendmahl ſollte gelaſſen wer¬
den , ſo erwachten auch alle die ſchwaͤrmeriſchen
Ideen wieder , die er ſich ſchon in B. . . von dieſer
Sache in den Kopf geſetzt hatte , wozu noch die
Lehrſtunden des Garniſonkuͤſters kamen , der den¬
jenigen , die er zum Abendmahl vorbereiten half ,
dabei Himmel und Hoͤlle auf eine ſo fuͤrchterliche
Art voſtellte , daß ſeinen Zuhoͤrern oft Schrecken
und Entſetzen ankam , welches aber doch mit einer
angenehmen Empfindung verknuͤpft war , wo¬
mit man das Schreckliche und Fuͤrchterliche
gemeiniglich anzuhoͤren pflegt , und er empfand
dann wieder das Vergnuͤgen , ſeine Zuhoͤrer , ſo er¬
ſchuͤttert zu haben , welches ihm wonnevolle Thraͤ¬
nen auspreßte , die den ganzen Auftritt , wenn er
ſo des Abends in der erleuchteten Schulſtube zwi¬
ſchen ihnen ſtand , noch feierlicher machte .
Auch der Paſtor M. . . hielt woͤchentlich einige
Stunden , worin er diejenigen , die zum Abend¬
mahl gehen ſollten , vorbereitete , aber das , was
er ſagte , kam lange nicht gegen die herzerſchuͤt¬
ternden Anreden ſeines Kuͤſters , ob es Reiſern
gleich zuſammenhaͤngender und beſſer geſagt zu
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ſeyn ſchien . --- Nichts war fuͤr Anton ſchmei¬
chelhafter , als da der Paſtor M. . . einmal den
Begrif , daß die Glaͤubigen Kinder Gottes ſind ,
durch das Beiſpiel erklaͤrte , wenn er mit irgend
einem aus der Zahl ſeiner jungen Zuhoͤrer genauer
umgienge , ihn beſonders zu ſich kommen ließe , und
ſich mit ihm unterredete , dieſer ihm denn auch naͤ¬
her als die uͤbrigen waͤre , und ſo waͤren die Kinder
Gottes ihm auch naͤher , als die uͤbrigen Menſchen .
Nun glaubte Reiſer unter der Zahl ſeiner Mitſchuͤler
der einzige geweſen zu ſeyn , auf den der Paſtor M. . .
aufmerkſamer , als auf alle uͤbrigen waͤre , --- al¬
lein ſo ſchmeichelhaft auch dieß fuͤr ſeine Eitelkeit
war , ſo erfuͤllte es ihn doch bald nachher wieder
mit einer unbeſchreiblichen Wehmuth , daß nun
alle die uͤbrigen an dieſem Gluͤck was ihm allein
geworden war , nicht Theil nehmen ſollten , und
von dem naͤhern Umgange mit dem Paſtor M. . .
gleichſam auf immer ausgeſchloſſen ſeyn ſollten . ---
Eine Wemuth , die er ſich ſchon in ſeinen fruͤheſten
Kinderjahren einmal empfunden zu haben erinnert ,
da ihm ſeine Baſe in einem Laden ein Spielzeung
gekauft hatte , daß er in Haͤnden trug , als er aus
dem Hauſe gieng ; und vor der Hausthuͤre ſaß ein
Maͤdchen in zerlumpten Kleidern ohngefaͤhr in ſei¬
nem Alter , das voll Verwunderung uͤber das ſchoͤ¬
ne Stuͤck Spielzeug ausrief : Ach , Herr Gott ,
wie ſchoͤn ! — Reiſer mochte etwa damals ſechs
bis ſieben Jahre alt ſeyn — der Ton , des geduldi¬
gen Entbehrens ohngeachtet der hoͤchſten Bewun¬
derung , womit das zerlumpte Maͤdchen die Worte
ſagte : Ach Herr Gott , wie ſchoͤn ! drang ihm
durch die Seele . --- Das arme Maͤdchen mußte
alle dieſe Schoͤnheiten ſo vor ſich vorbeitragen ſe¬
hen , und durfte nicht einmal einen Gedanken
daran haben , irgend ein Stuͤck davon zu beſitzen .
Es war von dem Genuß dieſer koͤſtlichen Dinge
gleichſam auf immer ausgeſchloſſen , und doch ſo
nahe dabei — wie gern waͤre er zuruͤckgegangen ,
und haͤtte dem zerlumpten Maͤdchen das koſtbare
Spielzeug geſchenkt , wenn es ſeine Baſe gelitten
haͤtte ! --- ſo oft er nachher daran dachte , empfand
er eine bittere Reue , daß er es dem Maͤdchen nicht
gleich auf der Stelle gegeben hatte . Eine ſolche
Art von mitleidsvoller Wehmuth war es auch , die
Reiſer empfand , da er ſich ausſchließungsweiſe
mit den Vorzuͤgen in der Gunſt des Paſtor M. . .
beehrt glaubte , wodurch ſeine Mitſchuͤler , ohne ,
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daß ſie es verdient hatten , ſo weit unter ihn her¬
abgeſetzt wurden .
Grade dieſe Empfindung iſt nachher wieder
in ſeiner Seele erwacht , ſo oft er in der erſten
von Virgils Eklogen an die Worte kam ; nec in¬
video u. ſ. w. Indem er ſich in die Stelle des
gluͤcklichen Hirten verſetzte , der ruhig im Schat¬
ten ſeines Baums ſitzen kann , indes der andere
ſein Haus und Feld mit dem Ruͤcken anſehen muß ,
war ihm bei dem nec invideo des letztern immer
gerade ſo zu Muthe , als da das zerlumpte Maͤd¬
chen ſagte : „ Ach Herr Gott , wie ſchoͤn iſt das ! “
Ich habe hier nothwendig in Reiſers Leben et¬
was nachhohlen und etwas vorweggreifen muͤſſen ,
wenn ich zuſammen ſtellen wollte , was nach meiner
Abſicht , zuſammen gehoͤrt . Ich werde dieß noch
oͤfter thun ; und wer meine Abſicht eingeſehen hat ,
bei dem darf ich wohl nicht erſt dieſer anſcheinen¬
den Abſpruͤnge wegen um Entſchuldigung bitten .
Man ſieht leicht , daß Anton Reiſers Eitel¬
keit , durch die Umſtaͤnde , welche ſich jetzt verei¬
nigten , um ihm ſeine eigne Perſon wichtig zu ma¬
chen , mehr als zu viel Nahrung erhielt . Es be¬
durfte wieder einer kleinen Demuͤthigung fuͤr ihn ,
und die blieb nicht aus . Er ſchmeichelte ſich nicht
ohne Grund , unter allen , die bei dem Paſtor M. . .
konfirmirt wurden , der erſte zu ſeyn . Er ſaß
auch oben an , und war gewiß , daß ihm keiner
dieſen Platz ſtreitig machen wuͤrde . Als auf ein¬
mal ein junger wohlgekleideter Menſch , in ſeinen
Alter , und von feiner Erziehung die Lehrſtunden
des Paſtor M. . . mit beſuchte , der ihn durch ſein
feines aͤußeres Betragen ſowohl , als durch die
vorzuͤgliche Achtung , womit ihn der Paſtor M. . .
begegnete , ganz in Dunkel ſetzte , und dem auch
ſogleich uͤber ihm der erſte Platz angewieſen ward .
Reiſers ſuͤßer Traum , der erſte unter ſeinen
Mitſchuͤlern zu ſeyn , war nun ploͤtzlich verſchwun¬
den . Er fuͤhlte ſich erniedrigt , herabgeſetzt , mit
den uͤbrigen allen in eine Klaſſe geworfen . ---
Er erkundigte ſich bei dem Bedienten des Paſtor
M. . . nach ſeinem fuͤrchterlichen Nebenbuhler , und
erfuhr , daß er eines Amtmanns Sohn , und bei
dem Paſtor M. . . in Penſion ſey , auch mit den
uͤbrigen zugleich konfirmirt werden wuͤrde . Der
ſchwaͤrzeſte Neid nahm auf eine Zeitlang in An¬
tons Seele Platz ; der blaue Rock mit dem ſammt¬
nen Kragen , den der Amtmannsſohn trug ; ſein
feines Betragen , ſeine huͤbſche Friſur , ſchlug ihn
nieder und machte ihn mißvergnuͤgt mit ſich ſelbſt ;
aber doch ſchaͤrfte ſich bald wieder das Gefuͤhl bei
ihm , daß dieß unrecht ſey , und er wurde nun
noch mißvergnuͤgter uͤber ſein Mißvergnuͤgen .
Ach , er haͤtte nicht noͤthig gehabt , den armen
Knaben zu beneiden , deſſen Gluͤcksſonne bald
ausgeſchienen hatte . Binnen vierzehn Tagen kam
die Nachricht , daß ſein Vater wegen Untreue ſei¬
nes Dienſtes entſetzt ſey . Fuͤr den jungen Men¬
ſchen konnte alſo auch die Penſion nicht laͤnger be¬
zahlt werden , der Paſtor M. . . ſchickte ihn ſeinen
Anverwandten wieder , und Reiſer behielt ſeinen
erſten Platz . Er konnte ſeine Freude wegen der
Folgen , die dieſer Vorfall fuͤr ihn hatte , nicht un¬
terdruͤcken , und doch machte er ſich ſelber Vor¬
wuͤrfe wegen ſeiner Freude — er ſuchte ſich zum
Mitleid zu zwingen , weil er es fuͤr recht hielt —
und die Freude zu unterdruͤcken , weil er ſie fuͤr
unrecht hielt ; ſie hatte aber demohngeachtet die
Oberhand , und er half ſich denn am Ende damit ,
daß er doch nicht wieder das Schickſal koͤnne , wel¬
ches nun den jungen Menſchen einmal habe un¬
gluͤcklich machen wollen . Hier iſt die Frage : wenn
das Schickſal des jungen Menſchen ſich ploͤtzlich
wiedergeaͤndert haͤtte , wuͤrde ihn Reiſer aus erſter
Bewegung freiwillig mit laͤchelnder theilnehmen¬
der Miene wieder haben uͤber ſich ſtehen laſſen , oder
haͤtte er ſich erſt mit einer Art von Anſtrengung in
dieſe Empfindung verſetzen muͤſſen , weil er ſie fuͤr
recht und edel gehalten haͤtte . --- Der Zuſammen¬
hang ſeiner Geſchichte mag in der Folge dieſe Frage
entſcheiden !
Alle Abend hatte nun Reiſer eine lateiniſche
Stunde bei dem Sohn des Paſtor M. . . , und
kam wirklich ſo weit , daß er binnen vier Wo¬
chen ziemlich den Kornelius Nepos exponiren lern¬
te . Welche Wonne war ihm das , wenn denn et¬
wa der Garniſonkuͤſter dazu kam , und fragte , was
die beiden Herren Studenten machten — und
als der Paſtor M. . . damals gerade ſeine aͤlteſte
Tochter an einen jungen Prediger verheirathete , der
eines Sonntags Nachmittags fuͤr ihn die Kinder¬
lehre hielt , und dieſer auf Reiſern , immer aufmerkſa¬
mer zu werden ſchien , je oͤfter er ihn antworten
hoͤrte : welch ein entzuͤckender Augenblick fuͤr Rei¬
ſern , da derſelbe nun nach geendigtem Gottesdienſt
zum Paſtor M. . . kam , und der Schwiegerſohn
des Paſtors , ihn nun mit der groͤßten Achtung an¬
redete , und ſagte , es ſey ihm gleich in der Kirche ,
da Reiſer ihm zuerſt geantwortet , aufgefallen , ob
das wohl der junge Menſch ſeyn moͤchte , von dem
ihm ſein Schwiegervater ſo viel Gutes geſagt , und
es freue ihn , daß er ſich nicht geirrt habe .
In ſeinem Leben hatte Anton keine ſolche Em¬
pfindung gehabt , als ihm dieſe achtungsvolle Be¬
gegnung verurſachte . — Da er nun die Sprache
der feinen Lebensart nicht gelernt hatte , und ſich
doch auch nicht gemein ausdruͤcken wollte , ſo be¬
diente er ſich bei ſolchen Gelegenheiten der Buͤcher¬
ſprache , die bei ihm aus dem Telemach , der Bibel ,
und dem Katechismus zuſammengeſetzt war , wel¬
ches ſeinen Antworten oft einen ſonderbaren An¬
ſtrich von Originalitaͤt gab , indem er z. B. bei
ſolchen Gelegenheiten zu ſagen pflegte , er habe
den Trieb zum Studieren , der ihn unaufhaltſam
mit ſich fortgeriſſen , nicht uͤberwaͤltigen koͤnnen ,
und wolle ſich nun der Wohlthaten , die man ihm
erzeige auf alle Weiſe wuͤrdig zu machen , und in
aller Gottſeligkeit und Ehrbarkeit ſein Leben bis
an ſein Ende zu fuͤhren ſuchen .
Indes hatte der Conſiſtorialrath G. . . . an
an den ſich Reiſer ſchon vorher gewandt hatte , fuͤr
ihn ausgemacht , daß er die ſogenannte Neuſtaͤd¬
ter Schule unentgeldlich beſuchen koͤnnte . --- Al¬
lein der Paſtor M. . . ſagte , daß duͤrfe nun nicht
geſchehen ; er ſolle , bis er konfirmirt wuͤrde noch von
ſeinem Sohne unterrichtet werden , damit er als¬
dann ſogleich die hoͤhere Schule auf der Altſtadt be¬
ſuchen koͤnne , wo der Direktor ſich ſeiner annehmen
wolle ; und wegen der Eiferſucht , die zwiſchen den
beiden Schulen zu herrſchen pflegte , wuͤrde er beſſer
thun , wenn er jene nicht zuerſt beſuchte . --- Dieß
mußte Reiſer dem Konſiſtorialrath G. . . ſelber ſa¬
gen , um den freien Unterricht , welchen er ihm
verſchaft hatte , abzulehnen , woruͤber denn der¬
ſelbe ſehr empfindlich wurde , und Reiſern erſt
hart anredete , ihn aber doch zuletzt wieder mit der
Aufmunterung entließ , daß er ſich auf andre Wei¬
ſe dennoch ſeiner annehmen wolle .
So ſchien nun an Reiſers Schickſale , um den
ſich vorher niemand bekuͤmmert hatte , auf einmal
alles Theil zu nehmen . --- Er hoͤrte von Eifer¬
ſucht der Schulen ſeinetwegen ſprechen . --- Der
Konſiſtorialrath G. . . und der Paſtor M. . . ſchie¬
nen ſich gleichſam um ihn zu ſtreiten , wer ſich am
meiſten ſeiner annehmen wollte . Der Paſtor
M. . . bediente ſich des Ausdrucks , er ſolle nur dem
Konſiſtorialrath G. . . ſagen , es waͤren ſeinetwegen
ſchon Anſtalten getroffen worden , und wuͤrden
noch Anſtalten getroffen werden , daß er zu der
hoͤhern Schule auf der Altſtadt hinlaͤnglich vor¬
bereitet wuͤrde , ohne vorher die niedere Schule
auf der Neuſtadt zu beſuchen . — Alſo Anſtalten
ſollten nun ſeinetwegen getroffen werden , wegen
eines Knaben , den ſeine eignen Eltern nicht ein¬
mal ihrer Aufmerkſamkeit werth gehalten hatten .
Mit welchen glaͤnzenden Traͤumen und Aus¬
ſichten in die Zukunft , dieß Reiſers Phantaſie er¬
fuͤllt habe , darf ich wohl nicht erſt ſagen . Ins¬
beſondre , da nun noch immer die geheimnißvollen
Winke bei dem Garniſonkuͤſter und die Zuruͤck¬
haltung des Paſtor M. . . fortdauerte , womit er
Reiſern etwas wichtiges zu verſchweigen ſchien . —
Endlich kam es denn heraus , daß der Prinz
. . . auf Empfehlung des Paſtor M. . . ſich
des jungen Reiſers annehmen , und ihm mo¬
nathlich . . . Rthlr . zu ſeinem Unterhalt ausſe¬
tzen wolle . — Alſo war nun Reiſer auf einmal
allen
allen ſeinen Beſorgniſſen wegen der Zukunft ent¬
riſſen , das ſuͤße Traumbild eines ſehnlich gewuͤnſch¬
ten , aber nie gehoften Gluͤckes , war ehe er es ſich
verſehn , wirklich geworden , und er konnte nun
ſeinen angenehmſten Phantaſien nachhaͤngen , ohne
zu fuͤrchten , daß er durch Mangel und Armuth
darinn geſtoͤrt werden wuͤrde . ---
Sein Herz ergoß ſich wirklich in Dank gegen
die Vorſehung . — Kein Abend gieng hin , wo er
nicht den Prinzen und den Paſtor M. . . in ſein
Abendgebet mit eingeſchloſſen haͤtte --- und oft
vergoß er im Stillen Thraͤnen der Freude und des
Danks , wenn er dieſe gluͤckliche Wendung ſeines
Schickſals uͤberdachte .
Reiſers Vater hatte nun auch nichts weiter
gegen ſein Studieren einzuwenden , ſobald er hoͤr¬
te , daß es ihm nichts koſten ſollte . Und da uͤber¬
dem nun die Zeit heran kam , wo er ſeine kleine
Bedienung , an einem Ort ſechs Meilen von H. . .
antreten mußte , und ihm ſein Sohn alſo auf keine
Weiſe mehr zur Laſt fallen konnte . --- Allein nun
war die Frage , bei wem Reiſer nach der Abreiſe
ſeiner Eltern wohnen und eſſen ſollte . Der Pa¬
ſtor M. . . ſchien nicht geneigt zu ſeyn , ihn ganz zu
B
ſich ins Haus zu nehmen . Es mußte alſo drauf
gedacht werden , ihn irgendwo bei ordentlichen
Leuten unterzubringen . Und ein Hauboiſt Nah¬
mens F. . . vom Regiment des Prinzen . . . erbot
ſich von freien Stuͤcken dazu , Reiſern unentgeld¬
lich bei ſich wohnen zu laſſen . Ein Schuſter , bei
dem ſeine Eltern einmal im Hauſe gewohnt hat¬
ten , noch ein Hauboiſt , ein Hofmuſikus , ein
Garkoch , und ein Seidenſticker , erboten ſich je¬
der , ihm woͤchentlich einen Freitiſch zu geben .
Dieß verringerte Reiſers Freude in etwas wie¬
der , welcher glaubte , daß das , was der Prinz
fuͤr ihn hergab , zu ſeinem Unterhalt zureichen
wuͤrde , ohne daß er an fremden Tiſchen ſein Brodt
eſſen duͤrfte . Auch verringerte dieß ſeine Freude
nicht ohne Urſach , denn es ſetzte ihn in der Folge
oft in eine hoͤchſt peinliche und aͤngſtliche Lage , ſo
daß er oft im eigentlichen Verſtande ſein Brodt
mit Thraͤnen eſſen mußte . --- Denn alles beeifer¬
te ſich zwar , auf die Weiſe ihm Wohlthaten zu er¬
zeigen , aber jeder glaubte auch dadurch ein Recht
erworbeu erworben zu haben , uͤber ſeine Auffuͤhrung zu wa¬
chen , und ihm in Anſehung ſeines Betragens
Rath zu ertheilen , der dann immer ganz blind¬
lings ſollte angenommen werden , wenn er ſeine
Wohlthaͤter nicht erzuͤrnen wollte . Nun war
Reiſer gerade von ſo viel Leuten , von ganz ver¬
ſchiedener Denkungsart , abhaͤngig , als ihm Frei¬
tiſche gaben , wo jeder drohte , ſeine Hand von
ihm abzuziehen , ſobald er ſeinem Rath nicht folg¬
te , der oft dem Rath eines andern Wohlthaͤters
geradezu widerſprach . Dem einen trug er ſein
Haar zu gut , dem andern zu ſchlecht friſirt , dem
einen gieng er zu ſchlecht , dem andern , fuͤr ei¬
nen Knaben der von Wohlthaten leben muͤſſe ,
noch zu geputzt einher , --- und dergleichen unzaͤh¬
lige Demuͤthigungen und Herabwuͤrdigungen gab
es mehr , denen Reiſer durch den Genuß der Frei¬
tiſche ausgeſetzt war , und denen gewiß ein jeder jun¬
ger Menſch mehr oder weniger ausgeſetzt iſt , der
das Ungluͤck hat , auf Schulen durch Freitiſche
ſeinen Unterhalt zu ſuchen , und die Woche hin¬
durch von einen zum andern herumeſſen zu muͤſſen .
Dieß alles ahndete Reiſern dunkel , als die
Freitiſche insgeſammt fuͤr ihn angenommen , und
keine Wohlthat verſchmaͤht wurde , die ihm nur
irgend jemand erweiſen wollte . --- An dem guten
Willen aber pflegt es nie zu fehlen , wenn Leute
B 2
einem jungen Menſchen zum Studieren befoͤrder¬
lich ſeyn zu koͤnnen glauben — dieß erweckt einen
ganz beſondern Eifer — jeder denkt ſich dunkel ,
wenn dieſer Mann einmal auf der Kanzel ſteht ,
dann wird das auch mein Werk mit ſeyn . —
Es entſtand ein ordentlicher Wetteifer um Rei¬
ſern , und jeder auch der aͤrmſte wollte nun auf
einmal zum Wohlthaͤter an ihm werden , wie
denn ein armer Schuſter ſich erbot , ihm alle Son¬
tagabend einmal zu eſſen zu geben — dieß alles wur¬
de mit Freuden fuͤr ihn angenommen , und von
ſeine Eltern mit dem Haubolſten und deſſen Frau
uͤberrechneten , wie gluͤcklich er nun ſey , daß er alle
Tage in der Woche zu eſſen habe , und wie man
nun von den Gelde , was der Prinz hergebe , fuͤr
ihn ſparen koͤnne .
Ach , die glaͤnzenden Ausſichten , die ſich Rei¬
ſer von dem Gluͤck , das auf ihn wartete , gemacht
hatte , verdunkelten ſich nachher ſehr wieder . In¬
des dauerte doch der erſte angenehme Taumel ,
in welchen ihn die thaͤtige Vorſorge und die Theil¬
nehmung ſo vieler Menſchen an ſeinem Schickſale
verſetzt hatte , noch eine Weile fort . —
Das große Feld der Wiſſenſchaften lag vor
ihm — ſein kuͤnftiger Fleiß , die nuͤtzlichſte An¬
wendung jeder Stunde bei ſeinem kuͤnftigen Stu¬
dieren war den ganzen Tag uͤber ſein einziger Ge¬
danke , und die Wonne die er darin finden , und
die erſtaunlichen Fortſchritte , die er nun thun ,
und ſich Ruhm und Beifall dadurch erwerben
wuͤrde : mit dieſen ſuͤßen Vorſtellungen ſtand er
auf , und gieng damit zu Bette — aber er wu߬
te nicht , daß ihm das Druͤckende und Erniedri¬
gende ſeiner aͤußern Lage dieß Vergnuͤgen ſo ſehr
verbittern wuͤrde . Anſtaͤndig genaͤhrt und geklei¬
det zu ſeyn , gehoͤrt ſchlechterdings dazu , weun wenn
ein junger Menſch zum Fleiß im Studieren Muth
behalten ſoll . Beides war bei Reiſern der Fall
nicht . Man wollte fuͤr ihn ſparen , und ließ ihn
waͤhrend der Zeit wirklich darben .
Seine Eltern reißten nun auch weg , und er
zog mit ſeinen wenigen Habſeeligkeiten bei dem
Haubolſten F. . . ein , deſſen Frau insbeſondre
ſich ſchon von ſeiner Kindheit an , ſeiner mit an¬
genommen hatte . — Es herrſchte bei dieſen Leu¬
ten , die keine Kinder hatten , die groͤßte Ordnung
in der Einrichtung ihrer Lebensart , welche viel¬
B 3
leicht nur irgendwo ſtatt finden kann . Da war
nichts , keine Buͤrſte und keine Scheere , was
nicht ſeit Jahren ſeinen beſtimmten angewieſenen
Platz gehabt haͤtte . Da war kein Morgen , der
anbrach , wo nicht um acht Uhr Kaffee getrun¬
ken , und um neun Uhr der Morgenſeegen geleſen
worden waͤre , welches allemal knieend geſchahe ,
indes die Frau F. . . aus dem Benjamin Schmolke
vorlaß , wobei denn Reiſer auch mit knieen mußte .
Des Abends nach neun Uhr wurde auf eben die Art
indem jeder vor ſeinem Stuhle kniete , auch der
Abendſeegen aus dem Schmolke geleſen , und dann
zu Bette gegangen . Dies war die unverbruͤchli¬
che Ordnung , welche von dieſen Leuten ſchon ſeit
beinahe zwanzig Jahren , wo ſie auch beſtaͤndig
auf derſelben Stube gewohnt hatten , war beob¬
achtet worden . Und ſie waren gewiß dabei ſehr
gluͤcklich , aber ſie durften auch ſchlechterdings
durch nichts darin geſtoͤrt werden , wenn nicht zu¬
gleich ihre innre Zufriedenheit , die groͤſtentheils
auf dieſe unverbruͤchliche Ordnung gebaut war ,
mit darunter leiden ſollte . Dieß hatten ſie nicht
recht erwogen , da ſie ſich entſchloſſen , ihre Stu¬
bengeſellſchaft mit jemanden zu vermehren , der
ſich unmoͤglich auf einmal in ihre ſeit zwanzig
Jahren etablirte Ordnung , die ihnen ſchon zur
andern Natur geworden war , gaͤnzlich fuͤgen
konnte .
Es konnte alſo nicht fehlen , daß es ihnen bald
zu gereuen anfieng , daß ſie ſich ſelbſt eine Laſt
aufgebuͤrdet hatten , die ihnen ſchwerer wurde ,
als ſie glaubten . Weil ſie nur eine Stube und
eine Kammer hatten , ſo mußte Reiſer in der
Wohnſtube ſchlafen , welches ihnen nun alle Mor¬
gen , ſo oft ſie herein traten , einen unvermuthe¬
ten Anblick von Unordnung machte , deſſen ſie nicht
gewohnt waren , und der ſie wirklich in ihrer Zu¬
friedenheit ſtoͤrte . — Anton merkte dieß bald ,
und der Gedanke , laͤſtig zu ſeyn , war ihm ſo aͤng¬
ſtigend und peinlich , daß er ſich oft kaum zu hu¬
ſten getrauete , wenn er an den Blicken ſeiner
Wohlthaͤter ſahe , daß er ihnen im Grunde znr zur
Laſt war . — Denn er mußte doch ſeine wenigen
Sachen nun irgendwo hinlegen , und wo er ſie hin¬
legte , da ſtoͤrten ſie gewiſſermaßen die Ordnung ,
weil jeder Fleck hier nun ſchon einmal beſtimmt
war . — Und doch war es ihm nun unmoͤglich ,
ſich aus dieſer peinlichen Lage wieder herauszu¬
B 4
wickeln . — Dieß alles zuſammengenommen ver¬
ſetzte ihn oft Stundenlang in eine unbeſchreibli¬
che Wehmuth , die er ſich damals ſelber nicht zu
erklaͤren wußte , und ſie anfaͤnglich bloß der Un¬
gewohnheit ſeines neuen Aufenthaltes zuſchrieb .
Allein es war nichts als der demuͤthigende
Gedanke des Laͤſtigſeyns , der ihn ſo danieder
druckte . Hatte er gleich bei ſeinen Eltern , und
bei dem Hutmacher L. . . auch nicht viel Freude
gehabt , ſo hatte er doch ein gewiſſes Recht da
zu ſeyn . Bei jenen , weil es ſeine Eltern waren ,
und bei dieſem , weil er arbeitete . — Hier aber
war der Stuhl worauf er ſaß eine Wohlthat . —
Moͤchten dieß doch alle diejenigen erwaͤgen , wel¬
che irgend jemanden Wohlthaten erzeigen wollen ,
und ſich vorher recht pruͤfen , ob ſie ſich auch ſo
dabei nehmen werden , daß ihre gutgemeinte Ent¬
ſchließung dem Beduͤrftigen nie zur Quaal gereiche .
Das Jahr , welches Reiſer in dieſer Lage zu¬
brachte , war , obgleich jeder ihn gluͤcklich prieß ,
in einzelnen Stunden und Augenblicken , eines
der qualvollſten ſeines Lebens .
Reiſer haͤtte ſich vielleicht ſeinen Zuſtand an¬
genehmer machen koͤnnen , haͤtte er des nur ge¬
habt , was man bei manchen jungen Leuten ein
inſinuantes Weſen nennt . Allein zu einem ſol¬
chen inſinuanten Weſen gehoͤrt ein gewiſſes Selbſt¬
zutrauen , das ihm von Kindheit auf war benom¬
men worden ; um ſich gefaͤllig zu machen , muß
man vorher den Gedanken haben , daß man auch
gefallen koͤnne . — Reiſers Selbſtzutrauen mu߬
te erſt durch zuvorkommende Guͤte geweckt wer¬
den , ehe er es wagte , ſich beliebt zu machen . —
Und wo er nur einen Schein von Unzufrieden¬
heit andrer mit ihm bemerkte , da war er ſehr
geneigt , an der Moͤglichkeit zu verzweifeln , je¬
mals ein Gegenſtand ihrer Liebe oder ihrer Ach¬
tung zu werden . Darum gehoͤrte gewiß ein groſ¬
ſer Grad von Anſtrengung bei ihm dazu , ſich ſel¬
ber Perſonen als einen Gegenſtand ihrer Auf¬
merkſamkeit vorzuſtellen , von denen er noch nicht
wußte , wie ſie ſeine Zudringlichkeit aufnehmen
wuͤrden .
Seine Baaſe prophezeite ihm ſehr oft , wie
ihm der Mangel jenes inſinuanten Weſens an
ſeinem Fortkommen in der Welt ſchaden wuͤrde .
Sie lehrte ihn , wie er mit der Frau F. . . ſpre¬
chen , und ihr ſagen ſolle : „ liebe Frau F. . . , ſeyn
B 5
Sie nun meine Mutter , da ich ohne Vater und
Mutter bin , ich will Sie auch ſo lieb haben , wie
eine Mutter “ . — Allein wenn Reiſer derglei¬
chen ſagen wollte , ſo war , als ob ihm die Worte
im Munde erſtarben ; es wuͤrde hoͤchſt ungeſchickt
herausgekommen ſeyn , wenn er ſo etwas haͤtte
ſagen wollen . — Dergleichen zaͤrtliche Ausdruͤcke
waren nie durch zuvorkommendes , guͤtiges Be¬
tragen irgend eines Menſchen gegen ihn , aus
ſeinem Munde hervorgelockt worden ; ſeine Zunge
hatte keine Geſchmeidigkeit dazu . — Er konnte
den Rath ſeiner Baſe unmoͤglich befolgen . Wenn
ſein Herz voll war , ſo ſuchte er ſchon Ausdruͤcke ,
wo er ſie auch fand . Aber die Sprache der
feinen Lebensart hatte er freilich nie reden geler¬
net . — Was man inſinuantes Weſen nennt ,
waͤre auch bei ihm die kriechendſte Schmeichelei
geweſen .
Indes war nun die Zeit herangekommen , wo
Reiſer konfirmirt werden , und in der Kirche oͤf¬
fentlich ſein Glaubensbekenntniß ablegen ſollte ,
— eine große Nahrung fuͤr ſeine Eitelkeit — er
dachte ſich die verſammelten Menſchen , ſich als
den erſten , unter ſeinen Mitſchuͤlern , der alle
Aufmerkſamkeit bei ſeinen Antworten vorzuͤglich
auf ſich ziehen wuͤrde , durch Stimme , Bewe¬
gung und Miene . — Der Tag erſchien , und
Reiſer erwachte wie ein roͤmiſcher Feldherr er¬
wacht ſeyn mag , dem an dem Tage ein Tri¬
umph bevorſtand . — Er wurde bei ſeinem Vet¬
ter den Peruckenmacher hoch friſirt , und trug
einen blaͤulichen Rock und ſchwarze Unterkleider ,
eine Tracht , die der geiſtlichen gewiſſermaaßen
ſich ſchon am meiſten naͤherte .
Aber ſo wie der Triumph des groͤßten Feld¬
herrn zuweilen durch unerwartete Demuͤthigun¬
gen verbittert wurde , daß er ihn nur halb genieſ¬
ſen konnte ; ſo gieng es auch Reiſern an dieſem
Tage ſeines Ruhms und ſeines Glanzes . — Sei¬
ne Freitiſche nahmen mit dieſem Tage ihren An¬
fang — er hatte den erſten des Mittags bei dem
Garniſonkuͤſter , und den andern des Abends bei
dem armen Schuſter — und obgleich der Garni¬
ſonkuͤſter ein Mann war , der das großmuthigſte
Herz beſaß , und Reiſern ſeinen Lebenslauf er¬
zaͤhlte , wie er auch erſt als ein armer Schuͤler
ins Chor gegangen ſey , aber ſchon in ſeinem ſieb¬
zehnten Jahre den blauen Mantel mit dem ſchwar¬
zen vertauſcht habe — ſo war doch die Frau deſ¬
ſelben der Neid und die Mißgunſt ſelber , und je¬
der ihrer Blicke vergiftete Reiſern den Biſſen ,
den er in den Mund ſteckte . Sie lies es ſich
zwar am erſten Tage nicht ſo ſehr , wie nachher ,
aber doch ſtark genug merken , daß Reiſer nie¬
dergeſchlagenen Herzens , ohne ſelbſt recht zu wiſ¬
ſen , woruͤber , zur Kirche gieng , und die Freude ,
die er ſich an dieſem ſehnlich gewuͤnſchten Tage
verſprochen hatte , nur halb empfand . — Er
ſollte nun hingehn , um ſein Glaubensbekenntniß
auf gewiſſe Weiſe zn beſchwoͤren . —
Dieß dachte er ſich , und ihm fiel dabei ein ,
daß ſein Vater vor einiger Zeit zu Hauſe erzaͤhlt
hatte , wie er wegen ſeines Dienſtes vereidet wor¬
den war , daß er nichts weniger , als gleich¬
guͤltig dabei geweſen ſey — und Reiſer ſchien
ſich , da er zur Kirche gieng , gegen den Eid , den
er ablegen ſollte , gleichguͤltig zu ſeyn . — Aus
dem Unterricht , den er in der Religion bekom¬
men , hatte er ſehr hohe Begriffe vom Eide , und
hielt dieſe Gleichguͤltigkeit an ſich fuͤr hoͤchſt ſtraf¬
bar . Er zwang ſich alſo nicht gleichguͤltig , ſon¬
dern geruͤhrt und ernſthaft zu ſeyn , bei dieſem
wichtigen Schritte , und war mit ſich ſelber un¬
zufrieden , daß er nicht noch weit geruͤhrter war ;
aber die Blicke der Frau des Garniſonkuͤſters wa¬
ren es , welche alle ſanfte und angenehme Empfin¬
dungen aus ſeinem Herzen weggeſcheucht hatten .
Er konnte ſich doch nicht recht freuen , weil
niemand war , der an ſeiner Freude recht nahen
Antheil nahm , weil er dachte , daß er auch ſelbſt
an dieſem Tage an fremden Tiſchen eſſen mußte .
Da er indes in die Kirche kam , und nun vor den
Altar trat , und oben an in der Reihe ſtand , ſo
erwaͤrmete das alles zwar wieder ſeine Phantaſie
— aber es war doch lange das nicht , was er ſich
verſprochen hatte . — Und gerade das wichtig¬
ſte und feierlichſte , die Ablegung des Glaubens¬
bekenntniſſes , welches einer im Nahmen der uͤbri¬
gen thun mußte , kam nicht an ihn , und er hatte
ſich doch ſchon viele Tage vorher auf Miene , Be¬
wegung , und Ton geuͤbt , womit er es ablegen
wollte .
Er dachte , der Paſtor M... wuͤrde ihn etwa
den Nachmittag zu ſich kommen laſſen , aber er
ließ ihn nicht zu ſich kommen — und waͤhrend ,
daß ſeine Mitſchuͤler nun zu Hauſe giengen , und
der zaͤrtlichen Bewillkommung ihrer Eltern ent¬
gegen ſahn , gieng Reiſer einſam und verlaſſen
auf der Straße umher , wo ihn der Direktor des
Lyceums begegnete , der ihn anredete , und fragte ,
ob er nicht Reiſerus hieße ? — und als Reiſer
mit Ja antwortete , ihm freundlich die Hand
druckte ; und ſagte , er habe ſchon durch den Pa¬
ſtor M... viel Gutes von ihm gehoͤrt , und wuͤr¬
de bald naͤher mit ihm bekannt werden .
Welche unerwartete Aufmunterung fuͤr ihn ,
daß dieſer Mann , den er ſchon oft mit tiefer Ehr¬
furcht betrachtet hatte , ihn auf der Straße an¬
zureden wuͤrdigte , und ihn Reiſerus nannte .
Der Direktor B. . . war wirklich ein Mann ,
welcher einem jeden der ihn ſahe , Ehrfurcht und
Liebe einzufloͤßen im Stande war . Er kleidete
ſich zierlich , und doch anſtaͤndig , trug ſich edel ,
war wohlgebildet , hatte die heiterſte Miene , wor¬
inn ihm ſo oft er wollte , der ſtrengſte Ernſt zu
Gebote ſtand . Er war ein Schulmann , gerade
wie er ſeyn ſollte , um von dieſem Stande die
Verachtung der feinen Welt , womit die gewoͤhn¬
liche Pedanterie deſſelben belegt iſt , abzuwaͤlzen .
Wie es nun kam , daß er Reiſern Reiſerus
nannte , mag der Himmel wiſſen , gnug er nann¬
te ihn ſo , und es ſchmeichelte Reiſern nicht we¬
nig , auf die Weiſe ſeinen Nahmen zum erſten¬
mal in us umgetauft zu ſehen . — Da er mit die¬
ſer Endigung der Nahmen immer die Idee von
Wuͤrde und einer erſtaunenswuͤrdigen Gelehr¬
ſamkeit verknuͤpft hatte , und ſich nun ſchon im
Geiſte den gelehrten und beruͤhmten Neiſerus
nennen hoͤrte .
Dieſe Benennung , womit er ſo zufaͤlliger
Weiſe von dem Direktor B. . . beehrt wurde , iſt
ihm nachher auch oft wieder eingefallen , und
manchmal mit ein Sporn zum Fleiße geweſen ;
denn mit dem us an ſeinem Nahmen erwachte auf
einmal die ganze Reihe von Vorſtellungen , einmal
ein beruͤhmter Gelehrter zu werden , wie Eraſmus
Roterodamus , und andere , deren Lebensbeſchrei¬
bungen er zum Theil geleſen , und ihre Bildniſſe
in Kupfer geſtochen geſehen hatte .
Am Abend gieng er nun zu dem armen Schu¬
ſter , und wurde wenigſtens mit freundlichern Bli¬
cken , als von der Frau des Garniſonkuͤſters , em¬
pfangen . Der Schuſter Heidorn , ſo hieß ſein
Wohlthaͤter , hatte die Schriften des Taulerus
und andre dergleichen geleſen , und redete daher
eine Art von Buͤcherſprache , wobei er manchmal
einen gewiſſen predigenden Ton annahm . Ge¬
meiniglich citirte er einen gewiſſen Periander ,
wenn er etwas behauptete , als : der Menſch muß
ſich nur Gott hingeben , ſagt Periander — und
ſo ſagte alles , was der Schuſter Heidorn ſagte ,
auch dieſer Periander , der im Grunde nichts als
eine allegoriſche Perſon war , die in Bunians
Chriſtenreiſe oder ſonſt irgendwo vorkommt .
Aber Reiſern klang der Nahme Periander ſo
ſuͤß in ſeinen Ohren . — Er dachte ſich dabei et¬
was Erhabenes , Geheimnißvolles , und hoͤrte den
Schuſter Heidorn immer gern von Periandern
ſprechen .
Der gute Heidorn hatte ihn aber etwas zu
ſpaͤt aufgehalten , und als er zu Hauſe kam , hat¬
ten ſein Wirth und ſeine Wirthin ihren Abend¬
ſegen geleſen , und nicht unmittelbar darauf zu
Bette gehen koͤnnen , welches ſeit Jahren nicht
geſchehen ſeyn mochte . Dieß war denn Urſach ,
daß Reiſer ziemlich kalt und finſter empfangen
wurde , und ſich von dieſem Tage , dem er ſo lange
voll
voll ſehnlicher Erwartung entgegen geſehen hatte ,
mit traurigem Herzen niederlegeu niederlegen mußte .
Dieſe Woche mußte er nun zum erſtenmale
herumeſſen , und machte am Montage bei dem
Garkoch den Anfang , wo er ſein Eſſeu Eſſen unter den
uͤbrigen Leuten , die bezahlten , bekam , und man
ſich weiter nicht um ihn bekuͤmmerte . — Dieß
war , was er wuͤnſchte , und er gieng immer mit
leichterem Herze hieher .
Den Dienſtag Mittag gieng er zu dem Schu¬
ſter S. , wo ſeine Eltern im Hauſe gewohnt hat¬
ten , und wurde auf das liebreichſte und freund¬
lichſte empfangen . Die guten Leute hatten ihn ,
als ein kleines Kind gekannt , und die alte Mutter
des Schuſter S. . . hatte immer geſagt , aus dem
Jungen wuͤrd noch einmal etwas — und nun freu¬
te ſie ſich , daß ihre Prophezeiung einzutreffen
ſchien . Und wenn es Reiſer je nicht fuͤhlte , daß
er fremdes Brodt aß , ſo war es an dieſem gaſt¬
freundlichen Tiſche , wo er oft nachher ſeines Kum¬
mers vergeſſen hat , und mit heitrer Miene wie¬
der weggieng , wenn er traurig hingegangen war .
Denn mit dem Schuſter S. . . vertiefte er ſich im¬
mer in philoſophiſche Geſpraͤchen , bis die alte
C
Mutter ſagte : nun Kinder , ſo hoͤrt doch einmal
auf , und laßt das liebe Eſſen nicht kalt werden !
O , was war der Schuſter S. . . fuͤr ein Mann ! von
ihm konnte man mit Wahrheit ſagen , daß er vom
Lehrſtuhle die Koͤpfe der Leute haͤtte bilden ſollen ,
denen er Schuh machte . — Er und Reiſer kamen
oft in ihren Geſpraͤchen , ohne alle Anleitung , auf
Dinge , die Reiſer nachher als die tiefſte Weisheit
in den Vorleſungen uͤber die Metaphyſik wieder
hoͤrte , und er hatte oft ſchon Stundenlang mit dem
Schuſter S. . . daruͤber geſprochen . — Denn ſie
waren ganz von ſelbſt auf die Entwickelung der
Begriffe von Raum und Zeit , von ſubjektiviſcher
und objektiviſcher Welt , u. ſ. w. gekommen , ohne
die Schulterminologie zu wiſſen , ſie halfen ſich
denn mit der Sprache des gemeinen Lebens ſo gut
ſie konnten , welches oft ſonderbar genug heraus
kam , — kurz bei den Schuſter S. . . vergaß Rei¬
ſer alles . Unangenehme ſeines Zuſtandes , er fuͤhlte
ſich hier gleichſam in die hoͤhere Geiſterwelt ver¬
ſetzt , und ſein Weſen wieder veredelt , weil er je¬
manden fand , mit dem er ſich verſtehn , und
Gedanken gegen Gedanken wechſeln konnte .
Die Stunden , welche er hier bei den Freunden
ſeiner Kindheit und ſeiner Jugend zubrachte , wa¬
ren gewiß damals die angenehmſten ſeines Lebens .
Hier war es allein , wo er ſich mit voͤlligem Zu¬
trauen gewiſſermaßen , wie zu Hauſe fuͤhlte .
Am Mittwoch aß er denn bei ſeinem Wirth ,
wo das wenige , was er genoß , ſo gut es auch
dieſe Leute uͤbrigens mit ihm meinen mochten , ihm
doch faſt jedesmal ſo verbittert wurde , daß er ſich
vor dieſem Tage faſt mehr , wie vor allen andern
fuͤrchtete . Denn an dieſem Mittage pflegte ſeine
Wohlthaͤterinn die Frau F... immer nicht gera¬
dezu , ſondern nur in gewiſſen Anſpielungen , in¬
dem ſie zu ihrem Manne ſprach , Reiſers Betra¬
gen durchzugehen , ihm die Dankbarkeit gegen ſei¬
ne Wohlthaͤter einzuſchaͤrfen , und etwas von Leu¬
ten mit einfließen laſſen , die ſich angewoͤhnt haͤt¬
ten ſehr viel zu eſſen , und am Ende gar nicht
mehr zu ſaͤttigen geweſen waͤren . — Reiſer hatte
damals , da er in ſeinem vollen Wachsthum war ,
wuͤrklich ſehr guten Appetit , allein mit Zittern
ſteckte er jeden Biſſen in den Mund , wenn er
dergleichen Anſpielungen hoͤrte . Bei der Frau
F... geſchahe es nun wirklich nicht ſowohl aus
Geiz oder Neid , daß ſie dergleichen Anſpielungen
C 2
machte , ſondern aus dem feinen Gefuͤhl von Ord¬
nung , welches dadurch beleidiget wurde , wenn
jemand , ihrer Meinung nach , zu viel aß . — Sie
pflegte denn auch wohl von Gnadenbruͤnlein und
Gnadenquellen zu reden , die ſich verſtopften ,
wenn man nicht mit Maͤßigkeit daraus ſchoͤpfte .
Die Frau des Hofmuſikus , welche ihm am
Donnerſtage zu eſſen gab , war zwar dabei etwas
rauh in ihrem Betragen , quaͤlte ihn aber doch
dadurch lange nicht ſo , als die Frau F. . . mit
aller ihrer Feinheit . — Am Freitage aber hatte
er wieder einen ſehr ſchlimmen Tag , indem er
bei Leuten aß , die es ihn nicht durch Anſpielun¬
gen , ſondern auf eine ziemlich grobe Art fuͤhlen
ließen , daß ſie ſeine Wohlthaͤter waren . Sie
hatten ihn auch noch als Kind gekannt , und nann¬
ten ihn nicht auf eine zaͤrtliche ſondern veraͤchtli¬
che Weiſe bei ſeinem Vornahmen Anton , da er
doch anfieng , ſich unter die erwachſenen Leute
zu zaͤhlen . Kurz dieſe Leute behandelten ihn ſo ,
daß er den ganzen Freitag uͤber mißmuͤthig und
und traurig zu ſeyn pflegte , und zu nichts recht
Luſt hatte , ohne oft zu wiſſen woruͤber , es war
aber daruͤber , daß er den Mittag der erniedri¬
genden Begegnung dieſer Leute ausgeſetzt war ,
deren Wohlthat er ſich doch nothwendig wieder
gefallen laſſen mußte , wenn es ihm nicht , als
der unverzeihlichſte Stolz ſollte ausgelegt wer¬
den . — Am Sonnabend aß er denn bei ſeinem
Vetter dem Peruquenmacher , wo er eine Kleinig¬
keit bezahlte , und mit frohem Herzen aß , und
den Sontag wider bei dem Garniſonkuͤſter .
Dieß Verzeichniß von Reiſers Freitiſchen , und
den Perſonen , die ſie ihm gaben , iſt gewiß nicht
ſo unwichtig , wie es manchem vielleicht beim er¬
ſten Anblick ſcheinen mag — dergleichen klein¬
ſcheinende Umſtaͤnde ſind es eben , die das Leben
ausmachen , und auf die Gemuͤthsbeſchaffenheit
eines Menſchen den ſtaͤrkſten Einfluß haben . —
Es kam bei Reiſers Fleiß und ſeinen Fortſchritten ,
die er an irgend einem Tage thun ſollte , ſehr viel
darauf an , was er fuͤr eine Ausſicht auf den fol¬
genden Tag hatte , ob er gerade bei dem Schu¬
ſter S... , oder bei der Frau F... , oder dem Gar¬
niſonkuͤſter eſſen mußte . Aus dieſer ſeiner taͤglichen
Situation nun wird ſich groͤßtentheils ſein nach¬
heriges Betragen erklaͤren laſſen , welches ſonſt
C 3
ſehr oft mit ſeinem Charakter widerſprechend ſchei¬
nen wuͤrde .
Ein großer Vortheil wuͤrde es fuͤr Reiſern ge¬
weſen ſeyn , wenn ihn der Paſtor M. . . woͤchent¬
lich einmal haͤtte bei ſich eſſen laſſen . Aber dieſer
gab ihm ſtatt deſſen einen ſogenannten Geldtiſch
ſo wie auch der Seidenſticker ; von dieſen weni¬
gen Groſchen nun mußte Reiſer woͤchentlich ſein
Fruͤhſtuͤck und Abendbrodt beſtreiten . So hatte
die Frau F. . . es angeordnet . Denn was der
Prinz hergab , ſollte alles fuͤr ihn geſpart werden .
Sein Fruͤhſtuͤck beſtand alſo in ein wenig Thee ,
und einem Stuͤck Brodt , und ſein Abendeſſen in
ein wenig Brodt und Butter und Salz . Dann
ſagte die Frau F. . . er muͤſſe ſich ans Mittagseſſen
halten , doch aber , gab ſie ihm zu verſtehen , daß
er ſich ja huͤten muͤſſe , ſich zu uͤbereſſen .
So war nun Reiſers Oekonomie eingerichtet ,
was ſeinen Unterhalt anbetraf . Aber auch zu
ſeiner Kleidung wurde nicht einmal von dem Gel¬
de , was der Prinz fuͤr ihn hergab , etwas genom¬
men , ſondern ein alter grober rother Soldaten¬
rock fuͤr ihn gekauft , der ihm zurechtgemacht wur¬
de , und womit er nun die oͤffentliche Schule be¬
ſuchen ſollte , in welcher nun auch der alleraͤrmſte
beſſer als er gekleidet war , ein Umſtand , der nicht
wenig dazu beitrug , gleich anfaͤnglich ſeinen Muth
in etwas niederzuſchlagen .
Dazu kam nun noch , daß er das Kommis¬
brodt , welches der Hauboiſt F. . . empfing , hoh¬
len , und unter den Armen durch die Stadt tra¬
gen mußte , welches er zwar , wenn es irgend
moͤglich war , in der Daͤmmerung that , aber es
ſich doch auf keine Weiſe durfte merken laſſen , daß
er ſich dieß zu thun ſchaͤme , wenn es ihm nicht
ebenfalls als ein unverzeihlicher Stolz ſollte aus¬
gelegt werden ; denn von dieſem Brodte wurde
ihm ſelbſt woͤchentlich eins fuͤr ein geringes Geld
uͤberlaſſen , wovon er denn ſein Fruͤhſtuͤck und ſei¬
nen Abendtiſch beſtreiten mußte .
Gegen dieß alles durfte er ſich nun nicht im
mindeſten auflehnen , weil der Paſtor M. . . in
die Einſichten der Frau F. . . , was Reiſers Er¬
ziehung und die Einrichtung ſeiner Lebensart an
betraf , ein unbegraͤnztes Zutrauen ſetzte . In
derſelben Woche machte er auch noch ſeinen Be¬
ſuch bei dieſen Leuten , und dankte ihnen , daß ſie
die naͤhere Aufſicht uͤber Reiſern haͤtten uͤberneh¬
E4
men wollen , den er nun voͤllig ihrer Sorgfalt
anvertraute . Reiſer ſaß dabei halbtraurig am
Ofen , ob er gleich nicht gerne undankbar fuͤr die
Vorſorge des Paſtor M. . . ſeyn wollte . Aber
er hing nun von dieſem Augenblick an , ganz und
gar von Leuten ab , bei denen er die wenigen Ta¬
ge ſchon in einem ſo peinlichen Zuſtande zugebracht
hatte . Bei aller dieſer anſcheinenden Guͤte , die
ihm erwieſen wurde , konnte er ſich nie recht freuen ,
ſondern war immer aͤngſtlich und verlegen , weil
ihm jede auch die kleinſte Unzufriedenheit , die
man ihm merken ließ , doppelt kraͤnkend war ſo¬
bald er bedachte , daß ſelbſt der eigentliche Fleck
ſeines Daſeyns , das Obdach , deſſen er ſich er¬
freute , bloß von der Guͤte ſo ſehr empfindlicher
und leicht zu beleidigender Perſonen abhing , als
F. . . und noch weit mehr ſeine Frau war .
Bei dem allen war ihm nun doch der Gedan¬
ke aufmunternd , daß er in der kuͤnftigen Wo¬
che , die ſogenannte hohe Schule zu beſuchen an¬
fangen ſollte . Das war ſo lange ſein ſehnlichſter
Wunſch geweſen . Wie oft hatte er mit Ehr¬
furcht , das große Schulgebaͤude mit der hohen
ſteinern Treppe vor demſelben , angeſtaunt , wenn
er uͤber den Marktkirchhof gieng . — Stunden¬
lang ſtand er oft , ob er etwa durch die Fenſter
etwas , von dem , was inwendig vorgieng , erbli¬
cken koͤnnte . Nun ſchimmerte von dem großen
Katheder in Prima zufaͤlliger Weiſe ein Theil
durch das Fenſter — wie mahlte ſich ſeine Phan¬
taſie das aus ! Wie oft traͤumte ihm des Nachts
von dieſem Katheder , und von langen Reihen von
Baͤnken , wo die gluͤcklichen Schuͤler der Wei߬
heit ſaßen , in deren Geſellſchaft er nun bald ſoll¬
te aufgenommen werden .
So beſtanden von ſeiner Kindheit auf ſeine
eigentlichen Vergnuͤgungen groͤßtentheils in der
Einbildungskraft , und er wurde dadurch einiger¬
maßen fuͤr den Mangel der wirklichen Jugend¬
freuden , die andre in vollem Maße genießen ,
ſchadloß gehalten . — Dicht neben der Schule
fuͤhrten zwei lange Gaͤnge nach den nebeneinan¬
der gebauten Prieſterhaͤuſern . Die machten ihm
einen ſo ehrwuͤrdigen Proſpekt , daß das Bild
davon nebſt dem Schulgebaͤude Tag und Nacht
das herrſchende in ſeiner Seele war — und denn
die Benennung , hohe Schule , welche unter
gemeinen Leuten im Gebrauch war , und der Aus¬
C 5
druck , hohe Schuͤler , welchen er ebenfalls oft
gehoͤrt hatte , machten , daß ihm ſeine Beſtim¬
mung , dieſe Schule zu beſuchen , immer wichti¬
ger und groͤßer vorkam .
Der Zeitpunkt , wo dieß geſchehen ! ſollte ,
war nun da , und mit klopfenden Herzen erwar¬
tete er den Augenblick wo ihn der Direktor B. . .
in einen dieſer Hoͤrſaͤle der Weisheit fuͤhren wuͤr¬
de . Er wurde von dem Direktor gepruͤft , und
tuͤchtig befunden , in die zweyte Klaſſe geſetzt zu
werden . Die mit einer natuͤrlichen Wuͤrde ver¬
knuͤpfte Freundlichkeit , womit ihn dieſer Mann
zuerſt mein lieber Reiſer ! nannte , ging ihm durch
die Seele , und floͤßte ihm das innigſte Zutrauen
verbunden mit einer unbegraͤnzten Ehrfurcht ge¬
gen den Direktor ein . O was vermag ein Schul¬
mann uͤber die Herzen junger Leute , wenn er ge¬
rade ſo wie der Direktor B. . . den rechten Ton
einer durch Leutſeligkeit gemilderten Wuͤrde in
ſeinem Betragen zu treffen weiß !
Den Sontag nach der Konfirmation , ging
nun Reiſer zuerſt zum Abendmahl , und ſuchte
nun aufs gewiſſenhafteſte die Lehren in Ausuͤbung
zu bringen , welche er ſich daruͤber aufgeſchrieben
und auswendig gelernt hatte , als die vorherge¬
hende Pruͤfung nach dem Buß - und Suͤndenſpie¬
gel , und dann das Hinzutreten zum Altar mit ei¬
nem freudigen Zittern . — Er ſuchte ſich auf
alle Weiſe in eine ſolche Art von freudigen Zit¬
tern zu verſetzen : es wollte ihm aber nicht gelin¬
gen , und er machte ſich ſelbſt die bitterſten Vor¬
wuͤrfe daruͤber , daß ſein Herz ſo verhaͤrtet war .
Endlich fing er vor Kaͤlte an zu zittern , und dieß
beruhigte ihn einigermaßen .
Allein die himmliſche Empfindung und das
ſelige Gefuͤhl , das ihm nun dieſe Seelenſpeiſe
gewaͤhren ſollte , alles das empfand er nicht —
er ſchrieb aber die Schuld davon bloß ſeinem eige¬
nen verſtockten Herzen zu , und quaͤlte ſich ſelbſt
uͤber den Zuſtand der Gleichguͤltigkeit , worin er
ſich fuͤhlte .
Am meiſten ſchmerzte es ihn , daß er nicht
recht zur Erkenntniß ſeines Suͤndenelendes kom¬
men konnte , welches doch zur Heilsordnung noͤ¬
thig war . Auch hatte er den Tag vorher in einer
auswendig gelernten Beichte im Beichtſtuhl be¬
kennen muͤſſen , daß er leider viel und mannigfal¬
tig geſuͤndigt , mit Gedanken , Worten und Wer¬
ken , mit Unterlaſſung des Guten und Begehung
des Boͤſen .
Die Suͤnden nun , deren er ſich ſchuldig glaub¬
te , waren vorzuͤglich Unterlaſſungsſuͤnden . Er
betete nicht andaͤchtig gnug , liebte Gott nicht eif¬
rig gnug , fuͤhlte nicht Dankbarkeit gnug gegen
ſeine Wohlthaͤter , und empfand keiu kein freudiges
Zittern , da er zum Abendmahle gieng . — Diß
alles ging ihm nun nahe , aber er konnte es doch
mit Zwang nicht abhelfen , darum war es ihm
in ſo fern recht lieb , daß ihm fuͤr dieſe Verge¬
hungen von dem Paſtor M. . . die Abſolution er¬
theilet wurde .
Dabei blieb er aber doch immer mit ſich ſel¬
ber unzufrieden : denn zu der Gottſeligkeit und
Froͤmmigkeit rechnete er vorzuͤglich die Aufmerk¬
ſamkeit auf jeden ſeiner Schritte und Tritte , auf
jedes Laͤcheln , uud und auf jede Miene , auf jedes
Wort , das er ſprach , und auf jeden Gedanken ,
den er dachte . — Dieſe Aufmerkſamkeit mußte
nun natuͤrlicher Weiſe ſehr oft unterbrochen wer¬
den , und konnte nicht wohl uͤber eine Stunde
in einem fortdauren — ſobald nun Reiſer ſeine
Zerſtreuung merkre merkte , ward er unzufrieden mit ſich
ſelber , und hielt es am Ende beinahe fuͤr unmoͤg¬
lich , ein ordentlich gottſeliges und frommes Le¬
ben zu fuͤhren .
Die Fran Frau F... hielt ihm an dem Tage , da er
zum Abendmahl gieng , eine lange Predigt uͤber
die boͤſen Luͤſte und Begierden , die in dieſem Alter
zu erwachen pflegten , und wogegen er nun kaͤm¬
pfen muͤſſe . Zum Gluͤck verſtand Reiſer nicht ,
was ſie eigentlich damit meinte , und wagte es
auch nicht , ſich genauer darnach zu erkundigen ,
ſondern nahm ſich nur feſt vor , wenn boͤſe Luͤſte
in ihm erwachen ſollten , ſie moͤchten anch auch ſeyn
von welcher Art ſie wollten , ritterlich dagegen
anzukaͤmpfen .
Er hatte bei ſeinem Religionsunterricht auf
dem Seminarium zwar ſchon von allerlei Suͤn¬
den gehoͤrt , wovon er ſich nie einen rechten Be¬
griff machen konnte , als von Sodomiterei , ſtum¬
me Suͤnden , und dem Laſter der Selbſtbefleckung ,
welche alle bei der Erklaͤrung des ſechſten Gebots
genannt wurden , und die er ſich ſogar aufgeſchrie¬
ben hatte . Aber die Nahmen waren auch alles ,
was er davon wußte ; denn zum Gluͤck hatte der
Inſpektor dieſe Suͤnden mit ſo fuͤrchterlichen
Farben gemahlt , daß ſich Reiſer ſchon vor der
Vorſtellung von dieſen ungeheuren Suͤnden ſelbſt
fuͤrchtete , und mit ſeinen Gedanken in das Dun¬
kel , welches ſie umhuͤllte , nicht tiefer einzudrin¬
gen wagte . — Ueberhaupt waren ſeine Begrif¬
fe von dem Urſprung des Menſchen noch ſehr
dunkel und verworren , ob er gleich nicht mehr
glaubte , daß der Storch die Kinder bringe . —
Seine Gedanken waren gewiß damals rein ; denn
ein gewiſſes Gefuͤhl von Scham , daß ihm natuͤr¬
lich zu ſeyn ſchien , war Urſach , daß er we¬
der mit ſeinen Gedanken uͤber dergleichen Gegen¬
ſtaͤnden verweilte , noch ſich mit ſeinen Mitſchuͤ¬
lern und Bekannten daruͤber zu unterreden wag¬
te . Auch kamen ihm ſeine religioͤſen Begriffe
von Suͤnde wohl hiebei zu ſtatten . — Es war
ihm fuͤrchterlich genug , daß es wirklich derglei¬
chen Laſter , die er nur den Nahmen nach kannte ,
in der Welt gab , geſchweige denn , daß er nur
einen Gedanken haͤtte haben ſollen , ſie naͤher ken¬
nen zu lernen .
Am Montag morgen introducirte ihn nun
der Direktor B. . . in dle die zweite Klaſſe des Lyce¬
ums , wo der Konrektor und der Kantor unter¬
richteten . — Der Konrektor war zugleich Pre¬
diger , und Reiſer hatte ihn oft predigen hoͤren . —
Er war es eben , deſſen Art ſich in ſeinem Prie¬
ſterornat zu tragen , Reiſern beſonders gefiel , ſo
daß er dieſelbe mit einem gewiſſen Auf- und Nie¬
derbewegen des Kinns zuweilen nachzuahmen ſuch¬
te . Auch war der Paſtor G. . . , ſo hieß er , noch
ein ſehr junger , der Kantor hingegen war ein
alter und etwas hypochondriſcher Mann .
In der zweiten Klaſſe waren ſchon ziemlich
erwachſene junge Leute , und Reiſer bildete ſich
nicht wenig darauf ein , nun ein Sekundaner
zu ſeyn .
Die Lehrſtunden nahmen ihren Anfang : der
Konrektor lehrte die Theologie , die Geſchichte ,
den lateiniſchen Stil , und das griechiſche neue
Teſtament . — Der Kantor den Katechismus ,
die Geographie , und die lateiniſche Grammatik .
Des Morgens um 7 Uhr fingen die Stunden an ,
und dauerten bis 10 , und des Nachmittags um 1
Uhr fingen ſie wieder an , und dauerten bis um
4 Uhr . — Hier mußte nun alſo Reiſer nebſt zwan¬
zig bis dreißig andern jungen Leuten , einen groſ¬
ſen Theil ſeines damaligen Lebens zubringen . Es
war alſo gewiß kein unwichtiger Umſtand , wie
dieſe Lehrſtunden eingerichtet waren .
Alle Morgen fruͤh wurde nach der vorgeſchrie¬
benen Ordnung zuerſt ein Kapitel aus der Bibel
geleſen , wie es jedesmal in der Reihe folgte , es
mochte nun ſo lang oder kurz ſeyn , wie es wollte .
Darauf wurde denn nach einer gewiſſen Heilsord¬
nung zweimal die Woche eine Art von Theologie
docirt , worinn z. B. die opera ad extra , und
die opera ad intra vorkamen , die vorzuͤglich ein¬
gepraͤgt wurden . Unter den erſtern wurden nehm¬
lich die Werke verſtanden , woran alle drei Perſo¬
nen in der Gottheit Theil nahmen , als die Schoͤ¬
pfung , Erloͤſung u. ſ. w. ob ſie gleich einer Perſon
vorzuͤglich zugeſchrieben werden ; und unter den letz¬
tern wurde das verſtanden , wodurch ſich eine Per¬
ſon von der andern unterſchied , und was ihr nur
ganz allein zukommt , als die Zeugung des Soh¬
nes vom Vater , das Ausgehen des heiligen Gei¬
ſtes vom Vater und Sohn u. ſ. w. Reiſer hatte
dieſe Unterſchiede zwar ſchon auf dem Seminarium
gelernet , aber es freute ihn doch ſehr , daß er ſie
nun auch lateiniſch zu benennen wußte . Die
opera ad extra und die opera ad intra praͤgten
ſich
ſich ihm von den theologiſchen Unterricht am tief¬
ſten ein .
Zwei Stunden in der Woche trug der Konrek¬
tor eine Art von Univerſalgeſchichte nach dem
Holberg vor , und der Kantor lehrte die Geogra¬
phie nach dem Huͤbner . Das war der ganze wiſſen¬
ſchaftliche Unterricht . Alle uͤbrige Zeit wurde
auf die Erlernung der lateiniſchen Sprache ver¬
wandt . Dieſe war es denn auch allein , worinn
ſich jemand Ruhm und Beifall erwerben konnte .
Denn die Ordnung der Plaͤtze richtete ſich nur
nach der Geſchicklichkeit im Lateiniſchen .
Der Kantor hatte nun die Methode , daß er
uͤber eine Anzahl von Regeln aus der großen maͤr¬
kiſchen Grammatik woͤchentlich einen kleinen Auf¬
ſatz diktirte , der ins lateiniſche uͤberſetzt werden
mußte , und wo die Ausdruͤcke ſo gewaͤhlt waren ,
daß immer gerade die jedesmaligen grammatika¬
liſchen Regeln darauf konnten angewandt werden .
Wer nun auf die Erklaͤrung derſelben am beſten
Acht gegeben hatte , der konnte auch ſein ſoge¬
nanntes Exercitium am beſten machen , und ſich
dadurch zu einem hoͤhern Platze hinaufarbeiten .
D
So ſonderbar nun auch die um des Lateini¬
ſchen Willen zuſammen geleſenen deutſchen Aus¬
druͤcke zuweilen klangen , ſo nuͤtzlich war doch im
Grunde dieſe Uebung , und ſolch einen Wetteifer er¬
regte ſie . — Denn binnen einem Jahre kam
Reiſer dadurch ſo weit , daß er ohne einen einzi¬
gen grammatikaliſchen Fehler Latein ſchrieb , und
ſich alſo in dieſer Sprache richtiger , als in der
deutſchen ausdruͤckte . Denn im lateiniſchen wu߬
te er , wo er den Akkuſativ und den Dativ ſetzen
mußte . Im Deutſchen aber hatte er nie daran
gedacht , daß mich z. B. der Akkuſativ und mir
der Dativ ſey , und daß man ſeine Mutterſpra¬
che eben ſo wie das Lateiniſche auch deklini¬
ren und konjugiren muͤſſen . — Indes faßte er
doch unvermerkt einige allgemeine Begriffe , die er
nachher auf ſeine Mutterſprache anwenden konn¬
te , — Er fing allmaͤlig an , ſich deutliche Be¬
griffe von dem zu machen , was man Subſtanti¬
vum und Verbum nannte , welche er ſonſt noch
oft verwechſelte , wo ſie aneinander grenzten , als
z. B. gehn , und das Gehen . Weil aber der¬
gleichen Irrthuͤmer in der lateiniſchen Ausarbei¬
tung immer einen Fehler zu veranlaſſen pflegten ,
ſo wurde er beſtaͤndig aufmerkſamer darauf , und
lernte auch die feinern Unterſchiede zwiſchen den
Redetheilen und ihren Abaͤnderungen unvermerkt
einſehen ; ſo daß er ſich nach einiger Zeit zuweilen
ſelbſt verwunderte , wie er vor kurzem noch ſolche
auffallende Fehler habe machen koͤnnen .
Der Kantor pflegte unter jede lateiniſche Aus¬
arbeitung , nachdem er an den Seiten mit rothen
Strichen die Anzahl der Fehler bemerkt hatte ,
ſein vidi ( ich habe es durchgeſehen ) zu ſetzen . Da
nun Reiſer dieß vidi unter ſeinem erſten Exerci¬
tium ſahe , ſo glaubte er , es ſey diß ein Wort ,
das er ſelbſt immer ans Ende der Ausarbeitung
ſchreiben muͤſſe , und deſſen Auslaſſung ihm der
Kantor mit als einen Fehler angerechnet habe .
Er ſchrieb alſo mit eigner Hand unter ſein zwei¬
tes Exercitium vidi , woruͤber der Kantor und
ſein Sohn , der dabey war , laut auflachten , und
ihm erklaͤrten , was es hieße . — Auf einmal
ſahe nun Reiſer ſeinen Irrthum , und konnte
nicht begreifen , wie er nicht ſelbſt auf die richtige
Erklaͤrung des vidi gefallen ſey , da er doch ſonſt
wohl wußte , was vidi hieß .
D 2
Es war ihm , als ob er mit Beſchaͤmung aus
einer Art von Dummheit erwachte , die ihm an¬
gewandelt hatte . Und er wurde auf einige Au¬
genblicke faſt eben ſo niedergeſchlagen daruͤber ,
als da der Inſpektor auf den Seminarium einſt
zu ihm ſagte : dummer Knabe , indem er glaubte ,
daß er nicht einmal buchſtabieren koͤnne . Eine
ſolche Art von wirklicher oder anſcheinender Dumm¬
heit bei gewiſſen Vorfaͤllen ruͤhrte zum Theil aus
einem Mangel an Gegenwart des Geiſtes , zum
Theil aus einer gewiſſen Aengſtlichkeit oder auch
Traͤgheit her , wodurch die natuͤrliche Kraft des
Denkens auf eine Zeitlang an ihrer freien Wirk¬
ſamkeit gehindert wurde .
Noch eine Hauptlektion waren die Lebensbe¬
ſchreibungen der griechiſchen Feldherrn vom Kor¬
nelius Nepos , wovon woͤchentlich ein Kapitel
aus der Lebensbeſchreibung irgend eines Feldherrn
auswendig mußte hergeſagt werden . Dieſe Ge¬
daͤchtnißuͤbungen wurden Reiſern ſehr leicht , weil
er nicht ſowohl die Worte , als die Sachen , ſich
einzupraͤgen ſuchte , welches er allemal des Abends
vor dem Schlafengehen that , und des Morgens ,
wenn er aufwachte , die Ideen weit heller und
beſſer geordnet , als den Abend vorher , in ſeinem
Gedaͤchtniß wiederfand , gleichſam , als ob die
Seele waͤhrend dem Schlafen fortgearbeitet , und
das , was ſie einmal angefangen , nun waͤhrend
der gaͤnzlichen Ruhe des Koͤrpers , mit Muße
vollendet haͤtte .
Alles was Reiſer dem Gedaͤchtniß anvertrau¬
te , pflegte er auf die Weiſe auswendig zu lernen .
Er fing nun auch an , ſich mit der Poeſie zu
beſchaͤftigen , welches er ſchon in ſeiner Kindheit
gethan hatte , wo denn ſeine Verſe immer die
ſchoͤne Natur , das Landleben und dergleichen zum
Gegenſtande zu haben pflegten . Denn ſeine einſa¬
men Spatziergaͤnge und der Anblick der gruͤnen Wie¬
ſen , wenn er etwa einmal vor das Thor kam , war
wirklich das einzige , was ihn in ſeiner Lage in ei¬
ne poetiſche Begeiſterung verſetzen konnte .
Als ein Knabe von zehn Jahren verfertigte
er ein paar Strophen , die ſich anfingen :
In den ſchoͤn bebluͤmten Auen
Kann man Gottes Guͤte ſchauen , u. ſ. w.
welche ſein Vater in Muſik ſetzte . Und das Ge¬
dicht , das er jetzt hervorbrachte , war eine Einla¬
dung auf das Land worinn wenigſtens die
D 3
Worte nicht uͤbel gewaͤhlt waren . — Diß kleine
Gedicht gab er dem jungen M. . . durch welchen
es in die Haͤnde des Paſtor M. . . und des Di¬
rektors kam , die ihren Beyfall daruͤber bezeigten ,
ſo daß Reiſer beinahe angefangen haͤtte , ſich fuͤr
einen Dichter zu halten . Aber der Kantor be¬
nahm ihm fuͤrs erſte dieſen Irrthum , indem er
ſein Gedicht Zeile vor Zeile mit ihm durchging ,
und ihn ſowohl auf die Fehler gegen das Metrum ,
als auf den fehlerhaften Ausdruck , und den Man¬
gel des Zuſammenhangs der Gedanken aufmerk¬
ſam machte .
Dieſe ſcharfe Kritik des Kantors war fuͤr Rei¬
ſern eine wahre Wohlthat , die er ihm nie genug
verdanken kann . Der Beifall , den dieß erſte
Produkt ſeiner Muſe ſo unverdienter Weiſe er¬
hielt , haͤtte ihm ſonſt vielleicht auf ſein ganzes
Leben geſchadet .
Demohngeachtet wandelte ihn der furor poe¬
ticus noch manchmal an , und weil ihn jetzt wirk¬
lich das Vergnuͤgen , dem Studieren obzuliegen ,
am meiſten begeiſterte , ſo wagte er ſich an ein
neues Gedicht zum Lobe der Wiſſenſchaften , wel¬
ches ſich komiſch genug anhob :
An euch ihr ſchoͤnen Wiſſenſchaften ,
An euch ſoll meine Seele haften , u. ſ. w.
Der Kantor lehrte auch lateiniſche Verſe ma¬
chen , trug die Regeln der Proſedie vor , die er
nachher auf Catonis difticha , beim Skandieren
derſelben anwenden ließ . Reiſer fand hieran ſehr
großes Vergnuͤgen , weil es ihm ſo gelehrt klang ,
lateiniſche Verſe ſkandiren zu koͤnnen , und zu
wiſſen , warum die eine Silbe lang , und die
andere kurz ausgeſprochen werden mußte ; der
Kantor ſchlug mit den Haͤnden den Takt beim
Skandiren . Das anzuſehen und mitmachen zu
koͤnnen , war ihm denn eine wahre Seelenfreude . —
Und als nun gar der Kantor zuletzt eine Anzahl
durcheinander geworfener lateiniſcher Woͤrter , wel¬
ches Verſe geweſen waren , diktirte , damit ſie
wieder in metriſche Ordnung gebracht werden ſoll¬
ten , welch ein Vergnuͤgen fuͤr Reiſern , da er
nun mit wenigen Fehlern , ein paar ordentliche
Hexameter wieder herausbrachte , und von dem
Kantor einen alten Kurtius zum Praͤmium er¬
hielt .
Hier herrſchte nun gewiß der ſogenannte alte
Schulſchlendrian , und Reiſer kam demohngeach¬
D 4
tet in einem Jahre ſo weit , daß er ohne einen gram¬
matikaliſchen Fehler Latein ſchreiben , und einen
lateiniſchen Vers richtig ſkandiren konnte . —
Das ganz einfache Mittel hiezu war — Die oͤfte¬
re Wiederhohlung des Alten mit dem Neu¬
en , welches doch die Paͤdagogen der neuern Zei¬
ten ja in Erwaͤgung ziehen ſollten . Eine Sache
mag noch ſo ſchoͤn vorgetragen ſeyn , ſobald ſie
nicht oͤfter wiederhohlt wird , haftet ſie ſchlechter¬
dings nicht in dem jugendlichen Gemuͤthe . Die
Alten haben gewiß nicht in den Wind geredet , wenn
ſie ſagten : daß die Wiederhohlung die Mutter
des Studierens ſey .
Von zehn bis elf Uhr gab der Konrektor noch
eine Privatſtunde , im deutſchen Deklamiren ,
und im deutſchen Stil , worauf ſich Reiſer im¬
mer am meiſten freute , weil er Gelegenheit hat¬
te , ſich durch Ausarbeitungen hervorzuthun ,
und ſich zugleich vom Katheder oͤffentlich konnte
hoͤren laſſen , welches einige Aehnlichkeit mit dem
Predigen hatte , das immer der hoͤchſte Gegen¬
ſtand aller ſeiner Wuͤnſche war .
Außer ihm war nun noch einer , Nahmens
J. . . , der an dieſer Uebung im Deklamiren ein
eben ſo großes Vergnuͤgen fand . Dieſer I. . .
iſt nachher einer unſrer erſten Schauſpieler und
beliebteſten dramatiſchen Schriftſteller geworden ;
und Reiſers Schickſal hat mit dem ſeinigen bis
auf einen gewiſſen Zeitpunkt viel Aehnliches ge¬
habt . — I. . . und Reiſer zeichneten ſich
immer in der Deklamationsuͤbung am meiſten
aus — I. . . uͤbertraf Reiſern weit an leb¬
haftem Ausdruck der Empfindung — Reiſer
aber empfand tiefer . — I. . . dachte weit
ſchneller , und hatte daher Witz und Gegenwart
des Geiſtes , aber keine Geduld , lange uͤber ei¬
nem Gegenſtande auszuhalten . — Reiſer ſchwang
ſich daher auch in allen uͤbrigen bald uͤber ihn
hinauf — Er verlohr allemal gegen I. . . , ſo¬
bald es auf Witz und Lebhaftigkeit ankam , aber
er gewann immer gegen ihn , ſobald es darauf
ankam , die eigentliche Kraft des Denkens an ir¬
gend einem Gegenſtande zu uͤben — I. . . konn¬
te ſehr lebhaft durch etwas geruͤhrt werden , aber
es machte bei ihm keinen ſo daurenden Eindruck ,
Er konnte ſehr leicht , und wie im Fluge etwas
faſſen , aber es entwiſchte ihm gemeiniglich eben
ſo ſchnell wieder . — I. . . war zum Schauſpie¬
D 5
ler gebohren . Er hatte ſchon als ein Knabe von
zwoͤlf Jahren , alle ſeine Minen und Bewegun¬
gen in ſeiner Gewalt — und konnte alle Arten
von Laͤcherlichkeiten in der vollkommenſten Nach¬
ahmung darſtellen . Da war kein Prediger
in H... dem er nicht auf das natuͤrlichſte nachge¬
predigt hatte . Dazu wurde denn gemeiniglich
die Zwiſchenzeit , ehe der Konrektor zur Privat¬
ſtunde kam , angewandt . Jedermann fuͤrchtete
ſich daher vor J. . . , weil er jedermann , ſobald
er nur wollte , laͤcherlich zu machen wuſte . —
Reiſer liebte ihn dennoch , und haͤtte ſchon da¬
mals gern naͤhern Umgang mit ihm gehabt ,
wenn die Verſchiedenheit der Gluͤcksumſtaͤnde
es nicht verhindert haͤtte . J. . .s Eltern waren
reich und augeſehn , und Reiſer war ein ar¬
mer Knabe , der von Wohlthaten lebte , dem¬
ohngeachtet aber den Gedanken bis in den Tod
haßte , ſich auf irgend eine Weiſe Reichen auf¬
zubringen . — Indeß genoß er von ſeinen rei¬
chern und beſſer gekleideten Mitſchuͤlern weit
mehr Achtung als er erwartet hatte , welches
zum Theil wohl mit daher kommen mochte , weil
man wußte , daß ihn der Prinz ſtudieren ließe ,
und ihn daher ſchon in einem etwas hoͤhern Lich¬
te betrachtete , als man ſonſt wuͤrde gethan
haben . — Dieß brachte ihm auch von ſeinen
Lehrern etwas mehr Aufmerkſamkeit und Ach¬
tung zu wege .
Ob nun gleich zum Theil ſchon erwachſene
Leute von ſiebzehn bis achtzehn Jahren in die¬
ſer Klaſſe ſaßen , ſo herrſchten doch darin noch
ſehr erniedrigende Strafen . Der Konrekter ſo¬
wohl als der Kantor theilten Ohrfeigen aus ,
und bedienten ſich zu ſchaͤrfern Zuͤchtigungen der
Peitſche , welche beſtaͤndig auf dem Katheder
lag ; auch mußten diejenigen welche etwas ver¬
brochen hatten , manchmal zur Strafe am Ka¬
theder knien .
Reiſern war der Gedanke ſchon unertraͤglich ,
ſich jemals eine ſolche Strafe von Maͤnnern zuzu¬
ziehen , welche er als ſeine Lehrer im hohen
Grade liebte und ehrte , und nichts eifriger
wuͤnſchte , als ſich wiederum ihre Liebe und Ach¬
tung zu erwerben . Welch eine Wirkung mußte
es alſo auf ihn thun , da er einmal , ehe er ſichs
verſahe , und ganz ohne ſeine Schnld Schuld , das
Schickſal einiger ſeiner Mitſchuͤler , welche we¬
gen eines vorgefallenen Lerms , vom Konrektor
mit der Peitſche beſtraft wurden , theilen mußte .
Gleiche Bruͤder gleiche Kappen , ſagte der Kon¬
rektor , da er an ihn kam , und hoͤrte auf keine
Entſchuldigungen , drohte auch noch dazu , ihn
bei dem Paſtor M. . . zu verklagen . Das Ge¬
fuͤhl ſeiner Unſchuld beſeelte Reiſern mit einem
edlen Trotze , und er drohte wieder , den Konrek¬
tor bei dem Paſtor M. . . zu verklagen , daß er
ihn unſchuldiger weiſe auf eine ſo erniedrigende
Art behandelte .
Reiſer ſagte dieß mit der Stimme der unter¬
druͤckten Unſchuld , und der Konrektor antwor¬
tete ihm kein Wort . Aber von der Zeit an , war
auch alles Gefuͤhl von Achtung und Liebe fuͤr
den Konrektor , wie aus ſeinem Herzen weggebla¬
ſen . Und da der Konrektor nun einmal in ſei¬
nen Strafen weiter keinen Unterſchied machte ,
ſo achtetete Reiſer eine Ohrfeige oder einen Peit¬
ſchenſchlag von ihm eben ſo wenig , als ob irgend
ein unvernuͤnftiges Thier an ihn angerannt
waͤre . Und weil er nun ſahe , daß es gleichviel
war , ob er ſich die Achtung dieſes Lehrers zu er¬
werben ſuchte , oder nicht , ſo hieng er auch nun
ſeiner Neigung nach , und war nicht mehr
aus Pflicht , ſondern bloß wenn ihn die Sache
intereſſirte aufmerkſam . Er pflegte denn oft
Stundenlang mit ſeinem Freunde J. . . zu plau¬
dern , mit dem er denn zuweilen geſellſchaft¬
lich am Katheder knien mußte . J. . . fand auch
hierinn Stoff , ſeinen Witz zu uͤben , indem er
das Katheder , worauf ſich der Konrektor mit
den Ellenbogen geſtuͤzt hatte , mit dem Meklen¬
burgiſchen Wapen , und ſich und Reiſern mit
den beiden Schildhaltern verglich . — J. . .s
Schalkhaftigkeit war durch keine Strafen zu
unterdruͤcken , ausgenommen durch eine , wo er
einmal eine ganze Stunde lang mit dem Geſicht
gegen den Ofen gekehrt ſtehen mußte , und alſo
ſeinen Witz nicht ſpielen laſſen , oder gegen je¬
mand irgend eine Pantomine machen konnte . —
Dieſe Strafe preßte ihm zum erſtenmal Thraͤnen
aus , und er legte ſich im Ernſt aufs Bitten , wel¬
ches er ſonſt nie that . — So war die Diſciplin
des Konrektors beſchaffen . — Es hatte einmal
einer aus Verſehen ſeine Nachtmuͤtze ſtatt des
Buchs in die Taſche geſtekt , und er ließ ihn mit
der Nachtmuͤtze auf dem Kopfe eine Stundelang
vor der ganzen Klaſſe knieu , woruͤber denn J. . .
ſeinen tauſend Spaß hatte , und ſeinen Nach¬
barn , die ſich uͤber ſeine Pantomime und ſeine
drollichten Einfaͤlle zuweilen des Lachens nicht
enthalten konnte , manche Ohrfeige zuzog .
Was nun dieſe Diſciplin des Konrektors
auf das Gemuͤth und den Charakter ſeiner Unter¬
gebnen fuͤr eine Wuͤrkung gethan , was fuͤr ein :
ruͤhmliches Andenken er ſich dadurch in den Her¬
zen ſeiner Schuͤler geſtiftet habe , und was fuͤr
einen Kranz er ſich dadurch erworben habe , mag
ſeinem eigenen Gewiſſen anheim geſtellt ſeyn . —
Wenn er ſich denn oft ſo recht als ein Held gezeigt
hatte , ſo pflegte er wohl zu ſagen : ich bin keine
Schlafmuͤze wie andre , und deutete damit , daß
es jedermann merken konnte , auf ſeinen Kolle¬
gen , den Kantor , der ohngeachtet ſeiner hypo¬
chondriſchen Laune , und einiger ihm anklebenden
Pedanterie , ein weit beſſerer Mann war , als
der Konrektor .
Nie hat Reiſer von dieſem eiuen einen Schlag be¬
kommen , ob derſelbe gleich ſonſt eben nicht karg
mit Ohrfeigen , und ziemlich freigebig mit der
Peitſche war . Aber er ſahe doch ein , daß es
Reiſern im Ernſt darum zu thun war , Strafe
zu vermeiden , und nun ſchlug er doch nicht blind¬
lings zu . Bei ihm lernte auch Reiſer weit mehr ,
als bei den Konrektor , weil er aus Pflicht auf¬
merkſam war , wenn ihn gleich die Sache nicht
intereſſirte . — Und da es ihm gelang , ſich
durch die lateiniſchen Ausarbeitungen bis zum
erſten Platze hinauf zu arbeiten ! wie aufmun¬
ternd war ihm nun das Lob des Kantors , und
wie eindringend der Zuſpruch deſſelben , daß er
ſich nun auf dieſem Plaze ſolle zu behaupten ſu¬
chen . — Nun ertheilte der Kantor immer dem er¬
ſten in der Klaſſe das Amt eines Cenſors oder
Aufſehers uͤber das Betragen der uͤbrigen , und
da nun Reiſer ſich immer auf ſeinem erſten Pla¬
ze behauptete , ſo gab ihm der Kantor den ehren¬
vollen Titel eines cenſor perpetuus oder im¬
merwaͤhrenden Aufſehers . Er verwaltete diß Amt
mit der groͤßten Gewiſſenhaftigkeit und Unpar¬
theilichkeit , und ſahe es oft mit Wehmuth an ,
wie die Buben den guten Kantor , der freilich
auch nicht immer den rechten Weg der Diſci¬
plin einſchlug , aͤrgerten und ihm das Leben ſauer
machten , ſo daß derſelbe oft in der Betruͤbniß ſei¬
nes Herzens ausrief , quem dii odere , paedo ¬
gogum fecere , wenn die Goͤtter haßten , den
machten ſie zum Schulmann . — Fuͤr den Kantor
hatte Reiſer alles aufgeopfert , weil er nie unge¬
recht gegen ihn geweſen war , obgleich das Be¬
tragen deſſelben ſonſt auch nicht immer das freund¬
lichſte war . — Wie ruͤhrend war es Reiſern oft ,
wenn in der Katechismusſtunde alles um ihn her
lermte und tobte , und der Kantor denn mit
Gewalt aufs Buch ſchlug , und ſagte : ich habe
Gottes Wort an euch ! — Nur Schade daß
der gute Mann dergleichen Ausdruͤcke , die zu
rechter Zeit angebracht , ihre Wirkung nicht ver¬
fehlen , zu oft anbrachte , und gewiſſe Gemein¬
plaͤze , als Thorheit ſteckt den Knaben im Her¬
zen , und dergleichen , alle Augenblicke im Munde
fuͤhrte , wodurch man ſich den am Ende ſo ſehr
daran gewoͤhnte , daß niemand mehr darauf ach¬
tete , und eben daher entſtand die ewige Unruhe
in den Lehrſtunden des Kantors . — Der Kon¬
rektor ſprach weniger bei ſeinen Zuͤchtigungen ,
darum bewirkten ſie mehr Stille und Ordnung .
Da nun Reiſer auf eine kurze Zeit die Schu¬
le beſucht hatte , ſo kam er auf den Einfall ,
ins Chor zu gehen ; nicht ſowohl um Geld zu
verdienen , als vielmehr in einen neuen ehren¬
vollen Stand zu treten , wovon er ſich ſchon als
Hutmacherburſche in B. . . immer ſo große Be¬
griffe gemacht hatte . —
Seine Phantaſie hatte hier wieder Spiel¬
raum — Das war ihm alles ſo himmliſch , ſo
feierlich in die Lobgeſaͤnge zur Ehre Gottes
oͤffentlich mit einzuſtimmen — Der Nahme
Chor toͤnte ihm ſo angenehm . — Das Lob
Gottes in vollen Choͤren zu ſingen , war ein
Ausdruck , der ihm immer im Sinne ſchallte . —
Er konnte die Zeit kaum abwarten ! wo er in
dieſe glaͤnzende Verſammlung wuͤrde aufge¬
nommen werden .
Einer ſeiner Mitſchuͤler , der ſchon lange
im Chor geſungen hatte , verſicherte ihm zwar ,
er ſey es ſo ſatt und uͤberdruͤßig , daß er lieber
Heute als Morgen davon frei ſein moͤchte —
Reiſer konnte ſich das unmoͤglich einbilden . Er
beſuchte mit großem Eifer die Lehrſtunde , wo der
Kantor Unterricht im Singen ertheilte , und be¬
neidete nun jeden , der eine beſſere Stimme be¬
ſaß , als er .
E
Richt weit von H. . . iſt ein Waſſerfall , wo
er auf Anrathen des Kantors oft Stundenlang
hinging , um ſich recht auszuſchreien , und ſeine
Stimme zu uͤben . — Allein es wollte mit dem
Singen nie recht fort . Denn es fehlte ihm zu¬
gleich an dem , was man muſikaliſches Gehoͤr
nennt . Aber das theoretiſche , was der Kantor
bei ſeinem Unterricht mit einfließen ließ , war ihm
deſto willkommner , und er machte dem Kantor
durch ſeine Aufmerkſamkeit viel Vergnuͤgen .
Reiſer empfand nun wirkliche Liebe gegen
den Kantor , und machte allenthalben ſehr viel
Ruͤhmens von ihm , ſo wie dieſer ihn wieder bei
den Leuten lobte . — Da fuͤgte es ſich einmal ,
daß Reiſer dem Kantor fuͤr das gute Zeugniß
dankte , das ihm derſelbe bei einem ſeiner Goͤnner
gegeben hatte , und der Kantor erwiederte : Rei¬
ſer habe ihm ja auch ein gutes Zeugniß gegeben :
denn es war ihm wieder zu Ohren gekommen ,
wie gut Reiſer allenthalben von ihm ſprach .
Die Freude dieſes Augenblicks haͤtte Reiſer um
vieles in der Welt nicht gegeben , ſo angenehm
war es ihm , daß ſein Lehrer es nun ſelber wu߬
te , wie ſehr er ihn liebte . — Wer ihm das beim
erſten Anblick geſagt haͤtte , dem wuͤrde er es nicht
geglaubt haben , daß der Kantor einmal ſo ſehr
ſein Freund ſein wuͤrde . Denn der Konrektor
war erſtlich ſein Mann ; deſſen laͤchelude freund¬
liche Miene , und glatte Stirne nahmen ihn ein ,
indes die finſtre Miene des Kantors und ſeine run¬
zelvolle Stirn ihn zuruͤckſcheuchten . Ach , was
fuͤr ein artiger freundlicher Mann iſt der Konrek¬
tor gegen den alten muͤrriſchen Kantor ! pflegte
er im Anfang oft zu ſagen : aber bei der genauern
Bekanntſchaft wandte ſich das Blatt gar bald
um .
Reiſer ſuchte ſich auch auf alle Weiſe in der
Achtung des Kantors immer feſter zu ſetzen . Diß
ging ſo weit , daß er auf einem oͤffentlichen Spa¬
tzierplatze , wo der Kantor hinzukommen pflegte ,
mit einem aufgeſchlagenen Buche in der Hand auf
und nieder ging , um die Blicke ſeines Lehrers
auf ſich zu ziehen , der ihn nun fuͤr ein Muſter
des Fleiſſes halten ſollte , weil er ſogar beim Spa¬
tziergehen ſtudierte . — Ob nun Reiſer gleich an
dem Buche , das er laß , wirklich Vergnuͤgen fand ,
E 2
ſo war doch das Vergnuͤgen , von dem Kantor in
dieſer Attituͤde bemerkt zu werden , noch weit groͤſ¬
ſer , und man ſiehet auch aus dieſem Zuge ſeinen
Hang zur Eitelkeit . Es lag ihm mehr an dem
Schein , als an der Sache , obgleich die Sache
ihm auch nicht unwichtig war .
Man hatte eine erſtaunliche Meinung von ſei¬
nem Fleiß , und pflegte ihm immer anzurathen ,
daß er ſeiner Geſundheit ſchonen ſollte ; dieß war
ihm aͤußerſt ſchmeichelhaft , und er ließ die Leute
bei dieſer Meinung , obgleich ſein Fleiß lange nicht
ſo groß war , wie er haͤtte ſeyn koͤnnen , wenn
das Druͤckende ſeiner Lage , in Anſehung ſeiner
Nahrung und Wohnung ihn nicht oft traͤge und
mißmuͤthig gemacht haͤtte .
Denn die unwuͤrdige Behandlung der er zu¬
weilen ausgeſetzt war , benahm ihm oft einen
großen Theil der Achtung gegen ſich ſelbſt , wel¬
che ſchlechterdings zum Fleiß nothwendig iſt . —
Oft ging er mit traurigem Herzen zur Schule ,
wenn er aber denn einmal darin war , ſo vergaß er
ſeines Kummers , und die Schulſtunden waren
im Grunde noch ſeine gluͤcklichſten Stunden .
Wenn er aber dann wieder zu Hauſe kam ,
und ſich manchmal verbluͤmter Weiſe mußte zu
verſtehen geben laſſen , wie uͤberdruͤßig man ſeiner
Gegenwart waͤre — dann ſaß er Stundenlang
und getraute ſich kaum Athem zu hohlen — er
war dann in einem entſetzlichen Zuſtande — und
haͤtte in der Welt nichts arbeiten koͤnnen , denn
ſein Herz war ihm durch dieſe Begegnung zer¬
riſſen . —
So konnten auch die Blicke der Frau des
Garniſonkuͤſters , wenn er dort gegeſſen hatte ,
ihn auf einige Tage niederſchlagen , und ihm den
Muth zum Fleiß benehmen .
Sicher waͤre Reiſer gluͤcklicher und zufriede¬
ner und gewiß auch fleißiger geweſen , als er war ,
haͤtte man ihn von dem Gelde , das der Prinz
fuͤr ihn hergab , Salz und Brodt fuͤr ſich kaufen
laſſen , als daß man ihn an fremden Tiſchen ſein
Brodt eſſen ließ .
Es war abſcheulich , in was fuͤr eine Lage
er einmal gerieth , da die Frau des Garniſonkuͤ¬
ſters , uͤber Tiſche erſt anfing von den ſchlechten
Zeiten , und von dem harten Winter , und dann
von dem Holzmangel zu reden , und endlich uͤber
E 3
die Beſorgniß in Thraͤnen ausbrach , wo man
noch zulezt Brodt herſchaffen ſolle ; und da Rei¬
ſer in der Verlegenheit uͤber dieſe Reden unver¬
ſehns ein Stuͤck Brodt an die Erde fallen ließ ,
ihn mit den Augen einer Furie anblickte , ohne
doch etwas zu ſagen — Da ſich Reiſer uͤber die¬
ſe unwuͤrdige Begegnung der Thraͤnen nicht ent¬
halten konnte , ſo brach ſie gegen ihn loß ,
warf ihm mit duͤrren Worten Unhoͤflichkeit und
ungeſchicktes Betragen vor , und gab zu verſte¬
hen , daß dergleichen Leute , die ihr den Biſſen
im Munde zu Gift machten , an ihrem Tiſche
nicht willkommen waͤre . — Der gute Garniſon¬
kuͤſter der Reiſern innig bedauerte , aber das
Regiment nicht im Hauſe fuͤhrte , erbarmte ſich
ſeiner , und ſagte ihm ſogleich den Tiſch auf —
So beſchaͤmt erniedrigt , und herabgewuͤrdigt
mußte nun Reiſer aus dieſem Hauſe gehen , und
durfte es kaum wagen , ſich zu Hauſe davon etwas
merken zu laſſen , daß er einen Freitiſch verloh¬
ren habe .
Wenn ihm der Garniſonkuͤſter nachher zuwei¬
len auf der Stroſſe begegnete , druͤckte er ihm
einen halben Gulden in die Hand , um ihn fuͤr
die Mißgunſt und den Geiz ſeiner Frau ſchad¬
loß zu halten .
Nun gab es wieder eine Art Leute , welche ,
wenn ſie Reiſern eine Mahlzeit zu eſſen gaben ,
alle Augenblick zu ſagen pflegten , wie gern es
ihn gegoͤnt ſey , und daß er ſichs nur recht ſollte
ſchmecken laſſen , denn fuͤr eine Mahlzeit werde
es ihm nun doch einmal gerechnet , und derglei¬
chen mehr , welches Reiſern nicht weniger verle¬
gen machte , ſo daß ihm das Eſſen , ſtatt des
Vergnuͤgens was man ſonſt dabei empffndet ,
gemeiniglich eine wahre Quaal war — Wie
gluͤcklich fuͤhlte er ſich , da er am erſten Sonn¬
tage , nachdem er den Tiſch bei dem Garniſonkuͤ¬
ſter verlohren , und es zu Hauſe noch nicht hatte
ſagen wollen , ein Dreier Brodt verzehrte , und
dabei einen Spaziergang um den Wall machte .
Es ſchien als ob ſich alles vereiniget habe ,
Reiſern in der Demuth zu uͤben ; ein Gluͤck daß
er nicht niedertraͤchtig druͤber werde — dann wuͤr¬
de er freilch zufrieden und vergnuͤgter geweſen
ſeyn , aber um alle den edlen Stolz , der den
Menſchen allein uͤber das Thier erhebt , das nur
E 4
ſeinen Hunger zu ſtillen ſucht , waͤre es bei ihm ge¬
than geweſen .
Der Stand des geringſten Lehrburſchen eines
Handwerkers iſt ehrenvoller , als der eines jun¬
gen Menſchen , der um ſtudieren zu koͤnnen , von
Wohlthaten lebt , ſobald ihm dieſe Wohlthaten auf
eine herabwuͤrdigende Art erzeigt werden . Fuͤhlt
ſich ein ſolcher junger Menſch gluͤcklich , ſo iſt er
in Gefahr niedertraͤchtig zu werden , und hat er
nicht die Anlage zur Niedertraͤchtigkeit , ſo wird
es ihm wie Reiſern gehen ; er wird mißmuͤthig
und menſchenfeindlich geſinnet werden , wie es
Reiſer wirklich wurde , denn er fieng ſchon da¬
mals an , in der Einſamkeit ſein groͤßtes Ver¬
gnuͤgen zu finden .
Einmal ſchickte ihn die Frau F... ſogar mit
einem großen Stuͤck Leinwand in des Prinzen
Haus , welches dort an die Leute zum Verkauf
vorgezeigt werden ſollte — Alles Straͤuben da¬
gegen wuͤrde nichts geholfen haben — denn der
Paſtor M... hatte einmal der Frau eine unbe¬
ſchraͤnkte Gewalt uͤber Reiſern ertheilet — und
jede Weigerung wuͤrde ihm als ein unverzeihlicher
Stolz ausgelegt worden ſeyn . — Es wuͤrde ihm
nicht ins Schild gemahlt werden , pflegte dann
die Frau F. . . wohl zu ſagen . — Eben ſo wenig
durfte er ſich ſtraͤuben , das Brodt zu hohlen , wel¬
ches der Houboiſt vom Regiment bekam , und ob er
dies gleich immer in der Daͤmmerung that , und die
abgelegenſten Straßen waͤhlte , damit ihn keiner
ſeiner Mitſchuͤler ſehen moͤchte , ſo bemerkte ihn
doch einmal einer derſelben zu ſeinem groͤßten
Schrecken , welcher aber zum Gluͤck ſo gut ge¬
ſinnet war , daß er ihm voͤllige Verſchwiegenheit
verſprach und hielt , ihm aber doch , wenn ſie ſich
in der Klaſſe zuweilen verunwilligten , drohete ,
es ruchtbar zu machen .
Endlich wurde ihm denn doch von dem Gelde
des Prinzen ein neues Kleid geſchaft , weil ſein
alter rother Soldatenrock gar nicht mehr halten
wollte ; aber gleichſam , als wenn es recht eigent¬
lich auf ſeine Demuͤthigung abgeſehen waͤre ,
waͤhlte man ihm graues Bediententuch zum Klei¬
de — wodurch er wiederum gegen ſeine Mitſchuͤ¬
ler faſt eben ſo ſonderbar als mit dem rothen
Soldatenrock abſtach ; und das Kleid durfte er
anfaͤnglich doch nur bei feierlichen Gelegenheiten ,
E 5
wenn etwa in der Schule Examen war , oder
wenn er zum Abendmahl ging , anziehen .
Was ihn aber von allen Demuͤthigungen die
er erlitt am meiſten kraͤnkte , und was er der Frau
F. . . nie hat vergeſſen koͤnnen , war eine unge¬
rechte Beſchuldigung , die ihm bis in die Seele
ſchmerzte , und die er doch durch keine Beweiſe
von ſich ablehnen konnte .
Die Frau F. . . , hatte ein kleines Maͤdchen
von etwa 3 bis 4 Jahren von einer ihrer Anver¬
wandtinnen zu ſich genommen . Dieſem Kinde
dachte ſie zu Weihnachten eine uͤberraſchende Freude
zu machen und hatte zu dem Ende einen Baum mit
Lichtern aufgepuzt , und mit Roſinen und Man¬
deln behangen . Reiſer blieb allein in der Stube ,
waͤhrend die Frau F. . . in die Kammer ging , um
das Kind zu hohlen . Nun fuͤgte es ſich , da ſie wie¬
der hereinkam , daß vermuthlich durch die Bewe¬
gung der Thuͤre , der Baum mit allen Lichtern
umfiel , und Reiſer in demſelben Augenblick hin¬
zulief , um ihn aufrecht zu erhalten , da dieß aber
nicht gehen wollte , ſogleich wieder ſeine Hand
davon abzog , welches nun gerade ſo ausſahe , als
ob er ſich die ganze Zeit uͤber mit dem Baum be¬
ſchaͤftigt habe , und nun , da die Frau F... her¬
einkam , erſchrocken ſey , und folglich den Baum
habe fahren laſſen , der nun wirklich umfiel . In
den Gedanken der Frau F. . . war es nun aus¬
gemacht , daß er von den Baum hatte naſchen
wollen , und auf die Weiſe ihr und dem Kinde
eine unſchuldige Freude verdorben habe .
Dieſen entehrenden Verdacht gab ſie Reiſern
mit deutlichen Worten zu verſtehen , und wie
ſollte er ihn von ſich abwaͤlzen . Er hatte kei¬
nen Zeugen . Und der Anſchein war wieder
ihn . — Schon die Moͤglichkeit , daß man
einen ſolchen Verdacht gegen ihn hegen konn¬
te , erniedrigte ihn bei ſich ſelber , er war in
einem ſolchen Zuſtande , wo man gleichſam zu
verſinken , oder in einem Augenblick gaͤnzlich ver¬
nichtet zu ſeyn , wuͤnſcht .
Ein Zuſtand , der eine Art von Seelenlaͤh¬
mung hervorzubringen vermag , welche nicht ſo
leicht wieder gehoben werden kann . — Man
fuͤhlt ſich in einem ſolchen Augenblick gleichſam
wie vernichtet , und gaͤbe ſein Leben darum , ſich
vor aller Welt verbergen zu koͤnnen . — Das
Selbſtzutrauen , welches der moraliſchen Thaͤtig¬
keit ſo noͤthig iſt , als das Athemhohlen der koͤrperli¬
chen Bewegung , erhaͤlt einen ſo gewaltigen Stoß ,
daß es ihm ſchwer haͤlt , ſich wieder zu erhohlen .
Wenn Reiſer nachher irgendwo zugegen war ,
wo man etwa eine Kleinigkeit ſuchte , von der
man glaubte , daß ſie weggenommen ſey , ſo
konnte er ſich nicht enthalten , roth zu werden ,
und in Verwirrung zu gerathen , bloß weil er
ſich die Moͤglichkeit lebhaft dachte , daß man ihn ,
ohne es ſich geradezu merken laſſen zu wollen , fuͤr
den Thaͤter halten koͤnnte . — Ein Beweiß , wie
ſehr man ſich irren kann , wenn man oft die Be¬
ſchaͤmung und Verwirrung eines angeklagten ,
als ein ſtillſchweigendes Geſtaͤndniß ſeines Ver¬
brechens auslegt . — Durch tauſend unverdiente
Demuͤthigungen kann jemand am Ende ſo weit
gebracht werden , daß er ſich ſelbſt als einen Ge¬
genſtand der allgemeinen Verachtung anſieht ,
und es nicht mehr wagt , die Augen vor jeman¬
den aufzuſchlagen — er kann auf die Weiſe in
der groͤßten Unſchuld ſeines Herzens alle die Kenn¬
zeichen eines boͤſen Gewiſſens an ſich bliken laſ¬
ſen , und wehe ihm dann , wenn er einem eingebilde¬
ten Menſchenkenner , wie es ſo viele giebt , in
die Haͤnde faͤllt , der nach dem erſten Eindruck
den ſeine Miene auf ihn macht , ſogleich ſeinen
Charakter beurtheilt —
Unter allen Empfindungen iſt wohl der hoͤch¬
ſte Grad der Beſchaͤmung , worinn jemand ver¬
ſetzt wird , eine der peinigendſten .
Mehr als einmal in ſeinem Leben hat Reiſer
dieß empfunden , mehr als einmal hat er Augen¬
blike gehabt , wo er gleichſam vor ſich ſelber ver¬
nichtet wurde — wenn er z. B. eine Begruͤßung ,
ein Lob , eine Einladung , oder dergleichen auf
ſich gedeutet hatte , womit er nicht gemeinet war .
— Die Beſchaͤmung und die Verwirrung worin
ein ſolcher Mißverſtand ihn verſetzen konnte ,
war unbeſchreiblich —
Es iſt auch ein ganz beſonderes Gefuͤhl da¬
bei , wenn man aus Misverſtand ſich eine Hoͤf¬
lichkeit zurechnet , die einem andern zugedacht iſt .
Eben der Gedanke , daß man zu ſehr von ſich
eingenommen ſeyn koͤnne , iſt es , der ſo etwas
außerordentlich demuͤthigendes hat . Dazu koͤmmt
das laͤcherliche Licht , in welchem man zu erſchei¬
nen glaubt — Kurz Reiſer hat in ſeinem Leben
nichts Schreklichers empfunden als dieſen Zu¬
ſtand der Beſchaͤmung , worin ihn oft eine Klei¬
nigkeit veſetzen konnte . — Alles andere griff nicht
ſo ſein innerſtes Weſen , ſein eigentliches Selbſt
an , als grade dieß . In Anſehung dieſer Art
des Leidens hat er auch das ſtaͤrkſte Mitleid em¬
pfunden . Um jemanden eine Beſchaͤmung zu er¬
ſparen , wuͤrde er mehr gethan haben , als um je¬
manden aus wuͤrklichem Ungluͤck retten : denn
die Beſchaͤmung daͤuchte ihm das groͤßte Ungluͤck ,
was einem wiederfahren kann .
Er war einmal bei einein Kaufmann in H. . .
der gemeiniglich ſtatt der Perſon mit der er
ſprach einen andern anzuſehen pflegte . Dieſer
bat , indem er Reiſern anſahe , einen andern der
mit in der Stube war , zum Eſſen , und da Rei¬
ſer die Einladuug Einladung auf ſich deutete , und ſie hoͤf¬
lich ablehnte , ſo ſagte der Kaufmann mit ſehr
trockner Mine : ich meine , ihn ja nicht ! — dieß
ich meine ihn ja nicht ! mit der troknen Mine
that eine ſolche Wirkung auf Reiſern , daß er
glaubte in die Erde ſinken zu muͤſſen ; dieß ich
meine ihn ja nicht ! verfolgte ihn nachher wo
er ging und ſtund , und machte ſeine Stimme ,
gebrochen und zitternd , wenn er mit Vorneh¬
nehmern reden ſollte , ſein Stolz konnte dieß
nie wieder ganz verwinden .
„ Wie kann er glauben , daß man ihn zum
„Eſſen bitten ſollte ? “ — So legte Reiſer daß
ich meine ihn ja nicht aus , und er kam
ſich in dem Augenblick ſo unbedentend , ſo wegge¬
worfen , ſo nichts vor , daß ihm ſein Geſicht , ſei¬
ne Haͤnde , ſein ganzes Weſen zur Laſt war , und
er nun die duͤmmſte und albernſte Figur machte ,
ſo wie er da ſtand , und zugleich dieß alberne und
dumme in ſeinem Betragen lebhafter und ſtaͤrker
als irgend jemand außer ihm empfand . —
Haͤtte Reiſer irgend jemanden gehabt , der an
ſeinem Schickſal wahren Antheil genommen haͤt¬
te , ſo wuͤrden ihm dergleichen Begegnungen viel¬
leicht nicht ſo kraͤnkend geweſen ſeyn . Aber ſo
war ſein Schickſal an die eigentliche Theilneh¬
mung anderer Menſchen nur mit ſo ſchwachen
Faͤden geknuͤpft , daß die anſcheinende Abloͤſung
irgend eines ſolchen Fadens , ihn ploͤzlich das Zer¬
reißen aller uͤbrigen befuͤrchten ließ , und er ſich
dann in einem Zuſtande ſahe , wo er keines Men¬
ſchen Aufmerkſamkeit auf ſich mehr erregte , ſon¬
dern ſich fuͤr ein Weſen hielt , auf das weiter gar
keine Ruͤckſicht genommen wurde . — Die
Scham iſt ein ſo heftiger Affeckt , wie irgend
einer , und es iſt zu verwundern , daß die Folgen
deſſelben nicht zuweilen toͤdlich ſind .
Die Furcht , in einem laͤcherlichen Lichte zu
erſcheinen war bei Reiſern zuweilen ſo entſetz¬
lich , daß er alles , ſelbſt ſein Leben , wuͤrde auf¬
geopfert haben , um dieß zu vermeiden . — Nie¬
mand hat das
Infelix paupertas , quia ridiculos miſe¬
ros facit ,
Traurig iſt das Loos der Armuth , weil
ſie die Ungluͤcklichen laͤcherlich macht ,
wohl ſtaͤrker empfunden , als er , dem laͤcherlich zu
werden , das groͤßte Ungluͤck auf der Welt duͤnk¬
te . — Es giebt eine Art des Laͤcherlichen , welche
ihm noch am ertraͤglichſten war . — Wenn
nehmlich Leute bloß der Sonderbarkeit wegen
uͤber etwas lachen , daß ſie ſich ſelbſt nicht nach¬
zuthun getrauen , ohne es deswegen in einem ver¬
aͤchtlichen Lichte zu betrachten .
Wenn er z. B. etwa von ſich ſagen hoͤrte der
Reiſer iſt doch ein ſonderbarer Menſch , er geht
des Abends ganz im Finſtern dreimal um den
Wall , und ſpricht mit Niemand , als mit ſich
ſelber , indem er ſich die Lektion des Tages wie¬
derhohlt , u. ſ. w. — ſo war ihm das gar nicht
unangenehm zu hoͤren , es hatte vielmehr etwas
Schmeichelhaftes fuͤr ihn , auf die Weiſe in ei¬
nem gewiſſen ſonderbaren Lichte zu erſcheinen . —
Aber als J... ſeinen Vers —
An euch ihr ſchoͤnen Wiſſenſchaften
An euch ſoll meine Seele haften ,
laͤcherlich machte , das war fuͤr ihn ſehr kraͤnkend
und beſchaͤmend , und er haͤtte viel darum gege¬
ben , daß er dieſen Vers nicht gemacht haͤtte .
Nachdem Reiſer ein Vierteljahr lang die
Singeſtunden des Kantors beſucht hatte , erreichte
er nun auch das ſo ſehnlich gewuͤnſchte Gluͤck , ins
Chor zu gehen , wo er die Altſtimme ſang . —
Die Freude uͤber ſeinen neuen Stand eines
Chorſchuͤlers dauerte einige Wochen , ſo lange
es nehmlich gut Wetter blieb . Er fand ein gar
großes Vergnuͤgen an den Arien und Motetten ,
die er ſingen hoͤrte , und an den freundſchaftlichen
Unterredungen mit ſeinen Mitſchuͤlern , waͤhrend
F
daß ſie von einem Hauſe und einer Straße zur
andern giengen .
Ein ſolches Chor hat viel Aehnliches mit ei¬
ner herumwandernden Truppe Schauſpieler , in
der man auch Freude und Leid , gutes und ſchlech¬
tes Wetter u. ſ. w. auf gewiſſe Weiſe mit einan¬
der theilt , welches immer ein feſteres Aneinander¬
ſchließen zu bewirken pflegt .
Am meiſten hatte ſich Reiſer auf den blauen
Mantel gefreut , der ins kuͤnftige ſeine Zierde
ſeyn wuͤrde — Denn dieſer Mantel naͤherte ſich
doch doch ſchon etwas der prieſterlichen Klei¬
dung . — Aber auch dieſe Hoffnung taͤuſchte ihn
ſehr ; denn die Frau F. . . ließ , um fuͤr ihn zu
ſparen , aus ein paar alten blauen Schuͤrzen einen
Mantel fuͤr ihn zuſammennaͤhen , womit er un¬
ter den uͤbrigen Chorſchuͤlern eben keine glaͤnzen¬
de Figur machte .
Nun bemerkte Reiſer gleich am erſten Tage
unter den Chorſchuͤlern einen , der ſich von den
uͤbrigen , ganz beſonders auszeichnete . — Man
ſahe es ihm gleich an , daß er ein Auslaͤnder
war , wenn man es auch nicht an ſeiner Spra¬
che gehoͤrt haͤtte . Denn alle ſeine Minen
und Bewegungen zeigten mehr Lebhaftigkeit
und Gewandtheit , als das aͤußer der ſteifen
und ſchwerfaͤlligen H. . .r — Reiſer konnte
ſich immer nicht ſatt an ihm ſehen ; und da er
ihn nun reden hoͤrte , ſo konnte er ſich nicht
enthalten ſeine wohlgeſetzten Ausdruͤcke , in dem
oberſaͤchſiſchen Dialekt zu bewundern ; alles was
die H...r ſagten , kam ihm dagegen plump und
abgeſchmackt vor . — Nun war der Praͤfektus
im Chore ein alter verſoffener Kerl , mit dem
ſich dieſer Auslaͤnder immer am meiſteu meiſten herum¬
zankte , und ihm gemeiniglich ſehr treffende und
beißende Antworten zu geben pflegte , wenn der
Praͤfektus ſich eine Art von Oberherſchaft uͤber
ihn anmaßen wollte . Und als dieſer unter an¬
dern einmal zu ihm ſagte , er ſey ſchon zu lange
Praͤfektus , als daß er ſich von ſo einem Gelb¬
ſchnabel duͤrfe Anzuͤglichkeiten ſagen laſſen , ſo
antwortete der Auslaͤnder , es bringe ihm freilich
eben nicht viel Ehre , daß er ſo ein alter Knabe ,
und noch immer Praͤfektus ſey — Dieſe Ueberle¬
genheit des Witzes , womit der Auslaͤnder den Praͤ¬
fektus auf einmal niederſchlug , machte Reiſern
noch aufmerkſamer auf ihn , und da er ſich nach
F 2
dem Nahmen deſſelben erkundigte , erfuhr er ,
daß er Reiſer hieße , und aus Erfurt gebuͤrtig ſey .
Nun war es Reiſern ſehr auffallend daß die¬
ſer junge Menſch , den er ſchon ſo liebgewonnen
hatte , gerade mit ihm einerlei Nahmen fuͤhrte ,
ohngeachtet er wegen die Entfernung des Ge¬
burtsortes ſchwerlich mit ihm verwandt ſeyn
konnte . — Er haͤtte gern gleich mit ihm Be¬
kanntſchaft gemacht , aber er wagte es noch nicht ,
weil ſein Nahmensgenoſſe ein Primaner , und er
nur ein Sekundaner war . — Auch fuͤrchtete er ſich
vor dem Witze deſſelben , dem er ſich nicht gewach¬
ſen fuͤhlte , wenn er einmal auf ihn ſollte gerich¬
tet werden . Indes fuͤgte ſich ihre Bekanntſchaft
von ſelber , indem Philipp Reiſer auf Anton Rei¬
ſers ſtilles und in ſich gekehrtes Weſen , eben ſo
wie dieſer auf das lebhafte Weſen von jenem ,
immer aufmerkſamer wurde , und ſie ſich ohnge¬
achtet dieſer Verſchiedenheit ihrer Charaktere ,
bald unter der Menge heraus fanden , und
Freunde wurden .
Dieſer Philipp Reiſer war gewiß ein vortref¬
licher Kopf , der aber auch , durch die Umſtaͤnde ,
worin ihn das Schickſal verſetzt hat , unterdruͤckt
worden iſt . — Nebſt einer feinen Empfindung
beſaß er viel Wiz und Laune , wirkliches muſika¬
liſches Talent , und war zugleich ein vorzuͤglicher
mechaniſcher Kopf — aber er war arm , und da¬
bei im hoͤchſten Grade ſtolz— ehe er Wohltha¬
ten angenommen haͤtte , wuͤrde er Hunger gelit¬
ten haben , welches er auch wirklich oͤfters that .
— Hatte er aber Geld , ſo war er freigebig und
gaſtfrei wie ein Koͤnig , — dann ſchmeckte ihm
wohl , was er genoß , wenn er reichlich davon mit¬
theilen konnte — aber er hatte freilich Einnahme
und Ausgabe nicht allzugut berechnen gelernt ,
und hatte daher ſehr oft Gelegenheit ſich in der
großen Kunſt des freiwilligen Entbehrens von
dem , was man ſonſt gern haͤtte , zu uͤben . —
Ohne jemals Anweiſung dazu gehabt zu haben ,
verfertigte er ſehr gute Klaviere und Forte pia¬
no's , welches ihm zuweilen anſehnliche Einnah¬
me verſchafte , die ihm aber freilich bei ſeiner gar
zu großen Freigebigkeit nicht viel halfen . — Da¬
bei hatte er den Kopf beſtaͤndig voll romanhafter
Ideen , und war immer in irgend ein Frau¬
enzimmer ſterblich verliebt ; wenn er auf dieſen
F 3
Punkt kam , ſo war es immer , als hoͤrte man
einen Liebhaber aus den Ritterzeiten . — Seine
Treue in der Freundſchaft , ſeine Begierde , den
Nohtleidenden zu helfen , und ſelbſt ſeine Gaſt¬
freiheit , kam auf dieſen Schlag heraus , und
gruͤndete ſich zum Theil auf die romanhaften Be¬
griffe , womit ſeine Phantaſie genaͤhrt war ,
obgleich ſein gutes Herz der eigentliche Grund
davon war — denn nur auf dem Boden eines
guten Herzens koͤnnen dergleichen Auswuͤchſe von
romanhaften Tugenden emporkeimen , und Wur¬
zel faſſen . In einer eigennuͤtzigen Seele , und
zuſammengeſchrumpften Herzen wird die haͤufig¬
ſte Romanenlektuͤre nie dergleichen Wirkungen
hervorbringen . —
Man ſiehet nun leicht ein , warum Philipp
und Anton Reiſer ſich auf halbem Wege begegne¬
ten und bei dem naͤhern Umgange fuͤr einander
gemacht zu ſeyn ſchienen . Der erſtere war beinahe
zwanzig Jahr alt , da Reiſer ihn kennen lernte ;
die Jahre , die er vor ihm voraus hatte , machten
ihn alſo gewiſſermaßen zu ſeinem Fuͤhrer und Rath¬
geber , nur Schade , daß in dem Hauptpunkte ,
was die Ordnung des Lebens betraf , Reiſer
keinen beſſern Fuͤhrer und Rathgeber fand . —
Indes hatte er doch nun den erſten eigentlichen
Freund ſeiner Jugend gefunden , deſſen Umgang
und Geſpraͤche ihm die Stunden , die er im Cho¬
re zubringen mußte , noch einigermaßen ertraͤg¬
lich machten .
Denn nun war das ſchoͤne Wetter vorbei ,
und es ſtellten ſich Regen , Schnee und Kaͤlte
ein — demohngeachtet mußte das Chor ſeine ge¬
wiſſen Stunden auf der Straße ſingen . — O
wie zaͤhlte Reiſer jetzt da er vom Froſt erſtarrtt
war , die Minuten , ehe das laͤſtige Singen vor¬
bei war , das ihm ſonſt eine himmliſche Muſik
in ſeinen Ohren duͤnkte .
Den ganzen Mittwoch und Sonnabend¬
nachmittag , und den ganzen Sontag nahm nun
allein das Chorſingen weg — denn alle Son¬
tagmorgen mußten die Chorſchuͤler in der Kirche
ſeyn , um vom Chore herunter das Amen zu ſin¬
gen . — Auch des Sonnabendsnachmittags bei
der Vorbereitung zum Abendmahle , mußten die
juͤngern Chorſchuͤler mit dem Kantor ein Lied ſin¬
gen , und einer von ihnen einen Pſalm , oben von
dem hohen Chore herunter leſen , welches nun
F 4
fuͤr Reiſern wieder ein großer Fund war — durch
eine ſolche oͤffentliche und laute Vorleſung eines
Pſalms , hielt er ſich wieder fuͤr alle Beſchwer¬
lichkeiten des Chorſingens belohnt . — Er duͤnkte
ſich nun ſchon wie der Paſtor P. . . in B. . . da¬
zuſtehen , und mit erſchuͤtternder Stimme zu dem
verſammleten Volke zu reden .
Uebrigens aber wurde das Chorſingen fuͤr ihn
bald die unangenehmſte Sache von der Welt . Es
raubte ihm alle Erhohlungsſtunden , die ihm noch
uͤbrig waren , und machte , daß er nun keinem ein¬
zigen ruhigen Tage in der Woche entgegen ſehen
konnte . Wie verſchwanden die goldnen Traͤume , die
er ſich davon gemacht hatte ! — und wie gern
haͤtte er ſich nun aus dieſer Sklaverei wieder
loßgekauft , wenn es noch moͤglich geweſen waͤre .
— Aber nun war das Chorgeld einmal zu ſeinen
gewoͤhnlichen Einkuͤnften mit gerechnet , und er
durfte gar nicht einmal daran denken , je wieder
davon loß zu kommen .
Den Gefaͤhrten ſeiner Sklaverei ging es groͤ߬
teutheis nicht beſſer , wie ihm , ſie waren dieſes
Lebens eben ſo uͤberdruͤſſig . — Und das Leben
eines Chorſchuͤlers , der ſich ſein Brodt vor den
Thuͤren erſingen muß , iſt auch wirklich ein ſehr
trauriges Leben . Wenn einer den Muth nicht
ganz dabei verliert , ſo iſt das gewiß ein ſeltner
Fall . — Die meiſten werden am Ende nieder¬
traͤchtig geſinnet , und verlieren , wenn ſie es
einmal geworden ſind , nie ganz die Spur davon .
Einen ſonderbaren Eindruck auf Reiſern machte
das ſogenannte Neujahrſingen , welches drei Tage
nacheinander dauert , und wegen der ſeht ab¬
wechſelnden Scenen , die dabei vorfallen , mit ei¬
nem Zuge auf Abentheuer ſehr viel Aehnliches
hat — Ein Haͤufchen Chorſchuͤler ſteht in
Schnee und Kaͤlte dicht aneinander gedraͤngt auf
der Straße , bis ein Bote der von Zeit zu Zeit
abgeſchickt wird , die Nachricht bringt , daß in
irgend einem Hauſe ſoll geſungen werden . —
Dann geht man in das Haus hinein , und wird
gemeiniglich in die Stube genoͤthigt , wo denn
erſt eine Arie oder Motette , die ſich auf die Zeit
paßt geſungen wird . — Alsdenn pflegt man¬
cher Hauswirth ſo hoͤflich zu ſeyn , und die Chor¬
ſchuͤler mit Wein oder Kaffe , und Kuchen zu
F 5
bewirthen . Dieſe Aufnahme in einer warmen
Stube nach dem man oft lange in der Kaͤlte ge¬
ſtanden hatte , und die Erfriſchungen die einem
gereicht wurden , waren eine ſolche Erquickung ,
und die Mannichfaltigkeit der Gegenſtaͤnde , in¬
dem man an einem Tage wohl zwanzig und mehr
verſchiedene haͤußliche Einrichtungen und Fami¬
lien in ihren Wohnzimmern verſammlet ſahe ,
machte einen ſo angenehmen Eindruck auf die
Seele , daß man dieſe drei Tage uͤber in einer Art
von Entzuͤckung und beſtaͤndigen Erwartung
neuer Scenen ſchwebte , und ſich die Beſchwer¬
den der Witterung gern gefallen ließ . — Das
Singen dauerte bis faſt in die Nacht , und die
Erleuchtung des Abends machte dann die Scene
noch feierlicher — Unter andern wurde auch in
einem Hoſpital fuͤr alte Frauen zum Neujahr geſun¬
gen , wo ſich die Chorſchuͤler mit den alten Muͤt¬
tern in einen Kreis zuſammenſetzen , und mit
gefaltenen Haͤnden ſingen mußten : Bis hieher
hat mich Gott gebracht. u. ſ. w. — Bei dieſem
Neujahrſingen ſchien alles freundſchaftlicher ge¬
geneinander zu ſeyn . Man ſahe nicht ſo ſehr auf
die Rangordnung , die Primaner ſprachen mit den
Sekundanern , und eine ungewoͤhnliche Heiter¬
keit verbreitete ſich uͤber die Gemuͤther .
An dieſem Neujahr uͤberfiel anch auch Reiſern eine
erſtaunliche Wuth Verſe zu machen . — Er
ſchrieb Neujahrwuͤnſche in Verſen an ſeine El¬
tern , ſeinen Bruder , die Frau F. . . , und wer
weiß an wen , und ſprach darin von Silberbaͤ¬
chen , die ſich durch Blumen ſchlaͤngelu , und von
ſanften Zephirs , und goldnen Tagen , daß es
zum bewundern war — ſein Vater hatte vor¬
zuͤgliches Vergnuͤgen an dem Silberbach gefun¬
den ; ſeine Mutter aber verwunderte ſich , daß
er ſeinen Vater beſter Vater nenne , da er doch
nur einen Vater habe .
Seine poetiſche Lektion beſtand damals faſt
in nichts , als Leſſings kleinen Schriften , die
ihm Philipp Reiſer geliehen hatte und die er faſt
auswendig wußte , ſo oft hatte er ſie durchgele¬
ſen . Uebrigens ſieht man leicht , daß er , ſeit dem
er ins Chor ging , zu eignen Arbeiten , die von
ihm abhingen , eben nicht viel Zeit uͤbrig behielt .
Demohngeachtet hatte er allerlei große Projekte !
der Stil im Kornelius Nepos war ihm z. E.
nicht erhaben gnug , und er nahm ſich vor , die
Geſchichte der Feldherrn ganz anders einzuklei¬
den ; etwa ſo wie der Daniel in der Loͤwengrube
geſchrieben war — dieß ſollte denn auch eine
Art von Heldengedicht werden .
In einer Privatſtunde bei dem Konrektor
wurden des Terenz Komoͤdien geleſen , und ſchon
der Gedanke , daß dieſer Autor unter die ſchweren
gezaͤhlt wird , machte , daß er ihn mit groͤßerm
Eifer , als etwa den Phaͤdrus oder Eutropius
ſtudirte , und jedes Stuͤck , was in der Schule
geleſen wurde , ſogleich zu Hauſe uͤberſetzte . —
Als er nun auf die Weiſe wirklich in ſehr
kurzer Zeit ſtarke Fortſchritte gethan hatte , be¬
ſuchte er den alten tauben Mann wieder , der nun
weit uͤber hundert Jahr alt , und ſchon eine
Zeitlang kindiſch geweſen war , zu aller Verwun¬
derung aber noch ein Jahr vor ſeinem Tode ſei¬
nen voͤlligen Verſtand wieder erhielt . — Reiſer
wußte ſeine Stube am Ende des langen finſtern
Ganges , und ihm wandelte ein kleiner Schauer
an , als er von ferne den ſcharrenden Gang des
alten Mannes hoͤrte , der ihn , da er herein trat ,
ſehr freundlich willkommen hieß , und ihn mit
der Hand winkte , daß er ihm etwas aufſchrei¬
ben ſolle .
Mit welchem Entzuͤcken ſchrieb ihm nun Rei¬
ſer auf , daß er jetzt ſtudiere , und ſchon den Te¬
renz , und das grichiſche neue Teſtament uͤberſetze .
Der Greis ließ ſich herab , an Reiſers kin¬
diſcher Freude Theil zu nehmen , und wunderte
ſich daruͤber , daß er bereits den Terenz verſtuͤn¬
de , wozu doch ſchon eine Menge von Woͤrtern
gehoͤre . Am Ende ſchrieb ihm Reiſer um ſeine
Gelehrſamkeit ganz auszukramen , mit griechiſchen
Buchſtaben etwas auf — und der alte Mann er¬
munterte ihn zum fernern Fleiß , und ermahnte ihn ,
des Gebets nicht zu vergeſſen , worauf er ſich mit
ihm auf die Knie nieder warf , und gerade ſo , wie
vor fuͤnf Jahren , da Reiſer ihn zum erſtenmale
ſahe , wieder mit ihm betete .
Mit geruͤhrtem Herzen gieng Reiſer zu Hau¬
ſe , und nahm ſich vor , ſich ganz wieder zu Gott
zu wenden , das hieß bei ihm , unaufhoͤrlich an
Gott zu denken — er erinnerte ſich mit Weh¬
muth des Zuſtandes , worin er ſich als ein Knab e
befunden hatte , da er mit Gott Unterredung
hielt , und immer voll hoher Erwartung war ,
was nun fuͤr große Dinge , in ihm vorgehen wuͤr¬
den . — In dieſen Erinnerungen lag eine un¬
beſchreibliche Suͤßigkeit , denn der Roman , den
die froͤmmelnde Phantaſie der glaͤubigen Seelen
mit dem hoͤchſten Weſen ſpielt , von dem ſie ſich
bald verlaſſen , und bald wieder angenommen
glauben , bald eine Sehnſucht und einen Hunger
nach ihm empfinden , und bald wieder in einem
Zuſtande der Trockenheit , und Lere des Her¬
zens ſind , hat wirklich etwas erhabnes , und
großes , und erhaͤlt die Lebensgeiſter in einer im¬
merwaͤhrenden Thaͤtigkeit , ſo daß auch die Traͤu¬
me des Nachts ſich mit uͤberirdiſchen Dingen be¬
ſchaͤftigen , wie denn Reiſern einſt traͤumte , daß
er in die Geſellſchaft der Seeligen aufgenommen
war , die ſich in cryſtallnen Stroͤmen badeten —
Ein Traum , der oft wieder ſeine Einbildungs¬
kraft entzuͤckt hat .
Reiſer liehe ſich nun von dem alten Tiſcher
die Guionſchen Schriften wieder , und erinnerte
ſich indem er ſie laß , an jene gluͤcklichen Zeiten
zuruͤck , wo er ſeiner Meinung nach auf dem
Wege zur Vollkommenheit begriffen war . —
Wenn er nun manchmal durch ſeine aͤußeren Um¬
ſtaͤnde traurig und mißmuͤthig gemacht war , und
ihm keine Lektuͤre ſchmecken wollte , ſo waren die
Bibel und die Lieder der Madam Guion das
einzige , wozu er wegen des reizenden Dunkels ,
das ihm darin herrſchte , ſeine Zuflucht nahm .
Ihm ſchimmerte durch den Schleier des raͤthſel¬
haften Ausdrucks ein unbekanntes Licht entgegen ,
das ſeine erſtorbne Phantaſie wieder anfriſchte
— aber mit dem eigentlichen Fromm ſeyn oder
dem beſtaͤndigen Denken an Gott wollte es dem¬
ohngeachtet nicht mehr recht fort . — In den
Verbindungen worin er jetzt war , bekuͤmmerte
man ſich eben nicht mehr um ſeinen Seelenzu¬
ſtand , und er hatte in der Schule und im Chore
viel zu viel Zerſtreuung , als daß er auch nur eine
Woche lang ſeiner Neigung zum ununterbrochnen
In ſich gekehrt ſeyn haͤtte getreu bleiben koͤnnen .
Indes beſuchte er doch den Greis vor ſeinem
Tode noch verſchiedenemale , bis er auch einmal
zu ihm gehen wollte , und erfuhr , daß er todt
und begraben ſey — ſeine letzten Worte waren
geweſen : alles ! alles ! alles ! — dieſe Worte er¬
innerte ſich Reiſer oft mitten im Gebet , oder
auch ſonſt nach einer Pauſe , in einer Art von
Entzuͤckung , von ihm gehoͤrt zu haben — Es ſchien
dann zuweilen , als wollte er mit dieſen Worten
ſeinen zur Ewigkeit reifen Geiſt aushauchen , und
in dem Augenblick ſeine ſterbliche Huͤlle abſtreifen .
— Darum war es Reiſern ſehr auffallend , da
er hoͤrte , daß der alte Mann mit dieſen Worten
geſtorben ſey , und doch war es ihm auch , als
ſey er nicht geſtorben , ſo ſehr ſchien dieſer from¬
me Greis immer ſchon in einer andern Welt zu
leben — Tod und Ewigkeit , waren die letztenmale
das ihn Reiſer ſprach , faſt ſein einziger Gedan¬
ke . — Es war Reiſern diesmal faſt nicht an¬
ders , als ob der alte Mann ausgezogen ſey , da
er ihn habe beſuchen wollen , und dieß war bei
ihm nichts weniger als Gleichguͤltigkeit , ſondern
eine innige Vertraulichkeit mit dem Gedanken an
den Tod dieſes Mannes .
Indes hatte er an dem alten Mann wieder ei¬
nen Freund ſeiner Jugend verlohren , deſſen Theil¬
nehmung an ſeinen Schickſale ihm oft Freude ge¬
macht hatte . Er fuͤhlte ſich in manchen Stunden ,
ohne ſelbſt zu wiſſen warum , verlaſſner wie ſonſt .
— Die Frau F. . . wurde der Laſt , welche ihr ſein
Aufenthalt bei ihr machte , ebenfalls immer uͤber¬
druͤſſiger , und ſagte ihm endlich , nachdem ſie
dreivierteljahre lang Geduld gehabt hatte , die
Wohnung auf , mit dem wohlgemeinten Rathe ,
daß er ſich nun nach einem andern Logis umſehen
ſolle . — Indes war der Rektor des Lyceums
abgegangen , und der neue Rektor S... , wel¬
cher an deſſen Stelle gewaͤhlt wurde , war ein
guter Freund von dem Paſtor M... , der nun
darauf dachte , Reiſern bei dieſem Mann ins
Haus zu bringen , und ihn im Voraus auf die
großen Vortheile aufmerkſam machte , welche ihm
dadurch erwachſen wuͤrden , wenn er das Gluͤck ha¬
ben ſollte , von dieſem Manne in ſein Haus auf¬
genommen zu werden . — Alſo bei dem Rektor
ſollte nun Reiſer ins Haus ziehen — wie ſehr
ſchmeichelte dieß ſeiner Eitelkeit ! denn dachte er
ſich , wenn es ihm gluͤcken ſollte , ſich bei dem
Rektor beliebt zu machen , was fuͤr eine glaͤnzende
Ausſicht ſich ihm dann eroͤfnete , da uͤberdem
nun der Rektor ſein Lehrer wurde , indem er nach
Endigung ſeines erſten Schuljahres gleich nach
Prima verſetzt werden ſollte , worin der Direktor
und der Rektor allein Unterricht gaben .
G
Im Grunde war es ihm aͤußerſt angenehm ,
daß ihm die Frau F... die Wohnung aufſagte ,
weil er es nie haͤtte wagen duͤrfen , nur ein Wort
davon zu erwaͤhnen , daß er von ihr wegziehen
wolle . — Hiezu kam nun noch , daß er die
große Erwartung hatte , ein Hausgenoſſe des
Rektors ſeines kuͤnftigen Lehrers zu werden .
Allein um dieſe Zeit hatte ſich eine neue Grille in
ſeiner Phantaſie zu bilden angefangen , welche
auf ſein ganzes kuͤnftiges Leben einen großen
Einfluß gehabt hat .
Ich habe nehmlich ſchon der Deklamations¬
uͤbungen erwaͤhnt , welche in Sekunda von dem
Konrektor veranſtaltet wurden . Dieß hatte fuͤr
ihn und J... einen ſo außerordentlichen Reiz ,
daß alles andre ſich dagegen verdunkelte , und
Reiſer nichts mehr wuͤnſchte , als Gelegenheit
zu haben , mit mehreren ſeiner Mitſchuͤler einmal
eine Komoͤdie aufzufuͤhren , um ſich im Deklamiren
hoͤren zu laſſen — dieß hatte einen ſo unendlichen
Reiz fuͤr ihn , daß er eine Zeitlang Tag und Nacht
mit dieſem Gedanken umgieng , und ſelber den Ent¬
wurf zu einer Komoͤdie machte , wo zwei Freunde
von einander getrennt werden ſollten , und dar¬
uͤber untroͤſtlich waren , u. ſ. w. — Auch fand
er in Leydings Handbibliothek , die ihm jemand
geliehen hatte , ein ruͤhrendes Drama in Ver¬
ſen : der Einſiedler welches er gern mit J. . .
auffuͤhren wollte . — Er wuͤnſchte ſich denn eine
recht affektvolle Rolle , wo er mit dem groͤßten
Pathos reden und ſich in eine Reihe von Em¬
pfindungen verſetzen koͤnnte , die er ſo gern hatte ,
und ſie doch in ſeiner wirklichen Welt , wo alles
ſo kahl ſo armſelig zuging , nicht haben konnte .
— Dieſer Wunſch war bei Reiſern ſehr natuͤr¬
lich ; er hatte Gefuͤhle fuͤr Freundſchaft , fuͤr
Dankbarkeit , fuͤr Großmuth , und edle Ent¬
ſchloſſenheit , welche alle ungenutzt in ihm ſchlum¬
merten ; denn durch ſeine aͤußere Lage ſchrumpfte
ſein Herz zuſammen . — Was Wunder , daß
es ſich in einer idealiſchen Welt wieder zu erwei¬
tern , und ſeinen natuͤrlichen Empfindungen nach¬
zuhaͤngen ſuchte ! — In dem Schauſpiel ſchien
er ſich gleichſam wieder zu finden , nachdem er
ſich in ſeiner wirklichen Welt beinahe verlohren
hatte — Darum wurde auch in der Folge ſeine
Freundſchaft mit Philipp Reiſern beinahe eine the¬
athraliſche Freundſchaft , die oft ſo weit ging , daß
G 2
einer fuͤr den andern zu ſterben entſchloſſen war .
— Nun wurde ihm die Theatergrille ſo werth ,
daß die Sucht zu predigen beinahe ganz dadurch
aus ſeiner Seele verdraͤngt wurde — denn hier
fand ſeine Phantaſie einen weit groͤßern Spiel¬
raum , weit mehr wirkliches Leben , und Interreſſe ,
als in dem ewigen Monolog des Predigers . —
Wenn er die Scenen eines Drama , daß er ent¬
weder geleſen , oder ſich ſelbſt in Gedanken ent¬
worfen hatte , durchging , ſo war er das alles
nacheinander wirklich , was er vorſtellte , er war
bald großmuͤthig , bald dankbar , bald gekraͤnkt
und duldend , bald heftig und jedem Angriff
muthig entgegenkaͤmpfend .
Dabei war ihm nun die Ausſicht auf Prima
aͤußerſt glaͤnzend — denn die Primaner des Ly¬
ceums in H. . . hatten wirklich ſo viele aͤußere in
die Augen fallende Vorzuͤge wie in wenigen Schu¬
len ſtatt finden moͤgen . — Sie hielten alle Neu¬
jahr bei einer großen Menge Zuſchauer einen
oͤffentlichen Aufzug mit Muſik und Fackeln , in¬
dem ſie dem Direktor und dem Rektor ein Vivat
brachten . — Am Abend darauf uͤberreichten ſie
das eine Jahr dem Direktor , und das andere
dem Rektor , ein freiwillig zuſammengebrachtes
Geſchenk , das gemeiniglich uͤber hundert Thaler
betrug , und wobei derjenige der es uͤberreichte
eine kurze lateiniſche Rede hielt — alsdann wur¬
den ſie mit Wein und Kuchen bewirthet , und
durften ſich die Freiheit herausnehmen , ihrem
Lehrer in ſeiner Behauſung ein lauterſchallendes
Vivat zu rufen .
Faſt ein Vierteljahr vorher wurde immer
ſchon von der Anordnung dieſes Zuges geſprochen .
Alle Sommer in den Hundstagen wurde
von den Primanern oͤffentlich Komoͤdie geſpielt ,
wo ihnen die Wahl der Stuͤcke , und die Anord¬
nung ebenfalls allein uͤberlaſſen war — Dieß be¬
ſchaͤftigte ſie faſt den ganzen Sommer uͤber . —
Dann fiel im Jenner das Geburtsfeſt der Koͤ¬
nigin , und im May das Gebursfeſt des Koͤnigs
ein , wo allemal mit großer Feierlichkeit ein Re¬
deaktus veranſtaltet wurde , bei dem der Prinz ,
die Miniſter , und faſt alle Honoratioren der
Stadt erſchienen . Die Vorbereitung hiezu nahm
nun jedesmal ſehr viel Zeit weg — Dazu ka¬
men jaͤhrlich noch zwei oͤffentliche Pruͤfungen ,
die auch allemal mit Ferien begleitet waren —
G 3
Hiedurch gieng freilich viel Zeit verlohren —
Indes waren dieß alles doch ſo viele glaͤnzende
Ziele fuͤr einen ehrgeizigen Juͤngling , welche
ihm den Reiz der Schuljahre immer wieder auf¬
friſchten , ſo bald er verloͤſchen wollte .
Etwa einmal einer der Anfuͤhrer bei dem Zuge
der mit Fackeln zu ſeyn , oder die lateiniſche Rede
bei Ueberreichung des Geſchenks zu halten , oder
eine Hauptrolle in einem der aufgefuͤhrten Stuͤcke
zu bekommen , oder gar eine Rede an des Koͤnigs
oder der Koͤnigin Geburtstage zu halten , das
waren die Wuͤnſche und Außichten eines Primaners
des Lyceums in H. . . — Hiezu kam nun noch
der elegante Hoͤ ſaal der erſten Klaſſe , mit dem
zierlichgebauten doppelten Katheder von ſchoͤnge¬
bohnten Nußbaumholz , und vor den Fenſtern
die gruͤnen Vorhaͤnge , welches alles ſich verei¬
nigte , um Reiſers Phantaſie aufs neue mit rei¬
zenden Bilden von ſeinem kuͤnftigen Zuſtande an¬
zufuͤllen , und ſeine Erwartung von dem , was
nun mit ihm vorgehen wuͤrde , bis auf den hoͤch¬
ſten Grad zu ſpannen . Sogleich nach ſeinem
erſten Schuljahre ein Primaner zu werden , das
war ein Gluͤck , welches er ſich kaum haͤtte traͤu¬
men laſſen .
Erfuͤllt von dieſen Hoffnungen und Ausſich¬
ten , reißte er nun in der Ferienwoche vor Oſtern ,
mit Fuhrleuten , die denſelben Weg nahmen , zu
ſeinen Eltern , um ihnen ſein Gluͤck zu verkuͤndi¬
gen . — Auf dieſer Reiſe , da der Weg groͤßten¬
theils durch Wald und Heide gieng , nahm ſeine
vorher erwaͤrmte Phantaſie einen außerordent¬
lichen Schwung ; er entwarf Heldengedichte ,
Trauerſpiele , Romane , und wer weiß was —
zuweilen fiel ihm auch der Gedanke ein , ſein Leben
zu ſchreiben ; der Anfang , den er ſich dachte lief
aber immer auf den Schlag der Robinſons hin¬
aus , die er geleſen hatte , daß er nehmlich in
dem und dem Jahre zu H. . . von armen doch
ehrlichen Eltern gebohren ſey , und ſo ſollte es
denn weiter fortgehen .
So oft er nachher zu ſeinen Eltern reißte ,
es mochte nun zu Fuß oder zu Wagen ſeyn , war
unterwegens ſeine Einbildungskraft immer am
geſchaͤftigſten — ein ganzer Zeitraum ſeines ver¬
floßnen Lebens ſtand vor ihm da , ſo bald er die
vier Thuͤrme von H. . . aus dem Geſicht verlohr
G 4
— der Geſichtskreis ſeiner Seele erweiterte ſich
denn mit dem Geſichtskreis ſeiner Augen — Er
fuͤhlte ſich aus dem umſchraͤnkten Cirkel ſeines
Daſeyns in die große weite Welt verſetzt , wo alle
wunderbaren Ereigniſſe , die er je in Romanen ,
geleſen hatte , moͤglich waren — daß etwa von
jenem Huͤgel ploͤtzlich ſein Vater oder ſeine Mut¬
ter wie aus der Ferne ihm entgegen kommen , und
wie er denn freudig auf ſie zueilen wuͤrde — er
glaubte ſchon den Ton der Stimme ſeiner El¬
tern zu hoͤren — und da er nun das erſtemal
dieſe Reiſe that , ſo empfand er wirklich das rein¬
ſte Vergnuͤgen der ſehnlichen Erwartung , bei
ſeinen Eltern zu ſeyn : denn was hatte er ihnen
nicht fuͤr große Dinge zu erzaͤhlen !
Da er nun am folgenden Mittage hinkam ,
bewillkommten ihn ſeine Eltern und ſeine bei¬
den Bruͤder mit herzlicher Freude in ihrer laͤnd¬
lichen Wohnung . Sie hatten einen kleinen
Garten hinter dem Hauſe . Und waren ſo weit
recht gut eingerichtet . Aber mit dem Hausfrieden
ſtand es leider , wie er bald ſahe , noch nach wie
vor . Er hoͤrte indes von ſeinem Vater wieder
die Zither ſpielen , und die Lieder der Madam
Guion dazu ſingen . — Sie unterredeten ſich
nun auch uͤber die Lehren der Mad. Guion , und
Reiſer der ſich in ſeinem Kopfe ſchon eine Art
von Mataphiſik gebildet hatte , die nahe an den
Spinozismus grenzte , traf mit ſeinem Vater oft
wunderbar zuſammen , wenn ſie von dem All der
Gottheit und dem Nichts der Kreatur , das die
Madame Guion lehrte , ſprachen . Sie glaubten
ſich einander zu verſtehen , und Reiſer empfand
ein unendliches Vergnuͤgen in dieſen Unterredun¬
gen mit ſeinem Vater , denn es war ihm ſchmei¬
chelhaft , daß ſich ſein Vater , der ihn ſonſt nur
fuͤr einen dummen Jungen zn halten ſchien , nun
ſebſt uͤber dergleichen erhabne Gegenſtaͤnde mit
ihm unterredete . Dann beſuchten ſie den Predi¬
ger und die Honorationen des Orts , wo Reiſer
allenthalben mit ins Geſpraͤch gezogen wurde ,
und ſich auch , weil ihm dieſe Behandlung Selbſt¬
zutrauen einfloͤßte , dabei ganz gut nahm . —
Die Nachbaren ſeiner Eltern , und wer ſonſt hin¬
kam , waren alle aufmerkſam auf den Sohn des
* * ſchreibers , den der Prinz in H... ſtudiren
ließe — Die reine ungetruͤbte Freude , die Rei¬
ſer in dieſen wenigen Tagen genoß , verbunden
G 5
mit den angenehmſten Hoffnungen , erſetzte ihm
reichlich allen Kummer , und unverdiente Demuͤ¬
thigungen , die er ein ganzes Jahr hindurch erlit¬
ten hatte .
So nahe , wie ſeine Mutter , nahm doch
niemand in der Welt an ſeinem Schickſal Theil —
ſo oft er ſich des Abends zu Bette legte , ſprach
ſie das Gott walte uͤber ihn , und ſchlug uͤber
ſeine Stirne das Kreuz dazu , wie ſie ehemals
gethan hatte , damit er ſicher ſchlafen ſollte , und
kein Abend und kein Morgen verging , wo ſie
ihn , auch in ſeiner Abweſenheit nicht mit in ihr
Gebet einſchloß . — Mit Wemuth nahm Rei¬
ſer Abſchied von ſeinen Eltern , und da er die
Thuͤrme von H. . . wieder ſahe , ſo beklemten
traurige Ahndungen ſein Herz .
Den andern Tag nach ſeiner Zuruͤckkunft
wurde er von dem Direktor zu der Klaſſenverſe¬
tzung gepruͤft , und da er aus des Cicero Buche
von den Pflichten etwas aus dem lateiniſchen ins
deutſche uͤberſetzen ſollte , ſo fuͤgte es ſich daß er in
dem Exemplar , das ihm der Direktor gab , un¬
gluͤchlicherweiſe gluͤcklicherweiſe ein Blatt mit ſolcher Ungeſchick¬
lichkeit umſchlug , daß er es beinahe zerriſſen
haͤtte . Durch ſo etwas konnte nun die Empfind¬
lichkeit des Direktors , der in allem ſtets die aͤu¬
ßerſte Delikateſſe ſuchte , gerade am ſtaͤrkſten be¬
leidigt worden . — Reiſer verlohr unendlich bei
ihm durch dieſen Zug von anſcheinenden Mangel
an feiner Empfindung und feiner Lebensart . Der
Direktor verwieß ihm auf eine ſehr bittere Art
ſeine Ungeſchicklichkeit , ſo daß Reiſers Zutrauen
zu dem Direktor , durch die Beſchaͤmung , wor¬
in er durch dieſen bittern Verweiß verſetzt wurde ,
ebenfalls einem gewaltigen Stoß erhielt , wovon
es ſich nie wieder erhohlen konnte . Das ſchuͤch¬
terne Weſen , was Reiſer auf dieſe Veranlaſſung
von nun an in der Gegenwart des Direktors be¬
wieß , diente dazu , ihn bei denſelben noch im¬
mer mehr herabzuſetzen . — Kurz , von einem
einzigen zu ſchnell umgeſchlagenen Blatte , in
dem Exemplar des Direktors von Ciceros Buche
von den Pflichten , ſchrieben ſich groͤßtentheils
alle die Leiden her , die Reiſern von nun an in
ſeinen Schuljahren bevorſtanden , und welche ſich
vorzuͤglich auf den Mangel der Achtung des Di¬
rektors gruͤndeten , deſſen Beifall , woran ihm ſo
viel lag , er zuerſt durch das zu ſchnelle Blatt¬
umſchlagen verſcherzt hatte .
Hiezu kam nun noch , daß die Frau F... , ob
er gleich von ihr weg zog , ihm doch ſein neues
Kleid einſchloß , und er mit einem alten Rock ,
den er noch von den Hutmacher L... hatte , Pri¬
ma beſuchen mußte , wo er neben ſich faſt lau¬
ter wohlgekleidete junge Leute ſahe . Der Rock
gab ihm ein laͤcherliches Anſehn , weil er ihm zu
kurz geworden war . Dieß fuͤhlte er ſelbſt , und
der Umſtand trug ſehr viel zu der Schuͤchternheit
in ſeinem Weſen bei , das er in Prima mehr wie
jemals aͤußerte . — Auch waren der Kantor
und der Konrektor aͤußerſt auf ihn aufgebracht ,
daß er ihnen von ſeiner Verſetzung nach Prima
vorher nichts geſagt , und ohne ihren Rath
dieſen Schirtt gethan haͤtte . Er entſchul¬
digte ſich ſo gut er konnte , damit , daß er es
nicht bedacht haͤtte . Der Kantor verzieh ihm
auch bald , aber der Konrektor hat es ihm nie ver¬
ziehen , ſondern es ihn noch lange nachher ent¬
gelten laſſen . Er machte nehmlich eine ſtarke
Forderung an Reiſern fuͤr die Privatſtunden ,
die dieſer bei ihm gehabt hatte , und wovon je¬
dermann glaubte , daß er ſie ihm umſonſt wuͤrde
gegeben habe — dieß Geld ließ er Reiſern ei¬
nige Jahre hindurch von ſeinem Chorgelde abzie¬
hen , wenn es dieſer oft am noͤthigſten brauch¬
te . — Ein Umſtand der ihn ebenfalls ſehr nie¬
derſchlug .
Nun bekam er in dem Hauſe des Rektors
zwar eine Stube und Kammer , aber auch wei¬
ter nichts , denn der Rektor war ſelbſt noch nicht
recht eingerichtet . Reiſer hatte noch eine wollene
Decke von ſeinen Eltern , dazu miethete man
ihm ein Kopfkuͤßen nnd und Unterbette , um ja ſo
viel , wie moͤglich zu ſparen ; wenn es nun des
Nachts kalt war , ſo mußte er ſeine Kleider zu
Huͤlfe nehmen , um ſich hinlaͤnglich zu bedecken .
Ein altes Klavier , das er hatte , diente ihm
ſtatt eines Tiſches , dazu hatte er eine kleine Bank
aus dem Auditorium des Rektors , uͤber dem Bet¬
te ein kleines Buͤcherbrett an einem Nagel haͤn¬
gend , und in der Kammer hatte er einen alten
Koffer mit ein paar abgetragenen Kleidungsſtuͤ¬
cken ſtehen — das war ſeine ganze haͤußliche
Einrichtung , wobei er ſich aber doch um ein gro¬
ßes gluͤcklicher befand , als in der Stube der Frau
F... , in welcher ſonſt weit mehr Bequemlichkei¬
ten waren .
Wenn er nun allein auf ſeiner Stube war ,
ſo befand er ſich ſo weit recht wohl , aber zu dem
Rektor konnte er noch kein Zutrauen faſſen . Wenn
er ihn gleich im Schlafrock und in der Nacht¬
muͤtze ſahe , ſo ſchien doch immer ein Nimbus
von Ernſt und Wuͤrde ſich um ihn her zu ver¬
breiten , der Reiſern in großer Entfernung von
ihm hielt — er mußte ihm ſeine Bibliothek in
Ordnung bringen helfen ; wenn er denn zuweilen
ſo dicht bei ihm ſtand , indem er ihm Buͤcher zu¬
reichte , daß er ſeinen Athem hoͤren konnte , ſo fuͤhlte
er oft einige anſchließende Kraft in ſich — aber
in dem folgenden Augenblick war die Schuͤch¬
ternheit und Verlegenheit wieder da — Dem¬
ohngeachtet liebte er den Rektor — und ſein mit
romanhaften Ideen angefuͤllter Kopf ließ ihn
manchmal den Wunſch thun , daß er doch mit
dem Rektor auf irgend eine unbewohnte Inſel
verſetzt werden moͤchte , wo ſie durch das Schick¬
ſal gleich gemacht , auf einen freundſchaftlichen und
vertrauten Fuß umgehen koͤnnten .
Der Rektor that alles , um Reiſern Muth
und Zutrauen einzufloͤßen ; er ließ ihn verſchied¬
nemal mit ſich allein an ſeinem Tiſche ſpeiſen ,
und unterredete ſich mit ihn — Reiſer hatte da¬
mals ſchon Schriftſtellerprojekte : er wollte die
alte Acerra Philalogika in einen beſſern Stil
bringen , und der Rektor war ſo guͤtig , ihn zu
ermuntern , daß er immer dergleichen Projekte
fuͤr die Zukunft naͤhren , und ſich mit dergleichen
Ausarbeitungen beſchaͤftigen ſolle .
Wenn nun Reiſer uͤber ſo etwas mit dem
Rektor ſprach , ſo fehlte es ihm immer an den
rechten Ausdruͤcken , deren er ſich bedienen ſollte ,
welches ſeine Perioden ſehr unterbrochen machte .
— Denn er ſchwieg lieber , ehe er das unrechte
Wort zu dem Gedanken waͤhlte , den er ausdruͤ¬
cken wollte . — Der Rektor half ihm dann mit
vieler Nachſicht zurecht — Er ließ ihn auch zu¬
weilen des Abends zu ſich auf die Stube kommen ,
und ſich von ihm vorleſen . —
Reiſer erdreiſtete ſich denn auch manchmal
Fragen an ihn zu thun : in wie fern z. B. ein
Stuhl ein Individuum zu nennen ſey , da man
ihn doch immer noch wieder theilen koͤnne , wel¬
cher Zweifel ihm bei der Logik , die er vom Di¬
rektor hoͤrte , aufgefallen war — und der Rek¬
tor loͤßte ihm ſehr herablaſſend ſeinen Zweifel auf ,
und lobte ihn dabei wegen ſeines Nachdenkens
uͤber dergleichen Gegenſtaͤnde ; ja er ſcherzte zu¬
weilen gar mit ihm , und wenn er ihn dem Auf¬
trag gab , irgend ein Buch oder ſonſt etwas zu
hohlen , ſo that er dieß nie in einem befehlenden
Tone , ſondern bittweiſe . — So war nun alles
ſo weit recht gut — aber das Blattumſchlagen
ſchien nun einmal fuͤr Reiſern eine ungluͤckliche
Sache zu ſeyn — er mußte einmal fuͤr den
Rektor geheftete Buͤcher aufſchneiden , und mach¬
te das ſo ungeſchickt , daß er mit dem Feder¬
meſſer tiefe Einſchnitte in die Blaͤtter machte ,
wodurch ein paar Buͤcher faſt ganz verdorben
wurden . — Der Rektor wurde daruͤber ſehr
boͤſe , und machte ihm den bittern Vorwurf , als
ob er aus Bosheit die Einſchnitte in die Blaͤt¬
ter gemacht habe , um von der Arbeit frei zu
ſeyn . — Das war nun freilich nicht der Fall —
der Vorwurf ſchmerzte Reiſern und trug viel
dazu bei , ſeinen allmaͤlig wachſenden Muth wie¬
der niederzuſchlagen .
Indes erhohlte er ſich doch noch einmal wie¬
der , da ihn der Rektor auf einer kleinen Reiſe ,
nach einer benachbarten katholiſchen Stadt mit¬
nahm , um die Feier des Frohnleichnamsfeſtes
mit anzuſehen . — Der Rektor , der Konrek¬
tor , der Kantor , und ein paar Kandidaten der
Theologie , fuhren auf einem Wagen mit Extra¬
poſt , wo Reiſer auch ein Plaͤtzchen erhielt —
Nun hoͤrte er , dieſe ehrwuͤrdigen Maͤnner , die
durch das Aneinanderſchließen , welches gemeinig¬
lich bei einer kleinen Reiſegeſellſchaft ſtatt zu finden
pflegt , vertraulich gemacht waren , ſehr lebhaft
mit einander ſcherzen ; und dieß that eine ganz
beſondere Wirkung auf Reiſern . — Der Nim¬
bus um ihre Koͤpfe verſchwand allmaͤlig , und er
ſahe an ihnen zum erſtenmale Menſchen , wie an¬
dre Menſchen ſind — Dem nach nie hatte er eine
Geſellſchaft von Schwarzroͤcken zuſammengeſehen ,
die ſich ohne Zwang mit einander beſprachen ,
und alle das ſteife zermonienmaͤßige Weſen , was
ihnen ſonſt von ihrem Stande anklebt , auf eine
Zeitlang gegen einander ablegten . Nur der gute
Kantor behielt immer ein gewiſſes ſteifes Weſen
bei , und da unterweges eine große Menge Bett¬
H
ler , die geiſtliche Lieder abſangen , dem Wagen
entgegen kamen , ſchraubte man den Kantor mit
dieſem Auftritt , indem man ihn wegen dieſer
ſchreckichen Disharmonien , wodurch ſein Gehoͤr
ganz erſchuͤttert wurde , herzlich bedauerte . —
Es war zum erſtenmale , daß Reiſer ſahe , wie
ſich ſolche ehrwuͤrdige Maͤnner auch , eben ſo
wie andre Leute , untereinander ſchrauben koͤnn¬
ten . Und dieſe Erfahrung , die er mach¬
te , war ihm ſehr nuͤtzlich , indem er nun jeden
Prieſter , den er ſonſt noch immer gewiſſermaßen
als eine Art von uͤbermenſchlichem Weſen be¬
trachtete , ſich etwa in den Cirkel einer ſolchen
Reiſegeſellſchaft dachte , und ihn denn in ſeiner
Vorſtellung , von dem Nimbus , der ihn vorher
umgab , mit leichter Muͤhe entbloͤßte .
Allein er fuͤhlte es demohngeachtet wieder
lebhaft , welch ein unbedeutendes Weſen er in
dieſer Geſellſchaft war ; und da man alle Merk¬
wuͤrdigkeiten der Kloͤſter , und andre Sachen in
der katholiſchen Stadt beſahe , wozu noch eine
Anzahl zum Theil auch fremder Perſonen ſich
geſellte , ſo fuͤhlte er , wie es ſich immer von
ſelbſt verſtand , daß er bei allem der letzte war ,
und daß er dieß noch als eine große Ehre anſehen
mußte , die ihm wiederfuhr — dieſer Gedanke
machte , daß er ſich in der Geſellſchaft verlegen ,
albern , und dumm betrug , und dieß verlegene
und alberne Betragen fuͤhlte er auch wieder ſelbſt
weit ſtaͤrker , als es vielleicht irgend jemand au¬
ßer ihm bemerken mochte ; darum war er die Zeit
uͤber , in welcher er ſo viel neues zu hoͤren und
zu ſehen bekam , nichts weniger als gluͤcklich ,
und wuͤnſchte ſich wieder auf ſein einſames Stuͤb¬
chen , mit der Bank und dem alten Klaviere , und
dem Buͤcherbrett , das uͤber dem Bette am Na¬
gel hing .
Was aber nun vorzuͤglich anfing , ihm ſein
Schickſal zu verbittern , war eine neue unver¬
diente Demuͤthigung , wozu ſeine gegenwaͤrtige
Lage , die er doch wiederum nicht aͤndern konnte ,
die Veranlaſſung gab .
Als er nehmlich die erſtenmale Prima be¬
ſuchte , ſo hoͤrte er ſchon zuweilen hinter ſich zi¬
ſcheln : ſieh , das iſt des Rektors Famulus ! —
Eine Benennung , mit welcher Reiſer den aller¬
niedrigſten Begriff verband ; denn er wußte von
den Verhaͤltniſſen eines Famulus auf der Uni¬
H 2
verſitaͤt noch nichts . Ihm bezeichnete Famulus ,
wo moͤglich noch weniger , als einen Bedienten ,
der ſeinem Herren die Schuh puzt — Dabei
daͤuchte es ihm , als ob er allgemein von ſeinen
Mitſchuͤlern mit einer Art von Verachtung be¬
trachtet wurde . — Dann dachte er ſich in ſeinem
kurzem Rocke , womit er ſich immer ſelbſt in einer
laͤcherlichen Geſtalt erſchien — In Sekunda
war er ohngeachtet ſeiner ſchlechten Kleidung
von ſeinen Mitſchuͤlern noch geachtet worden ,
wegen der hohen Meinung , die man davon hat¬
te , daß ihn der Prinz ſtudieren ließ . In Pri¬
ma wußte man dieß zwar auch zum Theil , aber
die Idee , daß er beim Rektor Famulus war ,
ſchien ihn in aller Augen herabzuſetzen . — Nun
kam in Prima außerordentlich viel auf den Plaz
an , wo man ſaß : hoͤhere Plaͤtze konnten nur
durch langen fortgeſetzten Fleiß erlangt werden .
Gemeiniglich ruͤckte man alle halbe Jahre nur
eine Bank in die Hoͤhe — Die erſten vier Baͤn¬
ke machten den untern , und die letztern drei den
obern Coͤtus aus — Wer nun bei den halb¬
jaͤhrigen Verſetzungen zuruͤck blieb , fuͤr den war
dieß eine der groͤßten Erniedrigungen .
Nun hatte Reiſer gleich am dritten Morgen ,
waͤhrend daß ein Primaner von dem untern Ka¬
theder ein geſchriebnes Gebet ablaß , da ihm ,
ſein Nachbar etwas ſagte , eine laͤchelnde Mie¬
ne gemacht , und da er ſahe , daß er vom Direk¬
tor bemerkt wurde , dieſe Mine ploͤtzlich in eine
ernſthafte zu verwandeln geſucht — Und der
Eindruck , welcher noch von dem Blattumſchla¬
gen in ſeiner Seele zuruͤck geblieben war , mach¬
te , daß dieſe ploͤtzliche Veraͤnderung ſeiner Mie¬
ne , nicht im mindeſten auf eine edle , ſondern
vielmehr hoͤchſt mißtrauiſche , gemeine , und ſkla¬
viſche Furcht verrathende Art geſchahe , woraus
der Direktor mit einem Blick des Zorns und der
Verachtung , den er waͤhrendem Gebet auf Rei¬
ſern warf , ſeine niedrige , gemeine Denkungs¬
art zu ſchließen ſchien . — Ein ſolcher Blick
vom Direktor war ſchon etwas , das allgemeine
Aufmerkſamkeit zu erregen pflegte . — Da nun
aber das Gebet vorbei war , ſo ſagte er Reiſern
ein paar Worte uͤber das Niedertraͤchtige in ſei¬
ner Mine , welche dieſen auf einmal der Ver¬
achtung der ganzen Klaſſe ausſetzten , den die Aus¬
ſpruͤche des Direktors Orakel waren .
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Reiſer getraute ſich von nun an nicht mehr ,
ſeine Augen zu dem Direktor aufzuſchlagen , und
mußte ſich in den Stunden deſſelben , wie ein
Weſen betrachten , auf das nicht die mindeſte
Ruͤckſicht genommen ward : denn der Direktor
rief ihn niemals auf . — Ein paar junge Leute
die nach Reiſern in Prima kamen , wurden uͤber
ihn geſetzt , und er mußte verſchiedene Monathe
lang der letzte von allen bleiben . — Der junge
R... ein vorzuͤglicher Kopf , der ſich nachher als
Mahler beruͤhmt gemacht hat , ſaß neben Rei¬
ſern , und ſchien ſich an ihn ſchließen zu wollen ;
allein ein Blick des Direktors , womit derſelbe
ihn anſahe , da er einmal mit Reiſern ſprach ,
daͤmpfte jeden Funken von Achtung , den er gegen
Reiſern zu haben ſchien , und machte ſein Herz
von ihm abgewandt . — Das Betragen des Di¬
rektors gegen Reiſern war eine Folge von deſſen
ſchuͤchternen und mißtrauiſchen Weſen , daß eine
niedrige Seele zu verrathen ſchien ; allein der
Direktor erwog nicht , daß eben dieß ſchuͤchterne
und mißtrauiſche Weſen wieder eine Folge von
ſeinem erſten Betragen gegen Reiſern war .
Dieſer war nun einmal in der Achtung ſeiner
Mitſchuͤler geſunken , und jeder nahm ſich jetzt
heraus zum Ritter an ihn zu werden , jeder
wollte ſeinen Witz an ihm uͤben , und nahm
er es gleich mit einem auf , ſo waren wieder zwan¬
zig andre , die mit einander wetteiferten , ihn
zum Ziel ihres Spottes zu machen ; ſelbſt ſeine
Bravour , wenn er ſich zuweilen mit denen , die
es zu arg machten ſchlug , wudurch jeder andre
ſich vielleicht wieder in Achtung geſetzt haͤtte ,
wurde laͤcherlich gemacht — Man ziſchelte ſich
nicht mehr in die Ohren : ſeht da des Rektors
Famulus ! ſondern ſobald er des Morgens
hereintrat , hieß es : da koͤmmt der Famulus !
und dieſe Ehrenbenennung ſchallete ihm aus allen
Ecken entgegen . — Es war als ob ſich alles
verſchworen haͤtte , ſich auf ihn zu ſetzen , und
ihn laͤcherlich zu machen . —
Dieſer Zuſtand wurde ihm eine Hoͤlle —
er heulte , tobte , und gerieth in eine Art von
Raſerei daruͤber , und auch dieß wurde laͤcherlich
gemacht . — Zuletzt trat denn zuweilen eine Art
von Dumpfheit der Empfindung an die Stelle
ſeines bis zur Wuth und Raſerei beleidigten Stol¬
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zes — er hoͤrte und ſahe nicht mehr , was um
ihn her vorging , und ließ alles mit ſich machen ,
was man wollte , ſo daß er in dem Zuſtande ein
wuͤrdiger Gegenſtand des Spottes und der Ver¬
achtung zu ſeyn ſchien .
Was Wunder , wenn er am Ende durch dieſe
fortgeſetzte Behandlung wuͤrklich niedertraͤchtig
geſinnt geworden waͤre — Aber er fuͤhlte noch
immer Kraft geung in ſich , in gewiſſen Stunden ,
ſich ganz aus ſeiner wirklichen Welt zu verſe¬
tzen . — Das war es , was ihn aufrecht erhielt
— Wenn ſeine Seele durch tauſend Demuͤthi¬
gungen in ſeiner wirklichen Welt erniedrigt war ,
ſo uͤbte er ſich wieder in den edlen Geſinnungen
der Großmuth , Entſchloſſenheit , Uneigennuͤtzig¬
keit und Standhaftigkeit , ſo oft er irgend ei¬
nen Roman , oder heroiſches Drama durchlaß
oder durchdachte . — Oft traͤumte er ſich auf
die Weiſe uͤber allen Kummer der Erde hinaus ,
in heitre Scenen hin , wenn er vom Froſt er¬
ſtarrt , im Chore ſang , und verphantaſierte ſo
manche Stunde , wo denn gewiſſe Melodien ,
die er hoͤrte und mitſang , ſeinen Traum
oft fortpflanzen halfen . — Nichts klang ihm
z. B. ruͤhrender und erhabener , als wenn der
Praͤfektus anhub zu ſingen :
Hylo ſchoͤne Sonne
Deiner Strahlen Wonne
In den tiefen Flor —
Das Hylo allein ſchon verſetzte ihn in hoͤhere
Regionen , und gab ſeiner Einbildungskraft alle¬
mal einen außerordentlichen Schwung , weil er
es fuͤr irgend einen orientaliſchen Ausdruck hielt ,
den er nicht verſtand , und eben deswegen einen
ſo erhabnen Sinn , als er nur wollte hineinle¬
gen konnte : bis er einmal den geſchriebenen
Text unter den Noten ſahe , und fand daß es
hieß
Huͤll' o ſchoͤne Sonne , u. ſ. w.
Dieſe Worte ſang der Praͤfektus nach ſeiner
thuͤringiſchen Mundart immer : Hylo ſchoͤne
Sonne — Und nun war auf einmal das gan¬
ze Zauberwerk verſchwunden , welches Reiſern ,
ſo manchen frohen Augenblick gemacht hatte . —
Eben ſo war es ihm immer ſehr ruͤhrend , wenn
geſungen wurde : Du verdeckeſt ſie in den
Huͤtten , oder lieg ich nur in deiner Hut , o
ſo ſchlaf ich ſanft und gut —
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Er wiegte ſich oft ſo ſehr in die ſuͤßen Empfin¬
dungen von dem Schutz eines hoͤhern Weſens
ein , daß er Regen , und Froſt und Schnee ver¬
gaß , und ſich in der ihn umgebenden Luft , wie
in einen Bette ſanft zu ruhen ſchien .
Allein von außen her ſchien ſich alles zu ver¬
einigen , um ihn zu demuͤthigen , und nieder¬
zubeugen .
Da es Sommer wurde verreißte der Rek¬
tor auf einige Wochen , und er blieb nun waͤh¬
rend der Zeit allein in deſſen Hauſe zuruͤck , wo
er die Zeit zu Hauſe ziemlich vergnuͤgt zubrachte ,
indem er ſich aus der Bibliothek des Rektors
einiger Buͤcher zum Leſen bediente , und unter an¬
dern auf Moſes Mendelſohns Schriften , und
die Litteraturbriefe verfiel , woraus er ſich damals
zuerſt Exzerhte machte . —
Insbeſondre zog er ſich alles aus , was das
Theater angieng , denn dieſe Idee war jetzt
ſchon die herſchende in ſeinem Kopfe , und gleich¬
ſam ſchon der Keim zu allen ſeinen kuͤnftigen
Wiederwaͤrtigkeiten .
Durch das Deklamieren in Sekunda war ſie
zuerſt lebhaft in ihm erwacht , und hatte die
Phantaſie des Predigens allmaͤlig aus ſeinem
Kopf verdraͤngt — der Dialog auf dem Thea¬
ter bekam mehr Reitze fuͤr ihn , als der immer¬
waͤhrende Monolog auf der Kanzel — Und
dann konnte er auf dem Theater alles ſeyn , wo¬
zu er in der wirklichen Welt nie Gelegenheit
hatte — und was er doch ſo oft zu ſeyn wuͤnſch¬
te — großmuͤthig , wohlthaͤtig , edel , ſtandhaft ,
uͤber alles Demuͤthigende und Erniedrigende er¬
haben — wie ſchmachtete er , dieſe Empfindun¬
gen , die ihm ſo natuͤrlich zu ſeyn ſchienen , uud und
die er doch ſtets entbehren mußte , nun einmal
durch ein kurzes taͤuſchendes Spiel der Phantaſie
in ſich wirklich zu machen —
Das war es ohngefaͤhr , was ihm die Idee
vom Theater ſchon damals ſo reizend machte —
Er fand ſich hier gleichſam mit allen ſeinen Em¬
pfindungen und Geſinnungen wider , welche in
die wirkliche Welt nicht paßten — Das Thea¬
ter deuchte ihm eine natuͤrlichere und angeme߬
nere Welt , als die wirkliche Welt , die ihn umgab .
Nun kamen die Sommerferien heran , und
die Primaner fuͤhrten , wie ſie alle Jahr zu thun
pflegten , oͤffentlich verſchiedene Komoͤdien auf —
Reiſer konnte bei der allgemeinen Verachtung
der er als ein ſogenannter Famulus des Rektors
ausgeſetzt war , ſich nicht die mindeſte Hoffnung
machen , eine Rolle zu erhalten ; ja er konnte
nicht eimal von irgend einem der Mitſchuͤler ein
Billet erhalten , um zuzuſehn . Dieß ſchlug ihn
mehr , als alles bisherige nieder — bis er auf
den Einfall kam , mit zwei bis dreien ſeiner Mit¬
ſchuͤler , welche auch keine Rollen hatten , gleich¬
ſam eine Parthie der Mißvergnuͤgten auszuma¬
chen , und auf deren Wohnſtube bei einer kleinen
Anzahl Zuſchauer , eine Komoͤdie beſonders auf¬
zufuͤhren . —
Hiezu wurde denn Philotas gewaͤhlt , wo
Reiſer einem andren , der die Rolle des Philotas
ſchlecht machte , ſie mit Geld abkaufte , und alſo
nun den Philotas ſpielte .
Nun war er in ſeinem Elemente — Er konn¬
te einen ganzen Abend lang , großmuͤthig , ſtand¬
haft , und edel ſeyn , — die Stunden , wo er
ſich zu dieſer Rolle uͤbte , und der Abend , wo er
ſie ſpielte , waren von den ſeligſten ſeines Lebens —
obgleich das Theater nur ein ſchlechtes Zimmer
mit weißen Waͤnden , und das Partere eine
Kammer war , die daran ſtieß , und wo man ,
ſtatt der ausgehobenen Thuͤre , eine wollene De¬
cke angebracht hatte , die zum Vorhang dienen
mußte ; und obgleich das ganze Auditorium , nur
aus dem Wirth des Hauſes , der ein Toͤpfer war ,
nebſt deſſen Frau und ſeinen Geſellen beſtand ,
und die ganze Erleuchtung nur mit Pfennig¬
lichtern bewerkſtelligt wurde , die auf kleinen an
die Wand geklebten Stuͤcken von naſſen Leimen
brannten . —
Zum Nachſpiele wurde aus Millers hiſtoriſch¬
moraliſchen Schilderungen der ſterbende So¬
krates gegeben , worin Reiſer nur einen Freund
des Sokrates , und der eine von ſeinen Mitſchuͤ¬
lern Nahmens G... den ſterbenden Sokrates
ſelbſt machte , welcher denn ordentlich den Gift¬
becher leerte , und zuletzt unter Zuckungen auf
einem Bette , daß in die Stube geſetzt war , ver¬
ſchied . —
Dieß letzte Nachſpiel war es nun , was Rei¬
ſern nachher faſt ſeine ganzen Schuljahre verbit¬
tert hat . —
Die andren Primaner hatten nehmlich erfah¬
ren , daß außer der ihrigen , von denen , welchen ſie
keine Rollen gegeben hatten , nach beſonders eine
Komoͤdie aufgefuͤhrt worden ſey — ſie ſahen dieß
als einen Eingriff in ihre Rechte an , und als ob
es gleichſam aus Trotz und Verachtung geſche¬
hen ſey . —
Sie ſuchten ſich fuͤr dieſe unverzeihliche Be¬
leidigung , wofuͤr ſie es hielten , auf alle Weiſe
zu raͤchen , und von der Zeit an durfte von den
vieren , welche den Philotas und den ſterbenden
Sokrates aufgefuͤhrt hatten , keiner des Abends
ſicher auf der Straße gehen — Dieſe viere wa¬
ren von der Zeit an ein Gegenſtand des Haſſes ,
der Verachtung , und des Spottes , welcher Rei¬
ſern gerade am meiſten traf ; denn die andern be¬
ſuchten die Schulſtunden ſelten — Gegen Rei¬
ſern hatte man ſchon vorher nichts als Verach¬
tung bezeigt , die außer einer Art von unerklaͤrba¬
rer allgemeiner Antipathie gegen ihn , ihren
Grund vorzuͤglich , in ſeiner erniedrigenden oder
wenigſtens fuͤr erniedrigend gehaltenen Situation ,
ſeiner bloͤden Miene , und ſeinem kurzem Rock ha¬
ben mochte ; zu dieſer Verachtung geſellte ſich nun
jetzt noch eine allgemeine Erbitterung gegen ihn ,
welche den Spott , womit man ihn uͤberhaͤufte ,
ſo beißend , wie moͤglich zu machen ſuchte —
Und ob nun gleich nicht er , ſondern G...
die Rolle des ſterbenden Sokrates in dem Nach¬
ſpiel gemacht hatte ; ſo hies er doch von nun an
mit einem allgemeinen Spottnahmen der ſter¬
bende Sokrates , und verlohr dieſen beinahe
nicht eher , bis dieſe ganze Generation nach und
nach die Schule verlaſſen hatte ; noch ein Jahr
vorher , ehe er ſelbſt die Schule verließ , war er
eine lange Zeit kraͤnklich geweſen , und gar nicht
aus dem Hauſe gekommen , als er nun wieder
einer Komoͤdie zuſehen wollte , welche die Prima¬
ner damals auffuͤhrten , ließ man ihn zwar her¬
ein , aber man ſahe ihn mit einem veraͤchtlichen ,
hoͤniſchen Blick an , und ſagte : da iſt der ſter¬
bende Sokrates ; ſo daß Reiſer gleich umkehrte ,
und traurig wieder zu Hauſe gieng . —
Sonſt pflegt doch immer bei den Menſchen
eine gewiſſe Gutmuͤthigkeit zu herrſchen , daß ſie
nur denjenigen zum Gegenſtande ihres Spottes
machen , der gewiſſermaßen unempfindlich dage¬
gen iſt ; Sehen ſie hingegen , daß einer durch den
Spott wirklich beleidigt und gekraͤnkt wird , ſo
treiben ſie 's wenigſtens nicht unaufhoͤrlich , ſon¬
dern das Mitleid gewinnt doch endlich uͤber die
Spottſucht die Oberhand .
Aber das war bei Reiſern der Fall nicht —
ſeine Geſtalt verfiel von Tage zu Tage , er wank¬
te nur noch wie ein Schatten umher ; es war
ihm beinahe alles gleichguͤltig ; ſein Muth war
gelaͤhmt — wo er konnte , ſuchte er die Einſam¬
keit — aber das alles erwekte auch kein Fuͤnk¬
chen Mittleid gegen ihn — So ſehr waren aller
Gemuͤther mit Haß und Verachtung gegen ihn
erfuͤllt . —
Außer ihm war noch ein gewiſſer T. . . ein
Gegenſtand des Spottes , der zum Theil durch
ſeine ſtotternde Sprache Veranlaſſung dazu
gab . — Dieſer aber ſchuͤttete den Spott ab ,
wie das Thier mit der unempfindlichen Haut die
Schlaͤge . — Indem man ſeiner ſpottet , ſo recht¬
fertigte man ſich ſelbſt damit , daß ihn der
Spott nicht kraͤnkte — Bei Reiſern nahm man
darauf keine Ruͤckſicht — dieß erbitterte endlich
ſein Herz , und machte ihn zum offenbaren Men¬
ſchenfeinde .
Wo ſollte nun wohl bei ihm ein ruͤhmlicher
Wetteifer , Fleiß und Luſt zum eigentlichen Stu¬
diren herkommen ? — Er wurde ja ganz aus
der Reihe herausgedraͤngt — er ſtand einſam
und verlaſſen da — und ſuchte nur das , wodurch
er ſich immer noch mehr abſondern , und in ſich
ſelbſt zuruͤckziehen konnte ; alles , was er fuͤr ſich
allein auf der Stube arbeitete , laß , und dachte ,
machte ihm Vergnuͤgen , aber zu allem was er in
den Schulſtunden mit andern gemeinſchaftlich ar¬
beiten ſollte , war er traͤge und verdroſſen ; es
war ihm immer , als ob er gar nicht dazu ge¬
hoͤrte —
Das war nun die ſchoͤne Erfuͤllung ſeiner
Traͤume , von langen Reihen von Baͤnken , auf
denen die Schuͤler der Weisheit ſaßen , unter
deren Zahl er ſich mit Entzuͤcken dachte , und mit
denen er einſt um den Preiß zu wetteifern
hoffte . —
Der Rektor , bei dem er wohnte , kam nun
auch von ſeiner Reiſe wieder zuruͤck , und hatte
ſeine Mutter mitgebracht , dle die ſeine Wirthſchaft
auf das genaueſte einzurichten ſuchte . — Es
wurde Winter , und man dachte nicht daran ,
J
Reiſers Stube zu heizen — er ſtand erſt die
bitterſte Kaͤlte aus , und glaubte , man wuͤrde
doch endlich auch an ihn denken — bis er hoͤrte ,
daß er ſich bei Tage in der Geſindeſtube mit auf¬
halten ſollte . —
Nun fing er an , ſich um ſeine aͤußern Ver¬
haͤltniſſe gar nicht mehr zu bekuͤmmern — Von
ſeinen Lehrern ſowohl als von ſeinen Mitſchuͤ¬
lern verachtet , und hindangeſetzt — und wegen
ſeines immerwaͤhrenden Mißmuths und men¬
ſcheuen Weſens bei niemand beliebt , gab er
ſich gleichſam ſelber in Ruͤckſicht der menſch¬
lichen Geſellſchaft auf — und ſuchte ſich nun
vollends ganz in ſich zuruͤck zu ziehen .
Er ging zu einem Antiquarius und hohlte ſich
einen Roman , eine Komoͤdie nach der andern ,
und fieng nun mit einer Art von Wuth an , zu
leſen — Alles Geld , was er ſich vom Munde
abſparen konnte , wandte er an , um Buͤcher
zum leſen dafuͤr zu leihen ; und da nach einiger
Zeit der Antiquarius ihn kennen lernte , und
ihm ohne jedesmalige baare Bezahlung Buͤcher
zum Leſen liehe , ſo hatte ſich Reiſer , ehe er
es merkte tief in Schulden hineingeleſen , die ſo
klein ſie ſeyn mochten , damals fuͤr ihn uner¬
ſchwinglich waren .
Er ſuchte dieſe Schuld zum Theil durch den
Verkauf ſeiner angeſchaften Schulbuͤcher zu til¬
gen , die ihm der Antiquarius fuͤr ein Spottgeld
abnahm — und ihm dafuͤr aufs neue Buͤcher zum
Leſen lieh , bis er wieder in neue Schulden ge¬
rieth , und denn wieder aͤngſtlich auf ertilgung
derſelben denken mußte .
Das Leſen war ihm nun einmal ſo zum Be¬
duͤrfniß geworden , wie es den Morgenlaͤndern
das Opium ſeyn mag , wodurch ſie ihre Sinne
in eine angenehme Belaͤubung bringen — Wenn
es ihm an einen Buche fehlte , ſo haͤtte er ſeinen
Rock gegen den Kittel einea Bettlers vertauſcht ,
um nur eins zu bekommen — Dieſe Begierde
wußte der Antiquarius wohl zu nutzen , der ihm
nach und nach , alle ſeine Buͤcher ablockte , und
ſie oft in ſeiner Gegenwart ſechsmal ſo theuer
wieder verkaufte , als er ſie ihm abgekauft hatte .
Es war unter dieſen Umſtaͤnden keinem zu
verdenken , der Reiſern fuͤr einen luͤderlichen aus
der Art geſchlagnen jungen Menſchen hielt , wel¬
cher ſeine Schulbuͤcher verkaufte , ſtatt ſeine
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Kenntniſſe zu vermehren , und den Unterricht ſei¬
ner Lehrer zu nutzen , nichts als Romane und
Komoͤdien laß — und dabei ſein aͤußeres ganz
vernachlaͤſſigte ; denn es war ſehr natuͤrlich , daß
Reiſer keine Luſt zu ſeinem Koͤrper hatte , da er
doch niemanden in der Welt gefiel — und dann
wurde auch alle das Geld , was die Waͤſcherinn
und der Schneider haͤtten bekommen ſollen , dem
Buͤcher-Antiquarius hingebracht — denn das
Beduͤrfniß zu Leſen gieng bei ihm Eſſen und
Trinken und Kleidung vor , wie er denn wirklich
eines Abends den Ugolino laß , nachdem er den
ganzen Tag nicht das mindeſte genoſſen hatte ,
denn ſeinen Freitiſch hatte er uͤber dem Leſen ver¬
ſaͤumt , und fuͤr das Geld , was zum Abendbrot
beſtimmt war , hatte er ſich den Ugolino gelie¬
hen , und ein Licht gekauft , bei welchem er
in ſeiner kalten Stube , in eine wollene Decke
eingehuͤllt , die halbe Nacht aufſaß , und die
Hungerſcenen recht lebhaft mit empfinden
konnte . —
Indes waren dieſe Stunden noch die gluͤck¬
lichſten , welche er gleichſam aus dem Gewirre
der uͤbrigen herausriß — ſeine Denkkraft war
kommen wie berauſcht — er vergaß ſich und die
Welt —
Er laß auf die Weiſe nach der Reihe die zwoͤlf
oder vierzehn Baͤnde durch , welche damals vom
deutſchen Theater heraus waren — und weil
er Yoriks empfindſame Reiſen mit großem Ver¬
gnuͤgen zwei bis dreimal durchgeleſen hatte , ſo lieh'
er ſich auch von dem Antiquarius die empfindſa¬
men Reiſen durch Deutſchland von S . . . —
Nun hatte er damals ſchon angefangen , ſich
die Titel der Buͤcher , welche er geleſen hatte ,
in einem dazu beſtimmten Buche niederzuſchrie¬
ben , und ſein Urtheil dabei zu ſetzen , das mehr¬
malen ziemlich richtig ausfiel ; wie er denn z. B.
bei die empfindſame Reiſen durch Deutſchland
von S. . . das Urtheil ſchrieb : ein Exerzitium
extemporaneum ; weil der Verfaſſer ſelbſt ge¬
ſtand , daß er alle die vrſchiedenen Sachen in die¬
ſem dicken Buche bloß zuſammengeſchrieben ha¬
be , damit man urtheilen ſolle , zu welchem Fach
in der Schriftſtellerei er ſich wohl am beſten ſchi¬
cken wuͤrde — Der Verfaſſer dieſer empfindſa¬
men Reiſen hat nachher dieß Exercitium extempe¬
I 3
raneum durch ſeinen Spitzbart hinlaͤnglich wie¬
der gut gemacht . —
Aber nicht leicht hat Reiſern bei irgend einem
Buche die Zeit , welche er auf das Leſen deſſelben
gewandt hatte , mehr gereut , als bei dieſen
empfindſamen Reiſen —
So lernte er nun von ſelbſt allmaͤlig das
Mittelmaͤßige und Schlechte von dem Guten
immer beſſer unterſcheiden . —
Bei allem aber , was er laß , war und blieb
nun die Idee vom Theater immer bei ihm die
herrſchende — in der dramatiſchen Welt lebte
und webte er — da vergoß er oft Thraͤnen , in¬
dem er laß , und ließ ſich wechſelsweiſe bald in
heftige , tobende Leidenſchaft , des Zorns , der
Wuth und der Rache , und bald wieder in die
ſanften Empfindungen des großmuͤthigen Ver¬
zeihens , des obſiegenden Wohlwollens , und des
uͤberſtroͤmenden Mitleids verſetzen . —
Seine ganze aͤußere Lage , und ſeine Verhaͤlt¬
niſſe in der wirklichen Welt waren ihm ſo ver¬
haßt , daß er die Augen davor zuzuſchließen ſuch¬
te — Der Rektor rief ihn im Hauſe bei ſeinem
Nahmen , wie man einen Bedienten ruft ; und
einmal mußte er einen ſeiner Mitſchuͤler , der ein
Sohn eines Freundes vom Rektor war , bei dem¬
ſelben zum Eſſen bitten ; und waͤhrend , daß
dieſer des Abends bei dem Rektor ſpeißte , mußte
Reiſer Wein holen , und in der Geſindeſtube
ſeyn , die gleich neben der Stube war , wo ge¬
ſpeißt wurde , und wo er hoͤren konnte , wie ſein
Mitſchuͤler ſich mit den Rektor unterhielt , waͤh¬
rend daß er bei der Magd in der Stube ſaß .
Der Rektor gab verſchiedene Privatſtunden
— wenn er nun etwa eine davon nicht halten
konnte , ſo mußte Reiſer bei ſeinen Mitſchuͤlern
mit denen er doch auch an dieſem Unterricht Theil
nahm , herumgehen , und ihnen die Privatſtunde
abſagen , welches den Uebermuth derſelben gegen
ihn noch vermehrte .
Dieſe Zuruͤckſetzung hatte ihren guten Grund
in ſeinem Betragen — er war untheilnehmend
an allem , was außer ihm vorging , und zu
jedem Geſchaͤft , was ihn aus ſeiner Ideenwelt
herauszog , traͤge nnd und verdroſſen — Was Wun¬
der , da er an nichts Theil nahm , daß man auch
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wieder an ihm nicht Theil nahm , ſondern ihn
verachtete , hindanſetzte und vergaß .
Allein man erwog nicht , daß eben dieß
Betragen , weswegen man ihn zuruͤck ſetz¬
te , ſelbſt eine Folge von vorhergegang¬
ner Zuruͤckſetzung war — Dieſe Zuruͤckſe¬
tzung , welche in einer Reihe von zufaͤlligen
Umſtaͤnden gegruͤndet war , hatte den An¬
fang zu ſeinem Betragen , und nicht ſein
Betragen , wie man glaubte , den Anfang
zur Zuruͤckſetzung gemacht .
Moͤchte dieß alle Lehrer und Paͤdagogen auf¬
merkſamer , und in ihren Urtheilen uͤber die Ent¬
wickelung der Charaktere junger Leute behutſamer
machen , daß ſie die Einwirkung unzaͤhliger zu¬
faͤlliger Umſtaͤnde mit in Anſchlag braͤchten , und
von dieſen erſt die genaueſte Erkundigung einzu¬
ziehen ſuchten , ehe ſie es wagten , durch ihr Ur¬
theil uͤber das Schickſal eines Menſchen zu ent¬
ſcheiden , bei dem es vielleicht nur eines aufmun¬
ternden Blicks bedurfte , um ihn in ploͤtzlich um¬
zuſchaffen , weil nicht die Grundlage ſeines Cha¬
rakters , ſondern eine ſonderbare Verkettung von
Umſtaͤnden an ſeinem ſchlecht in die Augen fallen¬
den Betragen ſchuld war .
Anton Reiſers Schickſal ſchien es nun ein¬
mal zu ſeyn , Wohlthaten zu ſeiner Qual zu em¬
pfangen — Es war Wohlthat , daß er ein
Jahrlang bei der Frau F. . . im Hauſe war ,
und in welcher peinlichen und druͤckenden Lage
brachte er dieſes Jahr zu ! — Es war Wohl¬
that , daß er bei dem Rektor im Hauſe war , nur
was fuͤr unzaͤhlige Demuͤthigungen und Verach¬
tung von ſeinen Mitſchuͤlern zog ihm dieſer
ihm ſo reizend geſchilderte Aufenthalt zu ! —
Den aͤußern Anſchein nach konnte nun auch
von Reiſern niemand als ſchlecht urtheilen —
und der Rektor ſagte ſelbſt zum Paſtor M. . .
es wuͤrde hoͤchſtens einmal ein Dorf¬
ſchulmeiſter aus ihm werden . — Dieß hielt
der Paſtor M. . . nachher Reiſern wieder vor ,
und ſein Muth wuͤrde durch dieß Urtheil des
Rektors uͤber ihn , dem er damals noch nicht viel
Selbſtgefuͤhl entgegen ſetzen konnte , noch mehr
niedergeſchlagen .
Weil nun der Rektor ſicher zu glauben ſchien ,
daß aus Reiſern , doch nie etwas wuͤrde , ſo brauch¬
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te er ihn indes , wozu er noch zu brauchen war ,
nehmlich zu allerlei kleinen Dienſten , die er ihn in
und außer dem Hauſe verrichten ließ — und Rei¬
ſer wurde nun im Grunde voͤllig wie ein Do¬
meſtique betrachtet , ob er gleich ein Primaner
hieß .
Einmal genoß er denn doch noch die Vorrech¬
te eines Primaners , da er von dem Chorgelde ,
was er erhielt , ſeinen Theil zum Neujahrgeſchen¬
ke fuͤr den Rektor mit hergab , und auch dem
Aufzuge mit Fackeln beiwohnte , da dem Direk¬
tor und dem Rektor , nach hergebrachter Weiſe
zum Neujahr eine Muſik gebracht , und ein Vi¬
vat gerufen wurde . —
Ob er gleich bei dieſem Zuge der letzte oder
einer der letzten in der Ordnung war , ſo erhob
es doch ſeinen Muth außerordentlich wieder , da
er ſich ohngeachtet der vielen Herabwuͤrdigungen
und Demuͤthigungen , die er erfahren hatte , doch
hier gleichſam wieder in Reihe und Glied mit
den uͤbrigen ſtehen ſahe , einen Degen , nebſt einer
Fackel tragen , und das Vivat mit rufen durfte .
Die Muſik , die Zuſchauer , die Erleuchtung
von den Fackeln , die Anfuͤhrer mit Federhuͤten
und entbloͤßten Degen — das alles beſeelte ihn
wieder mit neuem Mnth , da er ſich in dieſem
glaͤnzenden Anfzuge mit befand —
Und da er am andern Tage mit unter der
Zahl der Primaner ſtand , und dem Recktor mit ei¬
ner lateiniſchen Anrede an ihn , das Neujahrs¬
geſchenk , wozu Reiſer doch auch ſeinen Theil
beigetragen hatte , auf einem ſilbernen Teller uͤber¬
reicht wurde ; ſo fuͤhlte er ſich einmal mit einigem
Wohlgefallen wieder in der wirklichen Welt —
Er ſahe ſich doch hier nicht ganz ausgeſchloſſen
und verdraͤngt — Allein wie ſehr verbitterte
ihm der Haß und Uebermuth ſeiner Mitſchuͤler
auch dieſe kleine Aufmunterung wieder ! —
Der Rektor bewirthete die Primaner , welche
ihm das Geſchenk gebracht hatten , mit Wein
und Kuchen — Dieſe tranken zu wiederhohlten
malen ſeine Geſundheit , wobei ſie denn am
Ende , da ihnen der Wein in die Koͤpfe ſtieg ,
ziemlich laut wurden — Reiſer trank einige
Glaͤſer Wein , ohne ſchlimme Folgen zu beſor¬
gen — allein die gaͤnzliche Ungewohnheit des
Weintrinkens machte , daß ihn ein paar Glaͤſer
ſchon etwas berauſchten ; nun legten es ſeine
edeldenckenden Mitſchuͤler darauf an , ihn gaͤnz¬
lich betrunken zu machen , welches ihnen theils
durch Liſt und theils durch Drohungan gelang ,
ſo daß Reiſer allerlei verwirtes Zeug redete , und
am Ende zu Bette gebracht werden mußte —
War nun Reiſer vorher ſchon in dem Zu¬
trauen und der Achtung aller derer , die ihn
kannten , geſunken , ſo gab dieſer Vorfall ſeinem
guten Kredit , nun vollends den letzten Stoß —
Vorher war er ſchon ein traͤger , unordentli¬
cher , und unfleißiger ; nun war er auch ein un¬
maͤßiger , und ſchlechter Menſch , weil er in dem
Hauſe ſeines Lehrers , der zugleich ſein Wohlthaͤ¬
ter war , durch ſein unanſtaͤndiges Betragen , zu¬
gleich das undankbarſte Herz verrathen hatte .
Alle dieſe Folgen ſahe Reiſer dunkel voraus , da
er am andern Morgen erwachte , und indem er
ſich anzog , machte er ſich ſchon auf Bitte und
Entſchuldigung bei dem Rektor wegen ſeines ge¬
ſtrigen Betragens gefaßt —
Er hatte ſeine Anrede recht gut ausſtudirt ,
und verſicherte unter andern , daß er dieſen Fle¬
ken auf alle Weiſe wieder wuͤrde auszutil¬
gen ſuchen , worauf ihm denn der Rektor eben
nicht ſehr troͤſtlich antworte , daß die nachtheili¬
gen Folgen von dieſem Vorfall , wenn er bekannt
wuͤrde , wohl ſchwerlich zu verhuͤten ſeyn wuͤrden .
Der Rektor hatte darin ſehr Recht — denn
der Vorfall wurde bald bekannt , und es hieß
nun : wie ! der junge Menſch lebt von Wohltha¬
ten , ſelbſt der Prinz wendet ſo viel an ihn , und
da er in den Hauſe ſeines Lehrers , ſeines Wohl¬
thaͤters , der ihm Obdach giebt , gaſtfreundlich be¬
wirthet wird , betraͤgt er ſich ſo — wie nieder¬
traͤchtig , wie undankbar !
Ohngeachtet nun Reiſern dieſe Folgen ahnde¬
ten , und er hoͤchſttraurig daruͤber war , empfand
er doch am andern Tage , da er ins Chor kam ,
und ſeine Mitſchuͤler uͤber ſein blaſſes und ver¬
wirrtes Anſehn , das er noch von dem geſtrigen
Rauſche hatte , lachten , eine Art von ſonderbarem
Stolz , gleichſam als ob er durch das geſtrige
Betrinken eine gewiſſe Bravour bezeigt haͤtte ,
daß er ſogar affektirte , als ob ſein Taumel noch
fortdauerte , um dadurch Aufmerkſamkeit auf
ſich zu erregen —
Denn die Aufmerkſamkeit der uͤbrigen auf
ihn , die dießmal mehr mit einer gewiſſen Art
von Beifall als mit Spott verknuͤpft war ſchmei¬
te ihm — Auch betrachteten ihn die andern ſo ,
wie man einen zu betrachten pflegt , der in denſelben
Fall iſt , worinn man ſelbſt einmal war — denn
der Praͤfektus war faſt immer Betrunken — dieß
geheime Vergnuͤgen , welches Reiſer empfand , da es
ihm zu gelingen ſchien , ſich durch das Schlechte
bemerkt zu machen , iſt wohl die gefaͤhrlichſte
Klippe der Verfuͤhrung , woran die meiſten jun¬
gen Leute zu ſcheitern pflegen .
Indes wurde dieſer Uebermuth bei Reiſern
ſehr bald wieder gedaͤmpft , da er die nachtheili¬
gen Folgen , welche ihm der Rektor prophezeit
hatte , nun zu bald empfand — allenthalben
empfing man ihn mit kalten und veraͤchtlichen
Blicken — er ließ daher die meiſten Freitiſche
einen nach dem andern freiwillig fahren , und
hungerte lieber , oder aß Salz und Brodt — ehe
er ſich dieſen Blicken ausſetzen wollte — Bei dem
einzigen Schuſter S. . . ging er noch immer mit
Vergnuͤgen hin , denn hier wurde er nach wie
vor mit freundlichen Blicken empfangen , und
man ließ ihn hier nicht fuͤr ſein widriges Schick¬
ſal buͤßea .
Er war damals weit entfernt , daß er ſich
gegen ſich ſelbſt haͤtte entſchuldigen ſollen — viel¬
mehr trauete er dem Urtheil ſo vieler Menſchen
mehr , als ſeinem eigenen Urtheil uͤber ſich ſelbſt , zu
— er klagte ſich oft an , und machte ſich die bit¬
terſten Vorwuͤrfe , uͤber ſeine Verſaͤumniß im
Studiren , uͤber ſein Leſen , und uͤber ſein Schul¬
den machen beim Buͤcherantiquarius — denn
er war damals nicht im Stande , ſich das alles
als eine natuͤrliche Folge , der engſten Verhaͤlt¬
niſſe , worin er ſich befand , zu erklaͤren — In
ſolcher Stimmung der Seele , wo er gegen ſich
ſelbſt aufgebracht , und ſeine Phantaſie noch durch
ein Trauerſpiel , das er eben geleſen hatte , er¬
hitzt war , ſchrieb er einmal einen verzweiflungs¬
vollen Brief an ſeinen Vater , worinn er ſich
als den groͤßten Verbrecher anklagte , und der
mit unzaͤhligen Gedankenſtrichen angefuͤllt war ,
ſo daß ſein Vater nicht wußte , was er aus dem
Brief machen ſollte , und fuͤr den Verſtand des
Verfaſſers im Ernſt zu fuͤrchten anfing — der
ganze Brief war im Grunde eine Rolle die Rei¬
ſer ſpielte — Er fand ein Vergnuͤgen daran , ſich
ſelbſt , wie es zuweilen die Helden in den Trau¬
erſpielen machen , mit der ſchwaͤrzten Farben zu
ſchildern , und dann recht Tragiſch gegen ſich
ſelbſt zu wuͤthen .
Da er nun niemand auf der Welt und auch
ſich ſelbſt nicht einmal zum Freunde hatte , was
konnte wohl anders ſein Beſtreben ſeyn , als ſich ,
ſo viel und ſo oft wie moͤglich , ſelbſt zu vergeſſen .
Der Buͤcherantiquarius blieb daher ſeine im¬
merwaͤhrende Zuflucht , und ohne dieſen wuͤrde
er ſeinen Zuſtand ſchwerlich ertragen haben , den
er ſich nun in manchen Stunden nicht nur er¬
traͤglich ſondern ſogar angenehm zu machen
wußte , wenn er z. B. bei ſeinem Vetter dem
Peruquenmacher , ein kleines , freilich eben nicht
glaͤnzendes Auditorium , um ſich her verſamm¬
len , und dem mit aller Fuͤlle des Ausdruks
und der Deklamation , die ihm nur moͤglich war ,
irgend eines ſeiner Lieblingstrauerſpiele als Emi¬
lia Galotti , Ugolino , oder ſonſt etwas Thraͤ¬
nenvolles , wie z. B. den Tod Abels von
Gaßner , vorleſen konnte , wobei er denn ein
unbeſchreibliches Entzuͤcken empfand , wenn er
rund um ſich her jedes Auge in Thraͤnen erblickte ,
und darin den Beweiß laß , daß ihm ſein End¬
zweck , durch die Sache , die er vorlaß , zu ruͤh¬
ren , gelungen war . —
Ueberhaupt brachte er die vergnuͤgteſten Stun¬
den ſeines damaligen Lebens entweder fuͤr ſich
allein , oder in dieſem Cirkel , bei ſeinem Vetter ,
dem Peruquenmacher zu , wo er gleichſam die
Herrſchaft uͤber die Geiſter fuͤhren , und ſich zum
Mittelpunkte ihrer Aufmerkſamkeit machen konn¬
te — denn hier wurde er gehoͤrt — hier konnte
er vorleſen , deklamiren , erzaͤhlen , und lehren
— und er ließ ſich wirklich mit den Handwerks¬
geſellen , welche dort zuſammen kamen , zu¬
weilen in Diſpuͤte uͤber ſehr wichtige Materien ,
als uͤber das Weſen der Seele , die Entſtehung
der Dinge , den Weltgeiſt und dergleichen , ein ,
wodurch er die Koͤpfe verwirrte — indem er die
Aufmerkſamkeit dieſer Leute auf Dinge lenkte ,
an die ſie in ihrem Leben nicht gedacht hatten —
Mit einem Schneidergeſellen insbeſondre , der
anfing , an ſeinen Gruͤbeleien Gefallen zu finden ,
unterhielt er ſich oft Stundenlang — uͤber die
K
Moͤglichkeit der Entſtehung einer Welt aus
Nichts — endlich geriethen Sie auf das Emana¬
tionsſyſtem , und auf den Spinoziſmus — Gott
und die Welt war eins —
Wenn dergleichen Materien nicht in die Schul¬
terminologie eingehuͤllt werden , ſo ſind ſie fuͤr
jeden Kopf , und ſogar Kindern verſtaͤndlich —
Bei einem ſolchen Geſpraͤch pflegte Reiſer
aller ſeiner Sorgen und ſeines Knmmers Kummers zu ver¬
geſſen — das , was ihn druͤckte , war denn viel zu
klein fuͤr ihn , um ſeine Aufmerkſamkeit zu be¬
ſchaͤftigen — er fuͤhlte ſich aus dem umringenden
Zuſammenhange der Dinge , worin er ſich auf
Erden befand , auf eine Zeitlang hinaus verſetzt ,
und genoß die Vorrechte der Geiſterwelt — wer
ihm dann zuerſt in den Wurf kam , mit dem
ſuchte er ſich in philoſophiſche Geſpraͤche einzu¬
laſſen , und ſeine Denkkraft an ihm zu uͤben —
Indes wandte er doch ſeine Schulſtunden
ohngeachtet der wenigen Aufmunterung , die er
darinn genoß , und der vielen Demuͤthigungen ,
die er dann erduldete , nicht ganz unnuͤz an —
er ſchrieb bei dem Direktor neue Geſchichte
Dogmatik und Logik ; und bei dem Rektor die
Erdbeſchreibung , und einige Ueberſetzungen latei¬
niſcher Autoren , nach , wodurch er denn doch
immer , neben ſeiner Komoͤdien und Romanlek¬
tuͤre , noch einige wiſſenſchaftliche Kenntniſſe
auffing , und ohne es eigentlich mit Abſicht zu
treiben , auch im Lateiniſchen noch einige Fort¬
ſchritte machte . —
Das war aber alles nur , wie zufaͤllig —
manche Stunde verſaͤumte er dazwiſchen , und
manche Stunde laß er , waͤhrend daß der Livius
oder ein ander lateiniſcher Autor geleſen wurde ,
fuͤr ſich heimlich einen Roman , weil er doch ein¬
mal wußte , daß der Direktor ihn nicht mehr
aufzurufen wuͤrdigte . —
Denn wenn er in den Schulſtunden mitten
unter einer Anzahl von ſechs bis ſiebenzig Men¬
ſchen ſaß , von denen faſt kein einziger ſein Freund
war , und denen er faſt insgeſammt ein Gegen¬
ſtand des Spottes und der Verachtung war , ſo
mußte ihm dieß natuͤrlicher Weiſe beſtaͤndig eine
ſehr aͤngſtliche Lage ſeyn , wo er ſich am meiſten
gedrungrn fuͤhlte , ſich in eine andre Welt zu
traͤumen , in der er ſich beſſer befand . —
K 2
Aber auch dieſe Zuflucht mißgoͤnnte man ihm
— und indem er gerade einmal noch ehe die
Stunde anging , in einem Bande vom Theater der
Deutſchen laß , ſo nahm man , waͤhrend daß der
Rektor hereintrat , ihm das Buch weg , und legte
es dem Rektor aufs Katheder hin , dem man nun
auf Befragen , woher das Buch kaͤme ? ſagte ,
daß Reiſer waͤhrend den Stunden darinn zu leſen
pflegte — Ein Blick voll wegwerfender Verach¬
tung auf Reiſern , war die Antwort des Rektors
auf dieſe Anklage . —
Und dieſer Blick koſtete Reiſern widerum einen
Theil des wenigen Selbſtzutrauens , das ihm noch
uͤbrig geblieben war ; denn weit entfernt , ſich
gegen ſich ſelbſt zu entſchuldigen , glaubte er viel¬
mehr dieſe Verachtung wirklich zu verdienen , und
hielt ſich in dem Augenblick eben ſo ſehr fuͤr ein
weggeworfnes veraͤchtliches Weſen , als ihn der
Rektor nur immer dafuͤr halten konnte . —
Er ſank durch dieſen Vorfall noch tiefer als
vorher in der Verachtung des Rektors — ſein
aͤußrer Zuſtand verſchlimmerte ſich daher von
Tage zu Tage ; und da er einmal vergeſſen hatte ,
einen Auftrag , den ihm ein Fremder an den Rek¬
tor gegeben hatte , auszurichten , ſo bediente ſich
der Rektor zum erſtenmale des harten Ausdrucks
gegen ihn , dieſe Vernachlaͤſſigung eines ihm ge¬
gebnen Auftrags ſey ja eine wahre Dummheit .
Dieſer Ausdruck brachte auf eine lange Zeit
eine Art von wirklicher Seelenlaͤhmung in ihm
hervor — Dieſer Ausdruck , und das dummer
Knabe , vom Inſpektor auf dem Seminarium ,
und das ich meine ihn ja nicht , von dem
Kaufmann S. . . hat er nie vergeſſen koͤnnen —
ſie haben ſich in alle ſeine Gedanken verwebt ,
und ihm lange nachher oft alle Gegenwart des
Geiſtes in Augenblicken benommen , wo er ſie am
meiſten bedurfte .
Ein Freund des Rektors , welcher einige Wo¬
chen bei ihm logirte , und fuͤr den Reiſer auch
einige Gaͤnge thun mußte , gab der Magd und
ihm , bei ſeinem Abſchiede ein Trinkgeld — Rei¬
ſer hatte eine ſonderbare Empfindung dabei , da
er das Geld nahm ; es war ihm , als ob er einen
Stich erhielte , wo ſich der erſte Schmerz ploͤtzlich
wieder verlor — denn er dachte an den Buͤcher¬
antiquarius , und in dem Augenblick war alles
uͤbrige vergeſſen — fuͤr das Geld konnte er mehr
K 3
wie zwanzig Buͤcher leſen — ſein beleidigter Stolz
hatte ſich noch zum letztenmal empoͤrt , und war
nun beſigt — Reiſer nahm von dieſem Augenblick
an keine Ruͤckſicht mehr auf ſich ſelbſt — und
warf ſich in Anſehung ſeiner aͤußern Verhaͤlt¬
niſſe voͤllig weg . —
Seine Kleidung , die immer ſchlechter und
unordentlicher wurde , kuͤmmerte ihn nicht mehr .
In der Schule , im Chore , und wenn er
auf der Straße gieng , dachte er ſich mitten un¬
ter Menſchen , wie allein — denn keiner war ,
der ſich um ihn bekuͤmmerte oder an ihm Theil
nahm — Sein eignes aͤußres Schickſal war ihm
daher , ſo veraͤchtlich ſo niedrig , und ſo unbedeu¬
tend geworden , daß er aus ſich ſelbſt nichts
mehr machte — an dem Schickſal einer Miß
Sara Sampſon , einer Julie und Romeos hin¬
gegen konnte er den lebhafteſten Antheil nehmen ;
damit trug er ſich oft den ganzen Tag herum .
Nichts war ihm unausſtehlicher , als , wenn
die Lehrſtunden geendigt waren , ſich beim Her¬
ausgehen unter dem Schwarm ſeiner insgeſammt
beſſer gekleideten , muntern und lebhaftern Mit¬
ſchuͤler , zu befinden , von denen ihn keiner mehr
an ſeiner Seite zu gehen wuͤrdigte — wie oft
wuͤnſchte er ſich in ſolchen Augenblicken endlich von
der Laſt ſeines Koͤrpers befreit , und durch einen
ploͤtzlichen Tod aus dieſem quaͤlenden Zuſammen¬
hange geriſſen zu werden ! Wenn er denn etwa
durch ein Gaͤßchen , wo niemand neben ihm ging ,
ſich den Blicken ſeiner Mitſchuͤler entziehen konnte ,
wie froh eilte er dann in die einſamſten und
abgelegenſten Gegenden der Stadt , um ſeinen
traurenden Gedanken eine Weile ungeſtoͤrt nach¬
zuhaͤngen .
Der groͤßte Dummkopf unter allen , welcher
auch allgemein verachtet war — geſellte ſich zu¬
weilen zu ihm , und Reiſer nahm ſeine Geſell¬
ſchaft mit Freuden an ; denn es war doch ein
Menſch , der ſich zu ihm geſellte — wenn er dann
mit dieſem ging — ſo hoͤrte er oft hie und da ei¬
nen ſeiner Mitſchuͤler zu dem andern ſagen : par
nobile Fratrum ! ( ein edles Paar Gebruͤder ! )
Mit dieſem wirklichen Dummkopf wurde er alſo
zugleich in eine Klaſſe geworfen —
Da nun der Rektor auch geſagt hatte , es
wuͤrde hoͤchſtens ein Dorfſchulmeiſter aus ihm
werden , ſo kam dies alles zuſammen , um Rei¬
K 4
ſern ſein Selbſtzutrauen gaͤnzlich zu rauben , ſo daß
er nun faſt alles Zutrauen zu ſeinen eignen Ver¬
ſtandeskraͤften fahren ließ , und oft im Ernſt an¬
fing , ſich ſelbſt fuͤr den Dummkopf zu halten ,
wofuͤr er ſo allgemein erkannt wurde — Dieſer
Gedanke artete denn aber auch zugleich in eine
Art von Bitterkeit gegen den Zuſammenhang
der Dinge aus — er verwuͤnſchte in den Augen¬
blicken die Welt und ſich — weil er ſich als ein
hoͤchſt veraͤchtliches Weſen zum Spott der Welt
geſchaffen glaubte . —
Wie weit das Vorurtheil ſeiner Mitſchuͤler
gegen ihn , und ihre Ueberzeugung von ſeiner an¬
gebohrnen Dummheit ging , davon mag folgen¬
des zum Beweiſe dienen : —
Der Rektor hatte ihm erlaubt , die Privat¬
ſtunden welche er in ſeinem Hauſe gab , mit zu beſu¬
chen — Unter andern gab nun der Rektor auch eine
engliſche Stunde — Reiſer hatte das Buch nicht ,
worin geleſen wurde , und konnte ſich alſo zu
Hauſe nicht uͤben , er mußte mit einem andern
einſehn ; demohngeachtet begriff er in ein paar
Wochen von bloßem Zuhoͤren die meiſten Regeln
der engliſchen Ausſprache ; und da ihn der Rek¬
tor zufaͤlliger Weiſe auch einmal mit zum Leſen
aufrief , ſo laß er weit fertiger und beſſer , als
alle uͤbrigen , die das Buch gehabt , und ſich zu
Hauſe geuͤbt hatten . —
Er hoͤrte alſo einmal in der Nebenſtube uͤber
ſich ſprechen , der Reiſer muͤſſe doch ſo dumm
nicht ſeyn , weil er die ſchwere engliſche Aus¬
ſprache ſobald gefaßt haͤtte ; um nun dieſe guͤn¬
ſtige Meinung von ihm ja nicht aufkommen zu
laſſen , behauptete ſogleich einer geradezu , Rei¬
ſers Vater ſei ein gebohrner Englaͤnder , und
er erinnre ſich alſo der engliſchen Ausſprache
noch von ſeiner Kindheit her ; die uͤbrigen waren
ſehr bereit , dieß zu glauben — und ſo war denn
Reiſer aufs neue zu ſeiner vorigen Niedrigkeit in
den Augen ſeiner Mitſchuͤler herabgeſunken .
Man ſiehet aus dieſem allen , daß die Ach¬
tung , worinn ein junger Menſch bei ſeinen Mit¬
ſchuͤlern ſteht , eine aͤußerſt wichtige Sache bei
ſeiner Bildung und Erziehung iſt , worauf man
bei oͤffentlichen Erziehungsanſtalten bisher noch
zu wenig Aufmerkſamkeit gewandt hat . —
Was Reiſern damals aus ſeinem Zuſtande
retten , und auf einmal zu einem fleißigen und
K 5
ordentlichen jungen Menſchen haͤtte umſchaffen
koͤnnen , waͤre eine einzige wohlangewandte Be¬
muͤhung ſeiner Lehrer geweſen , ihn bei ſeinen Mit¬
ſchuͤlern wieder in Achtung zu ſetzen . Und das
haͤtten ſie durch eine etwas naͤhere Pruͤfung ſei¬
ner Faͤhigkeiten , und ein wenig mehr Aufmerk¬
ſamkeit auf ihn ſehr leicht bewirken koͤnnen . —
So verſtrich nun dieſer Winter fuͤr ihn
hoͤchſt traurig — ſeine kleine Oekonomie war
gaͤnzlich zerruͤttet — er hatte ſich in ſeinem ſchlech¬
ten Aufzuge nicht getraut , ſein monathliches
Geld von dem Prinz zu hohlen . — Bei dem Buͤ¬
cherantiquarius , war er fuͤr ſeine Einkuͤnfte tief
in Schulden gerathen — auch hatte er ſeine uͤbri¬
gen nothwendigſten Beduͤrfniſſe an Waͤſche und
Schuhen , von den wenigen Groſchen , die er woͤ¬
chentlich einnahm , und dem Chorgelde , das er
erhielt , nicht beſtreiten koͤnnen , da er uͤberdem
dem Buͤcherantiquarius alles zubrachte .
Unter dieſen Umſtaͤnden reißte er in den
Oſterferien zu ſeinen Eltern , wo er den Degen
anſteckte , mit dem er ſich im Philotas erſtochen
hatte — und nun ſeinen Bruͤdern taͤglich dieſe
Rolle noch einmal vorſpielte — ſich auch von ſei¬
nem verlaßnen Zuſtande , und der Verachtung
worin er bei ſeinen Mitſchuͤlern ſtand , hier nicht
das mindeſte merken ließ , ſondern vielmehr das
Angenehme , und Ehrbringende , was er von ſich
ſagen konnte , auf alle Weiſe herausſuchte —
daß ihm nehmlich der Rektor auf einer Reiſe zur
Geſellſchaft mitgenommen , daß er in einer Pri¬
vatſtunde engliſch bei ihm gelernt habe , daß er bei
dem Aufzug mit Fackeln und Muſik geweſen , und
wie es dabei zugegangen ſey u. ſ. w .
Auch fuͤr ſich ſelbſt ſuchte er ſo viel wie moͤg¬
lich alles Unangenehme und Niederdruͤckende aus
ſeinen Ideen zu verbannen — denn er wollte
hier nun einmal in einem vortheilhaften , ehren¬
vollen Lichte erſcheinen , und ſein Zuſtand ſollte
andern beneidenswerth vorkommen , ſo wenig
beneidenswerth er auch war —
In dieſer angenehmen Selbſttaͤuſchung brach¬
te er hier einige Tage ſehr vergnuͤgt zu — allein
ſo leicht wie ihm dießmal geworden war , da er
aus den Thoren von H. . . gekommen , und er die
vier Thuͤrme der Stadt allmaͤlig aus dem Geſicht
verlohren hatte , ſo ſchwer wurde ihm ums Herz ,
da er ſich dieſen Thoren wieder naͤherte , und die
vier Thuͤrme wieder vor ihm da lagen , die ihm
gleichſam die großen Stifte ſchienen , welche den
Fleck ſeiner manichfaltigen Leiden bezeichneten .
Insbeſondre war ihm der hohe , eckigte , und
oben nur mit einer kleinen Spitze verſehene ,
Marktthurm , da er ihn jetzt wieder ſahe , ein
fuͤrchterlicher Anblick — dicht neben dieſem war
die Schule — das Spotten , Grinſen und Aus¬
ziſchen ſeiner Mitſchuͤler ſtand mit dieſem Thurm
auf einmal wieder vor ſeiner Seele da — das
große Zieferblatt an dieſem Thurm war er ge¬
wohnt zum Augenmerk zu nehmen , ſo oft er die
Schule beſuchte , um zu ſehen , ob er auch zu
ſpaͤt kaͤme — Dieſer Thurm war ſo wie die
alte Marktkirche , ganz in gothiſcher Bauart ,
von rothen Backſteinen aufgebaut , die vor Alter
ſchon ſchwaͤrzlich geworden waren . —
In eben dieſer Gegend war es , wo den Miſ¬
ſethaͤtern ihr Todesurtheil vorgeleſen wurde —
kurz dieſer Marktkirchthurm , brachte alles in
Reiſers Phantaſie zuſammen , was nur faͤhig
war , ihn ploͤtzlich niederzuſchlagen und in eine
tiefe Schwermuth zu verſetzen . —
Er haͤtte in der That nicht ſchwermuͤthiger
ſeyn koͤnnen , als er es jetzt war , wenn er auch
alles das vorausgewußt haͤtte , was ihm von nun
an in dieſem Orte ſeines Aufenthalts noch begeg¬
nen ſollte — War aber ſchon vor einem Jahre ,
da er auch von ſeinen Eltern nach H... wieder
zuruͤckkehrte ſeine Traurigkeit nicht ohne Grund
geweſen , ſo war ſie es dießmal noch viel weniger ,
da ihm einer der ſchrecklichſten Zeitpunkte in ſei¬
nem Leben bevorſtand .—
Ohne indes eine Ahndungskraft bei ihm vor¬
auszuſetzen , ließ ſich ſeine Schwermuth ſehr na¬
tuͤrlich erklaͤren — wenn man erwaͤgt , daß ſeine
Einbildungskraft jeden engſten Kreis , ſeines
eigentlichen wirklichen Daſeyns , worin er nun
wieder verſetzt werden ſollte , ſchnell durchlief :
die Schule , das Chor , das Haus des Rektors —
in dieſen Kreiſen , wovon ihn immer einer noch
mehr wie der andre einengte und alle ſeine
Strebekraft hemmte , ſollte er ſich von nun an
wieder drehen — — wie gern haͤtte er in die¬
ſem Augenblick ſeinen ganzen Aufenthalt in H...
gegen den dunkelſten Kerker vertauſcht , der ge¬
wiß weit weniger Fuͤrchterliches und Schreckli¬
ches fuͤr ihn gehabt haben wuͤrde , als alle dieſe
aͤngſtliche Lagen .
Indem er nun ſo in ſchwermuͤthige Gedan¬
ken vertieft einherging , und ſchon nahe am Thore
war , ſchoß auf einmal wie ein Blitz , ein Ge¬
danke durch ſeine Seele , der alles aufhellte ,
und wodurch ſich ihm alles wieder in einem ſchoͤ¬
nern Lichte mahlte — er erinnerte ſich , daß er
ſchon zu Hauſe bei ſeinen Eltern gehoͤrt hatte ,
es waͤre eine Schauſpielergeſellſchaft nach
H. . . gekommen , die den Sommer uͤber
dort ſpielen wuͤrde . —
Dieß war die damalige Ackermanſche Trup¬
pe , welche faſt alle die jetzt hin und her zerſtreu¬
ten Zierden aller Buͤhnen Deutſchlands , in ſich
vereinigte . —
Mit ſchnellen Schritten eilte nun Reiſer der
Stadt zu , die ihm vorher ſo verhaßt , und nun
ploͤtzlich wider uͤber alles lieb geworden war —
ohne erſt zu Hauſe zu gehen , ( es war noch Vor¬
mittag , denn er war die Nacht an einem Orte
unterwegens geblieben , von welchem er nur noch
ein paar Meilen bis nach H. . . zu gehen hatte )
eilte er ſogleich nach dem Schloſſe , wo er wußte ,
daß der Komoͤdienzettel mit dem Perſonenver¬
zeichniß angeſchlagen war , und laß , daß man an
demſelben Abend noch Emilia Galotti auffuͤh¬
ren wuͤrde . —
Sein Herz ſchlug ihm vor Freuden , da er
dieß laß ; gerade dieß Stuͤck , bei dem er ſchon ſo
manche Thraͤne geweint , und ſo oft bis ins In¬
nerſte der Seele erſchuͤttert worden , und was
bis jetzt nur noch in ſeiner Phantaſie aufgefuͤhrt
war , nun auf dem Schauplatz mit aller moͤgli¬
chen Taͤuſchung wirklich dargeſtellt zu ſehn . —
Er waͤre deu den Abend nicht aus der Komoͤdie
geblieben , haͤtte es auch koſten moͤgen , was es
gewollt haͤtte — da er nun zu Hauſe kam , ſo
wurde die Stube , worin er ſchlief , geweißt , und
etwas darin gebaut , wodurch ſie ganz unbewohn¬
bar gemacht wurde — Dieſer mißtroͤſtende An¬
blick des Orts ſeines eigentlichſten Aufenthalts ,
trieb ihn noch mehr aus der wirklichen ihn um¬
gebenden Welt hinaus — er ſchmachtete nach der
Stunde , wann das Schauſpiel anheben wuͤrde .
Wohin er kam konnte er ſeine Freude
nicht verbergen ; da er bei der Frau F. . . in
die Stube trat , war ſein erſtes Wort die
Komoͤdie , welches ſie ihm lange nachher vor¬
warf — und eben ſo war es , da er zu ſeinem
Vetter dem Peruquenmacher kam , wo er nun
einige Naͤchte auf dem Boden ſchlafen mußte ,
waͤhrend das ſeine Stube in dem Hauſe des Rek¬
tors erſt wieder bewohnbar gemacht wurde . —
Folgende Rollenbeſetzung mag ohngefaͤhr
einen Begriff davon geben , was Emilia Galotti ,
als das erſte Schauſpiel , das er in dieſer Stim¬
mung der Seele ſahe , fuͤr eine Wirkung auf ihn
muͤſſe gehabt haben .
Die verſtorbne Charlotte Ackermann ſpiel¬
te die Emilia ; ihre Schweſter die Orſina , und
die Reiniken ſpielte die Klaudia ; Borchers
den Odoardo ; Brockmann den Prinzen ; Rei¬
nike den Apptani , und Dauer den Conti —
Wo mag Emilia Galotti wohl je wieder ſo auf¬
gefuͤhrt worden ſeyn ?
Wie maͤchtig mußte Reiſers Seele hier ein¬
greiffen ; da ſie nun die Welt ihrer Phantaſie
gewiſſermaßen wirklich gemacht fand ! — Er
dachte von nun an keinen andern Gedanken mehr ,
als das Theater , und ſchien nun fuͤr alle ſeine
Außichten und Hoffnungen im Leben gaͤnzlich
verlohren zu ſeyn . —
Was er nun irgend an Geld auftreiben
konnte , das wurde zur Komoͤdie angewandt , aus
welcher er nun keinen Abend mehr wegbleiben
konnte , wenn er es ſich auch am Munde abdar¬
ben ſollte — Um der Komoͤdie willen aß er oft
den ganzen Tag uͤber nichts , wie etwas Salz
und Brodt , wenn ihm nicht etwa die alte Mut¬
ter des Rektors Eſſen auf ſeine Stube ſchickte ,
welches ſie doch zuweilen aus Mitleid that . —
Und weil es nun Sommer war , ſo genoß er
auch der Wonne , auf ſeiner Stube wieder allein
ſeyn zu koͤnnen — welches ihm mehr werth war ,
als die koͤſtlichſten Speiſen , die er haͤtte genießen
koͤnnen . —
Die Außicht auf die Komoͤdie am Abend troͤ¬
ſtete ihn , wenn er am Morgen zu einem trauri¬
gen Tage erwachte , wie er denn nie anders er¬
wachte — Denn die Verachtung und der Spott
ſeiner Mitſchuͤler , und das dadurch erregte
Gefuͤhl ſeiner eignen Unwuͤrdigkeit , welches
er allenthalben mit ſich umher trug , dauerte
noch immer fort , und verbitterte ihm ſein Le¬
L
ben — Und alles was er that , um ſich hievon
loß zureißen , war im Grunde eine bloße Betaͤu¬
bung ſeines innern Schmerzes , und keine Hei¬
lung deſſelben — ſie erwachte mit jedem Tage
wieder , und waͤhrend daß ſeine Phantaſie ihm
manche Stunde lang ein taͤuſchendes Blendwerk
vormahlte , verwuͤnſchte er doch im Grunde ſein
Daſeyn . —
Die haͤufigen Thraͤnen welche er oft beim
Buche , und im Schauſpeilhauſe vergoß , floſſen
im Grunde eben ſowohl uͤber ſein eignes Schick¬
ſal , als uͤber das Schickſal der Perſon , an de¬
nen er Theil nahm , er fand ſich immer auf eine
naͤhere oder entferntere Weiſe in dem unſchuldig
Unterdruͤckten , in dem Unzufriednen mit ſich und
der Welt , in dem Schwermuthsvollen , und dem
Selbſthaſſer wieder . —
Die druͤckende Hitze im Sommer trieb ihn
oft aus ſeiner Stube in die Kuͤche , oder in den
Hof hinunter , wo er ſich auf einen Holzhaufen
ſetzte , und laß , und oft ſein Geſicht verbergen
mußte , wenn etwa jemand hereintrat , und er
mit rothgeweinten Augen da ſaß . —
Das war wieder the Joy of Grief , die
Wonne der Thraͤnen , die ihm von Kindheit auf
im vollen Maße zu Theil ward , wenn er auch
alle uͤbrigen Freuden des Lebens entbehren mußte .
Dieß gieng ſo weit , daß er ſelbſt bei komi¬
ſchen Stuͤcken , wenn ſie nur einige ruͤhrende
Scenen enthielten , als z. B. bei der Jagd ,
mehr weinte , als lachte — was aber auch ein
ſolches Stuͤck damals fuͤr Wirkung thun mußte ,
kann man wieder aus der Rollenbeſetzung ſchlieſ¬
ſen , indem die Charlotte Ackermann Roͤßchen ,
ihre Schweſter Hannchen , die Reiniken die
Mutter ; Schroͤder den Toͤffel ; Reineke den
Vater ; und Dauer den Chriſtel ſpielte . —
Wenn irgend aͤußere Umſtaͤnde faͤhig waren ,
jemanden einen entſchiednen Geſchmack am Thea¬
ter beizubringen , ſo war es , Reiſers Vorliebe
und ſeine beſondern Verhaͤltniſſe abgerechnet , der
Zufall , welcher dieſe vortrefflichen Schauſpieler
damals in eine Truppe zuſammen brachte .
Man kann nun leicht ſchließen , wie Romeo
und Julie , die Rache von Young , die Oper
Klariſſa , Eugenie , welche Stuͤcke auf Reiſern
L 2
den ſtaͤrkſten Eindruck machten , gegeben werden
mußten . —
Dieß hatte nun auch ſo ſehr alle ſeine Ge¬
danken eingenommen , daß er alle Morgen den
Komoͤdienzettel gleichſam verſchlang , und alles
auch das der Anfang iſt praͤciſe um halb ſechs
Uhr , und der Schauplatz iſt auf dem koͤnig¬
lichen Schloßtheater gewiſſenhaft mitlaß —
Und fuͤr einen vorzuͤglichen Schauſpieler , den er
etwa auf der Straße erblicke , faſt ſo viel Ehr¬
furcht , wie ehemals gegen den Paſtor P. . . in
B. . . empfand . — Alles , was zum Theater
gehoͤrte , war ihm ehrwuͤrdig , und er haͤtte viel
darum gegeben , nur mit dem Lichtputzer Be¬
kanntſchaft zu haben . —
Vor zwei Jahren hatte er ſchon den Herku¬
les auf dem Oeta , den Grafen von Olsbach ,
und die Pamela ſpielen ſehen , wo Eckhof , Boͤck ,
Guͤnther , Henſel , Brandes nebſt ſeiner
Frau , und die Seilerin die vorzuͤglichſten Rollen
ſpielten , und ſchon von jener Zeit her , ſchwebten
die ruͤhrendſten Scenen aus dieſen Stuͤcken noch
ſeinem Gedaͤchtniß vor , worunter Guͤnther als
Herkules , Boͤck als Graf von Olsbach , und die
Brandes als Pamela , faſt jeden Tag wechſels¬
weiſe einmal in ſeine Gedanken gekommen wa¬
ren — und mit dieſen Perſonen hatte er denn
auch bis zur Ankunft der Ackermanſchen Trup¬
pen die Stuͤcke , die er laß , in ſeiner Phantaſie groͤ߬
tentheils aufgefuͤhrt . —
Es fuͤgte ſich alſo gerade bei ihm , daß er ,
wenn jene mit dieſen zuſammengenommen wur¬
den , nun alle die vorzuͤglichſten Schauſpieler
Deutſchlands zu ſehen bekommen hatte , die jetzt
in ganz Deutſchland zerſtreut ſind . —
Dadurch bildete ſich ein Ideal von der
Schauſpielkunſt in ihm , das nachher nirgends
befriedigt wurde , und ihm doch weder Tag noch
Nacht Ruhe ließ , ſondern ihn unaufhoͤrlich um¬
hertrieb , und ſein Leben unſtaͤt und fluͤchtig
machte . —
Weil er ehemals Boͤck , und jetzt Brock¬
mannen die Rollen ſpielen ſahe , wobei am
meiſten geweint wurde , ſo waren dieſe auch
ſeine Lieblingsakteurs , mit denen ſich ſeine Ge¬
danken immer am meiſten beſchaͤftigten . —
L 3
Allein bei alle den glaͤnzenden Scenen , die
aus der Theaterwelt beſtaͤndig ſeiner Phantaſie
vorſchwebten , wurden ſeine aͤußern Umſtaͤnde von
Tage zu Tage ſchlechter — Er verlohr immer
mehr in der Achtung der Menſchen , gerieth im¬
mer tiefer in Unordnung — ſeine Kleidung und
Waͤſche wurden immer ſchlechter , ſo daß er am
Ende Scheu trug , ſich vor Menſchen ſehen zu
laſſen — er verſaͤumte daher ſo oft er konnte ,
die Schule und das Chor , und hungerte lieber ,
als daß er irgend einen ſeiner noch uͤbrigen Frei¬
tiſche beſucht haͤtte , ausgenommen den bei dem
Schuſter S. . . , wo er auch unter dieſen mißli¬
chen Umſtaͤnden noch immer gaſtfreundlich em¬
pfangen , und mit der liebreichſten Art bewirthet
wurde . —
Da nun dem Rektor endlich Reiſers inkorri¬
gible Unordnung , und insbeſondre das immer¬
waͤhrende ſpaͤte zu Hauſe kommen aus der Ko¬
moͤdie unausſtehlich wurde , ſo ſagte er ihm das
Logis auf . —
Reiſer hoͤrte die Ankuͤndigung des Rektors daß
er zu Johanni ausziehen , und ſich waͤhrend der
Zeit nach einem andern Logis umſehen ſollte , mit
gaͤnzlicher Verhaͤrtung und Stillſchweigen an —
und da er wieder allein war , vergoß er nicht ein¬
mal eine Thraͤne mehr uͤber ſein Schickſal —
denn er war ſich ſelbſt ſo gleichguͤltig geworden ,
und hatte ſo wenige Achtung gegen ſich und Mit¬
leid mit ſich ſelber uͤbrig behalten , daß wenn ſeine
Achtung und Empfindung des Mitleids , und alle
die Leidenſchaften , wovon ſein Herz uͤberſtroͤmte ,
nicht auf Perſonen aus einer erdichteten Welt
gefallen waͤren , ſie nothwendig ſich alle gegen ihn
ſelbſt kehren , und ſein eignes Weſen haͤtten zer¬
ſtoͤren muͤſſen .
Da ihm der Rektor das Logis aufgeſagt hatte ,
ſo zog er daraus die ſichere Folge , daß nun
auch der Paſtor M... ſich nicht weiter um ihn
bekuͤmmern wuͤrde , und ſo war es nun auf ein¬
mal mit allen ſeinen Ausſichten und Hoffnungen
vorbei . —
Die paar Wochen , welche er noch bei dem
Rektor blieb , brachte er nach ſeiner gewoͤhnlichen
Weiſe zu — dann zog er bei einem Buͤrſtenbin¬
der ins Haus ; wo nun das Vierteljahr , welches
er von Johanni bis Michaelis zubrachte , das
ſchrecklichſte und fuͤrchterlichſte in ſeinem ganzen
L 4
Leben war , und wo er oft am Rande der Ver¬
z w eiflung ſtand . —
Da er nun hier eingezogen war , ſo fuͤhlte er
ſich auf einmal aus alle den Verbindungen , die
er vormals ſo aͤngſtlich geſucht hatte , herausge¬
ſetzt , und zwar wie er ſelbſt glaubte , durch ſeine
eigne Schuld herausgeſetzt — Der Prinz , der
Paſtor M. . . , der Rektor , alle die Perſonen
von denen ſein kuͤnftiges Schickſal abhing , waren
nun nichts mehr fuͤr ihn , und damit verſchwan¬
den zugleich alle ſeine Ausſichten . —
Was Wunder , daß ſich durch dieſe Veran¬
laſſung eine neue Phantaſie in ſeiner Seele bil¬
dete , in der er von nun an Troſt ſuchte , und
ſie Tag und Nacht mit ſich umher trug , und wel¬
che ihn von der gaͤnzlichen Verzweiflung rettete .
Er hatte nehmlich damals unter andern die
Operette Klariſſa oder das unbekannte
Dienſtmaͤdchen geſehen , und nicht leicht haͤtte
in ſeiner Lage irgend ein Stuͤck mehr Intereſſe
fuͤr ihn haben koͤnnen , als dieſes . —
Der vorzuͤglichſte Umſtand , wodurch dieß
große Intereſſe bei ihm bewuͤrkt wurde , war , daß
ein junger Edelmann ſich entſchließt , ein Bauer
zu werden , und auch wirklich ſeinen Entſchluß
ausfuͤhrt — Reiſer nahm auf die Veranlaſ¬
ſung , die ihn dazu brachte , weil er nehmlich
das unbekannte Dienſtmaͤdchen liebte , u. ſ. w.
gar keine Ruͤckſicht ſondern es war ihm eine ſo rei¬
zende Idee , daß ein gebildeter junger Menſch
ſich entſchließt , ein Bauer zu werden , und nun
ein ſo feiner , hoͤflicher , und geſitteter Bauer iſt ,
daß er ſich unter allen uͤbrigen auszeichnet . —
In dem Stande , worin ſich Reiſer begeben ,
war er nun einmal ganz zuruͤck geſetzt , und es
ſchien ihm unmoͤglich , ſich je wieder darin em¬
por zu arbeiten — Allein fuͤr einen Bauer hatte
doch ſein Geiſt einmal weit mehr Bildung erhal¬
ten , als es ſonſt zu dieſem Stande bedarf —
als Bauer war er uͤber ſeinen Stand erhoben ,
als ein junger Menſch , der ſich dem Studiren
widmet , und Ausſichten haben ſoll , fand er ſich
weit unter ſeinen Stand erniedrigt — Die Idee ,
ein Bauer zu werden , wurde alſo nun bei ihm
die herrſchende , und verdraͤngte eine Zeitlang
alles uͤbrige . —
Nun beſuchte damals eines Bauernſohn Na¬
mens M. . . die Schule , dem er im lateiniſchen
L 5
zuweilen einigen Unterricht gegeben hatte — die¬
ſem ſagte er ſeinen Entſchluß ein Bauer zu wer¬
den , worauf ihm dann derſelbe eine detaillierte
Schilderung von den eigentlichen Arbeiten eines
Bauerknechtes machte , die Reiſern ſeine ſchoͤnen
Traͤume wohl haͤtten verderben koͤnnen , wenn
ſeine Phantaſie nicht zu ſtark dagegen angewuͤrkt
und nur immer die angenehmen Bilder mit Ge¬
walt neben einander geſtellt haͤtte . —
Sonſt koͤmmt auch ſelbſt in der Operette
Klariſſa ſchon eine Stelle vor , wo ein Bauer den
jungen Edelmann , der ihm ſein Guͤtchen abkau¬
fen will , von ſeinem Vorſatz abraͤth — und am
Ende eine ſehr ausdrucksvolle Arie ſingt , wie der
Landmann gerade im beſten Arbeiten begriffen
iſt , und auf einmal ſteigt ein Gewitter auf
Die Blitze ſchießen
Die Donner rollen
Und der Landmann geht verdrießlich
Verdrießlich zu Hauſe . —
das verdrießlich insbeſondere war durch die
Muſik ſo ausgedruckt , daß die ganze Zauberei
der Phantaſie ſchon durch dieß einzige Wort haͤtte
zerſtoͤrt werden koͤnnen — welches gleichſam
das Gegengift aller Empfindſamkeit und hohen
Schwaͤrmerei iſt , womit das ſchmerzhafte , das
ſchreckliche , das niederbeugende , das in Zorn
ſetzende , aber nur das verdrießlichmachende
nicht wohl beſtehen kann . —
Aber dieß Gegengift half bei Reiſern nicht —
er ging ganze Tage einſam fuͤr ſich umher , und
dachte darauf , wie er es machen wollte , ein Bauer
zu werden , ohne doch in der That einen Schritt
dazu zu thun — vielmehr fing er an , ſich in die¬
ſen ſuͤßen Schwaͤrmereien ſelbſt wieder zu gefal¬
len — wenn er ſich nun als Bauer dachte , ſo
glaubte er ſich doch zu etwas beſſern beſtimmt zu
ſein , und empfand uͤber ſein Schickſal wieder
eine Art von troͤſtendem Mittleid mit ſich ſelber .
So lange ihn nun dieſe Phantaſie noch empor
hielt , war er nur ſchwermuthsvoll und traurig ,
aber nicht eigentlich verdrießlich uͤber ſeinen
Zuſtand — Selbſt ſeine Entbehrung der noth¬
wendigſten Beduͤrfniſſe machte ihm noch eine
Art von Vergnuͤgen , indem er nun beinahe glaub¬
te , daß er fuͤr ſein Verſchulden doch zu ſehr buͤſ¬
ſen muͤſſe , und alſo noch die ſuͤße Empfindung
des Mitleids mit ſich ſelber behielt —
Endlich aber nachdem er zum erſtenmale drei
Tage , ohne zu eſſen zugebracht , und ſich den
ganzen Tag uͤber mit Thee hingehalten hatte ,
drang der Hunger mit Ungeſtuͤm auf ihn ein ,
und das ganze ſchoͤne Gebaͤude ſeiner Phantaſie
ſtuͤrzte fuͤrchterlich zuſammen — er rannte mit
dem Kopfe gegen die Wand , wuͤthete und tobte ,
und war der Verzweiflung nahe , da ſein Freund
Philipp Reiſer , den er ſo lange vernachlaͤßiget
hatte , zu ihm hereintrat , und ſeine Armuth , die
freilich auch nur in einigen Groſchen beſtand mit
ihm theilte . —
Indes war dieß nur ein ſehr geringes Pallia¬
tiv — denn Philipp Reiſer befand ſich damals
in nicht viel beſſern Umſtaͤnden als Anton Reiſer .
Dieſer gerieth nun wirklich in einen fortdau¬
renden fuͤrchterlichen Zuſtand , der der Verzweif¬
lung nahe war . —
So wie ſein Koͤrper immer weniger Nahrung
erhielt , verloſch allmaͤlig ſeine ihn ſonſt noch be¬
lebende Phantaſie , und ſein Mitleid uͤber ſich
ſelbſt verwandelte ſich in Haß und Bitterkeit ge¬
gen ſein eignes Weſen , ehe er nun einen Schritt
zu der Verbeſſerung ſeines Zuſtandes gethan ,
oder ſich an irgend einen Menſchen nur mit dem
Schein einer Bitte gewandt haͤtte , unterwarf
er ſich lieber freiwillig mit der beiſpielloſeſten
Hartnaͤckigkeit dem ſchreklichſten Elende . —
Denn mehrere Wochen hindurch aß er wirk¬
lich die Woche eigentlich nur einen einzigen Tag ,
wenn er zum Schuſter S. . . ging , und die uͤbri¬
gen Tage faſtete er , und hielt mit nichts als
Thee oder warmen Waſſer , das einzige was er
noch umſonſt erhalten konnte , ſein Leben hin —
Mit einer Art von ſchreklichem Wohlbehagen ,
ſahe er ſeinen Koͤrper eben ſo gleichguͤltig wie
ſeine Kleider , von Tage zu Tage abfallen .
Wenn er auf der Straße ging , und die Leute
mit Fingern auf ihn zeigten , und ſeine Mitſchuͤ¬
ler ihn verſpotteten , und hinter ihm her ziſch¬
ten , und Gaſſenbuben ihre Anmerkungen uͤber
ihn machten — ſo bis er die Zaͤhne zuſammen ,
und ſtimmte innerlich in das Hohngelaͤchter mit
ein , daß er hinter ſich her erſchallen hoͤrte . —
Wenn er aber dann wieder zum Schuſter S. . .
kam , ſo vergaß er doch alles wieder — Hier
fand er Menſchen , hier wurde auf einige Augen¬
blicke ſein Herz erweicht , mit der Saͤttigung ſei¬
nes Koͤrpers erhielt ſeine Denkkraft und ſeine
Phantaſie wieder einen neuen Schwung , und
mit dem Schuſter S. . kam wieder ein philo¬
ſophiſches Geſpraͤch auf die Bahn , welches oft
Stundenlang dauerte , und wobei Reiſer wieder
an zu athmen fing , und ſein Geiſt wieder Luft
ſchoͤpfte — dann ſprach er oft in der Hitze des
Diſputirens uͤber einen Gegenſtand ſo heiter und
unbefangen , als ob nichts in der Welt ihn nie¬
dergedruͤckt haͤtte — Von ſeinem Zuſtande ließ
er ſich nicht eine Silbe merken . —
Selbſt bei ſeinem Vetter , dem Perukenmacher
beklagte er ſich nie , wenn er zu ihm kam , und
ging weg , ſobald er ſahe , daß gegeſſen werden
ſollte — aber eines Kunſtgriffes bediente er ſich
doch , wodurch es ihm gelang ſich vom Verhun¬
gern zu retten . —
Er bat ſich nehmlich fuͤr einen Hund , den er
bei ſich zu Hauſe zu haben vorgab , von ſeinem
Vetter die harte Kruſte von dem Teich aus ,
worin das Haar zu den Peruquen gebacken wur¬
de , und dieſe Kruſte , nebſt dem Freitiſche bei dem
Schuſter S... , und dem warmen Waſſer das
er trank , war es nun , womit er ſich hinhielt .
Wenn nun ſein Koͤrper einige Nahrung er¬
halten hatte , ſo fuͤhlte er ordentlich zuweilen
wieder etwas Muth in ſich — Er hatte noch
einen alten Virgil , den ihm der Buͤcheranti¬
quarius nicht hatte abkaufen wollen ; in dieſem
fing er an die Eklogen zu leſen — Aus einer Wo¬
chenſchrift die Abendſtunden die er ſich von Phi¬
lipp Reiſern geliehen hatte , fing er an ein Ge¬
dicht der Gottesleugner , das ihm vorzuͤg¬
lich gefiel , und einige proſaiſche Aufſaͤtze aus¬
wendig zu lernen — Aber mit dem bald wie¬
der fuͤhlbaren Mangel an Nahrung erloſch auch
dieſer aufglimmende Muth wieder , und dann
war die Thaͤtigkeit ſeiner Seele wie gelaͤhmt —
Um ſich vor den Zuſtande des toͤdtlichen Aufhoͤ¬
rens aller Wirkſamkeit zu retten , mußte er zu
kindiſchen Spilen wieder ſeine Zuflucht neh¬
men , in ſo fern dieſelben auf Zerſtoͤrung hinaus
liefen . —
Er machte ſich nehmlich eine große Samm¬
lung von Kirſch- und Pflaumenkernen , ſetzte ſich
damit auf den Boden , und ſtellte ſie in Schlacht¬
ordnung gegen einander — die ſchoͤnſten darunter
zeichnete er durch Buchſtaben und Figuren , die er
mit Dinte darauf mahlte , von den uͤbrigen aus ,
und machte ſie zu Heerfuͤhrern — dann nahm er
einen Hammer , und ſtellte mit zugemachten Au¬
gen das blinde Verhaͤngniß vor , indem er den
Hammer bald hie , bald dorthin fallen ließ —
wenn er dann die Augen wieder eroͤfnete , ſo ſah
er mit einem geheimen Wohlgefallen , die ſchrek¬
liche Verwuͤſtung , wie hier ein Held und dort
einer mitten unter dem unruͤhmlichen Haufen ge¬
fallen war , und zerſchmettert da lag — dann
wog er das Schickſal der beiden Heere gegen ein¬
ander ab , und zaͤhlte von beiden die Gebliebenen .
So beſchaͤftigte er ſich oft den halben Tag —
und ſeine ohnmaͤchtige kindiſche Rache am Schick¬
ſal , das ihn zerſtoͤrte , ſchuf ſich auf die Art eine
Welt , die er wieder nach Gefallen zerſtoͤren
konnte — ſo kindiſch und laͤcherlich dieſes Spiel
jedem Zuſchauer wuͤrde geſchienen haben , ſo war
es doch im Grunde das fuͤrchterlichſte Reſultat
der hoͤchſten Verzweiflung die vielleicht nur je
durch die Verkettung der Dinge bei einem Sterb¬
lichen bewirkt wurde . —
Man ſieht aber auch hieraus , wie nahe da¬
mals ſein Zuſtand an Raſerei graͤnzte — und
doch war ſeine Gemuͤthslage wieder ertraͤglich ,
ſobald er ſich nur erſt wieder fuͤr ſeine Kirſch und
Pflaumenſteine intereſſiren konnte — ehe er aber
auch das konnte ; wenn er ſich hinſetzte und mit der
Feder zuͤge aufs Papier mahlte oder mit dem
Meſſer auf dem Tiſch kritzelte — das waren
die ſchrecklichſten Momente , wo ſein Daſeyn wie
eine unertraͤgliche Laſt auf ihm lag , wo es ihm
nicht Schmerz und Traurigkeit , ſondern Ver¬
druß verurſachte— wo er es oft mit einem fuͤrchter¬
lichen Schauder , der ihn antrat , von ſich abzu¬
ſchuͤtteln ſuchte . —
Seine Freundſchaft mit Philipp Reiſern
konnte ihm damals nicht zu ſtatten kommen , weil
es jenem nicht viel beſſer ging — und ſo wie zwei
Wandrer , die zuſammen in einer brennenden
Wuͤſte in Gefahr vor Durſt zu verſchmachten ſind ,
indem ſie forteilen , eben nicht im Stande ſind viel
zu reden , und ſich wechſelsweiſe Troſt einzuſpre¬
chen , ſo war dieß auch jetzt der Fall zwiſchen An¬
ton Reiſern und Philipp Reiſern .
M
Allein eben der G... , welcher einſt den ſter¬
benden Sokrates geſpielt hatte , wovon Reiſer
noch immer den Spottnahmen trug , entſchloß
ſich bei ihm zu ziehen , und war auch gerade in
denſelben Umſtaͤnden , wie Reiſer , nur mit dem
Unterſchiede , daß er durch wirkliche Liederlichkeit
hinein gerathen war — an ihm fand alſo Reiſer
nun einen wuͤrdigen Stubengeſellſchafter .
Es dauerte nicht lange , ſo zog auch der
Bauernſohn Nahmens M... zu dieſen beiden ,
der ebenfalls in keinen beſſern Umſtaͤnden war —
Es fand ſich alſo hier eine Stubengeſellſchaft von
drei der aͤrmſten Menſchen zuſammen , die viel¬
leicht nur je zwiſchen vier Waͤnden eingeſchloſſen
waren . —
Mancher Tag ging hin ; wo ſie ſich alle drei
mit nichts als gekochtem Waſſer und etwas Brodt
hinhielten — Indes hatten G... und M... doch
noch einige Freitiſche . —
G... war im Grunde ein Menſch von Kopf ,
der ſehr gut ſprach , und gegen den Reiſer ſonſt
immer viel Achtung empfunden hatte . —
Einmal bekamen beide auch noch eine An¬
wandlung von Fleiß , und fingen an , Virgils Ek¬
logen zuſammen zu leſen , wobei ſie wirklich das
reinſte Vergnuͤgen genoſſen , nachdem ſie eine Ek¬
loge mit vieler Muͤhe fuͤr ſich ſelbſt herausgebracht
hatten , und nun ein jeder eine Ueberſetzung da¬
von niederſchrieb — allein dieß konnte natuͤrli¬
cher Weiſe unter den Umſtaͤnden nicht lange
dauren — ſobald ein jeder ſeine Lage wieder leb¬
haft empfand , ſo war aller Muth und Luſt zum
Studieren verſchwunden . —
In Anſehung der Kleidung war es mit G...
und M... eben ſo ſchlecht , wie mit Reiſern be¬
ſtellt — ſie machten daher , wenn ſie ausgingen ,
zuſammen einen Aufzug , der das wahre Bild der
Liederlichkeit und Unordnung ſchien , ſo daß man
mit Fingern auf ſie wieß , weswegen ſie denn
auch immer auf Abwegen und durch enge Straſ¬
ſen aus der Stadt zu kommen ſuchten , wenn ſie
ſpatzieren gingen .
Dieſe drei Leute fuͤhrten nun auch voͤllig ein
Leben , wie es mit ihren Zuſtande uͤbereinſtimmte
— ſie blieben oft den ganzen Tag im Bette lie¬
gen — oft ſaßen ſie alle drei zuſammen , den
Kopf auf die Hand geſtuͤtzt , und dachten uͤber
ihr Schickſal nach ; oft trenten ſie ſich , und
M 2
ein jeder ließ fuͤr ſich ſeiner Laune freien Lauf —
Reiſer gieng auf den Boden , und muſterte ſeine
Kirſchkerne — M... ging bei ſein großes Brodt ,
daß er ſorgfaͤltig in einem Koffer verſchloſſen hatte
— und G... lag auf dem Bette , und machte
Projekte , die denn nicht die beſten waren , wie
ſich bald nachher zeigte — zwei Buͤcher laß doch
Reiſer damals , weil er kein anders hatte , zu
verſchiedenenmalen durch , indem er auf dem Bo¬
den zwiſchen ſeinen Kirſchkernen ſaß — das waren
die Werke des Philoſophen von Sansſouci , und
Popens Werke nach Duſchens Ueberſetzung , die
er beide von dem Schuſter S... geliehen bekom¬
men hatte .
Dieſe drei Leute gingen nun auch eines Tages
zuſammen in einer ſchoͤnen Gegend von H...
laͤngſt dem Fluß ſpatzieren , in welchem ſich eine
kleine Inſel erhob , die ganz voller Kirſchbaͤume
ſtand . —
Fuͤr unſre drei Abentheurer waren dieſe
Kirſchbaͤume , die alle voll der ſchoͤnſten Kirſchen
ſaßen , ein ſo einladender Anblick , daß ſie ſich
des Wunſches nicht enthalten konnten , auf dieſe
Inſel verſetzt zu ſeyn , um ſich an dieſer herr¬
lichen Frucht nach Gefallen ſaͤttigen zu koͤnnen .
Nun fuͤgte es ſich gerade , daß eine Menge
Floßholz den Fluß hinunter geſchwommen kam ;
welches ſich in der Verengung des Fluſſes zwi¬
ſchen dem Ufer und der Inſel zuweilen ſtopfte ,
und eine anſcheinende Bruͤcke bis zu der Inſel
bildete .
Unter G. . .s Anfuͤhrung , der in der Ausfuͤh¬
rung ſolcher Projekte ſchon geuͤbt zu ſeyn ſchien ,
wurde nun ein Wageſtuͤck unternommen , das
leicht allen dreien das Leben haͤtte koſten koͤn¬
nen — Sie zogen nehmlich da , wo das
Floßholz ſich geſtopft hatte , ein Stuͤck nach dem
andern aus dem Waſſer heraus , und trugen es
alle auf einen Fleck , wo ihnen die Paſſage uͤber
den Fluß zwiſchen dem Ufer und der Inſel am
engſten zu ſeyn ſchien , und nun bauten ſie die
Bruͤcke , woruͤber ſie gehen wollten erſt vor ſich
her , indem ſie ein Stuͤck Holz nach dem andern
vor ſich hin warfen , um feſten Fuß zu faſſen —
natuͤrlicher Weiſe mußtr dieſe Bruͤcke unter ihnen
zu ſinken anfangen , und ſie kamen ſehr tief ins
Waſſer , ehe ſie kaum die Haͤlfte ihres gefaͤhrli¬
M 3
chen Weges zuruͤckgelegt hatten — endlich lande¬
ten ſie denn doch , obgleich mit Lebensgefahr auf
der Inſel an —
Und nun bemaͤchtigte ſich aller dreier auf ein¬
mal ein Geiſt des Raubes und der Gier , daß ein
jeder uͤber einen Kirſchbaum herfiel , und ihn mit
einer Art von Wuth pluͤnderte —
Es war , als haͤtte man eine Veſtung mit
Sturm erobert ; man wollte fuͤr die uͤberſtande¬
ne Gefahr , die man ſich ſelbſt gemacht
hatte , Erſatz haben , und dafuͤr belohnt ſeyn .
Da man ſich ſatt gegeſſen hatte , wurden alle
Taſchen , Schnupftuͤcher , Halstuͤcher , Huͤte , und
was nur etwas in ſich faſſen konnte , von Kir¬
ſchen voll geſtopft — und in der Daͤmmerung
wurde der Ruͤckweg uͤber die gefaͤhrliche Bruͤcke ,
wovon indes ſchon ein Theil weggeſchwommen
war , wieder angetreten , und ohngeachtet der
Beute womit die Abentheurer belaſtet waren ,
mehr durch Zufall als Geſchicklichkeit oder Be¬
hutſamkeit , gluͤcklich geendet . —
Reiſer fand ſich zu dergleichen Expeditionen
gar nicht uͤbel aufgelegt — dies daͤuchte ihm ei¬
gentlich nicht Diebſtahl , ſondern nur gleichſam
eine Streiferei in ein feindliches Gebiet zu ſeyn ,
die , wegen des Muths der dabei erfordert wird ,
immer noch eine ehrenvolle Sache iſt . —
Und wer weiß zu welchen Wageſtuͤcken von
der Art , er noch unter G. . .s Anfuͤhrung mit
geſchritten waͤre , wenn er laͤnger bei dieſem ge¬
wohnt haͤtte . —
Allein dieſer G. . . gehoͤrte denn doch im
Grunde mehr zu den abgefeimten , als zu den
herzhaften Partheigaͤngern — denn er war nie¬
dertraͤchtig genug , ſelbſt ſeine beiden Stubenge¬
ſellſchafter und Gefaͤhrten , Reiſern und M. . . zu
beſtehlen , indem er ihnen ein paar Buͤcher und
andre Sachen , die ſie noch hatten nahm , und
heimlich verkaufte , wie ſich nachher zeigte . —
Kurz dieſer G. . . mit dem Reiſer ſo nahe zu¬
ſammen wohnte , war im Grunde ein abgefeim¬
ter Spizbube , der , wenn er den ganzen Tag
uͤber auf dem Bette lag , und nachſann , auf
nichts als Buͤbereien dachte , die er ausfuͤhren
wollte — und der demohngeachtet von Tugend
und Moralitaͤt ſprechen konnte , wie ein Buch ,
wodurch er Reiſern zuerſt eine ſolche Ehrfurcht
gegen ihn eingefloͤßt hatte .
M 4
Denn von der Tugend hatte er ſich damals ein
ſonderbares Ideal gemacht , welches ſeine Phan¬
taſie ſo ſehr einnahm , daß ihn oft ſchon der Nahme
Tugend bis zu Thraͤnen ruͤhrte . —
Er dachte ſich aber unter dieſem Nahmen et¬
was viel zu Allgemeines , und dachte dieß all¬
gemeine viel zu dunkel , und mit zu weniger An¬
wendung auf beſondre Vorfaͤlle , als daß es ihm
je haͤtte gelingen koͤnnen , auch den aufrichtigſten
Vorſatz tugendhaft zu ſeyn , auszufuͤhren — denn
er dachte immer nicht daran , wo er nun eigent¬
lich anfangen ſollte . —
Einmal kam er an einem ſchoͤnen Abend von
einem einſamen Spaziergange zu Hauſe , und
der Anblick der Natur hatte ſein Herz zu ſanf¬
ten Empfindungen geſchmolzen , daß er viele
Thraͤnen vergoß , und ſich in der Stille gelobte ,
von nun an der Tugend ewig getreu zu ſeyn ! —
und da er dieſen Vorſatz feſt gefaſt hatte , ſo em¬
pfand er ein ſo himmliſches Vergnuͤgen uͤber die¬
ſen Enſchluß , daß es ihm nun faſt unmoͤglich ſchien
je von dieſem begluͤckenden Vorſatze wieder abzu¬
welchen — Mit dieſen Gedanken ſchlief er ein
— und da er am Morgen erwachte , ſo war es
wieder ſo leer in ſeinem Herzen ; die Ausſicht
auf den Tag war ſo truͤbe und oͤde ; alle ſeine
aͤußern Verhaͤltniſſe waren ſo unwiederbringlich
zerruͤttet ; ein unuͤberwindlicher Lebensuͤberdruß
trat an die Stelle der geſtrigen Empfindung ,
womit er einſchlief — er ſuchte ſich vor ſich ſelbſt zu
retten , und machte den Anfang , tugendhaft zu
ſeyn , damit daß er auf den Boden ging , und in
Schlachtordnung geſtellte Kirſchkerne zerſchmet¬
terte . —
Dieß nun zu unterlaſſen , und ſtatt deſſen
etwa in dem alten Virgil , den er noch hatte , eine
Ekloge zu leſen , waͤre der eigentliche Anfang zur
Ausuͤbung der Tugend geweſen — aber auf die¬
ſen zu geringfuͤgig ſcheinenden Fall hatte er
ſich bei ſeinem heldenmuͤthigen Entſchluſſe nicht
gefaßt gemacht .
Wenn man die Begriffe der Menſchen von der
Tugend pruͤfen wollte , ſo wuͤrden ſie vielleicht bei
den meiſten auf eben ſolche dunkle und verworre¬
ne Vorſtellungen herauslaufen — und man ſieht
wenigſtens hieraus , wie unnuͤtz es iſt , im All¬
gemeinen , und ohne Anwendung auf ganz be¬
ſondre und oft geringfuͤgig ſcheinende Faͤlle , von
Tugend zu predigen . —
Reiſer wunderte ſich damals oft ſelbſt dar¬
uͤber , wie ſeine ploͤtzliche Anwandlung von Tu¬
gendeifer ſobald verrauchen , und gar keine Spur
zuruͤck laſſen konnte — aber er erwog nicht ,
daß Selbſtachtung , welche ſich damals bei ihm
nur noch auf die Achtung anderer Menſchen gruͤn¬
den konnte , die Baſis der Tugend iſt — und daß
ohne dieſe das ſchoͤnſte Gebaͤude ſeiner Phan¬
taſie ſehr bald wieder zuſammenſtuͤrzen mußte .
So oft es ihm waͤhrend dieſes Zuſtandes noch
moͤglich geweſen war , einige Groſchen zuſam¬
menzubringen , ſo oft hatte er ſie auch in die
Komoͤdie getragen — da aber die Schauſpieler¬
geſellſchaft in der Mitte des Sommers wieder
wegzog , ſo war nun eine Wieſe vor dem neuen
Thore nicht nur das Ziel ſeiner Spatziergaͤnge ,
ſondern faſt ſein immerwaͤhrender Aufenthalt —
er lagerte ſich hier zuweilen den ganzen Tag auf
einen Fleck im Sonnenſchein hin , oder ging
laͤngſt dem Fluſſe ſpatzieren , und freute ſich vor¬
zuͤglich , wenn er in der heißen Mittagsſtunde
keinen Menſchen um ſich her erblickte . —
Indem er hier ganze Tage lang ſeinen me¬
lancholiſchen Gedanken nachhing , naͤhrte ſich
ſeine Einbildungskraft unvermerkt mit großen
Bildern , welche ſich erſt ein Jahr nachher all¬
maͤlig zu entwickeln anfingen . —
Sein Lebensuͤberdruß aber wurde dabei aufs
aͤußerſte getrieben — oft ſtand er bei dieſen Spa¬
ziergaͤngen am Ufer der Leine , lehnte ſich in die
reißende Fluth hinuͤber , indes die wunderbare
Begier zu athmen mit der Verzweiflung kaͤmpf¬
te , und mit ſchrecklicher Gewalt ſeinen uͤber
haͤngenden Koͤrper wieder zuruͤckbog . —