Erſter Theil.
Die Erwartung.
A
Zueignung.
Du haſt in mir den edeln Trieb er¬
regt
Tief ins Gemüth der weiten Welt
zu ſchauen;
Mit deiner Hand ergriff mich ein
Vertrauen,
Das ſicher mich durch alle Stürme
trägt.
Mit Ahndungen haſt du das Kind ge¬
pflegt,
Und zogſt mit ihm durch fabelhafte
Auen;
Haſt, als das Urbild zartgeſinnter
Frauen,
Des Jünglings Herz zum höchſten
Schwung bewegt.
Was feſſelt mich an irdiſche Beſchwer¬
den?
Iſt nicht mein Herz und Leben ewig
Dein?
Und ſchirmt mich Deine Liebe nicht
auf Erden?
Ich darf für Dich der edlen Kunſt mich
weihn;
Denn Du, Geliebte, willſt die Muſe
werden,
Und ſtiller Schutzgeiſt meiner Dichtung
ſeyn.
In ewigen Verwandlungen begrüßt
Uns des Geſangs geheime Macht hie¬
nieden,
Dort ſegnet ſie das Land als ew'¬
ger Frieden,
Indeß ſie hier als Jugend uns um¬
fließt.
Sie iſt's, die Licht in unſre Augen
gießt,
Die uns den Sinn für jede Kunſt
beſchieden,
Und die das Herz der Frohen und
der Müden
In trunkner Andacht wunderbar ge¬
nießt.
An ihrem vollen Buſen trank ich Leben;
Ich ward durch ſie zu allem, was
ich bin,
Und durfte froh mein Angeſicht er¬
heben.
Noch ſchlummerte mein allerhöchſter Sinn;
Da ſah ich ſie als Engel zu mir
ſchweben,
Und flog, erwacht, in ihrem Arm
dahin.
Erſtes Kapitel.
Die Eltern lagen ſchon und ſchliefen, die
Wanduhr ſchlug ihren einförmigen Takt,
vor den klappernden Fenſtern ſauſte der
Wind; abwechſelnd wurde die Stube hell
von dem Schimmer des Mondes. Der
Jüngling lag unruhig auf ſeinem Lager,
und gedachte des Fremden und ſeiner Er¬
zählungen. Nicht die Schätze ſind es, die
ein ſo unausſprechliches Verlangen in mir
geweckt haben, ſagte er zu ſich ſelbſt; fern
ab liegt mir alle Habſucht: aber die blaue
Blume ſehn' ich mich zu erblicken. Sie liegt
mir unaufhörlich im Sinn, und ich kann
nichts anders dichten und denken. So iſt
mir noch nie zu Muthe geweſen: es iſt, als
hätt' ich vorhin geträumt, oder ich wäre
in eine andere Welt hinübergeſchlummert;
denn in der Welt, in der ich ſonſt lebte,
wer hätte da ſich um Blumen bekümmert,
und gar von einer ſo ſeltſamen Leidenſchaft
für eine Blume hab' ich damals nie gehört.
Wo eigentlich nur der Fremde herkam?
Keiner von uns hat je einen ähnlichen Men¬
ſchen geſehn; doch weiß ich nicht, warum
nur ich von ſeinen Reden ſo ergriffen wor¬
den bin; die Andern haben ja das Nämliche
gehört, und Keinem iſt ſo etwas begegnet.
Daß ich auch nicht einmal von meinem wun¬
derlichen Zuſtande reden kann! Es iſt mir
oft ſo entzückend wohl, und nur dann, wenn
ich die Blume nicht recht gegenwärtig habe,
befällt mich ſo ein tiefes, inniges Treiben:
das kann und wird Keiner verſtehn. Ich
glaubte, ich wäre wahnſinnig, wenn ich
nicht ſo klar und hell ſähe und dächte, mir
iſt ſeitdem alles viel bekannter. Ich hörte
einſt von alten Zeiten reden; wie da die
Thiere und Bäume und Felſen mit den
Menſchen geſprochen hätten. Mir iſt grade
ſo, als wollten ſie allaugenblicklich an¬
fangen, und als könnte ich es ihnen anſe¬
hen, was ſie mir ſagen wollten. Es muß
noch viel Worte geben, die ich nicht weiß:
wüßte ich mehr, ſo könnte ich viel beſſer al¬
les begreifen. Sonſt tanzte ich gern; jezt
denke ich lieber nach der Muſik. Der Jüng¬
ling verlohr ſich allmählich in ſüßen Fanta¬
ſien und entſchlummerte. Da träumte ihm
erſt von unabſehlichen Fernen, und wilden,
unbekannten Gegenden. Er wanderte über
Meere mit unbegreiflicher Leichtigkeit; wun¬
derliche Thiere ſah er; er lebte mit mannich¬
faltigen Menſchen, bald im Kriege, in wil¬
dem Getümmel, in ſtillen Hütten. Er ge¬
rieth in Gefangenſchaft und die ſchmählichſte
Noth. Alle Empfindungen ſtiegen bis zu ei¬
ner niegekannten Höhe in ihm. Er durch¬
lebte ein unendlich buntes Leben; ſtarb und
kam wieder, liebte bis zur höchſten Leiden¬
ſchaft, und war dann wieder auf ewig von
ſeiner Geliebten getrennt. Endlich gegen
Morgen, wie draußen die Dämmerung an¬
brach, wurde es ſtiller in ſeiner Seele, kla¬
rer und bleibender wurden die Bilder. Es
kam ihm vor, als ginge er in einem dun¬
keln Walde allein. Nur ſelten ſchimmerte
der Tag durch das grüne Netz. Bald kam
er vor eine Felſenſchlucht, die bergan ſtieg.
Er mußte über bemooſte Steine klettern, die
ein ehemaliger Strom herunter geriſſen hat¬
te. Je höher er kam, deſto lichter wurde
der Wald. Endlich gelangte er zu einer
kleinen Wieſe, die am Hange des Berges
lag. Hinter der Wieſe erhob ſich eine hohe
Klippe, an deren Fuß er eine Öefnung er¬
blickte, die der Anfang eines in den Felſen
gehauenen Ganges zu ſeyn ſchien. Der
Gang führte ihn gemächlich eine Zeitlang
eben fort, bis zu einer großen Weitung, aus
der ihm ſchon von fern ein helles Licht ent¬
gegen glänzte. Wie er hineintrat, ward er
einen mächtigen Strahl gewahr, der wie
aus einem Springquell bis an die Decke des
Gewölbes ſtieg, und oben in unzählige Fun¬
ken zerſtäubte, die ſich unten in einem gro¬
ßen Becken ſammelten; der Strahl glänzte
wie entzündetes Gold; nicht das mindeſte
Geräuſch war zu hören, eine heilige Stille
umgab das herrliche Schauſpiel. Er näherte
ſich dem Becken, das mit unendlichen Far¬
ben wogte und zitterte. Die Wände der
Höhle waren mit dieſer Flüſſigkeit überzo¬
gen, die nicht heiß, ſondern kühl war, und
an den Wänden nur ein mattes, bläuliches
Licht von ſich warf. Er tauchte ſeine
Hand in das Becken und benetzte ſeine Lip¬
pen. Es war, als durchdränge ihn ein gei¬
ſtiger Hauch, und er fühlte ſich innigſt ge¬
ſtärkt und erfriſcht. Ein unwiderſtehliches
Verlangen ergriff ihn ſich zu baden, er ent¬
kleidete ſich und ſtieg in das Becken. Es
dünkte ihn, als umflöſſe ihn eine Wolke des
Abendroths; eine himmliſche Empfindung
überſtrömte ſein Inneres; mit inniger Wol¬
luſt ſtrebten unzählbare Gedanken in ihm
ſich zu vermiſchen; neue, niegeſehene Bilder
entſtanden, die auch in einander floſſen und
zu ſichtbaren Weſen um ihn wurden, und
jede Welle des lieblichen Elements ſchmiegte
ſich wie ein zarter Buſen an ihn. Die Flut
ſchien eine Auflöſung reizender Mädchen, die
an dem Jünglinge ſich augenblicklich verkör¬
perten.
Berauſcht von Entzücken und doch jedes
Eindrucks bewußt, ſchwamm er gemach dem
leuchtenden Strome nach, der aus dem Bek¬
ken in den Felſen hineinfloß. Eine Art von
ſüßem Schlummer befiel ihn, in welchem er
unbeſchreibliche Begebenheiten träumte, und
woraus ihn eine andere Erleuchtung weckte.
Er fand ſich auf einem weichen Raſen am
Rande einer Quelle, die in die Luft hinaus¬
quoll und ſich darin zu verzehren ſchien.
Dunkelblaue Felſen mit bunten Adern erho¬
ben ſich in einiger Entfernung; das Tages¬
licht das ihn umgab, war heller und milder
als das gewöhnliche, der Himmel war
ſchwarzblau und völlig rein. Was ihn aber
mit voller Macht anzog, war eine hohe
lichtblaue Blume, die zunächſt an der Quelle
ſtand, und ihn mit ihren breiten, glänzen¬
den Blättern berührte. Rund um ſie her
ſtanden unzählige Blumen von allen Farben,
und der köſtlichſte Geruch erfüllte die Luft.
Er ſah nichts als die blaue Blume, und be¬
trachtete ſie lange mit unnennbarer Zärtlich¬
keit. Endlich wollte er ſich ihr nähern, als
ſie auf einmal ſich zu bewegen und zu ver¬
ändern anfing; die Blätter wurden glän¬
zender und ſchmiegten ſich an den wachſen¬
den Stengel, die Blume neigte ſich nach
ihm zu, und die Blüthenblätter zeigten ei¬
nen blauen ausgebreiteten Kragen, in wel¬
chem ein zartes Geſicht ſchwebte. Sein ſü¬
ßes Staunen wuchs mit der ſonderbaren
Verwandlung, als ihn plötzlich die Stimme
ſeiner Mutter weckte, und er ſich in der el¬
terlichen Stube fand, die ſchon die Morgen¬
ſonne vergoldete. Er war zu entzückt, um
unwillig über dieſe Störung zu ſeyn; vielmehr
bot er ſeiner Mutter freundlich guten Mor¬
gen und erwiederte ihre herzliche Umarmung.
Du Langſchläfer, ſagte der Vater, wie
lange ſitze ich ſchon hier, und feile. Ich ha¬
be deinetwegen nichts hämmern dürfen; die
Mutter wollte den lieben Sohn ſchlafen laſ¬
ſen. Aufs Frühſtück habe ich auch warten
müſſen. Klüglich haſt du den Lehrſtand er¬
wählt, für den wir wachen und arbeiten.
Indeß ein tüchtiger Gelehrter, wie ich mir
habe ſagen laſſen, muß auch Nächte zu Hül¬
fe nehmen, um die großen Werke der weiſen
Vorfahren zu ſtudiren. Lieber Vater, ant¬
wortete Heinrich, werdet nicht unwillig über
meinen langen Schlaf, den ihr ſonſt nicht
an mir gewohnt ſeid. Ich ſchlief erſt ſpät
ein, und habe viele unruhige Träume ge¬
habt, bis zuletzt ein anmuthiger Traum mir
erſchien, den ich lange nicht vergeſſen werde,
und von dem mich dünkt, als ſey es mehr
als bloßer Traum geweſen. Lieber Heinrich,
ſprach die Mutter, du haſt dich gewiß auf
den Rücken gelegt, oder beim Abendſegen
fremde Gedanken gehabt. Du ſiehſt auch
noch ganz wunderlich aus. Iß und trink,
daß du munter wirſt.
Die Mutter ging hinaus, der Vater ar¬
beitete emſig fort und ſagte: Träume ſind
Schäume, mögen auch die hochgelahrten
Herren davon denken, was ſie wollen, und
du thuſt wohl, wenn du dein Gemüth von
dergleichen unnützen und ſchädlichen Betrach¬
tungen abwendeſt. Die Zeiten ſind nicht
mehr, wo zu den Träumen göttliche Geſichte
ſich geſellten, und wir können und werden es
nicht begreifen, wie es jenen auserwählten
Männern, von denen die Bibel erzählt, zu
Muthe geweſen iſt. Damals muß es eine
andere Beſchaffenheit mit den Träumen ge¬
habt haben, ſo wie mit den menſchlichen
Dingen.
In
In dem Alter der Welt, wo wir leben,
findet der unmittelbare Verkehr mit dem
Himmel nicht mehr Statt. Die alten Ge¬
ſchichten und Schriften ſind jetzt die einzigen
Quellen, durch die uns eine Kenntniß von
der überirdiſchen Welt, ſo weit wir ſie nö¬
thig haben, zu Theil wird; und ſtatt jener
ausdrücklichen Offenbarungen redet jetzt der
heilige Geiſt mittelbar durch den Verſtand
kluger und wohlgeſinnter Männer und durch
die Lebensweiſe und die Schickſale frommer
Menſchen zu uns. Unſre heutigen Wunder¬
bilder haben mich nie ſonderlich erbaut, und
ich habe nie jene großen Thaten geglaubt,
die unſre Geiſtlichen davon erzählen. Indeß
mag ſich daran erbauen, wer will, und ich
hüte mich wohl jemanden in ſeinem Ver¬
trauen irre zu machen. — Aber, lieber Vater,
aus welchem Grunde ſeyd Ihr ſo den Träu¬
men entgegen, deren ſeltſame Verwandlun¬
B
gen und leichte zarte Natur doch unſer
Nachdenken gewißlich rege machen müſſen?
Iſt nicht jeder, noch der verworrenſte
Traum, eine ſonderliche Erſcheinung, die
auch ohne noch an göttliche Schickung da¬
bey zu denken, ein bedeutſamer Riß in den
geheimnißvollen Vorhang iſt, der mit tau¬
ſend Falten in unſer Inneres hereinfällt?
In den weiſeſten Büchern findet man unzäh¬
lige Traumgeſchichten von glaubhaften Men¬
ſchen, und erinnert Euch nur noch des
Traums, den uns neulich der ehrwürdige
Hofkaplan erzählte, und der Euch ſelbſt ſo
merkwürdig vorkam.
Aber, auch ohne dieſe Geſchichten, wenn
Ihr zuerſt in Eurem Leben einen Traum
hättet, wie würdet Ihr nicht erſtaunen, und
Euch die Wunderbarkeit dieſer uns nur all¬
täglich gewordenen Begebenheit gewiß nicht
abſtreiten laſſen! Mich dünkt der Traum
eine Schutzwehr gegen die Regelmäßigkeit
und Gewöhnlichkeit des Lebens, eine freye
Erholung der gebundenen Fantaſie, wo ſie
alle Bilder des Lebens durcheinander wirft,
und die beſtändige Ernſthaftigkeit des er¬
wachſenen Menſchen durch ein fröhliches
Kinderſpiel unterbricht. Ohne die Träume
würden wir gewiß früher alt, und ſo kann
man den Traum, wenn auch nicht als un¬
mittelbar von oben gegeben, doch als eine
göttliche Mitgabe, einen freundlichen Beglei¬
ter auf der Wallfahrt zum heiligen Grabe
betrachten. Gewiß iſt der Traum, den ich
heute Nacht träumte, kein unwirkſamer Zu¬
fall in meinem Leben geweſen, denn ich füh¬
le es, daß er in meine Seele wie ein weites
Rad hineingreift, und ſie in mächtigem
Schwunge forttreibt.
Der Vater lächelte freundlich und ſagte,
indem er die Mutter, die eben hereintrat,
anſah: Mutter, Heinrich kann die Stunde
nicht verläugnen, durch die er in der Welt
iſt. In ſeinen Reden kocht der feurige wäl¬
ſche Wein, den ich damals von Rom mitge¬
bracht hatte, und der unſern Hochzeitabend
verherrlichte. Damals war ich auch noch
ein andrer Kerl. Die ſüdliche Luft hatte
mich aufgethaut, von Muth und Luſt floß
ich über, und du warſt auch ein heißes köſt¬
liches Mädchen. Bey Deinem Vater gings
damals herrlich zu; Spielleute und Sänger
waren weit und breit herzugekommen, und
lange war in Augsburg keine luſtigere
Hochzeit gefeyert worden.
Ihr ſpracht vorhin von Träumen, ſagte
die Mutter, weißt du wohl, daß du mir
damals auch von einem Traume erzählteſt,
den du in Rom gehabt hatteſt, und der dich
zuerſt auf den Gedanken gebracht, zu uns
nach Augsburg zu kommen, und um mich
zu werben? Du erinnerſt mich eben zur
rechten Zeit, ſagte der Alte; ich habe dieſen
ſeltſamen Traum ganz vergeſſen, der mich
damals lange genug beſchäftigte; aber eben
er iſt mir ein Beweis deſſen, was ich von
den Träumen geſagt habe. Es iſt unmög¬
lich einen geordneteren und helleren zu ha¬
ben; noch jetzt entſinne ich mich jedes Um¬
ſtandes ganz genau; und doch, was hat er
bedeutet? Daß ich von dir träumte, und
mich bald darauf von Sehnſucht ergriffen
fühlte, dich zu beſitzen, war ganz natürlich:
denn ich kannte dich ſchon. Dein freundli¬
ches holdes Weſen hatte mich gleich anfangs
lebhaft gerührt, und nur die Luſt nach der
Fremde hielt damals meinen Wunſch nach
deinem Beſitz noch zurück. Um die Zeit des
Traums war meine Neugierde ſchon ziemlich
geſtillt, und nun konnte die Neigung leichter
durchdringen.
Erzählt uns doch jenen ſeltſamen Traum,
ſagte der Sohn. Ich war eines Abends,
fing der Vater an, umhergeſtreift. Der
Himmel war rein, und der Mond bekleidete
die alten Säulen und Mauern mit ſeinem
bleichen ſchauerlichen Lichte. Meine Geſellen
gingen den Mädchen nach, und mich trieb
das Heimweh und die Liebe ins Freye.
Endlich ward ich durſtig und ging ins erſte
beſte Landhaus hinein, um einen Trunk
Wein oder Milch zu fordern. Ein alter
Mann kam heraus, der mich wohl für ei¬
nen verdächtigen Beſuch halten mochte. Ich
trug ihm mein Anliegen vor; und als er er¬
fuhr, daß ich ein Ausländer und ein Deut¬
ſcher ſey, lud er mich freundlich in die Stu¬
be und brachte eine Flaſche Wein. Er hieß
mich niederſetzen, und fragte mich nach mei¬
nem Gewerbe. Die Stube war voll Bücher
und Alterthümer. Wir geriethen in ein
weitläuftiges Geſpräch; er erzählte mir viel
von alten Zeiten, von Mahlern, Bild¬
hauern und Dichtern. Noch nie hatte ich ſo
davon reden hören. Es war mir, als ſey
ich in einer neuen Welt ans Land geſtiegen.
Er wies mir Siegelſteine und andre alte
Kunſtarbeiten; dann las er mir mit lebendi¬
gem Feuer herrliche Gedichte vor, und ſo
vergieng die Zeit, wie ein Augenblick. Noch
jetzt heitert mein Herz ſich auf, wenn ich
mich des bunten Gewühls der wunderlichen
Gedanken und Empfindungen erinnere,
die mich in dieſer Nacht erfüllten. In den
heidniſchen Zeiten war er, wie zu Hauſe,
und ſehnte ſich mit unglaublicher Inbrunſt
in dies graue Alterthum zurück. Endlich
wies er mir eine Kammer an, wo ich den
Reſt der Nacht zubringen könnte, weil es
ſchon zu ſpät ſey, um noch zurückzukehren.
Ich ſchlief bald, und da dünkte michs ich ſey
in meiner Vaterſtadt und wanderte aus dem
Thore. Es war, als müßte ich irgend wo¬
hin gehn, um etwas zu beſtellen, doch wu߬
te ich nicht wohin, und was ich verrichten
ſolle. Ich ging nach dem Harze mit über¬
aus ſchnellen Schritten, und wohl war mir,
als ſey es zur Hochzeit. Ich hielt mich nicht
auf dem Wege, ſondern immer feldein durch
Thal und Wald, und bald kam ich an ei¬
nen hohen Berg. Als ich oben war, ſah ich
die goldne Aue vor mir, und überſchaute
Thüringen weit und breit, alſo daß kein
Berg in der Nähe umher mir die Ausſicht
wehrte. Gegenüber lag der Harz mit ſeinen
dunklen Bergen, und ich ſah unzählige
Schlöſſer, Klöſter und Ortſchaften. Wie
mir nun da recht wohl innerlich ward, fiel
mir der alte Mann ein, bei dem ich ſchlief,
und es gedäuchte mir, als ſey das vor ge¬
raumer Zeit geſchehn, daß ich bey ihm ge¬
weſen ſey. Bald gewahrte ich eine Stiege,
die in den Berg hinein ging, und ich machte
mich hinunter. Nach langer Zeit kam ich in
eine große Höhle, da ſaß ein Greis in einem
langen Kleide vor einem eiſernen Tiſche,
und ſchaute unverwandt nach einem wunder¬
ſchönen Mädchen, die in Marmor gehauen
vor ihm ſtand. Sein Bart war durch den
eiſernen Tiſch gewachſen und bedeckte ſeine
Füße. Er ſah ernſt und freundlich aus, und
gemahnte mich wie ein alter Kopf, den ich
den Abend bey dem Manne geſehn hatte.
Ein glänzendes Licht war in der Höhle ver¬
breitet. Wie ich ſo ſtand und den Greis
anſah, klopfte mir plötzlich mein Wirth auf
die Schulter, nahm mich bei der Hand und
führte mich durch lange Gänge mit ſich fort.
Nach einer Weile ſah ich von weitem eine
Dämmerung, als wollte das Tageslicht ein¬
brechen. Ich eilte darauf zu, und befand
mich bald auf einem grünen Plane; aber es
ſchien mir alles ganz anders, als in Thürin¬
gen. Ungeheure Bäume mit großen glän¬
zenden Blättern verbreiteten weit umher
Schatten. Die Luft war ſehr heiß und doch
nicht drückend. Überall Quellen und Blu¬
men und unter allen Blumen gefiel mir Ei¬
ne ganz beſonders, und es kam mir vor,
als neigten ſich die Andern gegen ſie.
Ach! liebſter Vater, ſagt mir doch, wel¬
che Farbe ſie hatte, rief der Sohn mit hef¬
tiger Bewegung.
Das entſinne ich mich nicht mehr, ſo ge¬
nau ich mir auch ſonſt alles eingeprägt
habe.
War ſie nicht blau?
Es kann ſeyn, fuhr der Alte fort, ohne
auf Heinrichs ſeltſame Heftigkeit Achtung zu
geben. Soviel weiß ich nur noch, daß mir
ganz unausſprechlich zu Muthe war, und ich
mich lange nicht nach meinem Begleiter um¬
ſah. Wie ich mich endlich zu ihm wandte,
bemerkte ich, daß er mich aufmerkſam be¬
trachtete und mir mit inniger Freude zulä¬
chelte. Auf welche Art ich von dieſem Orte
wegkam, erinnere ich mir nicht mehr. Ich
war wieder oben auf dem Berge. Mein
Begleiter ſtand bey mir, und ſagte: du haſt
das Wunder der Welt geſehn. Es ſteht bey
dir, das glücklichſte Weſen auf der Welt
und noch über das ein berühmter Mann zu
werden. Nimm wohl in Acht, was ich dir
ſage: wenn du am Tage Johannis gegen
Abend wieder hieher kommſt, und Gott
herzlich um das Verſtändniß dieſes Traumes
bitteſt, ſo wird dir das höchſte irdiſche Loos
zu Theil werden; dann gieb nur acht, auf
ein blaues Blümchen, was du hier oben fin¬
den wirſt, brich es ab, und überlaß dich
dann demüthig der himmliſchen Führung.
Ich war darauf im Traume unter den herr¬
lichſten Geſtalten und Menſchen, und unend¬
liche Zeiten gaukelten mit mannichfaltigen
Veränderungen vor meinen Augen vorüber.
Wie gelöſt war meine Zunge, und was ich
ſprach, klang wie Muſik. Darauf ward al¬
les wieder dunkel und eng und gewöhnlich;
ich ſah deine Mutter mit freundlichem, ver¬
ſchämten Blick vor mir; ſie hielt ein glän¬
zendes Kind in den Armen, und reichte mir
es hin, als auf einmal das Kind zuſehends
wuchs, immer heller und glänzender ward,
und ſich endlich mit blendendweißen Flügeln
über uns erhob, uns beyde in ſeinen Arm
nahm, und ſo hoch mit uns flog, daß die
Erde nur wie eine goldene Schüſſel mit dem
ſauberſten Schnitzwerk ausſah. Dann erinne¬
re ich mir nur, daß wieder jene Blume und
der Berg und der Greis vorkamen; aber ich
erwachte bald darauf und fühlte mich von
heftiger Liebe bewegt. Ich nahm Abſchied
von meinem gaſtfreyen Wirth, der mich bat,
ihn oft wieder zu beſuchen, was ich ihm zu¬
ſagte, und auch Wort gehalten haben wür¬
de, wenn ich nicht bald darauf Rom verlaſ¬
ſen hätte, und ungeſtüm nach Augsburg ge¬
reiſt wäre.
Zweytes Kapitel.
Johannis war vorbei, die Mutter hatte
längſt einmal nach Augsburg ins väterliche
Haus kommen und dem Großvater den noch
unbekannten lieben Enkel mitbringen ſollen.
Einige gute Freunde des alten Ofterdingen,
ein paar Kaufleute, mußten in Handelsge¬
ſchäften dahin reiſen. Da faßte die Mutter
den Entſchluß, bey dieſer Gelegenheit jenen
Wunſch auszuführen, und es lag ihr dieß
um ſo mehr am Herzen, weil ſie ſeit einiger
Zeit merkte, daß Heinrich weit ſtiller und in
ſich gekehrter war, als ſonſt. Sie glaubte,
er ſey mißmüthig oder krank, und eine weite
Reiſe, der Anblick neuer Menſchen und Län¬
der, und wie ſie verſtohlen ahndete, die Rei¬
ze einer jungen Landsmännin würden die
trübe Laune ihres Sohnes vertreiben, und
wieder einen ſo theilnehmenden und lebens¬
frohen Menſchen aus ihm machen, wie er
ſonſt geweſen. Der Alte willigte in den
Plan der Mutter, und Heinrich war über
die Maßen erfreut, in ein Land zu kommen,
was er ſchon lange, nach den Erzählungen
ſeiner Mutter und mancher Reiſenden, wie
ein irdiſches Paradies ſich gedacht, und wo¬
hin er oft vergeblich ſich gewünſcht hatte.
Heinrich war eben zwanzig Jahr alt ge¬
worden. Er war nie über die umliegenden
Gegenden ſeiner Vaterſtadt hinausgekom¬
men; die Welt war ihm nur aus Erzählun¬
gen bekannt. Wenig Bücher waren ihm zu
Geſichte gekommen. Bey der Hofhaltung
des Landgrafen ging es nach der Sitte der
damaligen Zeiten einfach und ſtill zu; und
die Pracht und Bequemlichkeit des fürſtli¬
chen Lebens dürfte ſich ſchwerlich mit den
Annehmlichkeiten meſſen, die in ſpätern Zei¬
ten ein bemittelter Privatmann ſich und den
Seinigen ohne Verſchwendung verſchaffen
konnte. Dafür war aber der Sinn für die
Geräthſchaften und Habſeeligkeiten, die der
Menſch zum mannichfachen Dienſt ſeines Le¬
bens um ſich her verſammelt, deſto zarter
und tiefer. Sie waren den Menſchen wer¬
ther und merkwürdiger. Zog ſchon das Ge¬
heimniß der Natur und die Entſtehung ihrer
Körper den ahndenden Geiſt an: ſo erhöhte
die ſeltnere Kunſt ihrer Bearbeitung die ro¬
mantiſche Ferne, aus der man ſie erhielt
und die Heiligkeit ihres Alterthums, da ſie
ſorgfältiger bewahrt, oft das Beſitzthum meh¬
rerer Nachkommenſchaften wurden, die Nei¬
gung zu dieſen ſtummen Gefährten des Le¬
bens. Oft wurden ſie zu dem Rang von
geweihten Pfändern eines beſondern Segens
und Schickſals erhoben, und das Wohl
gan¬
ganzer Reiche und weitverbreiteter Familien
hing an ihrer Erhaltung. Eine liebliche
Armuth ſchmückte dieſe Zeiten mit einer ei¬
genthümlichen ernſten und unſchuldigen Ein¬
falt; und die ſparſam vertheilten Kleinodien
glänzten deſto bedeutender in dieſer Dämme¬
rung, und erfüllten ein ſinniges Gemüth mit
wunderbaren Erwartungen. Wenn es wahr
iſt, daß erſt eine geſchickte Vertheilung von
Licht, Farbe und Schatten die verborgene
Herrlichkeit der ſichtbaren Welt offenbart,
und ſich hier ein neues höheres Auge aufzu¬
thun ſcheint: ſo war damals überall eine
ähnliche Vertheilung und Wirthſchaftlichkeit
wahrzunehmen; da hingegen die neuere
wohlhabendere Zeit das einförmige und un¬
bedeutendere Bild eines allgemeinen Tages
darbietet. In allen Übergängen ſcheint, wie
in einem Zwiſchenreiche, eine höhere, geiſtli¬
che Macht durchbrechen zu wollen; und wie
C
auf der Oberfläche unſeres Wohnplatzes, die
an unterirdiſchen und überirdiſchen Schätzen
reichſten Gegenden in der Mitte zwiſchen
den wilden, unwirthlichen Urgebirgen und
den unermeßlichen Ebenen liegen, ſo hat ſich
auch zwiſchen den rohen Zeiten der Barba¬
rey, und dein kunſtreichen, vielwiſſenden und
begüterten Weltalter eine tiefſinnige und
romantiſche Zeit niedergelaſſen, die unter
ſchlichtem Kleide eine höhere Geſtalt ver¬
birgt. Wer wandelt nicht gern im Zwielich¬
te, wenn die Nacht am Lichte und das Licht
an der Nacht in höhere Schatten und Far¬
ben zerbricht; und alſo vertiefen wir uns
willig in die Jahre, wo Heinrich lebte
und jetzt neuen Begebenheiten mit vollem
Herzen entgegenging. Er nahm Abſchied
von ſeinen Geſpielen und ſeinem Lehrer,
dem alten weiſen Hofkaplan, der Heinrichs
fruchtbare Anlagen kannte, und ihn mir ge¬
rührtem Herzen und einem ſtillen Gebete
entließ. Die Landgräfin war ſeine Pathin;
er war oft auf der Wartburg bey ihr ge¬
weſen. Auch jetzt beurlaubte er ſich bey ſei¬
ner Beſchützerin. die ihm gute Lehren und ei¬
ne goldene Halskette verehrte, und mit
freundlichen Äußerungen von ihm ſchied.
In wehmüthiger Stimmung verließ Hein¬
rich ſeinen Vater und ſeine Geburtsſtadt.
Es ward ihm jetzt erſt deutlich, was Tren¬
nung ſey; die Vorſtellungen von der Reiſe
waren nicht von dem ſonderbaren Gefühle
begleitet geweſen, was er jetzt empfand, als
zuerſt ſeine bisherige Welt von ihm geriſſen
und er wie auf ein fremdes Ufer geſpült
ward. Unendlich iſt die jugendliche Trauer
bey dieſer erſten Erfahrung der Vergänglich¬
keit der irdiſchen Dinge, die dem unerfahr¬
nen Gemüth ſo nothwendig, und unentbehr¬
lich, ſo feſt verwachſen mit dem eigenthüm¬
lichſten Daſeyn und ſo unveränderlich, wie
dieſes, vorkommen müſſen. Eine erſte An¬
kündigung des Todes, bleibt die erſte Tren¬
nung unvergeßlich, und wird, nachdem ſie
lange wie ein nächtliches Geſicht den Men¬
ſchen beängſtigt hat, endlich bey abnehmen¬
der Freude an den Erſcheinungen des Tages,
und zunehmender Sehnſucht nach einer blei¬
benden ſichern Welt, zu einem freundlichen
Wegweiſer und einer tröſtenden Bekannt¬
ſchaft. Die Nähe ſeiner Mutter tröſtete den
Jüngling ſehr. Die alte Welt ſchien noch
nicht ganz verlohren, und er umfaßte ſie
mit verdoppelter Innigkeit. Es war früh
am Tage, als die Reiſenden aus den Tho¬
ren von Eiſenach fortritten, und die Dämme¬
rung begünſtigte Heinrichs gerührte Stim¬
mung. Je heller es ward, deſto bemerkli¬
cher wurden ihm die neuen unbekannten Ge¬
genden; und als auf einer Anhöhe die ver¬
laſſene Landſchaft von der aufgehenden
Sonne auf einmal erleuchtet wurde, ſo fie¬
len dem überraſchten Jüngling alte Melo¬
dien ſeines Innern in den trüben Wechſel
ſeiner Gedanken ein. Er ſah ſich an der
Schwelle der Ferne, in die er oft vergebens
von den nahen Bergen geſchaut, und die er
ſich mit ſonderbaren Farben ausgemahlt
hatte. Er war im Begriff, ſich in ihre blaue
Flut zu tauchen. Die Wunderblume ſtand
vor ihm, und er ſah nach Thüringen, wel¬
ches er jetzt hinter ſich ließ mit der ſeltſamen
Ahndung hinüber, als werde er nach langen
Wanderungen von der Weltgegend her,
nach welcher ſie jetzt reiſten, in ſein Vater¬
land zurückkommen, und als reiſe er daher
dieſem eigentlich zu. Die Geſellſchaft, die
anfänglich aus ähnlichen Urſachen ſtill gewe¬
ſen war, fing nach gerade an aufzuwachen,
und ſich mit allerhand Geſprächen und Er¬
zählungen die Zeit zu verkürzen. Heinrichs
Mutter glaubte ihren Sohn aus den Träu¬
mereien reißen zu müſſen, in denen ſie ihn
verſunken ſah, und fing an ihm von ihrem
Vaterlande zu erzählen, von dem Hauſe ih¬
res Vaters und dem frölichen Leben in
Schwaben. Die Kaufleute ſtimmten mit ein,
und bekräftigten die mütterlichen Erzählun¬
gen, rühmten die Gaſtfreyheit des alten
Schwaning, und konnten nicht aufhören,
die ſchönen Landsmänninnen ihrer Reiſege¬
fährtin zu preiſen. Ihr thut wohl, ſagten
ſie, daß ihr euren Sohn dorthin führt. Die
Sitten eures Vaterlandes ſind milder und
gefälliger. Die Menſchen wiſſen das Nütz¬
liche zu befördern, ohne das Angenehme zu
verachten. Jedermann ſucht ſeine Bedürf¬
niſſe auf eine geſellige und reitzende Art zu
befriedigen. Der Kaufmann befindet ſich
wohl dabey, und wird geehrt. Die Künſte
und Handwerke vermehren und veredeln ſich,
den Fleißigen dünkt die Arbeit leichter, weil
ſie ihm zu mannichfachen Annehmlichkeiten
verhilft, und er, indem er eine einförmige
Mühe übernimmt, ſicher iſt, die bunten
Früchte mannichfacher und belohnender Be¬
ſchäftigungen dafür mitzugenießen. Geld,
Thätigkeit und Waaren erzeugen ſich gegen¬
ſeitig, und treiben ſich in raſchen Kreiſen,
und das Land und die Städte blühen auf.
Je eifriger der Erwerbfleiß die Tage benutzt,
deſto ausſchließlicher iſt der Abend, den reit¬
zenden Vergnügungen der ſchönen Künſte
und des geſelligen Umgangs gewidmet. Das
Gemüth ſehnt ſich nach Erholung und Ab¬
wechſelung, und wo ſollte es dieſe auf eine
anſtändigere und reitzendere Art finden, als
in der Beſchäftigung mit den freyen Spie¬
len und Erzeugniſſen ſeiner edelſten Kraft,
des bildenden Tiefſinns. Nirgends hört
man ſo anmuthige Sänger, findet ſo herrli¬
che Mahler, und nirgends ſieht man auf den
Tanzſälen leichtere Bewegungen und liebli¬
chere Geſtalten. Die Nachbarſchaft von
Wälſchland zeigt ſich in dem ungezwungenen
Betragen und den einnehmenden Geſprächen.
Euer Geſchlecht darf die Geſellſchaften
ſchmücken, und ohne Furcht vor Nachrede
mit holdſeligem Bezeigen einen lebhaften
Wetteifer, ſeine Aufmerkſamkeit zu feſſeln,
erregen. Die rauhe Ernſthaftigkeit und die
wilde Ausgelaſſenheit der Männer macht ei¬
ner milden Lebendigkeit und ſanfter beſcheid¬
ner Freude Platz, und die Liebe wird in tau¬
ſendfachen Geſtalten der reitende Geiſt der
glücklichen Geſellſchaften. Weit entfernt, daß
Ausſchweifungen und unziemende Grundſätze
dadurch ſollten herbeygelockt werden, ſcheint
es, als flöhen die böſen Geiſter die Nähe der
Anmuth, und gewiß ſind in ganz Deutſch¬
land keine unbeſcholtenere Mädchen und kei¬
ne treuere Frauen, als in Schwaben.
Ja junger Freund, in der klaren war¬
men Luft des ſüdlichen Deutſchlands werdet
ihr eure ernſte Schüchternheit wohl ablegen;
die frölichen Mädchen werden euch wohl ge¬
ſchmeidig und geſprächig machen. Schon
euer Name, als Fremder, und eure nahe
Verwandtſchaft mit dem alten Schwaning,
der die Freude jeder frölichen Geſellſchaft iſt,
werden die reitzenden Augen der Mädchen
auf ſich ziehn; und wenn ihr eurem Gro߬
vater folgt, ſo werdet ihr gewiß unſrer Va¬
terſtadt eine ähnliche Zierde in einer holdſe¬
ligen Frau mitbringen, wie euer Vater.
Mit freundlichem Erröthen dankte Heinrichs
Mutter für das ſchöne Lob ihres Vaterlan¬
des, und die gute Meynung von ihren Lands¬
männinnen, und der gedankenvolle Heinrich
hatte nicht umhin gekonnt, aufmerkſam und
mit innigem Wohlgefallen der Schilderung
des Landes, deſſen Anblick ihm bevorſtand,
zuzuhören. Wenn ihr auch fuhren die Kauf¬
leute fort, die Kunſt eures Vaters nicht er¬
greifen, und lieber, wie wir gehört haben,
euch mit gelehrten Dingen befaſſen wollt: ſo
braucht ihr nicht Geiſtlicher zu werden, und
Verzicht auf die ſchönſten Genüſſe dieſes Le¬
bens zu leiſten. Es iſt eben ſchlimm genug,
daß die Wiſſenſchaften in den Händen eines
ſo von dem weltlichen Leben abgeſonderten
Standes, und die Fürſten von ſo ungeſelligen
und wahrhaft unerfahrenen Männern berathen
ſind. In der Einſamkeit in welcher ſie nicht
ſelbſt Theil an den Weltgeſchäften nehmen,
müſſen ihre Gedanken eine unnütze Wendung
erhalten, und können nicht auf die wirklichen
Vorfälle paſſen. In Schwaben trefft ihr
auch wahrhaft kluge und erfahrne Männer
unter den Layen; und ihr mögt nun wählen,
welchen Zweig menſchlicher Kenntniſſe ihr
wollt: ſo wird es euch nicht an den beſten
Lehrern und Rathgebern fehlen. Nach einer
Weile ſagte Heinrich, dem bey dieſer Rede
ſein Freund der Hofkaplan in den Sinn ge¬
kommen war: Wenn ich bey meiner Unkun¬
de von der Beſchaffenheit der Welt Euch
auch eben nicht abfällig ſeyn kann, in dem
was ihr von der Unfähigkeit der Geiſtlichen
zu Führung und Beurtheilung weltlicher An¬
gelegenheiten behauptet: ſo iſt mirs doch
wohl erlaubt, euch an unſern trefflichen Hof¬
kaplan zu erinnern, der gewiß ein Muſter
eines weiſen Mannes iſt, und deſſen Lehren
und Rathſchläge mir unvergeſſen ſeyn wer¬
den.
Wir ehren, erwiederten die Kaufleute,
dieſen trefflichen Mann von ganzem Herzen;
aber dennoch können wir nur in ſofern eurer
Meinung Beyfall geben, daß er ein weiſer
Mann ſey, wenn ihr von jener Weisheit
ſprecht, die einen Gott wohlgefälligen Le¬
benswandel angeht. Haltet ihr ihn für eben
ſo weltklug, als er in den Sachen des Heils
geübt und unterrichtet iſt: ſo erlaubt uns,
daß wir euch nicht beyſtimmen. Doch glau¬
ben wir, daß dadurch der heilige Mann
nichts von ſeinem verdienten Lobe verliert;
da er viel zu vertieft in der Kunde der über¬
irdiſchen Welt iſt, als daß er nach Einſicht
und Anſehn in irdiſchen Dingen ſtreben ſollte.
Aber, ſagte Heinrich, ſollte nicht jene hö¬
here Kunde ebenfalls geſchickt machen, recht
unpartheiiſch den Zügel menſchlicher Angele¬
legenheiten zu führen? ſollte nicht jene kind¬
liche unbefangene Einfalt ſicherer den richti¬
gen Weg durch das Labyrinth der hieſigen
Begebenheiten treffen, als die durch Rück¬
ſicht auf eigenen Vortheil irregeleitete und
gehemmte, von der unerſchöpflichen Zahl
neuer Zufälle und Verwickelungen geblende¬
te Klugheit? Ich weiß nicht, aber mich
dünkt, ich ſähe zwey Wege um zur Wiſſen¬
ſchaft der menſchlichen Geſchichte zu gelan¬
gen. Der eine, mühſam und unabſehlich,
mit unzähligen Krümmungen, der Weg der
Erfahrung; der Andere, faſt Ein Sprung
nur, der Weg der innern Betrachtung. Der
Wanderer des erſten muß eins aus dem an¬
dern in einer langwierigen Rechnung finden,
wenn der andere die Natur jeder Begeben¬
heit und jeder Sache gleich unmittelbar an¬
ſchaut, und ſie in ihrem lebendigen, man¬
nichfaltigen Zuſammenhange betrachten, und
leicht mit allen übrigen, wie Figuren auf ei¬
ner Tafel, vergleichen kann. Ihr müßt ver¬
zeihen, wenn ich wie aus kindiſchen Träu¬
men vor euch rede; nur das Zutrauen zu eu¬
rer Güte und das Andenken meines Lehrers,
der den zweyten Weg mir als ſeine eignen
von weitem gezeigt hat, machte mich ſo
dreiſt.
Wir geſtehen Euch gern, ſagten die gut¬
müthigen Kaufleute, daß wir eurem Gedan¬
kengange nicht zu folgen vermögen: doch
freut es uns, daß ihr ſo warm euch des
trefflichen Lehrers erinnert, und ſeinen Unter¬
richt wohl gefaßt zu haben ſcheint.
Es dünkt uns, ihr habt Anlage zum
Dichter. Ihr ſprecht ſo geläufig von den
Erſcheinungen eures Gemüths, und es fehlt
Euch nicht an gewählten Ausdrücken und
paſſenden Vergleichungen. Auch neigt Ihr
Euch zum Wunderbaren, als dem Elemente
der Dichter.
Ich weiß nicht, ſagte Heinrich, wie es
kommt. Schon oft habe ich von Dichtern
und Sängern ſprechen gehört, und habe
noch nie einen geſehn. Ja, ich kann mir
nicht einmal einen Begriff von ihrer ſon¬
derbaren Kunſt machen, und doch habe
ich eine große Sehnſucht davon zu hören.
Es iſt mir, als würde ich manches beſſer ver¬
ſtehen, was jetzt nur dunkle Ahndung in mir
iſt. Von Gedichten iſt oft erzählt worden,
aber nie habe ich eins zu ſehen bekommen,
und mein Lehrer hat nie Gelegenheit gehabt
Kenntniſſe von dieſer Kunſt einzuziehn. Al¬
les, was er mir davon geſagt, habe ich nicht
deutlich begreifen können. Doch meynte er
immer, es ſey eine edle Kunſt, der ich mich
ganz ergeben würde, wenn ich ſie einmal
kennen lernte. In alten Zeiten ſey ſie weit
gemeiner geweſen, und habe jedermann einige
Wiſſenſchaft davon gehabt, jedoch Einer vor
dem Andern. Sie ſey noch mit andern ver¬
lohrengegangenen herrlichen Künſten verſchwi¬
ſtert geweſen. Die Sänger hätte göttliche
Gunſt hoch geehrt, ſo daß ſie begeiſtert durch
unſichtbaren Umgang, himmliſche Weisheit
auf Erden in lieblichen Tönen verkündigen
können.
Die Kaufleute ſagten darauf: Wir ha¬
ben uns freylich nie um die Geheimniſſe der
Dichter bekümmert, wenn wir gleich mit Ver¬
gnügen ihrem Geſange zugehört. Es mag
wohl wahr ſeyn, daß eine beſondere Geſtir¬
nung dazu gehört, wenn ein Dichter zur
Welt kommen ſoll; denn es iſt gewiß eine recht
wunderbare Sache mit dieſer Kunſt. Auch
ſind die andern Künſte gar ſehr davon un¬
terſchieden, und laſſen ſich weit eher begrei¬
fen. Bey den Mahlern und Tonkünſtlern
kann man leicht einſehn, wie es zugeht, und
mit Fleiß und Geduld läßt ſich beydes ler¬
nen. Die Töne liegen ſchon in den Saiten,
und es gehört nur eine Fertigkeit dazu, dieſe
zu bewegen um jene in einer reitzenden Fol¬
ge aufzuwecken. Bey den Bildern iſt die
Natur die herrlichſte Lehrmeiſterin. Sie er¬
zeugt
zeugt unzählige ſchöne und wunderliche Fi¬
guren, giebt die Farben, das Licht und den
Schatten, und ſo kann eine geübte Hand,
ein richtiges Auge, und die Kenntniß von der
Bereitung und Vermiſchung der Farben, die
Natur auf das vollkommenſte nachahmen.
Wie natürlich iſt daher auch die Wirkung
dieſer Künſte, das Wohlgefallen an ihren
Werken, zu begreifen. Der Geſang der
Nachtigall, das Sauſen des Windes, und
die herrlichen Lichter, Farben und Geſtalten
gefallen uns, weil ſie unſere Sinne ange¬
nehm beſchäftigen; und da unſere Sinne da¬
zu von der Natur, die auch jenes hervor¬
bringt, ſo eingerichtet ſind, ſo muß uns auch
die künſtliche Nachahmung der Natur gefal¬
len. Die Natur will ſelbſt auch einen Ge¬
nuß von ihrer großen Künſtlichkeit haben,
und darum hat ſie ſich in Menſchen verwan¬
delt, wo ſie nun ſelber ſich über ihre Herr¬
D
lichkeit freut, das Angenehme und Liebliche
von den Dingen abſondert, und es auf ſolche
Art allein hervorbringt, daß ſie es auf man¬
nichfaltigere Weiſe, und zu allen Zeiten und
allen Orten haben und genießen kann. Da¬
gegen iſt von der Dichkunſt ſonſt nirgends
äußerlich etwas anzutreffen. Auch ſchafft ſie
nichts mit Werkzeugen und Händen; das
Auge und das Ohr vernehmen nichts davon:
denn das bloße Hören der Worte iſt nicht
die eigentliche Wirkung dieſer geheimen
Kunſt. Es iſt alles innerlich, und wie jene
Künſtler die äußern Sinne mit angenehmen
Empfindungen erfüllen, ſo erfüllt der Dichter
das inwendige Heiligthum des Gemüths mit
neuen, wunderbaren und gefälligen Gedan¬
ken. Er weiß jene geheimen Kräfte in uns
nach Belieben zu erregen, und giebt uns
durch Worte eine unbekannte herrliche Welt
zu vernehmen. Wie aus tiefen Höhlen ſtei¬
gen alte und künftige Zeiten, unzählige
Menſchen, wunderbare Gegenden, und
die ſeltſamſten Begebenheiten in uns herauf,
und entreißen uns der bekannten Gegenwart.
Man hört fremde Worte und weiß doch,
was ſie bedeuten ſollen. Eine magiſche Ge¬
walt üben die Sprüche des Dichters aus;
auch die gewöhnlichen Worte kommen in rei¬
zenden Klängen vor, und berauſchen die feſt¬
gebannten Zuhörer.
Ihr verwandelt meine Neugierde in hei¬
ße Ungeduld, ſagte Heinrich. Ich bitte euch,
erzählt mir von allen Sängern, die ihr ge¬
hört habt. Ich kann nicht genug von dieſen
beſondern Menſchen hören. Mir iſt auf ein¬
mal, als hätte ich irgendwo ſchon davon in
meiner tiefſten Jugend reden hören, doch
kann ich mich ſchlechterdings nichts mehr da¬
von entſinnen. Aber mir iſt das, was ihr
ſagt, ſo klar, ſo bekannt, und ihr macht mir
ein außerordentliches Vergnügen mit euren
ſchönen Beſchreibungen.
Wir erinnern uns ſelbſt gern, fuhren die
Kaufleute fort, mancher frohen Stunden, die
wir in Welſchland, Frankreich und Schwa¬
ben in der Geſellſchaft von Sängern zuge¬
bracht haben, und freuen uns, daß ihr ſo
lebhaften Antheil an unſern Reden nehmet.
Wenn man ſo in Gebirgen reiſt, ſpricht es
ſich mit doppelter Annehmlichkeit, und die
Zeit vergeht ſpielend. Vielleicht ergötzt es
euch einige artige Geſchichten von Dichtern
zu hören, die wir auf unſern Reiſen erfuh¬
ren. Von den Geſängen ſelbſt, die wir ge¬
hört haben, können wir wenig ſagen, da die
Freude und der Rauſch des Augenblicks das
Gedächtniß hindert viel zu behalten, und die
unaufhörlichen Handelsgeſchäfte manches An¬
denken auch wieder verwiſcht haben.
In alten Zeiten muß die ganze Natur
lebendiger und ſinnvoller geweſen ſeyn, als
heut zu Tage. Wirkungen, die jetzt kaum
noch die Thiere zu bemerken ſcheinen, und
die Menſchen eigentlich allein noch empfin¬
den und genießen, bewegten damals lebloſe
Körper; und ſo war es möglich, daß kunſt¬
reiche Menſchen allein Dinge möglich mach¬
ten und Erſcheinungen hervorbrachten, die
uns jetzt völlig unglaublich und fabelhaft
dünken. So ſollen vor uralten Zeiten in
den Ländern des jetzigen Griechiſchen Kaiſer¬
thums, wie uns Reiſende berichtet, die dieſe
Sagen noch dort unter dem gemeinen Volke
angetroffen haben, Dichter geweſen ſeyn, die
durch den ſeltſamen Klang wunderbarer
Werkzeuge das geheime Leben der Wälder,
die in den Stämmen verborgenen Geiſter
aufgeweckt, in wüſten, verödeten Gegenden
den todten Pflanzenſaamen erregt, und blüh¬
ende Gärten hervorgerufen, grauſame Thiere
gezähmt und verwilderte Menſchen zu Ord¬
nung und Sitte gewöhnt, ſanfte Neigungen
und Künſte des Friedens in ihnen rege ge¬
macht, reißende Flüſſe in milde Gewäſſer
verwandelt, und ſelbſt die todteſten Steine in
regelmäßige tanzende Bewegungen hingeriſ¬
ſen haben. Sie ſollen zugleich Wahrſager
und Prieſter, Geſetzgeber und Ärzte geweſen
ſeyn, indem ſelbſt die höhern Weſen durch
ihre zauberiſche Kunſt herabgezogen worden
ſind, und ſie in den Geheimniſſen der Zu¬
kunft unterrichtet, das Ebenmaß und die na¬
türliche Einrichtung aller Dinge, auch die in¬
nern Tugenden und Heilkräfte der Zahlen,
Gewächſe und aller Kreaturen, ihnen offen¬
bart. Seitdem ſollen, wie die Sage lautet,
erſt die mannichfaltigen Töne und die ſon¬
derbaren Sympathien und Ordnungen in die
Natur gekommen ſeyn, indem vorher alles
wild, unordentlich und feindſelig geweſen iſt.
Seltſam iſt nur hiebey, daß zwar dieſe ſchö¬
nen Spuren, zum Andenken der Gegenwart
jener wohlthätigen Menſchen, geblieben ſind,
aber entweder ihre Kunſt, oder jene zarte
Gefühligkeit der Natur verlohren gegangen
iſt. In dieſen Zeiten hat es ſich unter an¬
dern einmal zugetragen, daß einer jener ſon¬
derbaren Dichter oder mehr Tonkünſtler —
wiewohl die Muſik und Poeſie wohl ziemlich
eins ſeyn mögen und vielleicht eben ſo zu¬
ſammen gehören, wie Mund und Ohr, da
der erſte nur ein bewegliches und antworten¬
des Ohr iſt — daß alſo dieſer Tonkünſtler übers
Meer in ein fremdes Land reiſen wollte. Er
war reich an ſchönen Kleinodien und köſtlichen
Dingen, die ihm aus Dankbarkeit verehrt
worden waren. Er fand ein Schiff am Ufer,
und die Leute darinn ſchienen bereitwillig,
ihn für den verheißenen Lohn nach der ver¬
langten Gegend zu fahren. Der Glanz und
die Zierlichkeit ſeiner Schätze reizten aber
bald ihre Habſucht ſo ſehr, daß ſie unter ein¬
ander verabredeten, ſich ſeiner zu bemächti¬
gen, ihn ins Meer zu werfen, und nachher
ſeine Habe unter einander zu vertheilen.
Wie ſie alſo mitten im Meere waren, fielen
ſie über ihn her, und ſagten ihm, daß er ſter¬
ben müſſe, weil ſie beſchloſſen hätten, ihn
ins Meer zu werfen. Er bat ſie auf die
rührendſte Weiſe um ſein Leben, bot ihnen
ſeine Schätze zum Löſegeld an, und prophe¬
zeyte ihnen großes Unglück, wenn ſie ihren
Vorſatz ausführen würden. Aber weder das
eine, noch das andere konnte ſie bewegen:
denn ſie fürchteten ſich, daß er ihre bösliche
That einmal verrathen möchte. Da er ſie
nun einmal ſo feſt entſchloſſen ſah, bat er ſie
ihm wenigſtens zu erlauben, daß er noch vor
ſeinem Ende ſeinen Schwanengeſang ſpielen
dürfe, dann wolle er mit ſeinem ſchlichten
hölzernen Inſtrumente, vor ihren Augen frey¬
willig ins Meer ſpringen. Sie wußten recht
wohl, daß wenn ſie ſeinen Zaubergeſang hör¬
ten, ihre Herzen erweicht, und ſie von Reue er¬
griffen werden würden; daher nahmen ſie ſich
vor, ihm zwar dieſe letzte Bitte zu gewähren,
während des Geſanges aber ſich die Ohren
feſt zu verſtopfen, daß ſie nichts davon ver¬
nähmen, und ſo bey ihrem Vorhaben bleiben
könnten. Dies geſchah. Der Sänger ſtimm¬
te einen herrlichen, unendlich rührenden Ge¬
ſang an. Das ganze Schiff tönte mit, die
Wellen klangen, die Sonne und die Geſtirne
erſchienen zugleich am Himmel, und aus den
grünen Fluten tauchten tanzende Schaaren
von Fiſchen und Meerungeheuern hervor.
Die Schiffer ſtanden feindſelig allein mit feſt¬
verſtopften Ohren, und warteten voll Unge¬
duld auf das Ende des Liedes. Bald war
es vorüber. Da ſprang der Sänger mit hei¬
trer Stirn in den dunkeln Abgrund hin, ſein
wunderthätiges Werkzeug im Arm. Er hat¬
te kaum die glänzenden Wogen berührt, ſo
hob ſich der breite Rücken eines dankbaren
Unthiers unter ihm hervor, und es ſchwamm
ſchnell mit dem erſtaunten Sänger davon.
Nach kurzer Zeit hatte es mit ihm die Küſte
erreicht, nach der er hingewollt hatte, und
ſetzte ihn ſanft im Schilfe nieder. Der Dich¬
ter ſang ſeinem Retter ein frohes Lied, und
ging dankbar von dannen. Nach einiger
Zeit ging er einmal am Ufer des Meers al¬
lein, und klagte in ſüßen Tönen über ſeine
verlohrenen Kleinode, die ihm, als Erinne¬
rungen glücklicher Stunden und als Zeichen
der Liebe und Dankbarkeit ſo werth gewe¬
weſen waren. Indem er ſo ſang, kam plöz¬
lich ſein alter Freund im Meere fröhlich da¬
her gerauſcht, und ließ aus ſeinem Rachen
die geraubten Schätze auf den Sand fallen.
Die Schiffer hatten, nach des Sängers
Sprunge, ſich ſogleich in ſeine Hinterlaſſen¬
ſchaft zu theilen angefangen. Bey dieſer
Theilung war Streit unter ihnen entſtanden,
und hatte ſich in einen mörderiſchen Kampf
geendigt, der den Meiſten das Leben geko¬
ſtet; die wenigen, die überig geblieben, hat¬
ten allein das Schiff nicht regieren können,
und es war bald auf den Strand gerathen,
wo es ſcheiterte und unterging. Sie brach¬
ten mit genauer Noth das Leben davon,
und kamen mit leeren Händen und zerriſſe¬
nen Kleidern ans Land, und ſo kehrten durch
die Hülfe des dankbaren Meerthiers, das
die Schätze im Meere aufſuchte, dieſelben in
die Hände ihres alten Beſitzers zurück.
Drittes Kapitel.
Eine andere Geſchichte, fuhren die Kaufleu¬
te nach einer Pauſe fort, die freylich nicht ſo
wunderbar und auch aus ſpätern Zeiten iſt,
wird euch vielleicht doch gefallen, und euch
mit den Wirkungen jener wunderbaren Kunſt
noch bekannter machen. Ein alter König
hielt einen glänzenden Hof. Weit und breit
ſtrömten Menſchen herzu, um Theil an der
Herrlichkeit ſeines Lebens zu haben, und es
gebrach weder den täglichen Feſten an Über¬
fluß köſtlicher Waaren des Gaumes, noch an
Muſik, prächtigen Verzierungen und Trach¬
ten, und tauſend abwechſelnden Schauſpielen
und Zeitvertreiben, noch endlich an ſinnrei¬
cher Anordnung, an klugen, gefälligen, und
unterrichteten Männern zur Unterhaltung
und Beſeelung der Geſpräche, und an ſchö¬
ner, anmuthiger Jugend von beyden Ge¬
ſchlechtern, die die eigentliche Seele reitzender
Feſte ausmachen. Der alte König, der ſonſt
ein ſtrenger und ernſter Mann war, hatte
zwey Neigungen, die der wahre Anlaß dieſer
prächtigen Hofhaltung waren, und denen ſie
ihre ſchöne Einrichtung zu danken hatte.
Eine war die Zärtlichkeit für ſeine Tochter,
die ihm als Andenken ſeiner früh verſtorbe¬
nen Gemahlin und als ein unausſprechlich
liebenswürdiges Mädchen unendlich theuer
war, und für die er gern alle Schätze der
Natur und alle Macht des menſchlichen Gei¬
ſtes aufgeboten hätte, um ihr einen Himmel
auf Erden zu verſchaffen. Die Andere war
eine wahre Leidenſchaft für die Dichtkunſt
und ihre Meiſter. Er hatte von Jugend
auf die Werke der Dichter mit innigem Ver¬
gnügen geleſen; an ihre Sammlung aus al¬
len Sprachen großen Fleiß und große Sum¬
men gewendet, und von jeher den Umgang
der Sänger über alles geſchätzt. Von allen
Enden zog er ſie an ſeinen Hof und über¬
häufte ſie mit Ehren. Er ward nicht müde
ihren Geſängen zuzuhören, und vergaß oft
die wichtigſten Angelegenheiten, ja die Be¬
dürfniſſe des Lebens über einem neuen, hin¬
reißenden Geſange. Seine Tochter war un¬
ter Geſängen aufgewachſen, und ihre ganze
Seele war ein zartes Lied geworden, ein
einfacher Ausdruck der Wehmuth und Sehn¬
ſucht. Der wohlthätige Einfluß der beſchütz¬
ten und geehrten Dichter zeigte ſich im gan¬
zen Lande, beſonders aber am Hofe. Man
genoß das Leben mit langſamen, kleinen
Zügen wie einen köſtlichen Trank, und mit
deſto reinerem Wohlbehagen, da alle widrige
gehäſſige Leidenſchaften, wie Mißtöne von
der ſanften harmoniſchen Stimmung ver¬
ſcheucht wurden, die in allen Gemüthern
herrſchend war. Frieden der Seele und inn¬
res ſeeliges Anſchauen einer ſelbſt geſchaffe¬
nen, glücklichen Welt war das Eigenthum
dieſer wunderbaren Zeit geworden, und die
Zwietracht erſchien nur in den alten Sa¬
gen der Dichter, als eine ehmalige Fein¬
dinn der Menſchen. Es ſchien, als hätten
die Geiſter des Geſanges ihrem Beſchützer
kein lieblicheres Zeichen der Dankbarkeit ge¬
ben können, als ſeine Tochter, die alles beſaß,
was die ſüßeſte Einbildungskraft nur in der
zarten Geſtalt eines Mädchens vereinigen
konnte. Wenn man ſie an den ſchönen Fe¬
ſten unter einer Schaar reißender Geſpielen,
im weißen glänzenden Gewande erblickte,
wie ſie den Wettgeſängen der begeiſterten
Sänger mit tiefem Lauſchen zuhörte, und er¬
röthend einen duftenden Kranz auf die Lok¬
ken des Glücklichen drückte, deſſen Lied den
Preis gewonnen hatte: ſo hielt man ſie für
die ſichtbare Seele jener herrlichen Kunſt, die
jene Zauberſprüche beſchworen hätten, und
hörte auf ſich über die Entzückungen und
Melodien der Dichter zu wundern.
Mitten in dieſem irdiſchen Paradieſe
ſchien jedoch ein geheimnißvolles Schickſal zu
ſchweben. Die einzige Sorge der Bewohner
dieſer Gegenden betraf die Vermählung der
aufblühenden Prinzeſſin, von der die Fort¬
dauer dieſer ſeligen Zeiten und das Ver¬
hängniß des ganzen Landes abhing. Der
König ward immer älter. Ihm ſelbſt ſchien
dieſe Sorge lebhaft am Herzen zu liegen,
und doch zeigte ſich keine Ausſicht zu einer
Vermählung für ſie, die allen Wünſchen an¬
gemeſſen geweſen wäre. Die heilige Ehr¬
furcht für das königliche Haus erlaubte kei¬
nem Unterthan, an die Möglichkeit zu den¬
ken, die Prinzeſſin zu beſitzen. Man be¬
trach¬
trachtete ſie wie ein überirdiſches Weſen, und
alle Prinzen aus andern Ländern, die ſich
mit Anſprüchen auf ſie am Hofe gezeigt hat¬
ten, ſchienen ſo tief unter ihr zu ſeyn, daß
kein Menſch auf den Einfall kam, die Prin¬
zeſſin oder der König werde die Augen auf
einen unter ihnen richten. Das Gefühl des
Abſtandes hatte ſie auch allmählich alle ver¬
ſcheucht, und das ausgeſprengte Gerücht des
ausſchweifenden Stolzes dieſer königlichen
Familie ſchien Andern alle Luſt zu benehmen,
ſich ebenfalls gedemüthigt zu ſehn. Ganz
ungegründet war auch dieſes Gerücht nicht.
Der König war bey aller Milde beynah un¬
willkührlich in ein Gefühl der Erhabenheit
gerathen, was ihm jeden Gedanken an die
Verbindung ſeiner Tochter mit einem Manne
von niedrigerem Stande und dunklerer
Herkunft unmöglich oder unerträglich mach¬
te. Ihr hoher, einziger Werth hatte jenes
E
Gefühl in ihm immer mehr beſtätigt. Er
war aus einer uralten Morgenländiſchen
Königsfamilie entſproſſen. Seine Gemahlin
war der letzte Zweig der Nachkommenſchaft
des berühmten Helden Ruſtan geweſen.
Seine Dichter hatten ihm unaufhörlich von
ſeiner Verwandſchaft mit den ehemaligen
übermenſchlichen Beherrſchern der Welt vor¬
geſungen, und in dem Zauberſpiegel ihrer
Kunſt war ihm der Abſtand ſeiner Herkunft
von dem Urſprunge der andern Menſchen,
die Herrlichkeit ſeines Stammes noch heller
erſchienen, ſo daß es ihn dünkte, nur durch
die edlere Klaſſe der Dichter mit dem übri¬
gen Menſchengeſchlechte zuſammenzuhängen.
Vergebens ſah er ſich mit voller Sehnſucht
nach einem zweyten Ruſtan um, indem er
fühlte, daß das Herz ſeiner aufblühenden
Tochter, der Zuſtand ſeines Reichs, und ſein
zunehmendes Alter ihre Vermählung in aller
Abſicht ſehr wünſchenswerth machten.
Nicht weit von der Hauptſtadt lebte auf
einem abgelegenen Landgute ein alter
Mann, der ſich ausſchließlich mit der Erzieh¬
ung ſeines einzigen Sohnes beſchäftigte, und
nebenher den Landleuten in wichtigen Krank¬
heiten Rath ertheilte. Der junge Menſch
war ernſt und ergab ſich einzig der Wiſſen¬
ſchaft der Natur, in welcher ihn ſein Vater
von Kindheit auf unterrichtete. Aus fernen
Gegenden war der Alte vor mehreren Jahren
in dies friedliche und blühende Land gezogen,
und begnügte ſich den wohlthätigen Frieden,
den der König um ſich verbreitete, in der
Stille zu genießen. Er benutzte ſie, die
Kräfte der Natur zu erforſchen, und dieſe
hinreißenden Kenntniſſe ſeinem Sohne mitzu¬
theilen, der viel Sinn dafür verrieth und
deſſen tiefem Gemüth die Natur bereitwillig
ihre Geheimniſſe anvertraute. Die Geſtalt
des jungen Menſchen ſchien gewöhnlich und
unbedeutend, wenn man nicht einen höhern
Sinn für die geheimere Bildung ſeines edlen
Geſichts und die ungewöhnliche Klarheit ſeiner
Augen mitbrachte. Je länger man ihn an¬
ſah, deſto anziehender ward er, und man
konnte ſich kaum wieder von ihm trennen,
wenn man ſeine ſanfte, eindringende Stimme
und ſeine anmuthige Gabe zu ſprechen hörte.
Eines Tages hatte die Prinzeſſin, deren Luſt¬
gärten an den Wald ſtießen, der das Land¬
gut des Alten in einem kleinen Thale ver¬
barg, ſich allein zu Pferde in den Wald be¬
geben, um deſto ungeſtörter ihren Fantaſien
nachhängen und einige ſchöne Geſänge ſich
wiederhohlen zu können. Die Friſche des
hohen Waldes lockte ſie immer tiefer in ſeine
Schatten, und ſo kam ſie endlich an das
Landgut, wo der Alte mit ſeinem Sohne
lebte. Es kam ihr die Luſt an, Milch zu
trinken, ſie ſtieg ab, band ihr Pferd an ei¬
nen Baum, und trat in das Haus, um ſich
einen Trunk Milch auszubitten. Der Sohn
war gegenwärtig, und erſchrak beynah über
dieſe zauberhafte Erſcheinung eines majeſtä¬
tiſchen weiblichen Weſens, das mit allen Rei¬
zen der Jugend und Schönheit geſchmückt,
und von einer unbeſchreiblich anziehenden
Durchſichtigkeit der zarteſten, unſchuldigſten
und edelſten Seele beynah vergöttlicht wur¬
de. Während er eilte ihre wie Geiſtergeſang
tönende Bitte zu erfüllen, trat ihr der Alte
mit beſcheidner Ehrfurcht entgegen, und lud
ſie ein, an dem einfachen Herde, der mitten
im Hauſe ſtand, und auf welchem eine leich¬
te blaue Flamme ohne Geräuſch emporſpiel¬
te, Platz zu nehmen. Es fiel ihr, gleich
beym Eintritt, der mit tauſend ſeltenen Sa¬
chen gezierte Hausraum, die Ordnung und
Reinlichkeit des Ganzen, und eine ſeltſame
Heiligkeit des Ortes auf, deren Eindruck noch
durch den ſchlicht gekleideten ehrwürdigen
Greis und den beſcheidnen Anſtand des
Sohnes erhöhet wurde. Der Alte hielt ſie
gleich für eine zum Hof gehörige Per¬
ſon, wozu ihre koſtbare Tracht, und ihr
edles Betragen ihm Anlaß genug gab.
Während der Abweſenheit des Sohnes be¬
fragte ſie ihn um einige Merkwürdigkeiten,
die ihr vorzüglich in die Augen fielen, wor¬
unter beſonders einige alte, ſonderbare Bil¬
der waren, die neben ihrem Sitze auf dem
Heerde ſtanden, und er war bereitwillig ſie
auf eine anmuthige Art damit bekannt zu
machen. Der Sohn kam bald mit einem
Kruge voll friſcher Milch zurück, und reichte
ihr denſelben mit ungekünſteltem und ehr¬
furchtsvollem Weſen. Nach einigen anzie¬
henden Geſprächen mit beyden, dankte ſie
auf die lieblichſte Weiſe für die freundliche
Bewirthung, bat erröthend den Alten um
die Erlaubniß wieder kommen, und ſeine
lehrreichen Geſpräche über die vielen wun¬
derbaren Sachen genießen zu dürfen, und
ritt zurück, ohne ihren Stand verrathen zu
haben, da ſie merkte, daß Vater und Sohn
ſie nicht kannten. Ohnerachtet die Haupt¬
ſtadt ſo nahe lag, hatten beyde, in ihre
Forſchungen vertieft, das Gewühl der Men¬
ſchen zu vermeiden geſucht, und es war
dem Jüngling nie eine Luſt angekommen,
den Feſten des Hofes beyzuwohnen; beſon¬
ders da er ſeinen Vater höchſtens auf eine
Stunde zu verlaſſen pflegte, um zuweilen
im Walde nach Schmetterlingen, Käfern
und Pflanzen umher zu gehn, und die Einge¬
bungen des ſtillen Naturgeiſtes durch den
Einfluß ſeiner mannichfaltigen äußeren Lieb¬
lichkeiten zu vernehmen. Dem Alten, der
Prinzeſſin und dem Jüngling war die einfa¬
che Begebenheit des Tages gleich wichtig.
Der Alte hatte leicht den neuen tiefen Ein¬
druck bemerkt, den die Unbekannte auf ſei¬
nen Sohn machte. Er kannte dieſen genug,
um zu wiſſen, daß jeder tiefe Eindruck bey
ihm ein lebenslänglicher ſeyn würde. Seine
Jugend und die Natur ſeines Herzens mu߬
ten die erſte Empfindung dieſer Art zur un¬
überwindlichen Neigung machen. Der Alte
hatte lange eine ſolche Begebenheit heran¬
nahen ſehen. Die hohe Liebenswürdigkeit
der Erſcheinung flößte ihm unwillkührlich ei¬
ne innige Theilnahme ein, und ſein zuver¬
ſichtliches Gemüth entfernte alle Beſorgniſſe
über die Entwickelung dieſes ſonderbaren Zu¬
falls. Die Prinzeſſin hatte ſich nie in einem
ähnlichen Zuſtande befunden, wie der war,
in welchem ſie langſam nach Hauſe ritt. Es
konnte vor der einzigen helldunklen wunder¬
bar beweglichen Empfindung einer neuen
Welt, kein eigentlicher Gedanke in ihr ent¬
ſtehen. Ein magiſcher Schleyer dehnte ſich
in weiten Falten um ihr klares Bewußtſeyn.
Es war ihr, als würde ſie ſich, wenn er auf¬
geſchlagen würde, in einer überirdiſchen Welt
befinden. Die Erinnerung an die Dichtkunſt,
die bisher ihre ganze Seele beſchäftigt hatte,
war zu einem fernen Geſange geworden, der
ihren ſeltſam lieblichen Traum mit den ehe¬
maligen Zeiten verband. Wie ſie zurück in
den Pallaſt kam, erſchrak ſie beynah über
ſeine Pracht und ſein buntes Leben, noch
mehr aber bey der Bewillkommung ihres
Vaters, deſſen Geſicht zum erſtenmale in ih¬
rem Leben eine ſcheue Ehrfurcht in ihr erreg¬
te. Es ſchien ihr eine unabänderliche Noth¬
wendigkeit, nichts von ihrem Abentheuer zu
erwähnen. Man war ihre ſchwärmeriſche
Ernſthaftigkeit, ihren in Fantaſieen und tie¬
fes Sinnen verlornen Blick ſchon zu ge¬
wohnt, um etwas Außerordentliches darin zu
bemerken. Es war ihr jetzt nicht mehr ſo
lieblich zu Muthe; ſie ſchien ſich unter lau¬
ter Fremden, und eine ſonderbare Bänglich¬
keit begleitete ſie bis an den Abend, wo das
frohe Lied eines Dichters, der die Hoffnung
pries, und von den Wundern des Glaubens
an die Erfüllung unſrer Wünſche mit hinrei¬
ßender Begeiſterung ſang, ſie mit ſüßem
Troſt erfüllte und in die angenehmſten Träu¬
me wiegte. Der Jüngling hatte ſich gleich
nach ihrem Abſchiede in den Wald verlohren.
An der Seite des Weges war er in Gebü¬
ſchen bis an die Pforten des Gartens ihr ge¬
folgt, und dann auf dem Wege zurückgegan¬
gen. Wie er ſo ging, ſah er vor ſeinen Fü¬
ßen einen hellen Glanz. Er bückte ſich da¬
nach und hob einen dunkelrothen Stein auf,
der auf einer Seite außerordentlich funkelte,
und auf der Andern eingegrabene unver¬
ſtändliche Chiffern zeigte. Er erkannte ihn
für einen koſtbaren Karfunkel, und glaubte
ihn in der Mitte des Halsbandes an der
Unbekannten bemerkt zu haben. Er eilte
mit beflügelten Schritten nach Hauſe, als
wäre ſie noch dort, und brachte den Stein
ſeinem Vater. Sie wurden einig, daß
der Sohn den andern Morgen auf den
Weg zurückgehn und warten ſollte, ob der
Stein geſucht würde, wo er ihn dann zurück¬
geben könnte; ſonſt wollten ſie ihn bis zu
einem zweyten Beſuche der Unbekannten auf¬
heben, um ihr ſelbſt ihn zu überreichen. Der
Jüngling betrachtete faſt die ganze Nacht
den Karfunkel und fühlte gegen Morgen
ein unwiderſtehliches Verlangen einige Wor¬
te auf den Zettel zu ſchreiben, in welchen er
den Stein einwickelte. Er wußte ſelbſt nicht
genau, was er ſich bey den Worten dachte,
die er hinſchrieb.
Es iſt dem Stein ein räthſelhaftes Zei¬
chen
Tief eingegraben in ſein glühend
Blut,
Er iſt mit einem Herzen zu verglei¬
chen,
In dem das Bild der Unbekannten
ruht.
Man ſieht um jenen tauſend Funken
ſtreichen,
Um dieſes woget eine lichte Flut.
In jenem liegt des Glanzes Licht be¬
graben,
Wird dieſes auch das Herz des Her¬
zens haben?
Kaum daß der Morgen anbrach, ſo be¬
gab er ſich ſchon auf den Weg, und eilte
der Pforte des Gartens zu.
Unterdeſſen hatte die Prinzeſſin Abends
beym Auskleiden den theuren Stein in ihrem
Halsbande vermißt, der ein Andenken ihrer
Mutter und noch dazu ein Talisman war,
deſſen Beſitz ihr die Freiheit ihrer Perſon
ſicherte, indem ſie damit nie in fremde Ge¬
walt ohne ihren Willen gerathen konnte.
Dieſer Verluſt befremdete ſie mehr, als
daß er ſie erſchreckt hätte. Sie erinnerte
ſich, ihn geſtern bey dem Spazierritt noch
gehabt zu haben, und glaubte feſt, daß er
entweder im Hauſe des Alten, oder auf dem
Rückwege im Walde verloren gegangen ſeyn
müſſe; der Weg war ihr noch in friſchem
Andenken, und ſo beſchloß ſie gleich früh
den Stein aufzuſuchen, und wurd bey die¬
ſem Gedanken ſo heiter, daß es faſt das An¬
ſehn gewann, als ſey ſie gar nicht unzufrie¬
den mit dem Verluſte, weil er Anlaß gäbe
jenen Weg ſogleich noch einmal zu machen.
Mit dem Tage ging ſie durch den Garten
nach dem Walde, und weil ſie eilfertiger
ging als gewöhnlich, ſo fand ſie es ganz na¬
türlich, daß ihr das Herz lebhaft ſchlug, und
ihr die Bruſt beklomm. Die Sonne fing
eben an, die Wipfel der alten Bäume zu
vergolden, die ſich mit ſanftem Flüſtern be¬
wegten, als wollten ſie ſich gegenſeitig aus
nächtlichen Geſichtern erwecken, um die Son¬
ne gemeinſchaftlich zu begrüßen, als die
Prinzeſſin durch ein fernes Geräuſch veran¬
laßt, den Weg hinunter und den Jüngling
auf ſich zueilen ſah, der in demſelben Augen¬
blick ebenfalls ſie bemerkte.
Wie angefeſſelt blieb er eine Weile ſtehn,
und blickte unverwandt ſie an, gleichſam um
ſich zu überzeugen, daß ihre Erſcheinung
wirklich und keine Täuſchung ſey. Sie be¬
grüßten ſich mit einem zurückgehaltenen Aus¬
druck von Freude, als hätten ſie ſich ſchon
lange gekannt und geliebt. Noch ehe die
Prinzeſſin die Urſache ihres frühen Spazier¬
ganges ihm entdecken konnte, überreichte er
ihr mit Erröthen und Herzklopfen den Stein
in dem beſchriebenen Zettel. Es war, als
ahndete die Prinzeſſin den Inhalt der Zei¬
len. Sie nahm ihn ſtillſchweigend mit zit¬
ternder Hand und hing ihm zur Belohnung
für ſeinen glücklichen Fund beynah unwill¬
kührlich eine goldne Kette um, die ſie um
den Hals trug. Beſchämt kniete er vor ihr
und konnte, da ſie ſich nach ſeinem Vater
erkundigte, einige Zeit keine Worte finden.
Sie ſagte ihm halbleiſe, und mit niederge¬
ſchlagenen Augen, daß ſie bald wieder zu
ihnen kommen, und die Zuſage des Vaters
ſie mit ſeinen Seltenheiten bekannt zu ma¬
chen, mit vieler Freude benutzen würde.
Sie dankte dem Jünglinge noch einmal
mit ungewöhnlicher Innigkeit, und ging hier¬
auf langſam, ohne ſich umzuſehen, zurück.
Der Jüngling konnte kein Wort vorbringen.
Er neigte ſich ehrfurchtsvoll und ſah ihr lan¬
ge nach, bis ſie hinter den Bäumen ver¬
ſchwand. Nach dieſer Zeit vergingen wenig
Tage bis zu ihrem zweyten Beſuche, dem
bald mehrere folgten. Der Jüngling ward
unvermerkt ihr Begleiter bey dieſen Spazier¬
gängen. Er holte ſie zu beſtimmten Stun¬
den am Garten ab, und brachte ſie dahin
zurück. Sie beobachtete ein unverbrüchliches
Stillſchweigen über ihren Stand, ſo zutrau¬
lich ſie auch ſonſt gegen ihren Begleiter wur¬
de, dem bald kein Gedanke in ihrer himmli¬
ſchen Seele verborgen blieb. Es war, als
flößte ihr die Erhabenheit ihrer Herkunft ei¬
ne geheime Furcht ein. Der Jüngling gab
ihr ebenfalls ſeine ganze Seele. Vater und
Sohn hielten ſie für ein vornehmes Mäd¬
chen vom Hofe. Sie hing an dem Alten
mit der Zärtlichkeit einer Tochter. Ihre Lieb¬
koſungen gegen ihn waren die entzückenden
Vor¬
Vorboten ihrer Zärtlichkeit gegen den Jüng¬
ling. Sie ward bald einheimiſch in dem
wunderbaren Hauſe; und wenn ſie dem
Alten und dem Sohne, der zu ihren Füßen
ſaß, auf ihrer Laute reitzende Lieder mit ei¬
ner überirdiſchen Stimme vorſang, und letzte¬
ren in dieſer lieblichen Kunſt unterrichtete: ſo
erfuhr ſie dagegen von ſeinen begeiſterten Lip¬
pen die Enträthſelung der überall verbreite¬
ten Naturgeheimniſſe. Er lehrte ihr, wie
durch wundervolle Sympathie die Welt ent¬
ſtanden ſey, und die Geſtirne ſich zu melodi¬
ſchen Reigen vereinigt hätten. Die Geſchich¬
te der Vorwelt ging durch ſeine heiligen Er¬
zählungen in ihrem Gemüth auf; und wie
entzückt war ſie, wenn ihr Schüler, in der
Fülle ſeiner Eingebungen, die Laute ergriff
und mit unglaublicher Gelehrigkeit in die
wundervollſten Geſänge ausbrach. Eines
Tages, wo ein beſonders kühner Schwung
F
ſich ſeiner Seele in ihrer Geſellſchaft bemäch¬
tigt hatte, und die mächtige Liebe auf dem
Rückwege ihre jungfräuliche Zurückhaltung
mehr als gewöhnlich überwand, ſo daß ſie
beyde ohne ſelbſt zu wiſſen wie einander
in die Arme ſanken, und der erſte glühende
Kuß ſie auf ewig zuſammenſchmelzte, fing
mit einbrechender Dämmerung ein gewaltiger
Sturm in den Gipfeln der Bäume plötzlich
zu toben an. Drohende Wetterwolken zogen
mit tiefem nächtlichen Dunkel über ſie her.
Er eilte ſie in Sicherheit vor dem fürchterli¬
chen Ungewitter und den brechenden Bäu¬
men zu bringen: aber er verfehlte in der
Nacht und voll Angſt wegen ſeiner Gelieb¬
ten den Weg, und gerieth immer tiefer in
den Wald hinein. Seine Angſt wuchs, wie
er ſeinen Irrthum bemerkte. Die Prinzeſſin
dachte an das Schrecken des Königs und des
Hofes; eine uennbare Ängſtlichkeit fuhr
zuweilen, wie ein zerſtörender Strahl, durch
ihre Seele, und nur die Stimme ihres Ge¬
liebten, der ihr unaufhörlich Troſt zuſprach,
gab ihr Muth und Zutrauen zurück, und er¬
leichterte ihre beklommne Bruſt. Der Sturm
wüthete fort; alle Bemühungen den Weg
zu finden waren vergeblich, und ſie prieſen
ſich beyde glücklich, bey der Erleuchtung ei¬
nes Blitzes eine nahe Höhle an dem ſteilen
Abhang eines waldigen Hügels zu entdek¬
ken, wo ſie eine ſichere Zuflucht gegen die
Gefahren des Ungewitters zu finden hoften,
und eine Ruheſtätte für ihre erſchöpften Kräfte.
Das Glück begünſtigte ihre Wünſche. Die
Höhle war trocken und mit reinlichem Mooſe
bewachſen. Der Jüngling zündete ſchnell ein
Feuer von Reiſern und Moos an, woran
ſie ſich trocknen konnten, und die beyden Lie¬
benden ſahen ſich nun auf eine wunderbare
Weiſe von der Welt entfernt, aus einem ge¬
fahrvollen Zuſtande gerettet, und auf einem
bequemen, warmen Lager allein nebenein¬
ander.
Ein wilder Mandelſtrauch hing mit
Früchten beladen in die Höhle hinein, und
ein nahes Rieſeln ließ ſie friſches Waſſer zur
Stillung ihres Durſtes finden. Die Laute
hatte der Jüngling mitgenommen, und ſie ge¬
währte ihnen jetzt eine aufheiternde und be¬
ruhigende Unterhaltung bey dem kniſternden
Feuer. Eine höhere Macht ſchien den Kno¬
ten ſchneller löſen zu wollen, und brachte
ſie unter ſonderbaren Umſtänden in dieſe ro¬
mantiſche Lage. Die Unſchuld ihrer Herzen,
die zauberhafte Stimmung ihrer Gemüther,
und die verbundene unwiderſtehliche Macht
ihrer ſüßen Leidenſchaft und ihrer Jugend
ließ ſie bald die Welt und ihre Verhältniſſe
vergeſſen, und wiegte ſie unter dem Braut¬
geſange des Sturms und den Hochzeitfackeln
der Blitze in den ſüßeſten Rauſch ein, der
je ein ſterbliches Paar beſeligt haben mag.
Der Anbruch des lichten blauen Morgens
war für ſie das Erwachen in einer neuen ſe¬
ligen Welt. Ein Strom heißer Thränen,
der jedoch bald aus den Augen der Prinzeſ¬
ſin hervorbrach, verrieth ihrem Geliebten die
erwachenden tauſendfachen Bekümmerniſſe ih¬
res Herzens. Er war in dieſer Nacht um
mehrere Jahre älter, aus einem Jünglinge
zum Manne geworden. Mit überſchwengli¬
cher Begeiſterung tröſtete er ſeine Geliebte,
erinnerte ſie an die Heiligkeit der wahrhaf¬
ten Liebe, und an den hohen Glauben, den
ſie einflöße, und bat ſie, die heiterſte Zukunft
von dem Schutzgeiſt ihres Herzens mit Zu¬
verſicht zu erwarten. Die Prinzeſſin fühlte
die Wahrheit ſeines Troſtes, und entdeckte
ihm, ſie ſey die Tochter des Königs, und nur
bange wegen des Stolzes und der Beküm¬
merniſſe ihres Vaters. Nach langen reifli¬
chen Überlegungen wurden ſie über die zu
faſſende Entſchließung einig, und der Jüng¬
ling machte ſich ſofort auf den Weg, um ſei¬
nen Vater aufzuſuchen, und dieſen mit ih¬
rem Plane bekannt zu machen. Er verſprach
in kurzen wieder bey ihr zu ſeyn, und verließ
ſie beruhigt und in ſüßen Vorſtellungen der
künftigen Entwickelung dieſer Begebenheiten.
Der Jüngling hatte bald ſeines Vaters
Wohnung erreicht, und der Alte war ſehr
erfreut, ihn unverletzt ankommen zu ſehen.
Er erfuhr nun die Geſchichte und den Plan
der Liebenden, und bezeigte ſich nach einigem
Nachdenken bereitwillig ihn zu unterſtützen.
Sein Haus lag ziemlich verſteckt, und hatte
einige unterirdiſche Zimmer, die nicht leicht
aufzufinden waren. Hier ſollte die Wohnung
der Prinzeſſin ſeyn. Sie ward alſo in der
Dämmerung abgeholt, und mit tiefer Rüh¬
rung von dem Alten empfangen. Sie weinte
nachher oft in der Einſamkeit, wenn ſie ih¬
res traurigen Vaters gedachte: doch verbarg
ſie ihren Kummer vor ihrem Geliebten, und
ſagte es nur dem Alten, der ſie freundlich
tröſtete, und ihr die nahe Rückkehr zu ihrem
Vater vorſtellte.
Unterdeß war man am Hofe in große
Beſtürzung gerathen, als Abends die Prin¬
zeſſin vermißt wurde. Der König war ganz
außer ſich, und ſchickte überall Leute aus,
ſie zu ſuchen. Kein Menſch wußte ſich ihr
Verſchwinden zu erklären. Keinem kam ein
heimliches Liebesverſtändniß in die Gedan¬
ken, und ſo ahndete man keine EutführungEntführung,
da ohnedies kein Menſch weiter fehlte. Auch
nicht zu der entfernteſten Vermuthung war
Grund da. Die ausgeſchickten Boten kamen
unverrichteter Sache zurück, und der König
fiel in tiefe Traurigkeit. Nur wenn Abends
ſeine Sänger vor ihn kamen und ſchöne Lie¬
der mitbrachten, war es, als ließe ſich die
alte Freude wieder vor ihm blicken; ſeine
Tochter dünkte ihm nah, und er ſchöpfte
Hofnung, ſie bald wieder zu ſehen. War
er aber wieder allein, ſo zerriß es ihm von
neuem das Herz und er weinte laut. Dann
gedachte er bey ſich ſelbſt: Was hilft mir
nun alle die Herrlichkeit, und meine hohe
Geburt. Nun bin ich doch elender als die
andern Menſchen. Meine Tochter kann mir
nichts erſetzen. Ohne ſie ſind auch die Geſän¬
ge nichts, als leere Worte und Blendwerk.
Sie war der Zauber, der ihnen Leben und
Freude, Macht und Geſtalt gab. Wollt' ich
doch lieber, ich wäre der geringſte meiner
Diener. Dann hätte ich meine Tochter noch;
auch wohl einen Eydam dazu und Enkel, die
mir auf den Knieen ſäßen: dann wäre ich ein
anderer König, als jetzt. Es iſt nicht die
Krone und das Reich, was einen König
macht. Es iſt jenes volle, überfließende Ge¬
fühl der Glückſeligkeit, der Sättigung mit ir¬
diſchen Gütern, jenes Gefühl der über¬
ſchwänglichen Gnüge. So werd' ich nun für
meinen Übermuth beſtraft. Der Verluſt mei¬
ner Gattin hat mich noch nicht genug er¬
ſchüttert. Nun hab' ich auch ein grenzenlo¬
ſes Elend. So klagte der König in den
Stunden der heißeſten Sehnſucht. Zuweilen
brach auch ſeine alte Strenge und ſein
Stolz wieder hervor. Er zürnte über ſeine
Klagen; wie ein König wollte er dulden und
ſchweigen. Er meinte dann, er leide mehr,
als alle Anderen, und gehöre ein großer
Schmerz zum Königthum; aber wenn es
dann dämmerte, und er in die Zimmer ſeiner
Tochter trat, und ſah ihre Kleider hängen,
und ihre kleinern Habſeligkeiten ſtehn, als
habe ſie eben das Zimmer verlaſſen: ſo ver¬
gaß er ſeine Vorſätze, gebehrdete ſich wie ein
trübſeliger Menſch, und rief ſeine geringſten
Diener um Mitleid an. Die ganze Stadt
und das ganze Land weinten und klagten
von ganzem Herzen mit ihm. Sonderlich
war es, daß eine Sage umherging, die Prin¬
zeſſin lebe noch, und werde bald mit einem
Gemahl wiederkommen. Kein Menſch wu߬
te, woher die Sage kam: aber alles hing
ſich mit frohem Glauben daran, und ſah mit
ungeduldiger Erwartung ihrer baldigen Wie¬
derkunft entgegen. So vergingen mehrere
Monden, bis das Frühjahr wieder heran¬
kam. Was gilts, ſagten einige in wunderli¬
chem Muthe, nun kommt auch die Prinzeſſin
wieder. Selbſt der König ward heitrer und
hoffnungsvoller. Die Sage dünkte ihm wie
die Verheißung einer gütigen Macht. Die
ehemaligen Feſte fingen wieder an, und es
ſchien zum völligen Aufblühen der alten
Herrlichkeit nur noch die Prinzeſſin zu feh¬
len. Eines Abends, da es gerade jährig
wurde, daß ſie verſchwand, war der ganze
Hof im Garten verſammelt. Die Luft war
warm und heiter; ein leiſer Wind tönte nur
oben in den alten Wipfeln, wie die Ankün¬
digung eines fernen fröhlichen Zuges. Ein
mächtiger Springquell ſtieg zwiſchen den
vielen Fackeln mit zahlloſen Lichtern hinauf
in die Dunkelheit der tönenden Wipfel, und
begleitete mit melodiſchem Plätſchern die
mannichfaltigen Geſänge, die unter den
Bäumen hervorklangen. Der König ſaß auf
einem köſtlichen Teppich, und um ihn her
war der Hof in feſtlichen Kleidern verſam¬
melt. Eine zahlreiche Menge erfüllte den
Garten, und umgab das prachtvolle Schau¬
ſpiel. Der König ſaß eben in tiefen Gedan¬
ken. Das Bild ſeiner verlornen Tochter
ſtand mit ungewöhnlicher Klarheit vor ihm;
er gedachte der glücklichen Tage, die um die¬
ſe Zeit im vergangenen Jahre ein plötzliches
Ende nahmen. Eine heiße Sehnſucht über¬
mannte ihn, und es floſſen häufige Thränen
von ſeinen ehrwürdigen Wangen; doch emp¬
fand er eine ungewöhnliche Heiterkeit. Es
dünkte ihm das traurige Jahr nur ein
ſchwerer Traum zu ſeyn, und er hob die Au¬
gen auf, gleichſam um ihre hohe, heilige,
entzückende Geſtalt unter den Menſchen und
den Bäumen aufzuſuchen. Eben hatten die
Dichter geendigt, und eine tiefe Stille ſchien
das Zeichen der allgemeinen Rührung zu
ſeyn, denn die Dichter hatten die Freuden
des Wiederſehns, den Frühling und die Zu¬
kunft beſungen, wie ſie die Hoffnung zu
ſchmücken pflegt.
Plötzlich wurde die Stille durch leiſe
Laute einer unbekannten ſchönen Stimme
unterbrochen, die von einer uralten Eiche
herzukommen ſchienen. Alle Blicke richteten
ſich dahin, und man ſah einen Jüngling in
einfacher, aber fremder Tracht ſtehen, der ei¬
ne Laute im Arm hielt, und ruhig in ſeinem
Geſange fortfuhr, indem er jedoch, wie der
König ſeinen Blick nach ihm wandte, eine
tiefe Verbeugung machte. Die Stimme war
außerordentlich ſchön, und der Geſang trug
ein fremdes, wunderbares Gepräge. Er
handelte von dem Urſprunge der Welt, von
der Entſtehung der Geſtirne, der Pflanzen,
Thiere und Menſchen, von der allmächtigen
Sympathie der Natur, von der uralten gol¬
denen Zeit und ihren Beherrſcherinnen, der
Liebe und Poeſie, von der Erſcheinung des
Haſſes und der Barbarey und ihren Kämp¬
fen mit jenen wohlthätigen Göttinnen, und
endlich von dem zukünftigen Triumph der
letztern, dem Ende der Trübſale, der Verjün¬
gung der Natur und der Wiederkehr eines
ewigen goldenen Zeitalters. Die alten Dichter
tragen ſelbſt von Begeiſterung hingeriſſen, wäh¬
rend des Geſanges näher um den ſeltſamen
Fremdling her. Ein niegefühltes Entzücken
ergriff die Zuſchauer, und der König ſelbſt
fühlte ſich wie auf einem Strom des Him¬
mels weggetragen. Ein ſolcher Geſang war
nie vernommen worden, und Alle glaubten,
ein himmliſches Weſen ſey unter ihnen er¬
ſchienen, beſonders da der Jüngling unterm
Singen immer ſchöner, immer herrlicher, und
ſeine Stimme immer gewaltiger zu werden
ſchien. Die Luft ſpielte mit ſeinen goldenen
Locken. Die Laute ſchien ſich unter ſeinen
Händen zu beſeelen, und ſein Blick ſchien
trunken in eine geheimere Welt hinüber zu
ſchauen. Auch die Kinderunſchuld und Ein¬
falt ſeines Geſichts ſchien allen übernatür¬
lich. Nun war der herrliche Geſang geen¬
digt. Die bejahrten Dichter drückten den
Jüngling mit Freudenthränen an ihre Bruſt.
Ein ſtilles inniges Jauchzen ging durch die
Verſammlung. Der König kam gerührt auf
ihn zu. Der Jüngling warf ſich ihm beſchei¬
den zu Füßen. Der König hob ihn auf,
umarmte ihn herzlich, und hieß ihn ſich eine
Gabe ausbitten. Da bat er mit glühenden
Wangen den König, noch ein Lied gnädig
anzuhören, und dann über ſeine Bitte
zu entſcheiden. Der König trat einige
Schritte zurück und der Fremdling fing an:
Der Sänger geht auf rauhen Pfaden,
Zerreißt in Dornen ſein Gewand;
Er muß durch Fluß und Sümpfe baden,
Und keins reicht hülfreich ihm die Hand.
Einſam und pfadlos fließt in Klagen
Jetzt über ſein ermattet Herz;
Er kann die Laute kaum noch tragen,
Ihn übermannt ein tiefer Schmerz.
Ein traurig Loos ward mir beſchieden,
Ich irre ganz verlaſſen hier,
Ich brachte Allen Luſt und Frieden,
Doch keiner theilte ſie mit mir.
Es wird ein jeder ſeiner Habe
Und ſeines Lebens froh durch mich;
Doch weiſen ſie mit karger Gabe
Des Herzens Forderung von ſich.
Man läßt mich ruhig Abſchied nehmen,
Wie man den Frühling wandern ſieht;
Es wird ſich keiner um ihn grämen,
Wenn er betrübt von dannen zieht.
Verlangend ſehn ſie nach den Früchten,
Und wiſſen nicht, daß er ſie ſät;
Ich kann den Himmel für ſie dichten,
Doch meiner denkt nicht Ein Gebet.
Ich fühle dankbar Zaubermächte
An dieſe Lippen feſtgebannt.
O!
O! knüpfte nur an meine Rechte
Sich auch der Liebe Zauberband.
Es kümmert keine ſich des Armen,
Der dürftig aus der Ferne kam;
Welch Herz wird Sein ſich noch erbarmen
Und löſen ſeinen tiefen Gram?
Er ſinkt im hohen Graſe nieder,
Und ſchläft mit naſſen Wangen ein;
Da ſchwebt der hohe Geiſt der Lieder
In die beklemmte Bruſt hinein:
Vergiß anjetzt, was du gelitten,
In Kurzem ſchwindet deine Laſt,
Was du umſonſt geſucht in Hütten,
Das wirſt du finden im Palaſt.
Du nahſt dem höchſten Erdenlohne,
Bald endigt der verſchlungne Lauf;
Der Myrthenkranz wird eine Krone,
Dir ſetzt die treuſte Hand ſie auf.
G
Ein Herz voll Einklang iſt berufen
Zur Glorie um einen Thron;
Der Dichter ſteigt auf rauhen Stufen
Hinan, und wird des Königs Sohn.
So weit war er in ſeinem Geſange ge¬
kommen, und ein ſonderbares Erſtaunen hatte
ſich der Verſammlung bemächtigt, als wäh¬
rend dieſer Strophen ein alter Mann mit ei¬
ner verſchleyerten weiblichen Geſtalt von ed¬
lem Wuchſe, die ein wunderſchönes Kind auf
dem Arme trug, das freundlich in der frem¬
den Verſammlung umherſah, und lächelnd
nach dem blitzenden Diadem des Königs die
kleinen Händchen ſtreckte, zum Vorſchein ka¬
men, und ſich hinter den Sänger ſtellten;
aber das Staunen wuchs, als plötzlich aus
den Gipfeln der alten Bäume, der Lieblings¬
adler des Königs, den er immer um ſich hat¬
te, mit einer goldenen Stirnbinde, die er aus
ſeinen Zimmern entwandt haben mußte, her¬
abflog, und ſich auf das Haupt des Jüng¬
lings niederließ, ſo daß die Binde ſich um
ſeine Locken ſchlug. Der Fremdling erſchrak
einen Augenblick; der Adler flog an die Sei¬
te des Königs, und ließ die Binde zurück.
Der Jüngling reichte ſie dem Kinde, das
darnach verlangte, ließ ſich auf ein Knie ge¬
gen den König nieder, und fuhr in ſeinem
Geſange mit bewegter Stimme fort:
Der Sänger fährt aus ſchönen Träumen
Mit froher Ungeduld empor;
Er wandelt unter hohen Bäumen
Zu des Pallaſtes ehrnem Thor.
Die Mauern ſind wie Stahl geſchliffen,
Doch ſie erklimmt ſein Lied geſchwind,
Es ſteigt von Lieb' und Weh ergriffen
Zu ihm hinab des Königs Kind.
Die Liebe drückt ſie feſt zuſammen
Der Klang der Panzer treibt ſie fort;
Sie lodern auf in ſüßen Flammen,
Im nächtlich ſtillen Zufluchtsort.
Sie halten furchtſam ſich verborgen,
Weil ſie der Zorn des Königs ſchreckt;
Und werden nun von jedem Morgen
Zu Schmerz und Luſt zugleich erweckt.
Der Sänger ſpricht mit ſanften Klängen
Der neuen Mutter Hoffnung ein;
Da tritt. gelockt von den Geſängen
Der König in die Kluft hinein.
Die Tochter reicht in goldnen Locken
Den Enkel von der Bruſt ihm hin;
Sie ſinken reuig und erſchrocken,
Und mild zergeht ſein ſtrenger Sinn.
Der Liebe weicht und dem Geſange
Auch auf dem Thron ein Vaterherz,
Und wandelt bald in ſüßem Drange
Zu ewger Luſt den tiefen Schmerz.
Die Liebe giebt, was ſie entriſſen,
Mit reichem Wucher bald zurück,
Und unter den Verſöhnungsküſſen
Entfaltet ſich ein himmliſch Glück.
Geiſt des Geſangs, komm du hernieder,
Und ſteh auch jetzt der Liebe bey;
Bring die verlorne Tochter wieder,
Daß ihr der König Vater ſey! —
Daß er mit Freuden ſie umſchließet,
Und ſeines Enkels ſich erbarmt,
Und wenn das Herz ihm überfließet,
Den Sänger auch als Sohn umarmt.
Der Jüngling hob mit bebender Hand bey
dieſen Worten, die ſanft in den dunklen
Gängen verhallten, den Schleyer. Die Prin¬
zeſſin fiel mit einem Strom von Thränen zu
den Füßen des Königs, und hielt ihm das
ſchöne Kind hin. Der Sänger kniete mit ge¬
beugtem Haupte an ihrer Seite. Eine
ängſtliche Stille ſchien jeden Athem feſtzu¬
halten. Der König war einige Augenblicke
ſprachlos und ernſt; dann zog er die Prin¬
zeſſin an ſeine Bruſt, drückte ſie lange feſt
an ſich und weinte laut. Er hob nun auch
den Jüngling zu ſich auf, und umſchloß ihn
mit herzlicher Zärtlichkeit. Ein helles Jauch¬
zen flog durch die Verſammlung, die ſich
dicht zudrängte. Der König nahm das Kind
nnd reichte es mit rührender Andacht gen
Himmel; dann begrüßte er freundlich den
Alten. Unendliche Freudenthränen floſſen.
In Geſänge brachen die Dichter aus, und
der Abend ward ein heiliger Vorabend dem
ganzen Lande, deſſen Leben fortan nur Ein
ſchönes Feſt war. Kein Menſch weiß, wo
das Land hingekommen iſt. Nur in Sagen
heißt es, daß Atlantis von mächtigen Fluten
den Augen entzogen worden ſey.
Viertes Kapitel.
Einige Tagereiſen waren ohne die mindeſte
Unterbrechung geendigt. Der Weg war feſt
und trocken, die Witterung erquickend und
heiter, und die Gegenden, durch die ſie ka¬
men, fruchtbar, bewohnt und mannichfaltig.
Der furchtbare Thüringer Wald lag im
Rücken; die Kaufleute hatten den Weg öfte¬
rer gemacht, waren überall mit den Leuten
bekannt, und erfuhren die gaſtfreyſte Auf¬
nahme. Sie vermieden die abgelegenen und
durch Räubereien bekannten Gegenden, und
nahmen, wenn ſie ja gezwungen waren, ſol¬
che zu durchreiſen, ein hinlängliches Geleite
mit. Einige Beſitzer benachbarter Berg¬
ſchlöſſer ſtanden mit den Kaufleuten in gu¬
tem Vernehmen. Sie wurden beſucht und
bey ihnen nachgefragt, ob ſie Beſtellungen
nach Augsburg zu machen hätten. Eine
freundliche Bewirthung ward ihnen zu Theil,
und die Frauen und Töchter drängten ſich
mit herzlicher Neugier um die Fremdlinge.
Heinrichs Mutter gewann ſie bald durch ih¬
re guthmüthige Bereitwilligkeit und Theil¬
nahme. Man war erfreut eine Frau aus
der Reſidenzſtadt zu ſehn, die eben ſo willig
die Neuigkeiten der Mode, als die Zuberei¬
tung einiger ſchmackhafter Schüſſeln mittheil¬
te. Der junge Ofterdingen ward von Rit¬
tern und Frauen wegen ſeiner Beſcheidenheit
und ſeines ungezwungenen milden Betragens
geprieſen, und die letztern verweilten gern
auf ſeiner einnehmenden Geſtalt, die wie das
einfache Wort eines Unbekannten war, das
man faſt überhört, bis längſt nach ſeinem
Abſchiede es ſeine tiefe unſcheinbare Knospe
immer mehr aufthut, und endlich eine herrli¬
che Blume in allem Farbenglanze dichtver¬
ſchlungener Blätter zeigt, ſo daß man es
nie vergißt, nicht müde wird es zu wiederho¬
len, und einen unverſieglichen immer gegen¬
wärtigen Schatz daran hat. Man beſinnt
ſich nun genauer auf den Unbekannten, und
ahndet und ahndet, bis es auf einmal klar
wird, daß es ein Bewohner der höhern Welt
geweſen ſey. — Die Kaufleute erhielten eine
große Menge Beſtellungen, und man trennte
ſich gegenſeitig mit herzlichen Wünſchen, ein¬
ander bald wieder zu ſehn. Auf einem die¬
ſer Schlöſſer, wo ſie gegen Abend hinkamen,
ging es frölich zu. Der Herr des Schloſſes
war ein alter Kriegsmann, der die Muße
des Friedens, und die Einſamkeit ſeines Auf¬
enthalts mit öftern Gelagen feyerte und un¬
terbrach, und außer dem Kriegsgetümmel
und der Jagd keinen andern Zeitvertreib
kannte, als den gefüllten Becher.
Er empfing die Ankommenden mit brü¬
derlicher Herzlichkeit, mitten unter lärmenden
Genoſſen. Die Mutter ward zur Haus¬
frau geführt. Die Kaufleute und Heinrich
mußten ſich an die luſtige Tafel ſetzen, wo
der Becher tapfer umherging. Heinrichen
ward auf vieles Bitten in Rückſicht ſeiner
Jugend das jedesmalige Beſcheidthun erlaſ¬
ſen, dagegen die Kaufleute ſich nicht faul
finden, ſondern ſich den alten Frankenwein
tapfer ſchmecken ließen. Das Geſpräch lief
über ehmalige Kriegsabentheuer hin. Hein¬
rich hörte mit großer Aufmerkſamkeit den
neuen Erzählungen zu. Die Ritter ſprachen
vom heiligen Lande, von den Wundern des
heiligen Grabes, von den Abentheuern ihres
Zuges, und ihrer Seefahrt, von den Saraze¬
nen, in deren Gewalt einige gerathen gewe¬
ſen waren, und dem frölichen und wunderba¬
ren Leben im Felde und im Lager. Sie äußer¬
ten mit großer Lebhaftigkeit ihren Unwillen
jene himmliſche Geburtsſtätte der Chriſtenheit
noch im frevelhaften Beſitz der Ungläubigen
zu wiſſen. Sie erhoben die großen Helden,
die ſich eine ewige Krone durch ihr tapfres,
unermüdliches Bezeigen gegen dieſes ruchloſe
Volk erworben hätten. Der Schloßherr
zeigte das koſtbare Schwerdt, was er einem
Anführer derſelben mit eigner Hand abge¬
nommen, nachdem er ſein Caſtell erobert, ihn
getödtet, und ſeine Frau und Kinder zu Ge¬
fangenen gemacht, welches ihm der Kayſer
in ſeinem Wappen zu führen vergönnet hat¬
te. Alle beſahen das prächtige Schwerdt, auch
Heinrich nahm es in ſeine Hand, und fühlte
ſich von einer kriegeriſchen Begeiſterung er
griffen. Er küßte es mit inbrünſtiger An¬
dacht. Die Ritter freuten ſich über ſeinen
Antheil. Der Alte umarmte ihn, und mun¬
terte ihn auf, auch ſeine Hand auf ewig der
Befreyung des heiligen Grabes zu widmen,
und das wunderthätige Kreuz auf ſeine
Schultern befeſtigen zu laſſen. Er war über¬
raſcht, und ſeine Hand ſchien ſich nicht von
dem Schwerdte losmachen zu können. Be¬
ſinne dich, mein Sohn, rief der alte Ritter.
Ein neuer Kreuzzug iſt vor der Thür. Der
Kayſer ſelbſt wird unſere Schaaren in das
Morgenland führen. Durch ganz Europa
ſchallt von neuem der Ruf des Kreuzes, und
heldenmüthige Andacht regt ſich aller Orten.
Wer weiß, ob wir nicht übers Jahr in der
großen weltherrlichen Stadt Jeruſalem als
frohe Sieger bey einander ſitzen, und uns
bey vaterländiſchem Wein an unſere Hey¬
math erinnern. Du kannſt auch bey mir ein
morgenländiſches Mädgen ſehn. Sie dün¬
ken uns Abendländern gar anmuthig, und
wenn du das Schwerdt gut zu führen ver¬
ſtehſt, ſo kann es dir an ſchönen Gefangenen
nicht fehlen. Die Ritter ſangen mit lauter
Stimme den Kreuzgeſang, der damals in
ganz Europa geſungen wurde:
Das Grab ſteht unter wilden Heyden;
Das Grab, worinn der Heyland lag,
Muß Frevel und Verſpottung leiden
Und wird entheiligt jeden Tag.
Es klagt heraus mit dumpfer Stimme:
Wer rettet mich von dieſem Grimme!
Wo bleiben ſeine Heldenjünger?
Verſchwunden iſt die Chriſtenheit!
Wer iſt des Glaubens Wiederbringer?
Wer nimmt das Kreuz in dieſer Zeit?
Wer bricht die ſchimpflichſten der Ketten,
Und wird das heil'ge Grab erretten?
Gewaltig geht auf Land und Meeren
In tiefer Nacht ein heil'ger Sturm;
Die trägen Schläfer aufzuſtören,
Umbrauſt er Lager, Stadt und Thurm,
Ein Klaggeſchrey um alle Zinnen:
Auf, träge Chriſten, zieht von hinnen.
Es laſſen Engel aller Orten
Mit ernſtem Antlitz ſtumm ſich ſehn,
Und Pilger ſieht man vor den Pforten
Mit kummervollen Wangen ſtehn;
Sie klagen mit den bängſten Tönen
Die Grauſamkeit der Sarazenen.
Es bricht ein Morgen, roth und trübe,
Im weiten Land der Chriſten an.
Der Schmerz der Wehmuth und der Liebe
Verkündet ſich bey Jedermann.
Ein jedes greift nach Kreuz und Schwerdte
Und zieht entflammt von ſeinem Heerde.
Ein Feuereifer tobt im Heere,
Das Grab des Heylands zu befreyn.
Sie eilen frölich nach dem Meere,
Um bald auf heil'gem Grund zu ſeyn.
Auch Kinder kommen noch gelaufen
Und mehren den geweihten Haufen.
Hoch weht das Kreuz im Siegspaniere,
Und alte Helden ſtehn voran.
Des Paradieſes ſel'ge Thüre
Wird frommen Kriegern aufgethan;
Ein jeder will das Glück genießen
Sein Blut für Chriſtus zu vergießen.
Zum Kampf ihr Chriſten! Gottes Schaaren
Ziehn mit in das gelobte Land.
Bald wird der Heyden Grimm erfahren
Des Chriſtengottes Schreckenshand.
Wir waſchen bald in frohem Muthe
Das heilige Grab mit Heydenblute.
Die heil'ge Jungfrau ſchwebt, getragen
Von Engeln, ob der wilden Schlacht,
Wo
Wo jeder, den das Schwerdt geſchlagen,
In ihrem Mutterarm erwacht.
Sie neigt ſich mit verklärter Wange
Herunter zu dem Waffenklange.
Hinüber zu der heilgen Stätte!
Des Grabes dumpfe Stimme tönt!
Bald wird mit Sieg und mit Gebete
Die Schuld der Chriſtenheit verſöhnt!
Das Reich der Heyden wird ſich enden,
Iſt erſt das Grab in unſern Händen.
Heinrichs ganze Seele war in Aufruhr, das
Grab kam ihm wie eine bleiche, edle, jugend¬
liche Geſtalt vor, die auf einem großen Stein
mitten unter wildem Pöbel ſäße, und auf ei¬
ne entſetzliche Weiſe gemißhandelt würde,
als wenn ſie mit kummervollen Geſichte nach
einem Kreuze blicke, was im Hintergrunde
mit lichten Zügen ſchimmerte, und ſich in den
H
bewegten Wellen eines Meeres unendlich
vervielfältigte.
Seine Mutter ſchickte eben herüber, um
ihn zu holen, und der Hausfrau des Ritters
vorzuſtellen. Die Ritter waren in ihr Gelag
und ihre Vorſtellungen des bevorſtehenden
Zuges vertieft, und bemerkten nicht, daß
Heinrich ſich entfernte. Er fand ſeine Mut¬
ter in traulichem Geſpräch mit der alten,
gutmüthigen Frau des Schloſſes, die ihn
freundlich bewillkommte. Der Abend war
heiter; die Sonne begann ſich zu neigen,
und Heinrich, der ſich nach Einſamkeit ſehn¬
te, und von der goldenen Ferne gelockt wur¬
de, die durch die engen, tiefen Bogenfenſter
in das düſtre Gemach hineintrat, erhielt
leicht die Erlaubniß, ſich außerhalb des
Schloſſes beſehen zu dürfen. Er eilte ins
Freye, ſein ganzes Gemüth war rege, er ſah
von der Höhe des alten Felſen zunächſt in
das waldige Thal, durch das ein Bach her¬
unterſtürzte und einige Mühlen trieb, deren
Geräuſch man kaum aus der gewaltigen
Tiefe vernehmen konnte, und dann in eine
unabſehliche Ferne von Bergen, Wäldern
und Niederungen, und ſeine innere Unruhe
wurde beſänftigt. Das kriegeriſche Getüm¬
mel verlor ſich, und es blieb nur eine klare
bilderreiche Sehnſucht zurück. Er fühlte,
daß ihm eine Laute mangelte, ſo wenig er
auch wußte, wie ſie eigentlich gebaut ſey, und
welche Wirkung ſie hervorbringe. Das hei¬
tere Schauſpiel des herrlichen Abends wiegte
ihn in ſanfte Fantaſieen: die Blume ſeines
Herzens ließ ſich zuweilen, wie ein Wetter¬
leuchten in ihm ſehn. — Er ſchweifte durch
das wilde Gebüſch und kletterte über be¬
mooſte Felſenſtücke, als auf einmal aus einer
nahen Tiefe ein zarter eindringender Geſang
einer weiblichen Stimme von wunderbaren
Tönen begleitet, erwachte. Es war ihm ge¬
wiß, daß es eine Laute ſey; er blieb verwun¬
derungsvoll ſtehen, und hörte in gebrochner
deutſcher Ausſprache folgendes Lied:
Bricht das matte Herz noch immer
Unter fremdem Himmel nicht?
Kommt der Hoffnung bleicher Schimmer
Immer mir noch zu Geſicht?
Kann ich wohl noch Rückkehr wähnen?
Stromweis ſtürzen meine Thränen,
Bis mein Herz in Kummer bricht.
Könnt ich dir die Myrthen zeigen
Und der Zeder dunkles Haar!
Führen dich zum frohen Reigen
Der geſchwiſterlichen Schaar!
Sähſt du im geſtickten Kleide,
Stolz im köſtlichen Geſchmeide
Deine Freundinn, wie ſie war.
Edle Jünglinge verneigen
Sich mit heißem Blick vor ihr;
Zärtliche Geſänge ſteigen
Mit dem Abendſtern zu mir.
Dem Geliebten darf man trauen;
Ewge Lieb' und Treu den Frauen,
Iſt der Männer Loſung hier.
Hier, wo um kryſtallne Quellen
Liebend ſich der Himmel legt,
Und mit heißen Balſamwellen
Um den Hayn zuſammenſchlägt,
Der in ſeinen Luſtgebieten,
Unter Früchten, unter Blüthen
Tauſend bunte Sänger hegt.
Fern ſind jene Jugendträume!
Abwärts liegt das Vaterland!
Längſt gefällt ſind jene Bäume,
Und das alte Schloß verbrannt.
Fürchterlich, wie Meereswogen
Kam ein rauhes Heer gezogen,
Und das Paradies verſchwand.
Fürchterliche Gluten floſſen
In die blaue Luft empor,
Und es drang auf ſtolzen Roſſen
Eine wilde Schaar ins Thor.
Säbel klirrten, unſre Brüder,
Unſer Vater kam nicht wieder,
Und man riß uns wild hervor.
Meine Augen wurden trübe;
Fernes, mütterliches Land,
Ach! ſie bleiben dir voll Liebe
Und voll Sehnſucht zugewandt!
Wäre nicht dies Kind vorhanden,
Längſt hätt' ich des Lebens Banden
Aufgelöſt mit kühner Hand.
Heinrich hörte das Schluchzen eines Kin¬
des und eine tröſtende Stimme. Er ſtieg tie¬
fer durch das Gebüſch hinab, und fand ein
bleiches, abgehärmtes Mädchen unter einer
alten Eiche ſitzen. Ein ſchönes Kind hing wei¬
nend an ihrem Halſe, auch ihre Thränen
floſſen, und eine Laute lag neben ihr auf dem
Raſen. Sie erſchrack ein wenig, als ſie den
fremden Jüngling erblickte, der mit wehmü¬
thigem Geſicht ſich ihr näherte.
Ihr habt wohl meinen Geſang gehört,
ſagte ſie freundlich. Euer Geſicht dünkt mir
bekannt, laßt mich beſinnen — Mein Ge¬
dächtniß iſt ſchwach geworden, aber euer An¬
blick erweckt in mir eine ſonderbare Erinne¬
rung aus frohen Zeiten. O! mir iſt, als
glicht ihr einem meiner Brüder, der noch vor
unſerm Unglück von uns ſchied, und nach Per¬
ſien zu einem berühmten Dichter zog. Viel¬
leicht lebt er noch, und beſingt traurig das
Unglück ſeiner Geſchwiſter. Wüßt ich nur
noch einige ſeiner herrlichen Lieder, die er uns
hinterließ! Er war edel und zärtlich, und
kannte kein größeres Glück als ſeine Laute.
Das Kind war ein Mädchen von zehn bis
zwölf Jahren, das den fremden Jüngling auf¬
merkſam betrachtete und ſich feſt an den Bu¬
ſen der unglücklichen Zulima ſchmiegte. Hein¬
richs Herz war von Mitleid durchdrungen; er
tröſtete die Sängerin mit freundlichen Wor¬
ten, und bat ſie, ihm umſtändlicher ihre Ge¬
ſchichte zu erzählen. Sie ſchien es nicht un¬
gern zu thun. Heinrich ſetzte ſich ihr gegen¬
über und vernahm ihre von häufigen Thränen
unterbrochne Erzählung. Vorzüglich hielt ſie
ſich bei dem Lobe ihrer Landsleute und ihres
Vaterlandes auf. Sie ſchilderte den Edel¬
muth derſelben, und ihre reine ſtarke Em¬
pfänglichkeit für die Poeſie des Lebens und
die wunderbare, geheimnißvolle Anmuth der
Natur. Sie beſchrieb die romantiſchen Schön¬
heiten der fruchtbaren Arabiſchen Gegenden,
die wie glückliche Inſeln in unwegſamen Sand¬
wüſteneien lägen, wie Zufluchtsſtätte der Be¬
drängten und Ruhebedürftige, wie Kolonien
des Paradieſes, voll friſcher Quellen, die über
dichten Raſen und funkelnde Steine durch al¬
te, ehrwürdige Haine rieſelten, voll bunter
Vögel mit melodiſchen Kehlen und anziehend
durch mannichfaltige Überbleibſel ehemaliger
denkwürdiger Zeiten. Ihr würdet mit Ver¬
wunderung, ſagte ſie, die buntfarbigen, hel¬
len, ſeltſamen Züge und Bilder auf den al¬
ten Steinplatten ſehn. Sie ſcheinen ſo be¬
kannt und nicht ohne Urſach ſo wohl erhalten
zu ſeyn. Man ſinnt und ſinnt, einzelne Be¬
deutungen ahnet man, und wird um ſo be¬
gieriger den tiefſinnigen Zuſammenhang dieſer
uralten Schrift zu errathen. Der unbekannte
Geiſt derſelben erregt ein ungewöhnliches
Nachdenken, und wenn man auch ohne den
gewünſchten Fund von dannen geht, ſo hat
man doch tauſend merkwürdige Entdeckungen
in ſich ſelbſt gemacht, die dem Leben einen
neuen Glanz und dem Gemüth eine lange,
belohnende Beſchäftigung geben. Das Leben
auf einem längſt bewohnten und ehemals
ſchon durch Fleiß, Thätigkeit und Neigung
verherrlichten Boden hat einen beſondern
Reiz. Die Natur ſcheint dort menſchlicher
und verſtändlicher geworden, eine dunkle Er¬
innerung unter der durchſichtigen Gegenwart
wirft die Bilder der Welt mit ſcharfen Um¬
riſſen zurück, und ſo genießt man eine dop¬
pelte Welt, die eben dadurch das Schwere
und Gewaltſame verliert und die zauberiſche
Dichtung und Fabel unſerer Sinne wird.
Wer weiß, ob nicht auch ein unbegreiflicher
Einfluß der ehemaligen, jetzt unſichtbaren Be¬
wohner mit ins Spiel kommt, und vielleicht
iſt es dieſer dunkle Zug, der die Menſchen
aus neuen Gegenden, ſobald eine gewiſſe
Zeit ihres Erwachens kömmt, mit ſo zerſtö¬
render Ungeduld nach der alten Heymath ih¬
res Geſchlechts treibt, und ſie Gut und Blut
an den Beſitz dieſer Länder zu wagen an¬
regt. Nach einer Pauſe fuhr ſie fort:
Glaubt ja nicht, was man euch von den
Grauſamkeiten meiner Landsleute erzählt
hat. Nirgends wurden Gefangene großmü¬
thiger behandelt, und auch eure Pilger nach
Jeruſalem wurden mit Gaſtfreundſchaft auf¬
genommen, nur daß ſie ſelten derſelben
werth waren. Die Meiſten waren nichts¬
nutzige, böſe Menſchen, die ihre Wallfahrten
mit Bubenſtücken bezeichneten, und dadurch
freylich oft gerechter Rache in die Hände fie¬
len. Wie ruhig hätten die Chriſten das hei¬
lige Grab beſuchen können, ohne nöthig zu
haben, einen fürchterlichen, unnützen Krieg
anzufangen, der alles erbittert, unendliches
Elend verbreitet, und auf immer das Mor¬
genland von Europa getrennt hat. Was
lag an dem Namen des Beſitzers? Unſere
Fürſten ehrten andachtsvoll das Grab eures
Heiligen, den auch wir für einen göttlichen
Profeten halten; und wie ſchön hätte ſein
heiliges Grab die Wiege eines glücklichen
Einverſtändniſſes, der Anlaß ewiger wohl¬
thätiger Bündniſſe werden können!
Der Abend war unter ihren Geſprächen
herbeygekommen. Es fing an Nacht zu wer¬
den, und der Mond hob ſich aus dem feuch¬
ten Walde mit beruhigendem Glanze her¬
auf. Sie ſtiegen langſam nach dem Schloſ¬
ſe; Heinrich war voll Gedanken, die kriegeri¬
ſchere Begeiſterung war gänzlich verſchwun¬
den. Er merkte eine wunderliche Verwirrung
in der Welt; der Mond zeigte ihm das
Bild eines tröſtenden Zuſchauers und erhob
ihn über die Unebenheiten der Erdoberfläche,
die in der Höhe ſo unbeträchtlich erſchienen,
ſo wild und unerſteiglich ſie auch dem Wan¬
derer vorkamen. Zulima ging ſtill neben ihm
her, und führte das Kind. Heinrich trug die
Laute. Er ſuchte die ſinkende Hoffnung ſei¬
ner Begleiterinn, ihr Vaterland dereinſt wie¬
der zu ſehn, zu beleben, indem er innerlich
einen heftigen Beruf fühlte, ihr Retter zu
ſeyn, ohne zu wiſſen, auf welche Art es ge¬
ſchehen könne. Eine beſondere Kraft ſchien in
ſeinen einfachen Worten zu liegen, denn Zu¬
lima empfand eine ungewohnte Beruhigung
und dankte ihm für ſeine Zuſprache auf die
rührendſte Weiſe. Die Ritter waren noch
bey ihren Bechern und die Mutter in häus¬
lichen Geſprächen. Heinrich hatte keine Luſt
in den lärmenden Saal zurückzugehn. Er
fühlte ſich müde, und begab ſich bald mit
ſeiner Mutter in das angewieſene Schlafge¬
mach. Er erzählte ihr vor dem Schlafengehn,
was ihm begegnet ſey, und ſchlief bald zu
unterhaltenden Träumen ein. Die Kaufleute
hatten ſich auch zeitig fortbegeben, und wa¬
ren früh wieder munter. Die Ritter lagen
in tiefer Ruhe, als ſie abreiſten; die
Hausfrau aber nahm zärtlichen Abſchied.
Zulima hatte wenig geſchlafen, eine innere
Freude hatte ſie wach erhalten; ſie erſchien
beym Abſchiede, und bediente die Reiſenden
demüthig und emſig. Als ſie Abſchied nah¬
men brachte ſie mit vielen Thränen ihre
Laute zu Heinrich, und bat mit rührender
Stimme, ſie zu Zulimas Andenken mitzuneh¬
men. Es war meines Bruders Laute, ſagte
ſie, der ſie mir beym Abſchied ſchenkte; es iſt
das einzige Beſitzthum, was ich gerettet ha¬
be. Sie ſchien euch geſtern zu gefallen, und
ihr laßt mir ein unſchätzbares Geſchenk zu¬
rück, ſüße Hoffnung. Nehmt dieſes geringe
Zeichen meiner Dankbarkeit, und laßt es ein
Pfand eures Andenkens an die arme Zulima
ſeyn. Wir werden uns gewiß wiederſehn,
und dann bin ich vielleicht glücklicher. Hein¬
rich weinte; er weigerte ſich, dieſe ihr ſo un¬
entbehrliche Laute anzunehmen: gebt mir,
ſagte er, das goldene Band mit den unbe¬
kannten Buchſtaben aus euren Haaren, wenn
es nicht ein Andenken eurer Eltern oder Ge¬
ſchwiſter iſt, und nehmt dagegen einen
Schleyer an, den mir meine Mutter gern
abtreten wird. Sie wich endlich ſeinem Zure¬
den und gab ihm das Band, indem ſie ſag¬
te, Es iſt mein Name in den Buchſtaben
meiner Mutterſprache, den ich in beſſern Zei¬
ten ſelbſt in dieſes Band geſtickt habe. Be¬
trachtet es gern, und denkt, daß es eine lan¬
ge, kummervolle Zeit meine Haare feſtgehal¬
ten hat, und mit ſeiner Beſitzerin verbleicht
iſt. Heinrichs Mutter zog den Schleyer her¬
aus, und reichte ihr ihn hin, indem ſie ſie an
ſich zog und weinend umarmte. —
Fünf¬
Fünftes Kapitel.
Nach einigen Tagereiſen kamen ſie an ein
Dorf, am Fuße einiger ſpitzen Hügel, die
von tiefen Schluchten unterbrochen waren.
Die Gegend war übrigens fruchtbar und an¬
genehm, ohngeachtet die Rücken der Hügel
ein todtes, abſchreckendes Anſehn hatten.
Das Wirthshaus war reinlich, die Leute be¬
reitwillig, und eine Menge Menſchen, theils
Reiſende, theils bloße Trinkgäſte, ſaßen in
der Stube, und unterhielten ſich von aller¬
hand Dingen.
Unſre Reiſenden geſellten ſich zu ihnen,
und miſchten ſich in die Geſpräche. Die Auf¬
merkſamkeit der Geſellſchaft war vorzüglich
auf einen alten Mann gerichtet, der in frem¬
der Tracht an einem Tiſche ſaß, und freund¬
lich die neugierigen Fragen beantwortete, die
I
an ihn geſchahen. Er kam aus fremden Lan¬
den, hatte ſich heute früh die Gegend umher
genau betrachtet, und erzählte nun von ſei¬
nem Gewerbe und ſeinen heutigen Entdeckun¬
gen. Die Leute nannten ihn einen Schatzgrä¬
ber. Er ſprach aber ſehr beſcheiden von ſei¬
nen Kenntniſſen und ſeiner Macht, doch tru¬
gen ſeine Erzählungen das Gepräge der
Seltſamkeit und Neuheit. Er erzählte, daß
er aus Böhmen gebürtig ſey. Von Jugend
auf habe er eine heftige Neugierde gehabt zu
wiſſen, was in den Bergen verborgen ſeyn
müſſe, wo das Waſſer in den Quellen her¬
komme, und wo das Gold und Silber und
die köſtlichen Steine gefunden würden, die
den Menſchen ſo unwiderſtehlich an ſich zö¬
gen. Er habe in der nahen Kloſterkirche oft
dieſe feſten Lichter an den Bildern und Reli¬
quien betrachtet, und nur gewünſcht, daß ſie
zu ihm reden könnten, um ihm von ihrer ge¬
heimnißvollen Herkunft zu erzählen. Er habe
wohl zuweilen gehört, daß ſie aus weit ent¬
legenen Ländern kämen; doch habe er immer
gedacht, warum es nicht auch in dieſen Ge¬
genden ſolche Schätze und Kleinodien geben
könne. Die Berge ſeyen doch nicht umſonſt
ſo weit im Umfange und erhaben und ſo feſt
verwahrt; auch habe es ihm verdünkt, wie
wenn er zuweilen auf den Gebirgen glänzen¬
de und flimmernde Steine gefunden hätte.
Er ſey fleißig in den Felſenritzen und Höh¬
len umhergeklettert, und habe ſich mit unaus¬
ſprechlichem Vergnügen in dieſen uralten
Hallen und Gewölben umgeſehn. — Endlich
ſey ihm einmal ein Reiſender begegnet, der
zu ihm geſagt, er müſſe ein Bergmann wer¬
den, da könne er die Befriedigung ſeiner
Neugier finden. In Böhmen gäbe es Berg¬
werke. Er ſolle nur immer an dem Fluſſe
hinuntergehn, nach zehn bis zwölf Tagen
werde er in Eula ſeyn, und dort dürfe er
nur ſprechen, daß er gern ein Bergmann
werden wolle. Er habe ſich dies nicht zwey¬
mal ſagen laſſen, und ſich gleich den andern
Tag auf den Weg gemacht. Nach einem
beſchwerlichen Gange von mehreren Tagen,
fuhr er fort, kam ich nach Eula. Ich kann
euch nicht ſagen, wie herrlich mir zu Muthe
ward, als ich von einem Hügel die Haufen
von Steinen erblickte, die mit grünen Gebü¬
ſchen durchwachſen waren, auf denen breterne
Hütten ſtanden, und als ich aus dem Thal unten
die Rauchwolken über den Wald heraufziehn
ſah. Ein fernes Getöſe vermehrte meine Er¬
wartungen, und mit unglaublicher Neugierde
und voll ſtiller Andacht ſtand ich bald auf
einem ſolchen Haufen, den man Halde nennt,
vor den dunklen Tiefen, die im Innern der
Hütten ſteil in den Berg hineinführten. Ich
eilte nach dem Thale und begegnete bald ei¬
nigen ſchwarzgekleideten Männern mit Lam¬
pen, die ich nicht mit Unrecht für Bergleute
hielt, und mit ſchüchterner Ängſtlichkeit ihnen
mein Anliegen vortrug. Sie hörten mich
freundlich an, und ſagten mir, daß ich nur
hinunter nach den Schmelzhütten gehn und
nach dem Steiger fragen ſollte, welcher den
Anführer und Meiſter unter ihnen vorſtellt;
dieſer werde mir Beſcheid geben, ob ich ange¬
nommen werden möge. Sie meyuten, daß
ich meinen Wunſch wohl erreichen würde,
und lehrten mich den üblichen Gruß „Glück
auf“ womit ich den Steiger anreden ſollte.
Voll fröhlicher Erwartungen ſetzte ich meinen
Weg fort, und konnte nicht aufhören, den
neuen bedeutungsvollen Gruß mir beſtän¬
dig zu wiederholen. Ich fand einen al¬
ten, ehrwürdigen Mann, der mich mit vieler
Freundlichkeit empfing, und nachdem ich ihm
meine Geſchichte erzählt, und ihm meine gro¬
ße Luſt, ſeine ſeltne, geheimnißvolle Kunſt zu
erlernen, bezeugt hatte, bereitwillig vorſprach,
mir meinen Wunſch zu gewähren. Ich ſchien
ihm zu gefallen, und er behielt mich in ſei¬
nem Hauſe. Den Augenblick konnte ich
kaum erwarten, wo ich in die Grube fahren
und mich in der reitzenden Tracht ſehn wür¬
de. Noch denſelben Abend brachte er mir
ein Grubenkleid, und erklärte mir den Ge¬
brauch einiger Werkzeuge, die in einer Kam¬
mer aufbewahrt waren.
Abends kamen Bergleute zu ihm, und
ich verfehlte kein Wort von ihren Geſprä¬
chen, ſo unverſtändlich und fremd mir ſowohl
die Sprache, als der größte Theil des In¬
halts ihrer Erzählungen vorkam. Das We¬
nige jedoch, was ich zu begreifen glaubte, er¬
höhte die Lebhaftigkeit meiner Neugierde,
und beſchäftigte mich des Nachts in ſeltſa¬
men Träumen. Ich erwachte bey Zeiten und
fand mich bey meinem neuen Wirthe ein,
bey dem ſich allmählich die Bergleute verſam¬
melten, um ſeine Verordnungen zu verneh¬
men. Eine Nebenſtube war zu einer kleinen
Kapelle vorgerichtet. Ein Mönch erſchien
und las eine Meſſe, nachher ſprach er ein
feyerliches Gebet, worinn er den Himmel an¬
rief, die Bergleute in ſeine heilige Obhut zu
nehmen, ſie bey ihren gefährlichen Arbeiten
zu unterſtützen, vor Anfechtungen und Tücken
böſer Geiſter ſie zu ſchützen, und ihnen reiche
Anbrüche zu beſcheeren. Ich hatte nie mit
mehr Inbrunſt gebetet, und nie die hohe
Bedeutung der Meſſe lebhafter empfunden.
Meine künftigen Genoſſen kamen mir wie
unterirdiſche Helden vor, die tauſend Gefah¬
ren zu überwinden hätten, aber auch ein be¬
neidenswerthes Glück an ihren wunderbaren
Kenntniſſen beſäßen, und in dem ernſten, ſtil¬
len Umgange mit den uralten Felſenſöhnen
der Natur, in ihren dunkeln, wunderbaren
Kammern, zum Empfängniß himmliſcher Ga¬
ben und zur freudigen Erhebung über die
Welt und ihre Bedrängniſſe ausgerüſtet wür¬
den. Der Steiger gab mir nach geendigtem
Gottesdienſt eine Lampe und ein kleines höl¬
zernes Krucifix, und ging mit mir nach dem
Schachte, wie wir die ſchroffen Eingänge in
die unterirdiſchen Gebäude zu nennen pfle¬
gen. Er lehrte mich die Art des Hinabſtei¬
gens, machte mich mit den nothwendigen
Vorſichtigkeitsregeln, ſo wie mit den Namen
der mannichfaltigen Gegenſtände und Theile
bekannt. Er fuhr voraus, und ſchurrte auf
den runden Balken hinunter, indem er ſich
mit der einen Hand an einem Seil anhielt,
das in einem Knoten an einer Seitenſtange
fortglitſchte, und mit der andern die bren¬
nende Lampe trug; ich folgte ſeinem Beiſpiel,
und wir gelangten ſo mit ziemlicher Schnelle
bald in eine beträchtliche Tiefe. Mir war
ſeltſam feyerlich zu Muthe, und das vordern
Licht funkelte wie ein glücklicher Stern, der
mir den Weg zu den verborgenen Schatzkam¬
mern der Natur zeigte. Wir kamen unten
in einen Irrgarten von Gängen, und mein
freundlicher Meiſter ward nicht müde meine
neugierigen Fragen zu beantworten, und
mich über ſeine Kunſt zu unterrichten. Das
Rauſchen des Waſſers, die Entfernung von
der bewohnten Oberfläche, die Dunkelheit
und Verſchlungenheit der Gänge, und das
entfernte Geräuſch der arbeitenden Bergleute
ergötzte mich ungemein, und ich fühlte nun
mit Freuden mich im vollen Beſitz deſſen,
was von jeher mein ſehnlichſter Wunſch ge¬
weſen war. Es läßt ſich auch dieſe volle Be¬
friedigung eines angebornen Wunſches, dieſe
wunderſame Freude an Dingen, die ein nähe¬
res Verhältniß zu unſerm geheimen Daſeyn
haben mögen, zu Beſchäftigungen, für die
man von der Wiege an beſtimmt und ausge¬
rüſtet iſt, nicht erklären und beſchreiben.
Vielleicht daß ſie jedem Andern gemein, un¬
bedeutend und abſchreckend vorgekommen
wären; aber mir ſchienen ſie ſo unentbehrlich
zu ſeyn, wie die Luft der Bruſt und die
Speiſe dem Magen. Mein alter Meiſter
freute ſich über meine innige Luſt, und ver¬
hieß mir, daß ich bey dieſem Fleiße und die¬
ſer Aufmerkſamkeit es weit bringen, und ein
tüchtiger Bergmann werden würde. Mit
welcher Andacht ſah ich zum erſtenmal in
meinem Leben am ſechzehnten März, vor
nunmehr fünf und vierzig Jahren, den König
der Metalle in zarten Blättchen zwiſchen den
Spalten des Geſteins. Es kam mir vor, als
ſey er hier wie in feſten Gefängniſſen einge¬
ſperrt und glänze freundlich dem Bergmann
entgegen, der mit ſoviel Gefahren und Müh¬
ſeligkeiten ſich den Weg zu ihm durch die
ſtarken Mauern gebrochen, um ihn an das
Licht des Tages zu fördern, damit er an kö¬
niglichen Kronen und Gefäßen und an heili¬
gen Reliquien zu Ehren gelangen, und in
geachteten und wohlverwahrten Münzen, mit
Bildniſſen geziert, die Welt beherrſchen und
leiten möge. Von der Zeit an blieb ich in
Eula, und ſtieg allmählich bis zum Häuer,
welches der eigentliche Bergmann iſt, der die
Arbeiten auf dem Geſtein betreibt, nachdem
ich anfänglich bey der Ausförderung der los¬
gehauenen Stufen in Körben angeſtellt ge¬
weſen war.
Der alte Bergmann ruhte ein wenig von
ſeiner Erzählung aus, und trank, indem ihm
ſeine aufmerkſamen Zuhörer ein fröliches
Glückauf zubrachten. Heinrichen erfreuten
die Reden des alten Mannes ungemein, und
er war ſehr geneigt noch mehr von ihm zu
hören.
Die Zuhörer unterhielten ſich von den
Gefahren und Seltſamkeiten des Bergbaus,
und erzählten wunderbare Sagen, über die
der Alte oft lächelte. und freundlich ihre ſon¬
derbaren Vorſtellungen zu berichtigen bemüht
war.
Nach einer Weile ſagte Heinrich: Ihr
mögt ſeitdem viel ſeltſame Dinge geſehn und
erfahren haben; hoffentlich hat euch nie eure
gewählte Lebensart gereut? Wärt ihr nicht
ſo gefällig und erzähltet uns, wie es euch
ſeit dem ergangen, und auf welcher Reiſe ihr
jetzt begriffen ſeyd? Es ſcheint, als hättet
ihr euch weiter in der Welt umgeſehn, und
gewiß darf ich vermuthen, daß ihr jetzt mehr,
als einen gemeinen Bergmann vorſtellt. Es
iſt mir ſelber lieb, ſagte der Alte, mich der
verfloſſenen Zeiten zu erinnern, in denen ich
Anläße finde, mich der göttlichen Barmher¬
zigkeit und Güte zu erfreun. Das Geſchick
hat mich durch ein frohes und heitres Leben
geführt, und es iſt kein Tag vorübergegan¬
gen, an welchem ich mich nicht mit dankba¬
rem Herzen zur Ruhe gelegt hätte. Ich bin
immer glücklich in meinen Verrichtungen ge¬
weſen, und unſer aller Vater im Himmel
hat mich vor dem Böſen behütet, und in
Ehren grau werden laſſen. Nächſt ihm habe
ich alles meinem alten Meiſter zu verdanken,
der nun lange zu ſeinen Vätern verſammelt
iſt, und an den ich nie ohne Thränen den¬
ken kann. Er war ein Mann aus der alten
Zeit nach dem Herzen Gottes. Mit tiefen
Einſichten war er begabt, und doch kindlich
und demüthig in ſeinem Thun. Durch ihn
iſt das Bergwerk in großen Flor gekommen,
und hat dem Herzoge von Böhmen zu unge¬
heuren Schätzen verholfen. Die ganze Ge¬
gend iſt dadurch bevölkert und wohlhabend,
und ein blühendes Land geworden. Alle
Bergleute verehrten ihren Vater in ihm, und
ſo lange Eula ſteht, wird auch ſein Name
mit Rührung und Dankbarkeit genannt wer¬
den. Er war ſeiner Geburt nach ein Lauſit¬
zer und hieß Werner. Seine einzige Tochter
war noch ein Kind, wie ich zu ihm ins
Haus kam. Meine Ämſigkeit, meine Treue,
und meine leidenſchaftliche Anhänglichkeit
an ihn, gewannen mir ſeine Liebe mit jedem
Tage mehr. Er gab mir ſeinen Namen
und machte mich zu ſeinem Sohne. Das
kleine Mädchen ward nach gerade ein wack¬
res, muntres Geſchöpf, deren Geſicht ſo
freundlich glatt und weiß war, wie ihr Ge¬
müth. Der Alte ſagte mir oft, wenn er ſah,
daß ſie mir zugethan war, daß ich gern mit
ihr ſchäkerte, und kein Auge von den ihrigen
verwandte, die ſo blau und offen, wie der
Himmel waren, und wie die Kryſtalle glänz¬
ten: wenn ich ein rechtlicher Bergmann wer
den würde, wolle er ſie mir nicht verſagen;
und er hielt Wort. — Den Tag, wie ich
Häuer wurde, legte er ſeine Hände auf uns
und ſegnete uns als Braut und Bräutigam
ein, und wenig Wochen darauf führte ich ſie
als meine Frau auf meine Kammer. Denſel¬
ben Tag hieb ich in der Frühſchicht noch als
Lehrhäuer, eben wie die Sonne oben aufging,
eine reiche Ader an. Der Herzog ſchickte mir
eine goldene Kette mit ſeinem Bildniß auf
einer großen Münze, und verſprach mir den
Dienſt meines Schwiegervaters. Wie glück¬
lich war ich, als ich ſie am Hochzeittage mei¬
ner Braut um den Hals hängen konnte, und
Aller Augen auf ſie gerichtet waren. Unſer
alte Vater erlebte noch einige muntre Enkel,
und die Anbrüche ſeines Herbſtes waren rei¬
cher, als er gedacht hatte. Er konnte mit
Freudigkeit ſeine Schicht beſchließen, und aus
der dunkeln Grube dieſer Welt fahren, um
in Frieden auszuruhen, und den großen Lohn¬
tag zu erwarten.
Herr, ſagte der Alte, indem er ſich zu
Heinrichen wandte, und einige Thränen aus
den Augen trocknete, der Bergbau muß von
Gott geſegnet werden! denn es giebt keine
Kunſt, die ihre Theilhaber glücklicher und ed¬
ler machte, die mehr den Glauben an eine
himmliſche Weisheit und Fügung erweckte,
und die Unſchuld und Kindlichkeit des Her¬
zens reiner erhielte, als der Bergbau. Arm
wird der Bergmann geboren, und arm gehet
er wieder dahin. Er begnügt ſich zu wiſſen,
wo die metalliſchen Mächte gefunden wer¬
den, und ſie zu Tage zu fördern; aber ihr
blendender Glanz vermag nichts über ſein
lautres Herz. Unentzündet von gefährlichem
Wahnſinn, freut er ſich mehr über ihre wun¬
derlichen Bildungen, und die Seltſamkeiten
ihrer Herkunft und ihrer Wohnungen, als
über
über ihren alles verheißenden Beſitz. Sie
haben für ihn keinen Reiz mehr, wenn ſie
Waaren geworden ſind, und er ſucht ſie lie¬
ber unter tauſend Gefahren und Mühſelig¬
keiten in den Veſten der Erde, als daß er
ihrem Rufe in die Welt folgen, und auf der
Oberfläche des Bodens durch täuſchende, hin¬
terliſtige Künſte nach ihnen trachten ſollte.
Jene Mühſeeligkeiten erhalten ſein Herz
friſch und ſeinen Sinn wacker; er genießt ſei¬
nen kärglichen Lohn mit inniglichem Danke,
und ſteigt jeden Tag mit verjüngter Lebens¬
freude aus den dunkeln Grüften ſeines Be¬
rufs. Nur Er kennt die Reize des Lichts
und der Ruhe, die Wohlthätigkeit der freyen
Luft und Ausſicht um ſich her; nur ihm
ſchmeckt Trank und Speiſe recht erquicklich
und andächtig, wie der Leib des Herrn; und
mit welchem liebevollen und empfänglichen
Gemüth tritt er nicht unter ſeines Gleichen,
K
oder herzt ſeine Frau und Kinder, und er¬
götzt ſich dankbar an der ſchönen Gabe des
traulichen Geſprächs!
Sein einſames Geſchäft ſondert ihn vom
Tage und dem Umgange mit Menſchen einen
großen Theil ſeines Lebens ab. Er gewöhnt
ſich nicht zu einer ſtumpfen Gleichgültigkeit
gegen dieſe überirdiſchen tiefſinnigen Dinge
und behält die kindliche Stimmung, in der
ihm alles mit ſeinem eigenthümlichſten Geiſte
und in ſeiner urſprünglichen bunten Wunder¬
barkeit erſcheint. Die Natur will nicht der
ausſchließliche Beſitz eines Einzigen ſeyn. Als
Eigenthum verwandelt ſie ſich in ein böſes
Gift, was die Ruhe verſcheucht, und die ver¬
derbliche Luſt, alles in dieſen Kreis des Be¬
ſitzers zu ziehn, mit einem Gefolge von un¬
endlichen Sorgen und wilden Leidenſchaften
herbeylockt. So untergräbt ſie heimlich
den Grund des Eigenthümers, und begräbt
ihn bald in den einbrechenden Abgrund, um
aus Hand in Hand zu gehen, und ſo ihre
Neigung, Allen anzugehören, allmählich zu
befriedigen.
Wie ruhig arbeitet dagegen der arme ge¬
nügſame Bergmann in ſeinen tiefen Einöden,
entfernt von dem unruhigen Tumult des Ta¬
ges, und einzig von Wißbegier und Liebe zur
Eintracht beſeelt. Er gedenkt in ſeiner Ein¬
ſamkeit mit inniger Herzlichkeit ſeiner Genoſ¬
ſen und ſeiner Familie, und fühlt immer er¬
neuert die gegenſeitige Unentbehrlichkeit und
Blutsverwandtſchaft der Menſchen. Sein
Beruf lehrt ihn unermüdliche Geduld, und
läßt nicht zu, daß ſich ſeine Aufmerkſamkeit
in unnütze Gedanken zerſtreue. Er hat mit
einer wunderlichen harten und unbiegſamen
Macht zu thun, die nur durch hartnäckigen
Fleiß und beſtändige Wachſamkeit zu über¬
winden iſt. Aber welches köſtliche Gewächs
blüht ihm auch in dieſen ſchauerlichen Tiefen,
das wahrhafte Vertrauen zu ſeinem himmli¬
ſchen Vater, deſſen Hand und Vorſorge ihm
alle Tage in unverkennbaren Zeichen ſichtbar
wird. Wie unzähliche mal habe ich nicht
vor Ort geſeſſen, und bey dem Schein meiner
Lampe das ſchlichte Krucifix mit der innigſten
Andacht betrachtet! da habe ich erſt den hei¬
ligen Sinn dieſes räthſelhaften Bildniſſes
recht gefaßt, und den edelſten Gang meines
Herzens erſchürft, der mir eine ewige Aus¬
beute gewährt hat.
Der Alte fuhr nach einer Weile fort und
ſagte: Wahrhaftig, das muß ein göttlicher
Mann geweſen ſeyn, der den Menſchen zuerſt
die edle Kunſt des Bergbaus gelehrt, und in
dem Schooße der Felſen dieſes ernſte Sinn¬
bild des menſchlichen Lebens verborgen hat.
Hier iſt der Gang mächtig und gebräch, aber
arm, dort drückt ihn der Felſen in eine arm¬
ſelige, unbedeutende Kluft zuſammen, und
gerade hier brechen die edelſten Geſchicke ein.
Andre Gänge verunedlen ihn, bis ſich ein
verwandter Gang freundlich mit ihm ſchaart,
und ſeinen Werth unendlich erhöht. Oft zer¬
ſchlägt er ſich vor dem Bergmann in tauſend
Trümmern: aber der Geduldige läßt ſich
nicht ſchrecken, er verfolgt ruhig ſeinen Weg,
und ſieht ſeinen Eifer belohnt, indem er ihn
bald wieder in neuer Mächtigkeit und Höf¬
lichkeit ausrichtet. Oft lockt ihn ein betrüg¬
liches Trum aus der wahren Richtung; aber
bald erkennt er den falſchen Weg, und
bricht mit Gewalt querfeldein, bis er den
wahren erzführenden Gang wiedergefunden
hat. Wie bekannt wird hier nicht der Berg¬
mann mit allen Launen des Zufalls, wie
ſicher aber auch, daß Eifer und Beſtändig¬
keit die einzigen untrüglichen Mittel ſind, ſie
zu bemeiſtern, und die von ihnen hartnäckig
vertheidigten Schätze zu heben.
Es fehlt euch gewiß nicht, ſagte Hein¬
rich, an ermunternden Liedern. Ich ſollte
meinen, daß Euch euer Beruf unwillkührlich
zu Geſängen begeiſtern und die Muſik eine
willkommne Begleiterin der Bergleute ſeyn
müßte.
Da habt ihr wahr geſprochen, erwiederte
der Alte; Geſang und Zitherſpiel gehört zum
Leben des Bergmanns, und kein Stand kann
mit mehr Vergnügen die Reize derſelben ge¬
nießen, als der unſrige. Muſik und Tanz
ſind eigentliche Freuden des Bergmanns; ſie
ſind wie ein fröliches Gebet, und die Erinne¬
rungen und Hofnungen deſſelben helfen die
mühſame Arbeit erleichtern und die lange
Einſamkeit verkürzen.
Wenn es euch gefällt, ſo will ich euch
gleich einen Geſang zum Beſten geben, der
fleißig in meiner Jugend geſungen wurde.
Der iſt der Herr der Erde,
Wer ihre Tiefen mißt,
Und jeglicher Beſchwerde
In ihrem Schooß vergißt.
Wer ihrer Felſenglieder
Geheimen Bau verſteht,
Und unverdroſſen nieder
Zu ihrer Werkſtatt geht.
Er iſt mit ihr verbündet,
Und inniglich vertraut,
Und wird von ihr entzündet,
Als wär' ſie ſeine Braut.
Er ſieht ihr alle Tage
Mit neuer Liebe zu
Und ſcheut nicht Fleiß und Plage,
Sie läßt ihm keine Ruh.
Die mächtigen Geſchichten
Der längſt verfloßnen Zeit,
Iſt ſie ihm zu berichten
Mit Freundlichkeit bereit.
Der Vorwelt heilge Lüfte
Umwehn ſein Angeſicht,
Und in die Nacht der Klüfte
Strahlt ihm ein ewges Licht.
Er trift auf allen Wegen
Ein wohlbekanntes Land,
Und gern kommt ſie entgegen
Den Werken ſeiner Hand.
Ihm folgen die Gewäſſer
Hülfreich den Berg hinauf;
Und alle Felſenſchlöſſer,
Thun ihre Schätz' ihm auf.
Er führt des Goldes Ströme
In ſeines Königs Haus,
Und ſchmückt die Diademe
Mit edlen Steinen aus.
Zwar reicht er treu dem König
Den glückbegabten Arm,
Doch frägt er nach ihm wenig
Und bleibt mit Freuden arm.
Sie mögen ſich erwürgen
Am Fuß um Gut und Geld;
Er bleibt auf den Gebirgen
Der frohe Herr der Welt.
Heinrichen gefiel das Lied ungemein, und er
bat den Alten, ihm noch eins mitzutheilen.
Der Alte war auch gleich bereit und ſagte:
Ich weiß gleich noch ein wunderliches Lied,
was wir ſelbſt nicht wiſſen, wo es her iſt.
Es brachte es ein reiſender Bergmann
mit, der weit herkam, und ein ſonderlicher
Ruthengänger war. Das Lied fand großen
Beyfall, weil es ſo ſeltſamlich klang, beynah
ſo dunkel und unverſtändlich, wie die Muſik
ſelbſt, aber eben darum auch ſo unbegreiflich
anzog, und im wachenden Zuſtande wie ein
Traum unterhielt.
Ich kenne wo ein feſtes Schloß
Ein ſtiller König wohnt darinnen,
Mit einem wunderlichen Troß;
Doch ſteigt er nie auf ſeine Zinnen.
Verborgen iſt ſein Luſtgemach
Und unſichtbare Wächter lauſchen;
Nur wohlbekannte Quellen rauſchen
Zu ihm herab vom bunten Dach.
Was ihre hellen Augen ſahn
In der Geſtirne weiten Sälen,
Das ſagen ſie ihm treulich an
Und können ſich nicht ſatt erzählen.
Er badet ſich in ihrer Flut,
Wäſcht ſauber ſeine zarten Glieder
Und ſeine Stralen blinken wieder
Aus ſeiner Mutter weißem Blut.
Sein Schloß iſt alt und wunderbar,
Es ſank herab aus tiefen Meeren
Stand feſt, und ſteht noch immerdar,
Die Flucht zum Himmel zu verwehren.
Von innen ſchlingt ein heimlich Band
Sich um des Reiches Unterthanen,
Und Wolken wehn wie Siegesfahnen
Herunter von der Felſenwand.
Ein unermeßliches Geſchlecht
Umgiebt die feſtverſchloſſenen Pforten,
Ein jeder ſpielt den treuen Knecht
Und ruft den Herrn mit ſüßen Worten.
Sie fühlen ſich durch ihn beglückt,
Und ahnden nicht, daß ſie gefangen;
Berauſcht von trüglichem Verlangen
Weiß keiner, wo der Schuh ihn drückt.
Nur Wenige ſind ſchlau und wach,
Und dürſten nicht nach ſeinen Gaben;
Sie trachten unabläſſig nach,
Das alte Schloß zu untergraben.
Der Heimlichkeit urmächtgen Bann,
Kann nur die Hand der Einſicht löſen;
Gelingt's das Innere zu entblößen
So bricht der Tag der Freyheit an.
Dem Fleiß iſt keine Wand zu feſt,
Dem Muth kein Abgrund unzugänglich;
Wer ſich auf Herz und Hand verläßt
Spürt nach dem König unbedenklich.
Aus ſeinen Kammern holt er ihn,
Vertreibt die Geiſter durch die Geiſter,
Macht ſich der wilden Fluten Meiſter,
Und heißt ſie ſelbſt heraus ſich ziehn.
Je mehr er nun zum Vorſchein kömmt
Und wild umher ſich treibt auf Erden:
Je mehr wird ſeine Macht gedämmt,
Je mehr die Zahl der Freyen werden.
Am Ende wird von Banden los
Das Meer die leere Burg durchdringen
Und trägt auf weichen grünen Schwingen
Zurück uns in der Heymath Schooß.
Es dünkte Heinrichen, wie der Alte geendigt
hatte, als habe er das Lied ſchon irgend wo
gehört. Er ließ es ſich wiederholen und ſchrieb
es ſich auf. Der Alte ging nachher hinaus
und die Kaufleute ſprachen unterdeſſen mit
den andern Gäſten über die Vortheile des
Bergbaues und ſeine Mühſeligkeiten. Einer
ſagte: der Alte iſt gewiß nicht umſonſt
hier. Er iſt heute zwiſchen den Hügeln um¬
hergeklettert und hat gewiß gute Anzeichen
gefunden. Wir wollen ihn doch fragen,
wenn er wieder herein kömmt. Wißt ihr
wohl, ſagte ein Andrer, daß wir ihn bitten
könnten, eine Quelle für unſer Dorf zu ſu¬
chen? Das Waſſer iſt weit, und ein guter
Brunnen wäre uns ſehr willkommen. Mir
fällt ein, ſagte ein dritter, daß ich ihn fra¬
gen möchte, ob er einen von meinen Söhnen
mit ſich nehmen will, der mir ſchon das gan¬
ze Haus voll Steine getragen hat. Der
Junge wird gewiß ein tüchtiger Bergmann,
und der Alte ſcheint ein guter Mann zu
ſeyn, der wird ſchon was Rechtes aus ihm
ziehn. Die Kaufleute redeten, ob ſie viel¬
leicht durch den Bergmann ein vortheilhaftes
Verkehr mit Böhmen anſpinnen und Metal¬
le daher zu guten Preiſen erhalten möchten.
Der Alte trat wieder in die Stube, und alle
wünſchten ſeine Bekanntſchaft zu benutzen.
Er fing an und ſagte: Wie dumpf und
ängſtlich iſt es doch hier in der engen Stube.
Der Mond ſteht draußen in voller Herrlich¬
keit, und ich hätte große Luſt noch einen
Spaziergang zu machen. Ich habe heute
bey Tage einige merkwürdige Höhlen hier
in der Nähe geſehn. Vielleicht entſchließen
ſich Einige mitzugehn; und wenn wir nur
Licht mitnehmen, ſo werden wir ohne
Schwierigkeiten uns darinn umſehn können.
Den Leuten aus dem Dorfe waren dieſe
Höhlen ſchon bekannt: aber bis jetzt hatte
keiner gewagt hineinzuſteigen; vielmehr tru¬
gen ſie ſich mit fürchterlichen Sagen von
Drachen und andern Unthieren, die darinn
hauſen ſollten. Einige wollten ſie ſelbſt ge¬
ſehn haben, und behaupteten, daß man Kno¬
chen an ihrem Eingange von geraubten und
verzehrten Menſchen und Thieren fände. Ei¬
nige andre vermeinten, daß ein Geiſt dieſel¬
ben bewohne, wie ſie denn einigemal aus der
Ferne eine ſeltſame menſchliche Geſtalt ge¬
ſehn, auch zur Nachtzeit Geſänge da herüber
gehört haben wollten.
Der Alte ſchien ihnen keinen großen
Glauben beyzumeſſen, und verſicherte lachend,
daß ſie unter dem Schutze eines Bergmanns
getroſt mitgehn könnten, indem die Unge¬
heuer ſich vor ihm ſcheuen müßten, ein
ſingender Geiſt aber gewiß ein wohlthätiges
Weſen ſey. Die Neugier machte viele be¬
herzt genug, ſeinen Vorſchlag einzugehn;
auch Heinrich wünſchte ihn zu begleiten, und
ſeine Mutter gab endlich auf das Zureden
und Verſprechen des Alten, genaue Acht auf
Heinrichs Sicherheit zu haben, ſeinen Bitten
nach. Die Kaufleute waren eben ſo entſchloſ¬
ſen.
ſen. Es wurden lange Kienſpäne zu Fackeln
zuſammengeholt; ein Theil der Geſellſchaft
verſah ſich noch zum Überfluß mit Leitern,
Stangen, Stricken und allerhand Vertheidi¬
gungswerkzeugen, und ſo begann endlich die
Wallfahrt nach den nahen Hügeln. Der Al¬
te ging mit Heinrich und den Kaufleuten vor¬
an. Jener Bauer hatte ſeinen wißbegierigen
Sohn herbeygeholt, der voller Freude ſich ei¬
ner Fackel bemächtigte, und den Weg zu den
Höhlen zeigte. Der Abend war heiter und
warm. Der Mond ſtand in mildem Glanze
über den Hügeln, und ließ wunderliche Träu¬
me in allen Kreaturen aufſteigen. Selbſt
wie ein Traum der Sonne, lag er über der
in ſich gekehrten Traumwelt, und führte die
in unzählige Grenzen getheilte Natur in jene
fabelhafte Urzeit zurück, wo jeder Keim noch
für ſich ſchlummerte, und einſam und unbe¬
rührt ſich vergeblich ſehnte, die dunkle Fülle
L
ſeines unermeßlichen Daſeyns zu entfalten. In
Heinrichs Gemüth ſpiegelte ſich das Mähr¬
chen des Abends. Es war ihm, als ruhte die
Welt aufgeſchloſſen in ihm, und zeigte ihm,
wie einem Gaſtfreunde, alle ihre Schätze und
verborgenen Lieblichkeiten. Ihm dünkte die
große einfache Erſcheinung um ihn ſo ver¬
ſtändlich. Die Natur ſchien ihm nur deswe¬
gen ſo unbegreiflich, weil ſie das Nächſte
und Traulichſte mit einer ſolchen Verſchwen¬
dung von mannichfachen Ausdrücken um den
Menſchen her thürmte. Die Worte des Al¬
ten hatten eine verſteckte Tapetenthür in ihm
geöffnet. Er ſah ſein kleines Wohnzimmer
dicht an einen erhabenen Münſter gebaut,
aus deſſen ſteinernem Boden die ernſte Vor¬
welt emporſtieg, während von der Kuppel
die klare fröliche Zukunft in goldnen En¬
gelskindern ihr ſingend entgegenſchwebte.
Gewaltige Klänge bebten in den ſilber¬
nem Geſang, und zu den weiten Thoren tra¬
ten alle Creaturen herein, von denen jede ih¬
re innere Natur in einer einfachen Bitte und
in einer eigenthümlichen Mundart vernehm¬
lich ausſprach. Wie wunderte er ſich, daß
ihm dieſe klare, ſeinem Daſeyn ſchon unent¬
behrliche Anſicht ſo lange fremd geblieben
war. Nun überſah er auf einmal alle
ſeine Verhältniſſe mit der weiten Welt um
ihn her; fühlte was er durch ſie geworden
und was ſie ihm werden würde, und begrif
alle die ſeltſamen Vorſtellungen und Anre¬
gungen, die er ſchon oft in ihrem Anſchauen
geſpürt hatte. Die Erzählung der Kaufleu¬
te von dem Jünglinge, der die Natur ſo em¬
ſig betrachtete, und der Eydam des Königs
wurde, kam ihm wieder zu Gedanken, und
tauſend andere Erinnerungen ſeines Lebens
knüpften ſich von ſelbſt an einen zauberiſchen
Faden. Während der Zeit, daß Heinrich ſei¬
nen Betrachtungen nachhing, hatte ſich die
Geſellſchaft der Höhle genähert. Der Ein¬
gang war niedrig, und der Alte nahm eine
Fackel und klettere über einige Steine zuerſt
hinein. Ein ziemlich fühlbarer Luftſtrom
kam ihm entgegen, und der Alte verſicherte,
daß ſie getroſt folgen könnten. Die Furcht¬
ſamſten gingen zuletzt, und hielten ihre Waf¬
fen in Bereitſchaft. Heinrich und die Kauf¬
leute waren hinter dem Alten und der Knabe
wanderte munter an ſeiner Seite. Der Weg
lief anfänglich in einem ziemlich ſchmalen
Gange, welcher ſich aber bald in eine ſehr
weite und hohe Höhle endigte, die der Fak¬
kelglanz nicht völlig zu erleuchten vermochte;
doch ſah man im Hintergrunde einige Öff¬
nungen ſich in die Felſenwand verlieren.
Der Boden war weich und ziemlich eben; die
Wände ſo wie die Decke waren ebenfalls
nicht rauh und unregelmäßig; aber was die
Aufmerkſamkeit Aller vorzüglich beſchäftigte,
war die unzähliche Menge von Knochen und
Zähnen, die den Boden bedeckten. Viele
waren völlig erhalten, an andern ſah man
Spuren der Verweſung, und die, welche aus
den Wänden hin und wieder hervorragten,
ſchienen ſteinartig geworden zu ſeyn. Die
Meiſten waren von ungewöhnlicher Größe
und Stärke. Der Alte freute ſich über dieſe
Überbleibſel einer uralten Zeit; nur den
Bauern war nicht wohl dabey zu Muthe,
denn ſie hielten ſie für deutliche Spuren na¬
her Raubthiere, ſo überzeugend ihnen auch
der Alte die Zeichen eines undenklichen Alter¬
thums daran aufwies, und ſie fragte, ob ſie
je etwas von Verwüſtungen unter ihren
Heerden und vom Raube benachbarter Men¬
ſchen geſpürt hätten, und ob ſie jene Knochen
für Knochen bekannter Thiere oder Menſchen
halten könnten? Der Alte wollte nun weiter
in den Berg, aber die Bauern fanden für
rathſam ſich vor die Höhle zurückzuziehn,
und dort ſeine Rückkunft abzuwarten. Hein¬
rich, die Kaufleute und der Knabe blieben
bey dem Alten, und verſahen ſich mit Strik¬
ken und Fackeln. Sie gelangten bald in ei¬
ne zweyte Höhle, wobey der Alte nicht ver¬
gaß, den Gang aus dem ſie hereingekommen
waren, durch eine Figur von Knochen, die er
davor hinlegte, zu bezeichnen. Die Höhle
glich der vorigen und war eben ſo reich an
thieriſchen Reſten. Heinrichen war ſchauerlich
und wunderbar zu Muthe; es gemahnte
ihn, als wandle er durch die Vorhöfe des in¬
nern Erdenpalaſtes. Himmel und Leben
lag ihm auf einmal weit entfernt, und dieſe
dunkeln weiten Hallen ſchienen zu einem un¬
terirdiſchen ſeltſamen Reiche zu gehören.
Wie, dachte er bey ſich ſelbſt, wäre es mög¬
lich, daß unter unſern Füßen eine eigene
Welt in einem ungeheuern Leben ſich beweg¬
te? daß unerhörte Geburten in den Veſten
der Erde ihr Weſen trieben, die das innere
Feuer des dunkeln Schooßes zu rieſenmäßi¬
gen und geiſtesgewaltigen Geſtalten auftrie¬
be? Könnten dereinſt dieſe ſchauerlichen Frem¬
den, von der eindringenden Kälte hervorge¬
trieben, unter uns erſcheinen, während viel¬
leicht zu gleicher Zeit himmliſche Gäſte, le¬
bendige, redende Kräfte der Geſtirne über un¬
ſern Häuptern ſichtbar würden? Sind dieſe
Knochen Überreſte ihrer Wanderungen nach
der Oberfläche, oder Zeichen einer Flucht in
die Tiefe?
Auf einmal rief der Alte die Andern her¬
bey, und zeigte ihnen eine ziemlich friſche
Menſchenſpur auf dem Boden. Mehrere
konnten ſie nicht finden, und ſo glaubte der
Alte, ohne fürchten zu müſſen, auf Räuber
zu ſtoßen, der Spur nachgehen zu können.
Sie waren eben im Begriff dies auszufüh¬
ren, als auf einmal, wie unter ihren Füßen,
aus einer fernen Tiefe ein ziemlich vernehm¬
licher Geſang anfing. Sie erſtaunten nicht
wenig, doch horchten ſie genau auf:
Gern verweil' ich noch im Thale
Lächelnd in der tiefen Nacht,
Denn der Liebe volle Schaale
Wird mir täglich dargebracht.
Ihre heilgen Tropfen heben
Meine Seele hoch empor,
Und ich ſteh in dieſem Leben
Trunken an des Himmels Thor.
Eingewiegt in ſeelges Schauen
Ängſtigt mein Gemüth kein Schmerz.
O! die Königinn der Frauen
Giebt mir ihr getreues Herz.
Bangverweinte Jahre haben
Dieſen ſchlechten Thon verklärt,
Und ein Bild ihm eingegraben,
Das ihm Ewigkeit gewährt.
Jene lange Zahl von Tagen
Dünkt mir nur ein Augenblick;
Werd ich einſt von hier getragen
Schau ich dankbar noch zurück.
Alle waren auf das angenehmſte überraſcht,
und wünſchten ſehnlichſt den Sänger zu ent¬
decken.
Nach einigem Suchen trafen ſie in ei¬
nem Winkel der rechten Seitenwand, einen
abwärts geſenkten Gang, in welchen die
Fußtapfen zu führen ſchienen. Bald dünkte
es ihnen, eine Hellung zu bemerken, die ſtär¬
ker wurde, je näher ſie kamen. Es that ſich
ein neues Gewölbe von noch größerm Um¬
fange, als die vorherigen, auf, in deſſen
Hintergründe ſie bey einer Lampe eine
menſchliche Geſtalt ſitzen ſahen, die vor ſich
auf einer ſteinernen Platte ein großes Buch
liegen hatte, in welchem ſie zu leſen ſchien.
Sie drehte ſich nach ihnen zu, ſtand auf
und ging ihnen entgegen. Es war ein
Mann, deſſen Alter man nicht errathen konn¬
te. Er ſah weder alt noch jung aus, kei¬
ne Spuren der Zeit bemerkte man an ihm,
als ſchlichte ſilberne Hare, die auf der Stirn
geſcheitelt waren. In ſeinen Augen lag ei¬
ne unausſprechliche Heiterkeit, als ſähe er
von einem hellen Berge in einen unendlichen
Frühling hinein. Er hatte Sohlen an die
Füße gebunden, und ſchien keine andere Klei¬
dung zu haben, als einen weiten Mantel,
der um ihn hergeſchlungen war, und ſeine ed¬
le große Geſtalt noch mehr heraus hob.
Über ihre unvermuthete Ankunft ſchien er
nicht im mindeſten verwundert; wie ein Be¬
kannter begrüßte er ſie. Es war, als emp¬
fing er erwartete Gäſte in ſeinem Wohnhau¬
ſe. Es iſt doch ſchön, daß ihr mich beſucht,
ſagte er; Ihr ſeyd die erſten Freunde, die
ich hier ſehe, ſo lange ich auch ſchon hier
wohne. Scheint es doch, als finge man an,
unſer großes wunderbares Haus genauer zu
betrachten. Der Alte erwiederte: Wir haben
nicht vermuthet, einen ſo freundlichen Wirth
hier zu finden. Von wilden Thieren und
Geiſtern war uns erzählt, und nun ſehen wir
uns auf das anmuthigſte getäuſcht. Wenn
wir euch in eurer Andacht und in euren tief¬
ſinnigen Betrachtungen geſtört haben: ſo ver¬
zeiht es unſerer Neugierde. — Könnte eine
Betrachtung erfreulicher ſeyn, ſagte der Unbe¬
kannte, als die froher uns zuſagender Men¬
ſchengeſichter? Haltet mich nicht für einen
Menſchenfeind, weil ihr mich in dieſer Einöde
trefft. Ich habe die Welt nicht geflohen, ſon¬
dern ich habe nur eine Ruheſtätte geſucht, wo
ich ungeſtört meinen Betrachtungen nachhängen
könnte. — Hat euch euer Entſchluß nie gereut,
und kommen nicht zuweilen Stunden, wo euch
bange wird und euer Herz nach einer Men¬
ſchenſtimme verlangt? — Jetzt nicht mehr.
Es war eine Zeit in meiner Jugend, wo eine
heiße Schwärmerey mich veranlaßte, Einſied¬
ler zu werden. Dunkle Ahndungen beſchäf¬
tigten meine jugendliche Fantaſie. Ich hoffte
volle Nahrung meines Herzens in der Ein¬
ſamkeit zu finden. Unerſchöpflich dünkte mir
die Quelle meines innern Lebens. Aber ich
merkte bald, daß man eine Fülle von Erfah¬
rungen dahin mitbringen muß, daß ein jun¬
ges Herz nicht allein ſeyn kann, ja daß der
Menſch erſt durch vielfachen Umgang mit
ſeinem Geſchlecht eine gewiſſe Selbſtſtändig¬
keit erlangt.
Ich glaube ſelbſt, erwiederte der Alte,
daß es einen gewiſſen natürlichen Beruf zu
jeder Lebensart giebt, und vielleicht, daß die
Erfahrungen eines zunehmenden Alters von
ſelbſt auf eine Zurückziehung aus der menſch¬
lichen Geſellſchaft führen. Scheint es doch,
als ſey dieſelbe der Thätigkeit, ſowohl zum
Gewinnſt als zur Erhaltung gewidmet. Eine
große Hoffnung, ein gemeinſchaftlicher Zweck
treibt ſie mit Macht; und Kinder und Alte
ſcheinen nicht dazu zu gehören. Unbehülflich¬
keit und Unwiſſenheit ſchließen die Erſten da¬
von aus, während die letztern jene Hoffnung
erfüllt, jenen Zweck erreicht ſehen, und nun
nicht mehr von ihnen in den Kreis jener Ge¬
ſellſchaft verflochten, in ſich ſelbſt zurückkeh¬
ren, und genug zu thun finden, ſich auf eine
höhere Gemeinſchaft würdig vorzubereiten.
Indeß ſcheinen bey euch noch beſondere Urſa¬
chen ſtatt gefunden zu haben, euch ſo gänz¬
lich von den Menſchen abzuſondern und Ver¬
zicht auf alle Bequemlichkeiten der Geſell¬
ſchaft zu leiſten. Mich dünkt, daß die
Spannung eures Gemüths doch oft nachlaſſen
und euch dann unbehaglich zu Muthe wer¬
den müßte.
Ich fühlte das wohl, indeß habe ich es
glücklich durch eine ſtrenge Regelmäßigkeit
meines Lebens zu vermeiden gewußt. Dabey
ſuche ich mich durch Bewegung geſund zu er¬
halten, und dann hat es keine Noth. Jeden
Tag gehe ich mehrere Stunden herum, und
genieße den Tag und die Luft ſoviel ich
kann. Sonſt halte ich mich in dieſen Hallen
auf, und beſchäftige mich zu gewiſſen Stun¬
den mit Korbflechten und Schnitzen. Für
meine Waaren tauſche ich mir in entlegenen
Ortſchaften Lebensmittel ein, Bücher hab ich
mir mitgebracht, und ſo vergeht die Zeit, wie
ein Augenblick. In jenen Gegenden habe ich
einige Bekannte, die um meinen Aufenthalt
wiſſen, und von denen ich erfahre, was in
der Welt geſchieht. Dieſe werden mich be¬
graben, wenn ich todt bin und meine Bücher
zu ſich nehmen.
Er führte ſie näher an ſeinen Sitz, der
nahe an der Höhlenwand war. Sie ſahen
mehrere Bücher auf der Erde liegen, auch ei¬
ne Zither, und an der Wand hing eine völli¬
ge Rüſtung, die ziemlich koſtbar zu ſeyn
ſchien. Der Tiſch beſtand aus fünf großen
ſteinernen Platten, die wie ein Kaſten zuſam¬
mengeſetzt waren. Auf der oberſten lagen ei¬
ne männliche und weibliche Figur in Lebens¬
größe eingehauen, die einen Kranz von Lili¬
en und Roſen angefaßt hatten; an den Sei¬
ten ſtand:
Friedrich und Marie von Hohenzollern
kehrten auf dieſer Stelle in ihr Vater¬
land zurück.
Der Einſiedler fragte ſeine Gäſte nach
ihrem Vaterlande, und wie ſie in dieſe Ge¬
genden gekommen wären. Er war ſehr
freundlich und offen, und verrieth eine große
Bekanntſchaft mit der Welt. Der Alte
ſagte; Ich ſehe, ihr ſeyd ein Kriegsmann
geweſen, die Rüſtung verräth euch. — Die
Gefahren und Wechſel des Krieges, der
hohe poetiſche Geiſt, der ein Kriegsheer be¬
gleitet, riſſen mich aus meiner jugendlichen
Einſamkeit und beſtimmten die Schickſale
meines Lebens. Vielleicht, daß das lange
Getümmel, die unzähligen Begebenheiten, de¬
nen ich beywohnte, mir den Sinn für die
Einſamkeit noch mehr geöffnet haben: die
zahlloſen Erinnerungen ſind eine unterhaltende
Geſellſchaft, und dies um ſo mehr, je verän¬
derter der Blick iſt, mit dem wir ſie über¬
ſchauen, und der nun erſt ihren wahren Zu¬
ſam¬
ſammenhang, den Tiefſinn ihrer Folge, und
die Bedeutung ihrer Erſcheinungen entdeckt.
Der eigentliche Sinn für die Geſchichten der
Menſchen entwickelt ſich erſt ſpät, und mehr
unter den ſtillen Einflüſſen der Erinnerung,
als unter den gewaltſameren Eindrücken der
Gegenwart. Die nächſten Ereigniſſe ſcheinen
nur locker verknüpft, aber ſie ſympathiſiren
deſto wunderbarer mit entfernteren; und nur
dann, wenn man im Stande iſt, eine lange
Reihe zu überſehn und weder alles buchſtäb¬
lich zu nehmen, noch auch mit muthwilligen
Träumen die eigentliche Ordnung zu verwir¬
ren, bemerkt man die geheime Verkettung
des Ehemaligen und Künftigen, und lernt die
Geſchichte aus Hoffnung und Erinnerung zu¬
ſammenſetzen. Indeß nur dem, welchem die
ganze Vorzeit gegenwärtig iſt, mag es gelin¬
gen, die einfache Regel der Geſchichte zu ent¬
decken. Wir kommen nur zu unvollſtändigen
M
und beſchwerlichen Formeln, und können froh
ſeyn, nur für uns ſelbſt eine brauchbare Vor¬
ſchrift zu finden, die uns hinlängliche Auf¬
ſchlüſſe über unſer eigenes kurzes Leben ver¬
ſchafft. Ich darf aber wohl ſagen, daß jede
ſorgfältige Betrachtung der Schickſale des
Lebens einen tiefen, unerſchöpflichen Genuß
gewährt, und unter allen Gedanken uns am
meiſten über die irdiſchen Übel erhebt. Die
Jugend lieſt die Geſchichte nur aus Neugier,
wie ein unterhaltendes Mährchen; dem rei¬
feren Alter wird ſie eine himmliſche tröſtende
und erbauende Freundinn, die ihn durch ihre
weiſen Geſpräche ſanft zu einer höheren, um¬
faſſenderen Laufbahn vorbereitet, und mit der
unbekannten Welt ihn in faßlichen Bildern
bekannt macht. Die Kirche iſt das Wohn¬
haus der Geſchichte, und der ſtille Hof ihr
ſinnbildlicher Blumengarten. Von der Ge¬
ſchichte ſollten nur alte, gottesfürchtige Leute
ſchreiben, deren Geſchichte ſelbſt zu Ende iſt,
und die nichts mehr zu hoffen haben, als die
Verpflanzung in den Garten. Nicht finſter
und trübe wird ihre Beſchreibung ſeyn; viel¬
mehr wird ein Strahl aus der Kuppel alles in
der richtigſten und ſchönſten Erleuchtung zei¬
gen, und heiliger Geiſt wird über dieſen ſelt¬
ſam bewegten Gewäſſern ſchweben.
Wie wahr und einleuchtend iſt eure Rede,
ſetzte der Alte hinzu. Man ſollte gewiß mehr
Fleiß darauf wenden, das Wiſſenswürdige
ſeiner Zeit treulich aufzuzeichnen, und es als
ein andächtiges Vermächtniß den künftigen
Menſchen zu hinterlaſſen. Es giebt tauſend
entferntere Dinge, denen Sorgfalt und Mü¬
he gewidmet wird, und gerade um das
Nächſte und Wichtigſte, um die Schickſale
unſers eigenen Lebens, unſerer Angehörigen,
unſers Geſchlechts, deren leiſe Planmäßigkeit
wir in den Gedanken einer Vorſehung aufge¬
faßt haben, bekümmern wir uns ſo wenig,
und laſſen ſorglos alle Spuren in unſerm
Gedächtniſſe verwiſchen. Wie Heiligthümer
wird eine weiſere Nachkommenſchaft jede
Nachricht, die von den Begebenheiten der
Vergangenheit handelt, aufſuchen, und ſelbſt
das Leben eines Einzelnen unbedeutenden
Mannes wird ihr nicht gleichgültig ſeyn, da
gewiß ſich das große Leben ſeiner Zeitgenoſ¬
ſenſchaft darinn mehr oder weniger ſpiegelt.
Es iſt nur ſo ſchlimm, ſagte der Graf
von Hohenzollern, daß ſelbſt die Wenigen, die
ſich der Aufzeichnung der Thaten und Vor¬
fälle ihrer Zeit unterzogen, nicht über ihr
Geſchäft nachdachten, und ihren Beobachtun¬
gen keine Vollſtändigkeit und Ordnung zu
geben ſuchten, ſondern nur aufs Gerathe¬
wohl bey der Auswahl und Sammlung ih¬
rer Nachrichten verfuhren. Ein jeder wird
leicht an ſich bemerken, daß er nur dasjenige
deutlich und vollkommen beſchreiben kann,
was er genau kennt, deſſen Theile, deſſen
Entſtehung und Folge, deſſen Zweck und Ge¬
brauch ihm gegenwärtig ſind: denn ſonſt wird
keine Beſchreibung, ſondern ein verwirrtes Ge¬
miſch von unvollſtändigen Bemerkungen ent¬
ſtehn. Man laſſe ein Kind eine Maſchine,
einen Landmann ein Schiff beſchreiben, und
gewiß wird kein Menſch aus ihren Worten
einigen Nutzen und Unterricht ſchöpfen können,
und ſo iſt es mit den meiſten Geſchichtſchrei¬
bern, die vielleicht fertig genug im Erzählen
und bis zum Überdruß weitſchweifig ſind, aber
doch gerade das Wiſſenswürdigſte vergeſſen,
dasjenige, was erſt die Geſchichte zur Geſchich¬
te macht, und die mancherley Zufälle zu ei¬
nem angenehmen und lehrreichen Ganzen ver¬
bindet. Wenn ich das alles recht bedenke, ſo
ſcheint es mir, als wenn ein Geſchichtſchreiber
nothwendig auch ein Dichter ſeyn müßte,
denn nur die Dichter mögen ſich auf jene
Kunſt, Begebenheiten ſchicklich zu verknüpfen,
verſtehn. In ihren Erzählungen und Fabeln
habe ich mit ſtillem Vergnügen ihr zartes
Gefühl für den geheimnißvollen Geiſt des Le¬
bens bemerkt. Es iſt mehr Wahrheit in ih¬
ren Mährchen, als in gelehrten Chroniken.
Sind auch ihre Perſonen und deren Schickſa¬
le erfunden: ſo iſt doch der Sinn, in dem ſie
erfunden ſind, wahrhaft und natürlich. Es
iſt für unſern Genuß und unſere Belehrung
gewiſſermaßen einerley, ob die Perſonen, in
deren Schickſalen wir den unſrigen nachſpü¬
ren, wirklich einmal lebten, oder nicht. Wir
verlangen nach der Anſchauung der großen
einfachen Seele der Zeiterſcheinungen, und
finden wir dieſen Wunſch gewährt, ſo küm¬
mern wir uns nicht um die zufällige Exi¬
ſtenz ihrer äußern Figuren.
Auch ich bin den Dichtern, ſagte der Al¬
te, von jeher deshalb zugethan geweſen.
Das Leben und die Welt iſt mir klarer und
anſchaulicher durch ſie geworden. Es dünkte
mich, ſie müßten befreundet mit den ſcharfen
Geiſtern des Lichtes ſeyn, die alle Naturen
durchdringen und ſondern, und einen ei¬
genthümlichen, zartgefärbten Schleyer über
jede verbreiten. Meine eigene Natur fühlte
ich bey ihren Liedern leicht entfaltet, und
es war, als könnte ſie ſich nun freyer be¬
wegen, ihrer Geſelligkeit und ihres Verlan¬
gens froh werden, mit ſtiller Luſt ihre Glie¬
der gegen einander ſchwingen, und tauſender¬
ley anmuthige Wirkungen hervorrufen.
Wart ihr ſo glücklich in eurer Gegend
einige Dichter zu haben? fragte der Ein¬
ſiedler.
Es haben ſich wohl zuweilen einige bey
uns eingefunden: aber ſie ſchienen Gefallen
am Reiſen zu finden, und ſo hielten ſie ſich
meiſt nicht lange auf. Indeß habe ich auf
meinen Wanderungen nach Illyrien, nach
Sachſen und Schwedenland nicht ſelten wel¬
che gefunden, deren Andenken mich immer er¬
freuen wird.
So ſeyd ihr ja weit umhergekommen,
und müßt viele denkwürdige Dinge erlebt
haben.
Unſere Kunſt macht es faſt nöthig, daß
man ſich weit auf dem Erdboden umſieht,
und es iſt als triebe den Bergmann ein un¬
terirdiſches Feuer umher. Ein Berg ſchickt
ihn dem andern. Er wird nie mit Sehen fer¬
tig, und hat ſeine ganze Lebenszeit an jener
wunderlichen Baukunſt zu lernen, die unſern
Fußboden ſo ſeltſam gegründet und ausgetä¬
felt hat. Unſere Kunſt iſt uralt und weit
verbreitet. Sie mag wohl aus Morgen, mit
der Sonne, wie unſer Geſchlecht, nach Abend
gewandert ſeyn, und von der Mitte nach
den Enden zu. Sie hat überall mit andern
Schwierigkeiten zu kämpfen gehabt, und da
immer das Bedürfniß den menſchlichen Geiſt
zu klugen Erfindungen gereitzt, ſo kann der
Bergmann überall ſeine Einſichten und ſeine
Geſchicklichkeit vermehren und mit nützlichen
Erfahrungen ſeine Heymath bereichern.
Ihr ſeyd beynah verkehrte Aſtrologen,
ſagte der Einſiedler. Wenn dieſe den Him¬
mel unverwandt betrachten und ſeine uner¬
meßlichen Räume durchirren: ſo wendet ihr
euren Blick auf den Erdboden, und erforſcht
ſeinen Bau. Jene ſtudieren die Kräfte und
Einflüſſe der Geſtirne, und ihr unterſucht
die Kräfte der Felſen und Berge, und die
mannichfaltigen Wirkungen der Erd- und
Steinſchichten. Jenen iſt der Himmel das
Buch der Zukunft, während euch die Erde
Denkmale der Urwelt zeigt.
Es iſt dieſer Zuſammenhang nicht ohne
Bedeutung, ſagte der Alte lächelnd. Die
leuchtenden Profeten ſpielen vielleicht eine
Hauptrolle in jener alten Geſchichte des wun¬
derlichen Erdhaus. Man wird vielleicht ſie
aus ihren Werken, und ihre Werke aus ih¬
nen mit der Zeit beſſer kennen und erklären
lernen. Vielleicht zeigen die großen Gebirgs¬
ketten die Spuren ihrer ehemaligen Straßen,
und hatten ſelbſt Luſt, ſich auf ihre eigene
Hand zu nähren und ihren eigenen Gang
am Himmel zu gehn. Manche hoben ſich
kühn genug, um auch Sterne zu werden,
und müſſen nun dafür die ſchöne grüne Be¬
kleidung der niedrigern Gegenden entbehren.
Sie haben dafür nichts erhalten, als daß ſie
ihren Vätern das Wetter machen helfen, und
Profeten für das tiefere Land ſind, das ſie
bald ſchützen bald mit Ungewittern über¬
ſchwemmen.
Seitdem ich in dieſer Höhle wohne, fuhr
der Einſiedler fort, habe ich mehr über die
alte Zeit nachdenken gelernt. Es iſt unbe¬
ſchreiblich, was dieſe Betrachtung anzieht,
und ich kann mir die Liebe vorſtellen, die ein
Bergmann für ſein Handwerk hegen muß.
Wenn ich die ſeltſamen alten Knochen anſe¬
he, die hier in ſo gewaltiger Menge verſam¬
melt ſind; wenn ich mir die wilde Zeit denke,
wo dieſe fremdartigen, ungeheuren Thiere in
dichten Schaaren ſich in dieſe Höhlen herein¬
drängten, von Furcht und Angſt vielleicht ge¬
trieben, und hier ihren Tod fanden; wenn
ich dann wieder bis zu den Zeiten hinauf¬
ſteige, wo dieſe Höhlen zuſammenwuchſen und
ungeheure Fluten das Land bedeckten: ſo
komme ich mir ſelbſt wie ein Traum der Zu¬
kunft, wie ein Kind des ewigen Friedens vor.
Wie ruhig und friedfertig, wie mild und
klar iſt gegen dieſe gewaltſamen, rieſenmäßi¬
gen Zeiten, die heutige Natur! und das
furchtbarſte Gewitter, das entſetzlichſte Erdbe¬
ben in unſern Tagen iſt nur ein ſchwacher
Nachhall jener grauſenvollen Geburtswehen.
Vielleicht daß auch die Pflanzen- und Thier¬
welt, ja die damaligen Menſchen ſelbſt,
wenn es auf einzelnen Eylanden in dieſem
Ozean welche gab, eine andere feſtere und
rauhere Bauart hatten, — wenigſtens dürfte
man die alten Sagen von einem Rieſenvolke
dann keiner Erdichtungen zeihen.
Es iſt erfreulich, ſagte der Alte, jene all¬
mählige Beruhigung der Natur zu bemerken.
Ein immer innigeres Einverſtändniß, eine
friedlichere Gemeinſchaft, eine gegenſeitige
Unterſtützung und Belebung, ſcheint ſich all¬
mählich gebildet zu haben, und wir können
immer beſſeren Zeiten entgegenſehn. Es wäre
vielleicht möglich, daß hin und wieder noch
alter Sauerteig gährte, und noch einige
heftige Erſchütterungen erfolgten; indeß ſieht
man doch das allmächtige Streben nach
freyer, einträchtiger Verfaſſung, und in die¬
ſem Geiſte wird jede Erſchütterung vorüber¬
gehen und dem großen Ziele näher führen.
Mag es ſeyn, daß die Natur nicht mehr ſo
fruchtbar iſt, daß heut zu Tage keine Metal¬
le und Edelſteine, keine Felſen und Berge
mehr entſtehn, daß Pflanzen und Thiere
nicht mehr zu ſo erſtaunlichen Größen und
Kräften aufquellen: je mehr ſich ihre erzeu¬
gende Kraft erſchöpft hat, deſto mehr haben
ihre bildenden, veredelnden und geſelligen
Kräfte zugenommen, ihr Gemüth iſt em¬
pfänglicher und zarter, ihre Fantaſie mannich¬
faltiger und ſinnbildlicher, ihre Hand leichter
und kunſtreicher geworden. Sie nähert ſich
dem Menſchen, und wenn ſie, ehmals ein
wildgebährender Fels war, ſo iſt ſie jetzt eine
ſtille, treibende Pflanze, eine ſtumme menſch¬
liche Künſtlerinn. Wozu wäre auch eine
Vermehrung jener Schätze nöthig, deren
Überfluß auf undenkliche Zeiten ausreicht.
Wie klein iſt der Raum, den ich durchwan¬
dert bin, und welche mächtige Vorräthe ha¬
be ich nicht gleich auf den erſten Blick gefun¬
den, deren Benutzung der Nachwelt überlaſ¬
ſen bleibt. Welche Reichthümer verſchließen
nicht die Gebirge nach Norden, welche gün¬
ſtige Anzeigen fand ich nicht in meinem Va¬
terlande überall, in Ungarn, am Fuße der
Carpathiſchen Gebirge, und in den Felſenthä¬
lern von Tyrol, Öſtreich und Bayern. Ich
könnte ein reicher Mann ſeyn, wenn ich das
hätte mit mir nehmen können, was ich nur
aufzuheben, nur abzuſchlagen brauchte. An
manchen Orten ſah ich mich, wie in einem
Zaubergarten. Was ich anſah, war von
köſtlichen Metallen und auf das kunſtreichſte
gebildet. In den zierlichen Locken und Äſten
des Silbers hingen glänzende, rubinrothe,
durchſichtige Früchte, und die ſchweren
Bäumchen ſtanden auf kryſtallenem Grunde,
der ganz unnachahmlich ausgearbeitet war.
Man traute kaum ſeinen Sinnen an dieſen
wunderbaren Orten, und ward nicht müde
dieſe reizenden Wildniſſe zu durchſtreifen und
ſich an ihren Kleinodien zu ergötzen. Auch
auf meiner jetzigen Reiſe habe ich viele
Merkwürdigkeiten geſehn, und gewiß iſt in
andern Ländern die Erde eben ſo ergiebig
und verſchwenderiſch.
Wenn man, ſagte der Unbekannte, die
Schätze bedenkt, die im Orient zu Hauſe
ſind, ſo iſt daran kein Zweifel, und iſt das
ferne Indien, Afrika und Spanien nicht
ſchon im Alterthum durch die Reichthümer
ſeines Bodens bekannt geweſen? Als Kriegs¬
mann giebt man freylich nicht ſo genau auf
die Adern und Klüfte der Berge acht, indeß
habe ich doch zuweilen meine Betrachtungen
über dieſe glänzenden Streifen gehabt, die
wie ſeltſame Knospen auf eine unerwartete
Blüthe und Frucht deuten. Wie hätte ich
damals denken können, wenn ich froh über
das Licht des Tages an dieſen dunkeln Be¬
hauſungen vorbeyzog, daß ich noch im
Schooße eines Berges mein Leben beſchließen
würde. Meine Liebe trug mich ſtolz über
den Erdboden, und in ihrer Umarmung hoff¬
te ich in ſpäten Jahren zu entſchlafen. Der
Krieg endigte, und ich zog nach Hauſe, voll
froher Erwartungen eines erquicklichen Herb¬
ſtes. Aber der Geiſt des Krieges ſchien der
Geiſt meines Glücks zu ſeyn. Meine Marie
hatte mir zwey Kinder im Orient geboren.
Sie waren die Freude unſers Leben. Die
Seefahrt und die rauhere Abendländiſche
Luft ſtörte ihre Blüthe. Ich begrub ſie we¬
nig Tage nach meiner Ankunft in Europa.
Kum¬
Kummervoll führte ich meine troſtloſe Gattin
nach meiner Heymath. Ein ſtiller Gram
mochte den Faden ihres Lebens mürbe ge¬
macht haben. Auf einer Reiſe, die ich bald
darauf unternehmen mußte, auf der ſie mich
wie immer begleitete, verſchied ſie ſanft und
plötzlich in meinen Armen. Es war hier
nahe bey, wo unſere irdiſche Wallfahrt zu
Ende ging. Mein Entſchluß war im Augen¬
blicke reif. Ich fand, was ich nie erwartet
hatte; eine göttliche Erleuchtung kam über
mich, und ſeit dem Tage, da ich ſie hier
ſelbſt begrub, nahm eine himmliſche Hand
allen Kummer von meinem Herzen. Das
Grabmal habe ich nachher errichten laſſen.
Oft ſcheint eine Begebenheit ſich zu endigen,
wenn ſie erſt eigentlich beginnt, und dies hat
bey meinem Leben ſtatt gefunden. Gott ver¬
leihe euch allen ein ſeliges Alter, und ein ſo
geruhiges Gemüth wie mir.
N
Heinrich und die Kaufleute hatten auf¬
merkſam dem Geſpräche zugehört, und der
Erſtere fühlte beſonders neue Entwickelungen
ſeines ahndungsvollen Innern. Manche
Worte, manche Gedanken fielen wie beleben¬
der Fruchtſtaub, in ſeinen Schooß, und rück¬
ten ihn ſchnell aus dem engen Kreiſe ſeiner
Jugend auf die Höhe der Welt. Wie lange
Jahre lagen die eben vergangenen Stunden
hinter ihm, und er glaubte nie anders ge¬
dacht und empfunden zu haben.
Der Einſiedler zeigte ihnen ſeine Bücher.
Es waren alte Hiſtorien und Gedichte.
Heinrich blätterte in den großen ſchönge¬
mahlten Schriften; die kurzen Zeilen der
Verſe, die Überſchriften, einzelne Stellen,
und die ſaubern Bilder, die hier und da, wie
verkörperte Worte, zum Vorſchein kamen,
um die Einbildungskraft des Leſers zu unter¬
ſtützen, reizten mächtig ſeine Neugierde. Der
Einſiedler bemerkte ſeine innere Luſt, und er¬
klärte ihm die ſonderbaren Vorſtellungen.
Die mannichfaltigſten Lebensſcenen waren ab¬
gebildet. Kämpfe, Leichenbegängniſſe, Hoch¬
zeitfeyerlichkeiten, Schiffbrüche, Höhlen und
Paläſte; Könige, Helden, Prieſter, alte und
junge Leute, Menſchen in fremden Trachten,
und ſeltſame Thiere, kamen in verſchiedenen
Abwechſelungen und Verbindungen, vor.
Heinrich konnte ſich nicht ſatt ſehen, und hät¬
te nichts mehr gewünſcht, als bey dem Ein¬
ſiedler, der ihn unwiderſtehlich anzog, zu
bleiben, und von ihm über dieſe Bücher un¬
terrichtet zu werden Der Alte fragte unter¬
deß, ob es noch mehr Höhlen gäbe, und der
Einſiedler ſagte ihm, daß noch einige ſehr
große in der Nähe lägen, wohin er ihn be¬
gleiten wollte. Der Alte war dazu bereit,
und der Einſiedler, der die Freude merkte,
die Heinrich an ſeinen Büchern hatte, veran¬
laßte ihn, zurückzubleiben, und ſich während
dieſer Zeit weiter unter denſelben umzuſehn.
Heinrich blieb mit Freuden bey den Büchern,
und dankte ihm innig für ſeine Erlaubniß.
Er blätterte mit unendlicher Luſt umher.
Endlich fiel ihm ein Buch in die Hände, das
in einer fremden Sprache geſchrieben war,
die ihm einige Ähnlichkeit mit der Lateini¬
ſchen und Italieniſchen zu haben ſchien. Er
hätte ſehnlichſt gewünſcht, die Sprache zu
kennen, denn das Buch gefiel ihm vorzüglich
ohne daß er eine Sylbe davon verſtand. Es
hatte keinen Titel, doch fand er noch beym
Suchen einige Bilder. Sie dünkten ihm
ganz wunderbar bekannt, und wie er recht
zuſah, entdeckte er ſeine eigene Geſtalt ziem¬
lich kenntlich unter den Figuren. Er er¬
ſchrack und glaubte zu träumen, aber beym
wiederhohlten Anſehn konnte er nicht mehr
an der vollkommenen Ähnlichkeit zweifeln.
Er traute kaum ſeinen Sinnen, als er bald
auf einem Bilde die Höhle, den Einſiedler,
und den Alten neben ſich entdeckte. Allmäh¬
lich fand er auf den andern Bildern die
Morgenländerinn, ſeine Eltern, den Landgra¬
fen und die Landgräfinn von Thüringen, ſei¬
nen Freund den Hofkaplan, und manche An¬
dere ſeiner Bekannten; doch waren ihre Klei¬
dungen verändert und ſchienen aus einer an¬
dern Zeit zu ſeyn. Eine große Menge Figu¬
ren wußte er nicht zu nennen, doch däuchten
ſie ihm bekannt. Er ſah ſein Ebenbild in
verſchiedenen Lagen. Gegen das Ende kam
er ſich größer und edler vor. Die Guitarre
ruhte in ſeinen Armen, und die Landgräfinn
reichte ihm einen Kranz. Er ſah ſich am
kayſerlichen Hofe, zu Schiffe, in trauter Um¬
armung mit einem ſchlanken lieblichen Mäd¬
chen, in einem Kampfe mit wildausſehenden
Männern, und in freundlichen Geſprächen
mit Sarazenen und Mohren. Ein Mann
von ernſtem Anſehn kam häufig in ſeiner
Geſellſchaft vor. Er fühlte tiefe Ehrfurcht
vor dieſer hohen Geſtalt, und war froh ſich
Arm in Arm mit ihm zu ſehn. Die letzten
Bilder waren dunkel und unverſtändlich;
doch überraſchten ihn einige Geſtalten ſeines
Traumes mit dem innigſten Entzücken; der
Schluß des Buches ſchien zu fehlen. Hein¬
rich war ſehr bekümmert, und wünſchte nichts
ſehnlicher, als das Buch leſen zu können, und
vollſtändig zu beſitzen. Er betrachtete die
Bilder zu wiederholten Malen und war be¬
ſtürzt, wie er die Geſellſchaft zurückkommen
hörte. Eine wunderliche Schaam befiel ihn.
Er getraute ſich nicht, ſeine Entdeckung mer¬
ken zu laſſen, machte das Buch zu, und frag¬
te den Einſiedler nur obenhin nach dem Titel
und der Sprache deſſelben, wo er denn er¬
fuhr, daß es in provenzaliſcher Sprache ge¬
ſchrieben ſey. Es iſt lange, daß ich es
geleſen habe, ſagte der Einſiedler. Ich kann
mich nicht genau mehr des Inhalts entſin¬
nen. Soviel ich weiß, iſt es ein Roman von
den wunderbaren Schickſalen eines Dichters,
worinn die Dichtkunſt in ihren mannnichfa¬
chen Verhältniſſen dargeſtellt und geprieſen
wird. Der Schluß fehlt an dieſer Hand¬
ſchrift, die ich aus Jeruſalem mitgebracht ha¬
be, wo ich ſie in der Verlaſſenſchaft eines
Freundes fand, und zu ſeinem Andenken auf¬
hob.
Sie nahmen nun von einander Abſchied,
und Heinrich war bis zu Thränen gerührt.
Die Höhle war ihm ſo merkwürdig, der Ein¬
ſiedler ſo lieb geworden.
Alle umarmten dieſen herzlich, und er
ſelbſt ſchien ſie lieb gewonnen zu haben.
Heinrich glaubte zu bemerken, daß er ihn
mit einem freundlichen durchdringenden Blick
anſehe. Seine Abſchiedsworte gegen ihn wa¬
ren ſonderbar bedeutend. Er ſchien von ſei¬
ner Entdeckung zu wiſſen und darauf anzu¬
ſpielen. Bis zum Eingang der Höhlen be¬
gleitete er ſie, nachdem er ſie und beſonders
den Knaben gebeten hatte, nichts von ihm
gegen die Bauern zu erwähnen, weil er ſonſt
ihren Zudringlichkeiten ausgeſetzt ſeyn würde.
Sie verſprachen es alle. Wie ſie von
ihm ſchieden und ſich ſeinem Gebet empfah¬
len, ſagte er: Wie lange wird es währen,
ſo ſehn wir uns wieder, und werden über un¬
ſere heutigen Reden lächeln. Ein himmli¬
ſcher Tag wird uns umgeben, und wir wer¬
den uns freuen, daß wir einander in dieſen
Thälern der Prüfung freundlich begrüßten,
und von gleichen Geſinnungen und Ahndungen
beſeelt waren. Sie ſind die Engel, die uns
hier ſicher geleiten. Wenn euer Auge feſt am
Himmel haftet, ſo werdet ihr nie den Weg
zu eurer Heymath verlieren. — Sie trenn¬
ten ſich mit ſtiller Andacht, fanden bald ihre
zaghaften Gefährten, und erreichten unter
allerlei Erzählungen in Kurzem das Dorf,
wo Heinrichs Mutter, die in Sorgen geweſen
war, ſie mit tauſend Freuden empfing.
Sechstes Kapitel.
Menſchen, die zum Handeln, zur Geſchäftig¬
keit geboren ſind, können nicht früh genug
alles ſelbſt betrachten und beleben. Sie
müſſen überall ſelbſt Hand anlegen und viele
Verhältniſſe durchlaufen, ihr Gemüth gegen
die Eindrücke einer neuen Lage, gegen die
Zerſtreuungen vieler und mannichfaltiger Ge¬
genſtände gewiſſermaßen abhärten, und ſich
gewöhnen, ſelbſt im Drange großer Begeben¬
heiten den Faden ihres Zwecks feſtzuhalten,
und ihn gewandt hindurchzuführen. Sie
dürfen nicht den Einladungen einer ſtillen
Betrachtung nachgeben. Ihre Seele darf
keine in ſich gekehrte Zuſchauerin, ſie muß
unabläſſig nach außen gerichtet, und eine em¬
ſige, ſchnell entſcheidende Dienerinn des Ver¬
ſtandes ſeyn. Sie ſind Helden, und um ſie
her drängen ſich die Begebenheiten, die gelei¬
tet und gelöſt ſeyn wollen. Alle Zufälle
werden zu Geſchichten unter ihrem Einfluß,
und ihr Leben iſt eine ununterbrochene Kette
merkwürdiger und glänzender, verwickelter
und ſeltſamer Ereigniſſe.
Anders iſt es mit jenen ruhigen, unbe¬
kannten Menſchen, deren Welt ihr Gemüth,
deren Thätigkeit die Betrachtung, deren Le¬
ben ein leiſes Bilden ihrer innern Kräfte iſt.
Keine Unruhe treibt ſie nach außen. Ein ſtil¬
ler Beſitz genügt ihnen und das unermeßliche
Schauſpiel außer ihnen reitzt ſie nicht, ſelbſt
darinn aufzutreten, ſondern kommt ihnen be¬
deutend und wunderbar genug vor, um ſei¬
ner Betrachtung ihre Muße zu widmen.
Verlangen nach dem Geiſte deſſelben hält ſie
in der Ferne, und er iſt es, der ſie zu der ge¬
heimnißvollen Rolle des Gemüths in dieſer
menſchlichen Welt beſtimmte, während jene
die äußere Gliedmaßen und Sinne, und die
ausgehenden Kräfte derſelben vorſtellen.
Große und vielfache Begebenheiten wür¬
den ſie ſtören. Ein einfaches Leben iſt ihr
Loos, und nur aus Erzählungen und Schrif¬
ten müſſen ſie mit dem reichen Inhalt, und
den zahlloſen Erſcheinungen der Welt be¬
kannt werden. Nur ſelten darf im Verlauf
ihres Lebens ein Vorfall ſie auf einige Zeit
in ſeine raſchen Wirbel mit hereinziehn, um
durch einige Erfahrungen ſie von der Lage
und dem Character der handelnden Men¬
ſchen genauer zu unterrichten. Dagegen
wird ihr empfindlicher Sinn ſchon genug von
nahen unbedeutenden Erſcheinungen beſchäf¬
tigt, die ihm jene große Welt verjüngt dar¬
ſtellen, und ſie werden keinen Schritt thun,
ohne die überraſchendſten Entdeckungen in
ſich ſelbſt über das Weſen und die Bedeu¬
tung derſelben zu machen. Es ſind die Dich¬
ter, dieſe ſeltenen Zugmenſchen, die zuweilen
durch unſere Wohnſitze wandeln, und überall
den alten ehrwürdigen Dienſt der Menſchheit
und ihrer erſten Götter, der Geſtirne, des
Frühlings, der Liebe, des Glücks, der Frucht¬
barkeit, der Geſundheit, und des Frohſinns
erneuern; ſie, die ſchon hier im Beſitz der
himmliſchen Ruhe ſind, und von keinen thö¬
richten Begierden umhergetrieben, nur den
Duft der irdiſchen Früchte einathmen, ohne
ſie zu verzehren und dann unwiderruflich
an die Unterwelt gekettet zu ſeyn. Freye
Gäſte ſind ſie, deren goldener Fuß nur leiſe
auftritt, und deren Gegenwart in Allen un¬
willkührlich die Flügel ausbreitet. Ein Dich¬
ter läßt ſich wie ein guter König, frohen und
klaren Geſichtern nach aufſuchen, und er iſt es,
der allein den Namen eines Weiſen mit Recht
führt. Wenn man ihn mit dem Helden ver¬
gleicht, ſo findet man, daß die Geſänge der
Dichter nicht ſelten den Heldenmuth in jugend¬
lichen Herzen erweckt, Heldenthaten aber wohl
nie den Geiſt der Poeſie in ein neues Ge¬
müth gerufen haben.
Heinrich war von Natur zum Dichter ge¬
boren. Mannichfaltige Zufälle ſchienen ſich
zu ſeiner Bildung zu vereinigen, und noch
hatte nichts ſeine innere Regſamkeit geſtört.
Alles was er ſah und hörte ſchien nur neue
Riegel in ihm wegzuſchieben, und neue Fen¬
ſter ihm zu öffnen. Er ſah die Welt in ih¬
ren großen und abwechſelnden Verhältniſſen
vor ſich liegen. Noch war ſie aber ſtumm,
und ihre Seele, das Geſpräch, noch nicht
erwacht. Schon nahte ſich ein Dichter, ein
liebliches Mädchen an der Hand, um durch
Laute der Mutterſprache und durch Berüh¬
rung eines ſüßen zärtlichen Mundes, die
blöden Lippen aufzuſchließen, und den einfa¬
chen Accord in unendliche Melodien zu ent¬
falten.
Die Reiſe war nun geendigt. Es war
gegen Abend, als unſere Reiſenden wohlbe¬
halten und frölich in der weltberühmten
Stadt Augsburg anlangten, und voller Er¬
wartung durch die hohen Gaſſen nach dem
anſehnlichen Hauſe des alten Schwaning rit¬
ten.
Heinrichen war ſchon die Gegend ſehr
reitzend vorgekommen. Das lebhafte Getüm¬
mel der Stadt und die großen, ſteinernen
Häuſer befremdeten ihn angenehm. Er freu¬
te ſich inniglich über ſeinen künftigen Aufent¬
halt. Seine Mutter war ſehr vergnügt nach
der langen, mühſeligen Reiſe ſich hier in ih¬
rer geliebten Vaterſtadt zu ſehen, bald ihren
Vater und ihre alten Bekannten wieder zu
umarmen, ihren Heinrich ihnen vorſtellen,
und einmal alle Sorgen des Hausweſens bey
den traulichen Erinnerungen ihrer Jugend
ruhig vergeſſen zu können. Die Kaufleute
hofften ſich bey den dortigen Luſtbarkeiten für
die Unbequemlichkeiten des Weges zu entſchä¬
digen, und einträgliche Geſchäfte zu machen.
Das Haus des alten Schwaning fanden
ſie erleuchtet, und eine luſtige Muſik tönte
ihnen entgegen. Was gilt's, ſagten die
Kaufleute, euer Großvater giebt ein fröhli¬
ches Feſt. Wir kommen wie gerufen. Wie
wird er über die ungeladenen Gäſte erſtau¬
nen. Er läßt es ſich wohl nicht träumen,
daß das wahre Feſt nun erſt angehn wird.
Heinrich fühlte ſich verlegen, und ſeine Mut¬
ter war nur wegen ihres Anzugs in Sorgen.
Sie ſtiegen ah, die Kaufleute blieben bey
den Pferden, und Heinrich und ſeine Mutter
traten in das prächtige Haus. Unten war
kein Hausgenoſſe zu ſehen. Sie mußten die
breite Wendeltreppe hinauf. Einige Diener
lie¬
liefen vorüber, die ſie baten, dem alten
Schwaning die Ankunft einiger Fremden an¬
zuſagen, die ihn zu ſprechen wünſchten. Die
Diener machten anfangs einige Schwierigkei¬
ten; die Reiſenden ſahen nicht zum Beſten
aus; doch meldeten ſie es dem Herrn des
Hauſes. Der alte Schwaning kam heraus.
Er kannte ſie nicht gleich, und fragte nach
ihrem Namen und Anliegen. Heinrichs
Mutter weinte, und fiel ihm um den Hals.
Kennt ihr eure Tochter nicht mehr? rief ſie
weinend. Ich bringe euch meinen Sohn.
Der alte Vater war äußerſt gerührt. Er
drückte ſie lange an ſeine Bruſt; Heinrich
ſank auf ein Knie, und küßte ihm zärtlich die
Hand. Er hob ihn zu ſich, und hielt Mutter
und Sohn umarmt. Geſchwind herein, ſagte
Schwaning, ich habe lauter Freunde und
Bekannte bey mir, die ſich herzlich mit mir
freuen werden. Heinrichs Mutter ſchien eini¬
O
ge Zweifel zu haben. Sie hatte keine Zeit
ſich zu beſinnen. Der Vater führte beyde in
den hohen, erleuchteten Saal. Da bringe
ich meine Tochter und meinen Enkel aus Ei¬
ſenach, rief Schwaning in das frohe Getüm¬
mel glänzend gekleideter Menſchen. Alle
Augen kehrten ſich nach der Thür; alles lief
herzu, die Muſik ſchwieg, und die beyden
Reiſenden ſtanden verwirrt und geblendet in
ihren ſtaubigen Kleidern, mitten in der bun¬
ten Schaar. Tauſend freudige Ausrufungen
gingen von Mund zu Mund. Alte Bekann¬
te drängten ſich um die Mutter. Es gab un¬
zählige Fragen. Jedes wollte zuerſt gekannt
und bewillkommet ſeyn. Während der ältere
Theil der Geſellſchaft ſich mit der Mutter
beſchäftigte, heftete ſich die Aufmerkſamkeit
des jüngeren Theils auf den fremden Jüng¬
ling, der mit geſenktem Blick da ſtand, und
nicht das Herz hatte, die unbekannten Geſich¬
ter wieder zu betrachten. Sein Großvater
machte ihn mit der Geſellſchaft bekannt, und
erkundigte ſich nach ſeinem Vater und den
Vorfällen ihrer Reiſe.
Die Mutter gedachte der Kaufleute, die
unten aus Gefälligkeit bey den Pferden ge¬
blieben waren. Sie ſagte es ihrem Vater,
welcher ſogleich hinunter ſchickte, und ſie ein¬
laden ließ heraufzukommen. Die Pferde
wurden in die Ställe gebracht, und die
Kaufleute erſchienen.
Schwaning dankte ihnen herzlich für die
freundſchaftliche Geleitung ſeiner Tochter.
Sie waren mit vielen Anweſenden bekannt,
und begrüßten ſich freundlich mit ihnen.
Die Mutter wünſchte ſich reinlich ankleiden
zu dürfen. Schwaning nahm ſie auf ſein
Zimmer, und Heinrich folgte ihnen in glei¬
cher Abſicht.
Unter der Geſellſchaft war Heinrichen ein
Mann aufgefallen, den er in jenem Buche
oft an ſeiner Seite geſehn zu haben glaubte.
Sein edles Anſehn zeichnete ihn vor allen
aus. Ein heitrer Ernſt war der Geiſt ſeines
Geſichts; eine offene ſchön gewölbte Stirn,
große, ſchwarze, durchdringende und feſte Au¬
gen, ein ſchalkhafter Zug um den frölichen
Mund und durchaus klare, männliche Ver¬
hältniſſe machten es bedeutend und anzie¬
hend. Er war ſtark gebaut, ſeine Bewegun¬
gen waren ruhig und ausdrucksvoll, und wo
er ſtand, ſchien er ewig ſtehen zu wollen.
Heinrich fragte ſeinen Großvater nach ihm.
Es iſt mir lieb ſagte der Alte, daß du ihn gleich
bemerkt haſt. Es iſt mein trefflicher Freund
Klingsohr, der Dichter. Auf ſeine Bekannt¬
ſchaft und Freundſchaft kannſt du ſtolzer ſeyn,
als auf die des Kayſers. Aber wie ſtehts mit
deinem Herzen? Er hat eine ſchöne Tochter;
vielleicht daß ſie den Vater bey dir ausſticht.
Es ſollte mich wundern, wenn du ſie nicht
geſehn hätteſt. Heinrich erröthete. Ich war
zerſtreut, lieber Großvater. Die Geſellſchaft
war zahlreich, und ich betrachtete nur euren
Freund. Man merkt es, daß du aus Nor¬
den kömmſt, erwiederte Schwaning. Wir
wollen dich hier ſchon aufthauen. Du ſollſt
ſchon lernen nach hübſchen Augen ſehn.
Sie waren nun fertig und begaben ſich
zurück in den Saal, wo indeß die Zurüſtun¬
gen zum Abendeſſen gemacht worden waren.
Der alte Schwaning führte Heinrichen auf
Klingsohr zu, und erzählte ihm, daß Hein¬
rich ihn gleich bemerkt und den lebhafteſten
Wunſch habe mit ihm bekannt zu ſeyn.
Heinrich war beſchämt. Klingsohr rede¬
te freundlich zu ihm von ſeinem Vaterlande
und ſeiner Reiſe. Es lag ſoviel Zutrauliches
in ſeiner Stimme, daß Heinrich bald ein
Herz faßte und ſich freymüthig mit ihm un¬
terhielt. Nach einiger Zeit kam Schwaning
wieder zu ihnen und brachte die ſchöne Ma¬
thilde. Nehmt euch meines ſchüchternen En¬
kels freundlich an, und verzeiht es ihm, daß
er eher euren Vater, als euch geſehn hat.
Eure glänzenden Augen werden ſchon die
ſchlummernde Jugend in ihm wecken. In
ſeinem Vaterlande kommt der Frühling
ſpät.
Heinrich und Mathilde wurden roth.
Sie ſahen ſich einander mit Verwunderung
an. Sie fragte ihn mit kaum hörbaren lei¬
ſen Worten: Ob er gern tanze. Eben als er
die Frage bejahte, fing eine fröliche Tanzmu¬
ſik an. Er bot ihr ſchweigend ſeine Hand;
ſie gab ihm die ihrige, und ſie miſchten ſich
in die Reihe der walzenden Paare. Schwa¬
ning und Klingsohr ſahen zu. Die Mutter
und die Kaufleute freuten ſich über Heinrichs
Behendigkeit und ſeine liebliche Tänzerinn.
Die Mutter hatte genug mit ihren Jugend¬
freundinnen zu ſprechen, die ihr zu einem ſo
wohlgebildeten und ſo hoffnungsvollen Sohn
Glück wünſchten. Klingsohr ſagte zu
Schwaning: Euer Enkel hat ein anziehendes
Geſicht. Es zeigt ein klares und umfaſſen¬
des Gemüth, und ſeine Stimme kommt tief
aus dem Herzen. Ich hoffe, erwiederte
Schwaning, daß er euer gelehriger Schüler
ſeyn wird. Mich däucht er iſt zum Dichter
geboren. Euer Geiſt komme über ihn. Er
ſieht ſeinem Vater ähnlich; nur ſcheint er
weniger heftig und eigenſinnig. Jener war
in ſeiner Jugend voll glücklicher Anlagen.
Eine gewiſſe Freyſinnigkeit fehlte ihm. Es
hätte mehr aus ihm werden können, als ein
fleißiger und fertiger Künſtler. — Heinrich
wünſchte den Tanz nie zu endigen. Mit in¬
nigem Wohlgefallen ruhte ſein Auge auf den
Roſen ſeiner Tänzerin. Ihr unſchuldiges
Auge vermied ihn nicht. Sie ſchien der
Geiſt ihres Vaters in der lieblichſten Verklei¬
dung. Aus ihren großen ruhigen Augen
ſprach ewige Jugend. Auf einem lichthim¬
melblauen Grunde lag der milde Glanz der
braunen Sterne. Stirn und Naſe ſenkten
ſich zierlich um ſie her. Eine nach der auf¬
gehenden Sonne geneigte Lilie war ihr Ge¬
ſicht, und von dem ſchlanken, weißen Halſe
ſchlängelten ſich blaue Adern in reizenden
Windungen um die zarten Wangen. Ihre
Stimme war wie ein fernes Echo, und das
braune lockige Köpfchen ſchien über der leich¬
ten Geſtalt nur zu ſchweben.
Die Schüſſeln kamen herein und der
Tanz war aus. Die ältern Leute ſetzten ſich
auf die Eine Seite, und die jüngern nahmen
die Andere ein.
Heinrich blieb bey Mathilden. Eine
junge Verwandte ſetzte ſich zu ſeiner Linken,
und Klingsohr ſaß ihm gerade gegenüber.
So wenig Mathilde ſprach, ſo geſprächig
war Veronika, ſeine andere Nachbarin. Sie
that gleich mit ihm vertraut und machte ihn
in kurzem mit allen Anweſenden bekannt.
Heinrich verhörte manches. Er war noch
bey ſeiner Tänzerin, und hätte ſich gern öf¬
ters rechts gewandt. Klingsohr machte ih¬
rem Plaudern ein Ende. Er fragte ihn nach
dem Bande mit ſonderbaren Figuren, was
Heinrich an ſeinem Leibrocke befeſtigt hatte.
Heinrich erzählte von der Morgenländerin
mit vieler Rührung. Mathilde weinte, und
Heinrich konnte nun ſeine Thränen kaum
verbergen. Er gerieth darüber mit ihr ins
Geſpräch. Alle unterhielten ſich; Veronika
lachte und ſcherzte mit ihren Bekannten.
Mathilde erzählte ihm von Ungarn, wo ihr
Vater ſich oft aufhielt, und von dem Leben
in Augsburg. Alle waren vergnügt. Die
Muſik verſcheuchte die Zurückhaltung und
reizte alle Neigungen zu einem muntern
Spiel. Blumenkörbe dufteten in voller
Pracht auf dem Tiſche, und der Wein ſchlich
zwiſchen den Schüſſeln und Blumen umher,
ſchüttelte ſeine goldnen Flügel und ſtellte
bunte Tapeten zwiſchen die Welt und die
Gäſte. Heinrich begriff erſt jetzt, was ein
Feſt ſey. Tauſend frohe Geiſter ſchienen ihm
um den Tiſch zu gaukeln, und in ſtiller
Sympathie mit den frölichen Menſchen von
ihren Freuden zu leben und mit ihren Genüſ¬
ſen ſich zu berauſchen. Der Lebensgenuß ſtand
wie ein klingender Baum voll goldener
Früchte vor ihm. Das Übel ließ ſich nicht
ſehen, und es dünkte ihm unmöglich, daß je
die menſchliche Neigung von dieſem Baume
zu der gefährlichen Frucht des Erkenntniſſes,
zu dem Baume des Krieges ſich gewendet
haben ſollte. Er verſtand nun den Wein
und die Speiſen. Sie ſchmeckten ihm übe
aus köſtlich. Ein himmliſches Öl würzte ſie
ihm, und aus dem Becher funkelte die Herr¬
lichkeit des irdiſchen Lebens. Einige Mäd¬
chen brachten dem alten Schwaning einen
friſchen Kranz. Er ſetzte ihn auf, küßte ſie,
und ſagte: Auch unſerm Freund Klingsohr
müßt ihr einen bringen, wir wollen beyde
zum Dank euch ein paar neue Lieder lehren.
Das meinige ſollt ihr gleich haben. Er
gab der Muſik ein Zeichen, und ſang mit
lauter Stimme:
Sind wir nicht geplagte Weſen?
Iſt nicht unſer Loos betrübt?
Nur zu Zwang und Noth erleſen
In Verſtellung nur geübt,
Dürfen ſelbſt nicht unſre Klagen
Sich aus unſerm Buſen wagen.
Allem was die Eltern ſprechen,
Widerſpricht das volle Herz.
Die verbotne Frucht zu brechen
Fühlen wir der Sehnſucht Schmerz;
Möchten gern die ſüßen Knaben
Feſt an unſerm Herzen haben.
Wäre dies zu denken Sünde?
Zollfrey ſind Gedanken doch.
Was bleibt einem armen Kinde
Außer ſüßen Träumen noch?
Will man ſie auch gern verbannen,
Nimmer ziehen ſie von dannen.
Wenn wir auch des Abends beten,
Schreckt uns doch die Einſamkeit,
Und zu unſern Küſſen treten
Sehnſucht und Gefälligkeit.
Könnten wir wohl widerſtreben
Alles, Alles hinzugeben?
Unſere Reize zu verhüllen
Schreibt die ſtrenge Mutter vor.
Ach! was hilft der gute Willen,
Quellen ſie nicht ſelbſt empor?
Bey der Sehnſucht innrem Beben
Muß das beſte Band ſich geben.
Jede Neigung zu verſchließen,
Hart und kalt zu ſeyn, wie Stein,
Schöne Augen nicht zu grüßen,
Fleißig und allein zu ſeyn,
Keiner Bitte nachzugeben:
Heißt das wohl ein Jugendleben?
Groß ſind eines Mädchens Plagen,
Ihre Bruſt iſt krank und wund,
Und zum Lohn für ſtille Klagen
Küßt ſie noch ein welker Mund.
Wird denn nie das Blatt ſich wenden,
Und das Reich der Alten enden?
Die alten Leute und die Jünglinge lach¬
ten. Die Mädchen errötheten und lächelten
abwärts. Unter tauſend Neckereyen wurde
ein zweiter Kranz geholt, und Klingsohren
aufgeſetzt. Sie baten aber inſtändigſt um
keinen ſo leichtfertigen Geſang. Nein, ſagte
Klingsohr, ich werde mich wohl hüten ſo fre¬
velhaft von euren Geheimniſſen zu reden.
Sagt ſelbſt, was ihr für ein Lied haben
wollt. Nur nichts von Liebe, riefen die
Mädchen, ein Weinlied, wenn es euch an¬
ſteht. Klingsohr ſang:
Auf grünen Bergen wird geboren,
Der Gott, der uns den Himmel bringt.
Die Sonne hat ihn ſich erkohren,
Daß ſie mit Flammen ihn durchdringt.
Er wird im Lenz mit Luſt empfangen,
Der zarte Schoß quillt ſtill empor,
Und wenn des Herbſtes Früchte prangen
Springt auch das goldne Kind hervor.
Sie legen ihn in enge Wiegen
In's unterirdiſche Geſchoß.
Er träumt von Feſten und von Siegen
Und baut ſich manches luft'ge Schloß.
Es nahe keiner ſeiner Kammer,
Wenn er ſich ungeduldig drängt,
Und jedes Band und jede Klammer
Mit jugendlichen Kräften ſprengt.
Denn unſichtbare Wächter ſtellen
So lang er träumt ſich um ihn her;
Und wer betritt die heil'gen Schwellen
Den trift ihr luftumwundner Speer.
So wie die Schwingen ſich entfalten,
Läßt er die lichten Augen ſehn,
Läßt ruhig ſeine Prieſter ſchalten
Und kommt heraus wenn ſie ihm flehn.
Aus ſeiner Wiege dunklem Schooße,
Erſcheint er in Kryſtallgewand;
Verſchwiegener Eintracht volle Roſe
Trägt er bedeutend in der Hand.
Und überall um ihn verſammeln
Sich ſeine Jünger hocherfreut;
Und tauſend frohe Zungen ſtammeln,
Ihm ihre Lieb' und Dankbarkeit.
Er ſprützt in ungezählten Strahlen
Sein innres Leben in die Welt,
Die Liebe nippt aus ſeinen Schalen
Und bleibt ihm ewig zugeſellt.
Er nahm als Geiſt der goldnen Zeiten
Von jeher ſich des Dichters an,
Der
Der immer ſeine Lieblichkeiten
In trunknen Liedern aufgethan.
Er gab ihm, ſeine Treu zu ehren,
Ein Recht auf jeden hübſchen Mund,
Und daß es keine darf ihm wehren,
Macht Gott durch ihn es allen kund.
Ein ſchöner Profet! riefen die Mädchen.
Schwaning freute ſich herzlich. Sie machten
noch einige Einwendungen, aber es half
nichts. Sie mußten ihm die ſüßen Lippen
hinreichen. Heinrich ſchämte ſich nur vor ſei¬
ner ernſten Nachbarin, ſonſt hätte er ſich
laut über das Vorrecht der Dichter gefreut.
Veronika war unter den Kranzträgerinnen.
Sie kam frölich zurück und ſagte zu Hein¬
rich: Nicht wahr, es iſt hübſch, wenn man
ein Dichter iſt? Heinrich getraute ſich nicht,
dieſe Frage zu benutzen. Der Übermuth der
P
Freude und der Ernſt der erſten Liebe kämpf¬
ten in ſeinem Gemüth. Die reizende Vero¬
nika ſcherzte mit den Andern, und ſo ge¬
wann er Zeit, den erſten etwas zu dämpfen.
Mathilde erzählte ihm, daß ſie die Guitarre
ſpiele. Ach! ſagte Heinrich, von euch möchte
ich ſie lernen. Ich habe mich lange darnach
geſehnt. — Mein Vater hat mich unterrichtet,
Er ſpielt ſie unvergleichlich, ſagte ſie errö¬
thend. — Ich glaube doch, erwiederte Hein¬
rich, daß ich ſie ſchneller bey euch lerne.
Wie freue ich mich euren Geſang zu hören.
— Stellt euch nur nicht zu viel vor. — O!
ſagte Heinrich, was ſollte ich nicht erwarten
können, da eure bloße Rede ſchon Geſang iſt,
und eure Geſtalt eine himmliſche Muſik ver¬
kündigt.
Mathilde ſchwieg. Ihr Vater fing ein
Geſpräch mit ihm an, in welchem Heinrich
mit der lebhafteſten Begeiſterung ſprach.
Die Nächſten wunderten ſich über des Jüng¬
lings Beredſamkeit, über die Fülle ſeiner
bildlichen Gedanken. Mathilde ſah ihn mit
ſtiller Aufmerkſamkeit an. Sie ſchien ſich
über ſeine Reden zu freuen, die ſein Geſicht
mit den ſprechendſten Mienen noch mehr er¬
klärte. Seine Augen glänzten ungewöhnlich.
Er ſah ſich zuweilen nach Mathilden um,
die über den Ausdruck ſeines Geſichts er¬
ſtaunte. Im Feuer des Geſprächs ergriff er
unvermerkt ihre Hand, und ſie konnte nicht
umhin, manches was er ſagte, mit einem lei¬
ſen Druck zu beſtätigen. Klingsohr wußte
ſeinen Enthuſiasmus zu unterhalten, und
lockte allmählich ſeine ganze Seele auf die
Lippen. Endlich ſtand alles auf. Alles
ſchwärmte durch einander. Heinrich war an
Mathildens Seite geblieben. Sie ſtanden
unbemerkt abwärts. Er hielt ihre Hand und
küßte ſie zärtlich. Sie ließ ſie ihm, und
blickte ihn mit unbeſchreiblicher Freundlichkeit
an. Er konnte ſich nicht halten, neigte ſich
zu ihr und küßte ihre Lippen. Sie war
überraſcht, und erwiederte unwillkührlich ſei¬
nen heißen Kuß. Gute Mathilde, lieber
Heinrich, das war alles, was ſie einander ſa¬
gen konnten. Sie drückte ſeine Hand, und
ging unter die Andern. Heinrich ſtand, wie
im Himmel. Seine Mutter kam auf ihn zu.
Er ließ ſeine ganze Zärtlichkeit an ihr aus.
Sie ſagte: Iſt es nicht gut, daß wir nach
Augsburg gereiſt ſind? Nicht wahr, es ge¬
fällt dir? Liebe Mutter, ſagte Heinrich, ſo
habe ich mir es doch nicht vorgeſtellt. Es iſt
ganz herrlich.
Der Reſt des Abends verging in unend¬
licher Fröhlichkeit. Die Alten ſpielten, plau¬
derten, und ſahen den Tänzen zu. Die Mu¬
ſik wogte wie ein Luſtmeer im Saale, und
hob die berauſchte Jugend.
Heinrich fühlte die entzückenden Weiſſa¬
gungen der erſten Luſt und Liebe zugleich.
Auch Mathilde ließ ſich willig von den
ſchmeichelnden Wellen tragen, und verbarg
ihr zärtliches Zutrauen, ihre aufkeimende
Neigung zu ihm nur hinter einem leichten
Flor. Der alte Schwaning bemerkte das
kommende Verſtändniß, und neckte beyde.
Klingsohr hatte Heinrichen lieb gewon¬
nen, und freute ſich ſeiner Zärtlichkeit. Die
andern Jünglinge und Mädchen hatten es
bald bemerkt. Sie zogen die ernſte Mathil¬
de mit dem jungen Thüringer auf, und ver¬
hehlten nicht, daß es ihnen lieb ſey, Mathil¬
dens Aufmerkſamkeit nicht mehr bey ihren
Herzensgeſchäften ſcheuen zu dürfen.
Es war tief in der Nacht, als die Ge¬
ſellſchaft auseinanderging. Das erſte und
einzige Feſt meines Lebens, ſagte Heinrich zu
ſich ſelbſt, als er allein war, und ſeine Mut¬
ter ſich ermüdet zur Ruhe gelegt hatte. Iſt
mir nicht zu Muthe, wie in jenem Traume,
beym Anblick der blauen Blume? Welcher
ſonderbare Zuſammenhang iſt zwiſchen Ma¬
thilden und dieſer Blume? Jenes Geſicht,
das aus dem Kelche ſich mir entgegenneigte,
es war Mathildens himmliſches Geſicht, und
nun erinnere ich mich auch, es in jenem Bu¬
che geſehn zu haben. Aber warum hat es
dort mein Herz nicht ſo bewegt? O! ſie iſt
der ſichtbare Geiſt des Geſanges, eine würdi¬
ge Tochter ihres Vaters. Sie wird mich in
Muſik auflöſen. Sie wird meine innerſte
Seele, die Hüterin meines heiligen Feuers
ſeyn. Welche Ewigkeit von Treue fühle ich
in mir! Ich ward nur geboren, um ſie zu
verehren, um ihr ewig zu dienen, um ſie zu
denken und zu empfinden. Gehört nicht ein
eigenes ungetheiltes Daſeyn zu ihrer An¬
ſchaung und Anbetung? und bin ich der
Glückliche, deſſen Weſen das Echo, der Spie¬
gel des ihrigen ſeyn darf? Es war kein
Zufall, daß ich ſie am Ende meiner Reiſe
ſah, daß ein ſeliges Feſt den höchſten Augen¬
blick meines Lebens umgab. Es konnte
nicht anders ſeyn; macht ihre Gegenwart
nicht alles feſtlich?
Er trat ans Fenſter. Das Chor der Ge¬
ſtirne ſtand am dunkeln Himmel, und im
Morgen kündigte ein weißer Schein den
kommenden Tag an.
Mit vollem Entzücken rief Heinrich aus:
Euch, ihr ewigen Geſtirne, ihr ſtillen Wan¬
drer, euch rufe ich zu Zeugen meines heiligen
Schwurs an. Für Mathilden will ich leben,
und ewige Treue ſoll mein Herz an das ih¬
rige knüpfen. Auch mir bricht der Morgen
eines ewigen Tages an. Die Nacht iſt vor¬
über. Ich zünde der aufgehenden Sonne
mich ſelbſt zum nieverglühenden Opfer an.
Heinrich war erhitzt, und nur ſpät gegen
Morgen ſchlief er ein. In wunderliche Träu¬
me floſſen die Gedanken ſeiner Seele zuſam¬
men. Ein tiefer blauer Strom ſchimmerte
aus der grünen Ebene herauf. Auf der glat¬
ten Fläche ſchwamm ein Kahn. Mathilde
ſaß und ruderte. Sie war mit Kränzen ge¬
ſchmückt, ſang ein einfaches Lied, und ſah
nach ihm mit ſüßer Wehmuth herüber. Sei¬
ne Bruſt war beklommen. Er wußte nicht
warum. Der Himmel war heiter, die Flut
ruhig. Ihr himmliſches Geſicht ſpiegelte ſich
in den Wellen. Auf einmal fing der Kahn
an ſich umzudrehen. Er rief ihr ängſtlich zu.
Sie lächelte und legte das Ruder in den
Kahn, der ſich immerwährend drehte. Eine
ungeheure Bangigkeit ergriff ihn. Er ſtürzte
ſich in den Strom; aber er konnte nicht
fort, das Waſſer trug ihn. Sie winkte, ſie
chien ihm etwas ſagen zu wollen, der Kahn
ſchöpfte ſchon Waſſer; doch lächelte ſie mit einer
unſäglichen Innigkeit, und ſah heiter in den
Wirbel hinein. Auf einmal zog es ſie hin¬
unter. Eine leiſe Luft ſtrich über den Strom,
der eben ſo ruhig und glänzend floß, wie
vorher. Die entſetzliche Angſt raubte ihm das
Bewußtſeyn. Das Herz ſchlug nicht mehr.
Er kam erſt zu ſich, als er ſich auf trock¬
nem Boden fühlte. Er mochte weit ge¬
ſchwommen ſeyn. Es war eine fremde Ge¬
gend. Er wußte nicht wie ihm geſchehen
war. Sein Gemüth war verſchwunden.
Gedankenlos ging er tiefer ins Land. Ent¬
ſetzlich matt fühlte er ſich. Eine kleine Quel¬
le kam aus einem Hügel, ſie tönte wie lau¬
ter Glocken. Mit der Hand ſchöpfte er eini¬
ge Tropfen und netzte ſeine dürren Lippen.
Wie ein banger Traum lag die ſchreckliche
Begebenheit hinter ihm. Immer weiter und
weiter ging er, Blumen und Bäume redeten
redeten ihn an. Ihm wurde ſo wohl und
heymathlich zu Sinne. Da hörte er jenes
einfache Lied wieder. Er lief den Tönen
nach. Auf einmal hielt ihn jemand am Ge¬
wande zurück. Lieber Heinrich, rief eine be¬
kannte Stimme. Er ſah ſich um, und Ma¬
thilde ſchloß ihn in ihre Arme. Warum
liefſt du vor mir, liebes Herz, ſagte ſie tief¬
athmend. Kaum konnte ich dich einholen.
Heinrich weinte. Er drückte ſie an ſich. —
Wo iſt der Strom, rief er mit Thränen.
Siehſt du nicht ſeine blauen Wellen über uns?
Er ſah hinauf, und der blaue Strom floß
leiſe über ihrem Haupte. Wo ſind wir, liebe
Mathilde? Bey unſern Eltern. Bleiben wir
zuſammen? Ewig, verſetzte ſie, indem ſie ihre
Lippen an die ſeinigen drückte, und ihn ſo
umſchloß, daß ſie nicht wieder von ihm konn¬
te. Sie ſagte ihm ein wunderbares gehei¬
mes Wort in den Mund, was ſein ganzes
Weſen durchklang. Er wollte es wiederho¬
len, als ſein Großvater rief, und er aufwach¬
te. Er hätte ſein Leben darum geben mö¬
gen, das Wort noch zu wiſſen.
Siebentes Kapitel.
Klingsohr ſtand vor ſeinem Bette, und
bot ihm freundlich guten Morgen. Er ward
munter und fiel Klingsohr um den Hals.
Das gilt euch nicht, ſagte Schwaning.
Heinrich lächelte und verbarg ſein Erröthen
an den Wangen ſeiner Mutter.
Habt ihr Luſt mit mir vor der Stadt
auf einer ſchönen Anhöhe zu frühſtücken?
ſagte Klingsohr. Der herrliche Morgen
wird euch erfriſchen. Kleidet euch an. Ma¬
thilde wartet ſchon auf uns.
Heinrich dankte mit tauſend Freuden
für dieſe willkommene Einladung. In ei¬
nem Augenblick war er fertig, und küßte
Klingsohr mit vieler Inbrunſt die Hand.
Sie gingen zu Mathilden, die in ihrem
einfachen Morgenkleide wunderlieblich aus¬
ſah und ihn freundlich grüßte. Sie hatte
ſchon das Frühſtück in ein Körbchen gepackt,
das ſie an den Einen Arm hing, und die an¬
dere Hand unbefangen Heinrichen reichte.
Klingsohr folgte ihnen, und ſo wandelten ſie
durch die Stadt, die ſchon voller Lebendig¬
keit war, nach einem kleinen Hügel am Fluſ¬
ſe, wo ſich unter einigen hohen Bäumen ei¬
ne weite und volle Ausſicht öffnete.
Habe ich doch ſchon oft, rief Heinrich
aus, mich an dem Aufgang der bunten Na¬
tur, an der friedlichen Nachbarſchaft ihres
mannichfaltigen Eigenthums ergötzt; aber ei¬
ne ſo ſchöpferiſche und gediegene Heiterkeit
hat mich noch nie erfüllt wie heute. Jene
Fernen ſind mir ſo nah, und die reiche Land¬
ſchaft iſt mir wie eine innere Fantaſie. Wie
veränderlich iſt die Natur, ſo unwandelbar
auch ihre Oberfläche zu ſeyn ſcheint. Wie
anders iſt ſie, wenn ein Engel, wenn ein
kräftigerer Geiſt neben uns iſt, als wenn ein
Nothleidender vor uns klagt, oder ein Bauer
uns erzählt, wie ungünſtig die Witterung
ihm ſey, und wie nöthig er düſtre Regentage
für ſeine Saat brauche. Euch, theuerſter
Meiſter, bin ich dieſes Vergnügen ſchuldig;
ja dieſes Vergnügen, denn es giebt kein an¬
deres Wort, was wahrhafter den Zuſtand
meines Herzens ausdrückte. Freude, Luſt
und Entzücken ſind nur die Glieder des Ver¬
gnügens, das ſie zu einem höhern Leben ver¬
knüpft. Er drückte Mathildens Hand an ſein
Herz, und verſank mit einem feurigen Blick
in ihr mildes, empfängliches Auge.
Die Natur, verſetzte Klingsohr, iſt für
unſer Gemüth, was ein Körper für das Licht
iſt. Er hält es zurück; er bricht es in eigen¬
thümliche Farben; er zündet auf ſeiner Ober¬
fläche oder in ſeinem Innern ein Licht an,
das, wenn es ſeiner Dunkelheit gleich kommt,
ihn klar und durchſichtig macht, wenn es ſie
überwiegt, von ihm ausgeht, um andere Kör¬
per zu erleuchten. Aber ſelbſt der dunkelſte
Körper kann durch Waſſer, Feuer, und Luft
dahin gebracht werden, daß er hell und
glänzend wird.
Ich verſtehe euch, lieber Meiſter. Die
Menſchen ſind Kryſtalle für unſer Gemüth.
Sie ſind die durchſichtige Natur. Liebe Ma¬
thilde, ich möchte euch einen köſtlichen lau¬
tern Sapphir nennen. Ihr ſeyd klar und
durchſichtig wie der Himmel, ihr erleuchtet
mit dem mildeſten Lichte. Aber ſagt mir, lie¬
ber Meiſter, ob ich recht habe: mich dünkt,
daß man gerade wenn man am innigſten
mit der Natur vertraut iſt am wenigſten
von ihr ſagen könnte und möchte.
Wie man das nimmt, verſetzte Klings¬
ohr; ein anderes iſt es mit der Natur für
unſern Genuß und unſer Gemüth, ein ande¬
res mit der Natur für unſern Verſtand, für
das leitende Vermögen unſerer Weltkräfte.
Man muß ſich wohl hüten, nicht eins über
das andere zu vergeſſen. Es giebt viele, die
nur die Eine Seite kennen und die andere
geringſchätzen. Aber beyde kann man verei¬
nigen, und man wird ſich wohl dabey befin¬
den. Schade, daß ſo wenige darauf denken,
ſich in ihrem Innern frey und geſchickt bewe¬
gen zu können, und durch eine gehörige
Trennung ſich den zweckmäßigſten und natür¬
lichſten Gebrauch ihrer Gemüthskräfte zu ſi¬
chern. Gewöhnlich hindert eine die andere, und
ſo entſteht allmälich eine unbehülfliche Träg¬
heit, daß wenn nun ſolche Menſchen einmal
mit geſammten Kräften aufſtehen wollen, eine
gewaltige Verwirrung und Streit beginnt, und
alles über einander ungeſchickt herſtolpert. Ich
kann euch nicht genug anrühmen, euren Ver¬
ſtand,
ſtand, euren natürlichen Trieb zu wiſſen, wie
alles ſich begiebt und untereinander nach Ge¬
ſetzen der Folge zuſammenhängt, mit Fleiß
und Mühe zu unterſtützen. Nichts iſt dem
Dichter unentbehrlicher, als Einſicht in die
Natur jedes Geſchäfts, Bekanntſchaft mit
den Mitteln jeden Zweck zu erreichen, und
Gegenwart des Geiſtes, nach Zeit und Um¬
ſtänden, die ſchicklichſten zu wählen. Begei¬
ſterung ohne Verſtand iſt unnütz und gefähr¬
lich, und der Dichter wird wenig Wunder
thun können, wenn er ſelbſt über Wunder er¬
ſtaunt.
Iſt aber dem Dichter nicht ein inniger
Glaube an die menſchliche Regierung des
Schickſals unentbehrlich?
Unentbehrlich allerdings, weil er ſich das
Schickſal nicht anders vorſtellen kann, wenn
er reiflich darüber nachdenkt; aber wie ent¬
fernt iſt dieſe heitere Gewißheit, von jener
Q
ängſtlichen Ungewißheit, von jener blinden
Furcht des Aberglaubens. Und ſo iſt auch
die kühle, belebende Wärme eines dichteri¬
ſchen Gemüths gerade das Widerſpiel von je¬
ner wilden Hitze eines kränklichen Herzens.
Dieſe iſt arm, betäubend und vorübergehend;
jene ſondert alle Geſtalten rein ab, begün¬
ſtigt die Ausbildung der mannigfaltigſten
Verhältniſſe, und iſt ewig durch ſich ſelbſt.
Der junge Dichter kann nicht kühl, nicht be¬
ſonnen genug ſeyn. Zur wahren, melodi¬
ſchen Geſprächigkeit gehört ein weiter, auf¬
merkſamer und ruhiger Sinn. Es wird ein
verworrnes Geſchwätz, wenn ein reißender
Sturm in der Bruſt tobt, und die Aufmerk¬
ſamkeit in eine zitternde Gedankenloſigkeit
auflöſt. Nochmals wiederhole ich, das ächte
Gemüth iſt wie das Licht, eben ſo ruhig und
empfindlich, eben ſo elaſtiſch und durchdring¬
lich, eben ſo mächtig und eben ſo unmerklich
wirkſam als dieſes köſtliche Element, das
auf alle Gegenſtände ſich mit ſeiner Abgemeſ¬
ſenheit vertheilt, und ſie alle in reizender
Mannichfaltigkeit erſcheinen läßt. Der Dich¬
ter iſt reiner Stahl, eben ſo empfindlich, wie
ein zerbrechlicher Glasfaden, und eben ſo
hart, wie ein ungeſchmeidiger Kieſel.
Ich habe das ſchon zuweilen gefühlt,
ſagte Heinrich, daß ich in den innigſten Mi¬
nuten weniger lebendig war, als zu andern
Zeiten, wo ich frey umhergehn und alle Be¬
ſchäftigungen mit Luſt treiben konnte. Ein
geiſtiges ſcharfes Weſen durchdrang mich
dann, und ich durfte jeden Sinn nach Gefal¬
len brauchen, jeden Gedanken, wie einen
wirklichen Körper, umwenden und von allen
Seiten betrachten. Ich ſtand mit ſtillem An¬
theil an der Werkſtatt meines Vaters, und
freute mich, wenn ich ihm helfen und etwas
geſchickt zu Stande bringen konnte. Geſchick¬
lichkeit hat einen ganz beſondern ſtärkenden
Reiz, und es iſt wahr, ihr Bewußtſeyn ver¬
ſchafft einen dauerhafteren und deutlicheren
Genuß, als jenes überfließende Gefühl einer
unbegreiflichen, überſchwenglichen Herrlichkeit.
Glaubt nicht, ſagte Klingsohr, daß ich
das letztere tadle; aber es muß von ſelbſt
kommen, und nicht geſucht werden. Seine
ſparſame Erſcheinung iſt wohlthätig; öfterer
wird ſie ermüdend und ſchwächend. Man
kann nicht ſchnell genug ſich aus der ſüßen
Betäubung reißen, die es hinterläßt, und zu
einer regelmäßigen und mühſamen Beſchäfti¬
gung zurückkehren. Es iſt wie mit den an¬
muthigen Morgenträumen, aus deren ein¬
ſchläferndem Wirbel man nur mit Gewalt
ſich herausziehen kann, wenn man nicht in
immer drückendere Müdigkeit gerathen, und
ſo in krankhafter Erſchöpfung nachher den
ganzen Tag hinſchleppen will.
Die Poeſie will vorzüglich, fuhr Klings¬
ohr fort, als ſtrenge Kunſt getrieben werden.
Als bloßer Genuß hört ſie auf Poeſie zu
ſeyn. Ein Dichter muß nicht den ganzen
Tag müßig umherlaufen, und auf Bilder und
Gefühle Jagd machen. Das iſt ganz der
verkehrte Weg. Ein reines offenes Gemüth,
Gewandheit im Nachdenken und Betrachten,
und Geſchicklichkeit alle ſeine Fähigkeiten in
eine gegenſeitig belebende Thätigkeit zu ver¬
ſetzen und darin zu erhalten, das ſind die
Erforderniſſe unſerer Kunſt. Wenn ihr euch
mir überlaſſen wollt, ſo ſoll kein Tag euch
vergehn, wo ihr nicht eure Kenntniſſe berei¬
chert, und einige nützliche Einſichten erlangt
habt. Die Stadt iſt reich an Künſtlern aller
Art. Es giebt einige erfahrne Staatsmän¬
ner, einige gebildete Kaufleute hier. Man
kann ohne große Umſtände mit allen Stän¬
den, mit allen Gewerben, mit allen Verhält¬
niſſen und Erforderniſſen der menſchlichen
Geſellſchaft ſich bkanntbekannt machen. Ich will
euch mit Freuden in dem Handwerksmä¬
ßigen unſerer Kunſt unterrichten, und die
merkwürdigſten Schriften mit euch leſen.
Ihr könnt Mathildens Lehrſtunden thei¬
len, und ſie wird euch gern die Guitarre
ſpielen lehren. Jede Beſchäftigung wird die
übrigen vorbereiten, und wenn ihr ſo euren
Tag gut angelegt habt, ſo werden euch das
Geſpräch und die Freuden des geſellſchaftli¬
chen Abends, und die Anſichten der ſchönen
Landſchaft umher mit den heiterſten Genüſ¬
ſen immer wieder überraſchen.
Welches herrliche Leben ſchließt ihr mir
auf, liebſter Meiſter. Unter eurer Leitung
werde ich erſt merken, welches edle Ziel vor
mir ſteht, und wie ich es nur durch euren
Rath zu erreichen hoffen darf.
Klingsohr umarmte ihn zärtlich. Ma¬
thilde brachte ihnen das Frühſtück, und
Heinrich fragte ſie mit zärtlicher Stimme, ob
ſie ihn gern zum Begleiter ihres Unterrichts
und zum Schüler annehmen wollte. Ich
werde wohl ewig euer Schüler bleiben, ſagte
er, indem ſich Klingsohr nach einer andern
Seite wandte. Sie neigte ſich unmerklich
zu ihm hin. Er umſchlang ſie und küßte
den weichen Mund des erröthenden Mäd¬
chens. Nur ſanft bog ſie ſich von ihm weg,
doch reichte ſie ihm mit der kindlichſten An¬
muth eine Roſe, die ſie am Buſen trug. Sie
machte ſich mit ihrem Körbchen zu thun.
Heinrich ſah ihr mit ſtillem Entzücken nach,
küßte die Roſe, heftete ſie an ſeine Bruſt,
und ging an Klingsohrs Seite, der nach der
Stadt hinüber ſah.
Wo ſeyd ihr hereingekommen, fragte
Klingsohr. Über jenen Hügel herunter, er¬
wiederte Heinrich. In jene Ferne verliert
ſich unſer Weg. — Ihr müßt ſchöne Gegen¬
den geſehn haben. — Faſt ununterbrochen
ſind wir durch reizende Landſchaften gereiſet. —
Auch eure Vaterſtadt hat wohl eine anmuthige
Lage? — Die Gegend iſt abwechſelnd genug;
doch iſt ſie noch wild, und ein großer Fluß
fehlt ihr. Die Ströme ſind die Augen einer
Landſchaft. — Die Erzählung eurer Reiſe,
ſagte Klingsohr, hat mir geſtern Abend eine
angenehme Unterhaltung gewährt. Ich ha¬
be wohl gemerkt, daß der Geiſt der Dicht¬
kunſt euer freundlicher Begleiter iſt. Eure
Gefährten ſind unbemerkt ſeine Stimmen ge¬
worden. In der Nähe des Dichters bricht
die Poeſie überall aus. Das Land der Poe¬
ſie, das romantiſche Morgenland, hat euch
mit ſeiner ſüßen Wehmuth begrüßt; der Krieg
hat euch in ſeiner wilden Herrlichkeit angere¬
det, und die Natur und Geſchichte ſind euch
unter der Geſtalt eines Bergmanns und ei¬
nes Einſiedlers begegnet.
Ihr vergeßt das Beſte, lieber Meiſter,
die himmliſche Erſcheinung der Liebe. Es
hängt nur von euch ab, dieſe Erſcheinung
mir auf ewig feſtzuhalten. Was meynſt du,
rief Klingsohr, indem er ſich zu Mathilden
wandte, die eben auf ihn zukam. Haſt du
Luſt Heinrichs unzertrennliche Gefährtinn zu
ſeyn? Wo du bleibſt, bleibe ich auch. Ma¬
thilde erſchrak, ſie flog in die Arme ihres
Vaters. Heinrich zitterte in unendlicher
Freude. Wird er mich denn ewig geleiten
wollen? lieber Vater. Frage ihn ſelbſt, ſag¬
te Klingsohr gerührt. Sie ſah Heinrichen
mit der innigſten Zärtlichkeit an. Meine
Ewigkeit iſt ja dein Werk, rief Heinrich, in¬
dem ihm die Thränen über die blühenden
Wangen ſtürzten. Sie umſchlangen ſich zu¬
gleich. Klingsohr faßte ſie in ſeine Ar¬
me. Meine Kinder, rief er, ſeyd ein¬
ander treu bis in den Tod! Liebe und
Treue werden euer Leben zur ewigen Poeſie
machen.
Achtes Kapitel.
Nachmittags führte Klingsohr ſeinen neuen
Sohn, an deſſen Glück ſeine Mutter und
Großvater den zärtlichſten Antheil nahmen,
und Mathilden wie ſeinen Schutzgeiſt verehr¬
ten, in ſeine Stube, und machte ihn mit den
Büchern bekannt. Sie ſprachen nachher von
Poeſie.
Ich weiß nicht, ſagte Klingsohr, warum
man es für Poeſie nach gemeiner Weiſe hält,
wenn man die Natur für einen Poeten aus¬
giebt. Sie iſt es nicht zu allen Zeiten. Es
iſt in ihr, wie in dem Menſchen, ein entge¬
gengeſetztes Weſen, die dumpfe Begierde und
die ſtumpfe Gefühlloſigkeit und Trägheit, die
einen raſtloſen Streit mit der Poeſie führen.
Er wäre ein ſchöner Stoff zu einem Gedicht,
dieſer gewaltige Kampf. Manche Länder
und Zeiten ſcheinen, wie die meiſten Men¬
ſchen, ganz unter der Botmäßigkeit dieſer
Feindinn der Poeſie zu ſtehen, dagegen in
andern die Poeſie einheimiſch und überall
ſichtbar iſt. Für den Geſchichtſchreiber ſind
die Zeiten dieſes Kampfes äußerſt merkwür¬
dig, ihre Darſtellung ein reizendes und be¬
lohnendes Geſchäft. Es ſind gewöhnlich die
Geburtszeiten der Dichter. Der Widerſache¬
rinn iſt nichts unangenehmer, als daß ſie der
Poeſie gegenüber ſelbſt zu einer poetiſchen
Perſon wird, und nicht ſelten in der Hitze
die Waffen mit ihr tauſcht, und von ihrem
eigenen heimtückiſchen Geſchoſſe heftig getrof¬
fen wird, dahingegen die Wunden der Poeſie,
die ſie von ihren eigenen Waffen erhält,
leicht heilen und ſie nur noch reizender und
gewaltiger machen.
Der Krieg überhaupt, ſagte Heinrich,
ſcheint mir eine poetiſche Wirkung. Die Leu¬
te glauben ſich für irgend einen armſeligen
Beſitz ſchlagen zu müſſen, und merken nicht,
daß ſie der romantiſche Geiſt aufregt, um
die unnützen Schlechtigkeiten durch ſich ſelbſt
zu vernichten. Sie führen die Waffen für
die Sache der Poeſie, und beyde Heere fol¬
gen Einer unſichtbaren Fahne.
Im Kriege, verſetzte Klingsohr, regt ſich
das Urgewäſſer. Neue Welttheile ſollen ent¬
ſtehen, neue Geſchlechter ſollen aus der gro¬
ßen Auflöſung anſchießen. Der wahre Krieg
iſt der Religionskrieg; der geht gerade zu
auf Untergang, und der Wahnſinn der Men¬
ſchen erſcheint in ſeiner völligen Geſtalt.
Viele Kriege, beſonders die vom National¬
haß entſpringen, gehören in dieſe Klaſſe mit,
und ſie ſind ächte Dichtungen. Hier ſind
die wahren Helden zu Hauſe, die das edelſte
Gegenbild der Dichter, nichts anders, als
unwillkührlich von Poeſie durchdrungene
Weltkräfte ſind. Ein Dichter, der zugleich
Held wäre, iſt ſchon ein göttlicher Geſandter,
aber ſeiner Darſtellung iſt unſere Poeſie nicht
gewachſen.
Wie verſteht ihr das, lieber Vater, ſagte
Heinrich. Kann ein Gegenſtand zu über¬
ſchwänglich für die Poeſie ſeyn?
Allerdings. Nur kann man im Grunde
nicht ſagen, für die Poeſie, ſondern nur für
unſere irdiſchen Mittel und Werkzeuge.
Wenn es ſchon für einen einzelnen Dichter
nur ein eigenthümliches Gebiet giebt, inner¬
halb deſſen er bleiben muß, um nicht alle
Haltung und den Athem zu verlieren: ſo
giebt es auch für die ganze Summe menſch¬
licher Kräfte eine beſtimmte Grenze der Dar¬
ſtellbarkeit, über welche hinaus die Darſtel¬
lung die nöthige Dichtigkeit und Geſtaltung
nicht behalten kann, und in ein leeres täu¬
ſchendes Unding ſich verliert. Beſonders als
Lehrling kann man nicht genug ſich vor die¬
ſen Ausſchweifungen hüten, da eine lebhafte
Fantaſie nur gar zu gern nach den Grenzen
ſich begiebt, und übermüthig das Unſinnliche,
Übermäßige zu ergreifen und auszuſprechen
ſucht. Reifere Erfahrung lehrt erſt, jene
Unverhältnißmäßigkeit der Gegenſtände zu
vermeiden, und die Aufſpürung des Einfachſten
und Höchſten der Weltweisheit zu überlaſſen.
Der ältere Dichter ſteigt nicht höher, als er
es gerade nöthig hat, um ſeinen mannichfal¬
tigen Vorrath in eine leichtfaßliche Ordnung
zu ſtellen, und hütet ſich wohl, die Mannich¬
faltigkeit zu verlaſſen, die ihm Stoff genug
und auch die nöthigen Vergleichungspunkte
darbietet. Ich möchte faſt ſagen, das Chaos
muß in jeder Dichtung durch den regelmäßi¬
gen Flor der Ordnung ſchimmern. Den
Reichthum der Erfindung macht nur eine
leichte Zuſammenſtellung faßlich und anmu¬
thig, dagegen auch das bloße Ebenmaaß die
unangenehme Dürre einer Zahlenfigur hat.
Die beſte Poeſie liegt uns ganz nahe, und
ein gewöhnlicher Gegenſtand iſt nicht ſelten
ihr liebſter Stoff. Für den Dichter iſt die
Poeſie an beſchränkte Werkzeuge gebunden,
und eben dadurch wird ſie zur Kunſt. Die
Sprache überhaupt hat ihren beſtimmten
Kreis. Noch enger iſt der Umfang einer be¬
ſondern Volksſprache. Durch Übung und
Nachdenken lernt der Dichter ſeine Sprache
kennen. Er weiß, was er mit ihr leiſten
kann, genau, und wird keinen thörichten
Verſuch machen, ſie über ihre Kräfte anzu¬
ſpannen. Nur ſelten wird er alle ihre Kräf¬
te in Einen Punkt zuſammen drängen, denn
ſonſt wird er ermüdend, und vernichtet ſelbſt
die koſtbare Wirkung einer gutangebrachten
Kraftäußerung. Auf ſeltſame Sprünge rich¬
tet
tet ſie nur ein Gaukler, kein Dichter ab.
Überhaupt können die Dichter nicht genug
von den Muſikern und Mahlern lernen. In
dieſen Künſten wird es recht auffallend, wie
nöthig es iſt, wirthſchaftlich mit den Hülfs¬
mitteln der Kunſt umzugehn, und wie viel
auf geſchickte Verhältniſſe ankommt. Dage¬
gen könnten freylich jene Künſtler auch von
uns die poetiſche Unabhängigkeit und den in¬
nern Geiſt jeder Dichtung und Erfindung, je¬
des ächten Kunſtwerks überhaupt, dankbar
annehmen. Sie ſollten poetiſcher und wir
muſikaliſcher und mahleriſcher ſeyn — bey¬
des nach der Art und Weiſe unſerer Kunſt.
Der Stoff iſt nicht der Zweck der Kunſt,
aber die Ausführung iſt es. Du wirſt ſelbſt
ſehen, welche Geſänge dir am beſten gera¬
then, gewiß die, deren Gegenſtände dir am
geläufigſten und gegenwärtigſten ſind. Da¬
her kann man ſagen, daß die Poeſie ganz
R
auf Erfahrung beruht. Ich weiß ſelbſt, daß
mir in jungen Jahren ein Gegenſtand nicht
leicht zu entfernt und zu unbekannt ſeyn
konnte, den ich nicht am liebſten beſungen
hätte. Was wurde es? ein leeres, armſeli¬
ges Wortgeräuſch, ohne einen Funken wah¬
rer Poeſie. Daher iſt auch ein Mährchen ei¬
ne ſehr ſchwierige Aufgabe, und ſelten wird
ein junger Dichter ſie gut löſen.
Ich möchte gern eins von Dir hören,
ſagte Heinrich. Die wenigen, die ich gehört
habe, haben mich unbeſchreiblich ergötzt, ſo
unbedeutend ſie auch ſeyn mochten.
Ich will heute Abend deinen Wunſch be¬
friedigen. Es iſt mir Eins erinnerlich, was
ich noch in ziemlich jungen Jahren machte,
wovon es auch noch deutliche Spuren an ſich
trägt, indeß wird es dich vielleicht deſto lehr¬
reicher unterhalten, und dich an manches er¬
innern, was ich dir geſagt habe.
Die Sprache, ſagte Heinrich, iſt wirklich
eine kleine Welt in Zeichen und Tönen.
Wie der Menſch ſie beherrſcht, ſo möchte er
gern die große Welt beherrſchen, und ſich
frey darinn ausdrücken können. Und eben
in dieſer Freude, das, was außer der Welt
iſt, in ihr zu offenbaren, das thun zu kön¬
nen, was eigentlich der urſprüngliche Trieb
unſers Daſeyns iſt, liegt der Urſprung der
Poeſie.
Es iſt recht übel, ſagte Klingsohr, daß
die Poeſie einen beſondern Namen hat, und
die Dichter eine beſondere Zunft ausmachen.
Es iſt gar nichts beſonderes. Es iſt die ei¬
genthümliche Handlungsweiſe des menſchli¬
chen Geiſtes. Dichtet und trachtet nicht jeder
Menſch in jeder Minute? — Eben trat Mathil¬
de in's Zimmer, als Klingsohr noch ſagte:
Man betrachte nur die Liebe. Nirgends
wird wohl die Nothwendigkeit der Poeſie
zum Beſtand der Menſchheit ſo klar, als in
ihr. Die Liebe iſt ſtumm, nur die Poeſie
kann für ſie ſprechen. Oder die Liebe iſt ſelbſt
nichts, als die höchſte Naturpoeſie. Doch
ich will dir nicht Dinge ſagen, die du beſſer
weißt, als ich.
Du biſt ja der Vater der Liebe, ſagte
Heinrich, indem er Mathilden umſchlang,
und beyde ſeine Hand küßten.
Klingsohr umarmte ſie und ging hinaus.
Liebe Mathilde, ſagte Heinrich nach einem
langen Kuſſe, es iſt mir wie ein Traum, daß
du mein biſt, aber noch wunderbarer iſt mir
es, daß du es nicht immer geweſen biſt.
Mich dünkt, ſagte Mathilde, ich kennte dich
ſeit undenklichen Zeiten. — Kannſt du mich
denn lieben? — Ich weiß nicht, was Liebe
iſt, aber das kann ich dir ſagen, daß mir iſt,
als finge ich erſt jetzt zu leben an, und daß
ich dir ſo gut bin, daß ich gleich für dich
ſterben wollte. — Meine Mathilde, erſt jetzt
fühle ich, was es heißt unſterblich zu
ſeyn. — Lieber Heinrich, wie unendlich gut
biſt du, welcher herrliche Geiſt ſpricht aus
dir. Ich bin ein armes, unbedeutendes
Mädchen. — Wie du mich tief beſchämſt!
bin ich doch nur durch dich, was ich bin.
Ohne dich wäre ich nichts. Was iſt ein
Geiſt ohne Himmel, und du biſt der Himmel,
der mich trägt und erhält. — Welches ſeli¬
ge Geſchöpf wäre ich, wenn du ſo treu
wärſt, wie mein Vater. Meine Mutter ſtarb
kurz nach meiner Geburt; Mein Vater weint
faſt alle Tage noch um ſie. — Ich verdiene
es nicht, aber möchte ich glücklicher ſeyn,
als er. — Ich lebte gern recht lange an
deiner Seite, lieber Heinrich. Ich werde
durch dich gewiß viel beſſer. — Ach! Ma¬
thilde, auch der Tod wird uns nicht tren¬
nen. — Nein Heinrich, wo ich bin, wirſt du
ſeyn. — Ja wo du biſt, Mathilde, werd’ ich
ewig ſeyn. — Ich begreife nichts von der
Ewigkeit, aber ich dächte, das müßte die
Ewigkeit ſeyn, was ich empfinde, wenn ich
an dich denke. — Ja Mathilde, wir ſind
ewig weil wir uns lieben. — Du glaubſt
nicht Lieber, wie inbrünſtig ich heute früh,
wie wir nach Hauſe kamen, vor dem Bilde
der himmliſchen Mutter niederkniete, wie un¬
ſäglich ich zu ihr gebetet habe. Ich glaubte
in Thränen zu zerfließen. Es kam mir vor,
als lächelte ſie mir zu. Nun weiß ich erſt
was Dankbarkeit iſt. — O Geliebte, der
Himmel hat dich mir zur Verehrung gege¬
ben. Ich bete dich an. Du biſt die Heilige,
die meine Wünſche zu Gott bringt, durch
die er ſich mir offenbart, durch die er mir
die Fülle ſeiner Liebe kund thut. Was iſt
die Religion, als ein unendliches Einver¬
ſtändniß, eine ewige Vereinigung liebender
Herzen? Wo zwey verſammelt ſind, iſt er
ja unter ihnen. Ich habe ewig an dir zu
athmen; meine Bruſt wird nie aufhören dich
in ſich zu ziehn. Du biſt die göttliche Herr¬
lichkeit, das ewige Leben in der lieblichſten
Hülle. — Ach! Heinrich, du weißt das
Schickſal der Roſen; wirſt du auch die wel¬
ken Lippen, die bleichen Wangen mit Zärt¬
lichkeit an deine Lippen drücken? Werden
die Spuren des Alters nicht die Spuren der
vorübergegangenen Liebe ſeyn? — O! könn¬
teſt du durch meine Augen in mein Gemüth
ſehn! aber du liebſt mich und ſo glaubſt du
mir auch. Ich begreife das nicht, was man
von der Vergänglichkeit der Reitze ſagt.
O! ſie ſind unverwelklich. Was mich ſo un¬
zertrennlich zu dir zieht, was ein ewiges
Verlangen in mir geweckt hat, das iſt nicht
aus dieſer Zeit. Könnteſt du nur ſehn, wie
du mir erſcheinſt, welches wunderbare Bild
deine Geſtalt durchdringt und mir überall
entgegen leuchtet, du würdeſt kein Alter
fürchten. Deine irdiſche Geſtalt iſt nur ein
Schatten dieſes Bildes. Die irdiſchen Kräfte
ringen und quellen um es feſtzuhalten, aber
die Natur iſt noch unreif; das Bild iſt ein
ewiges Urbild, ein Theil der unbekannten
heiligen Welt. — Ich verſtehe dich, lieber
Heinrich, denn ich ſehe etwas Ähnliches,
wenn ich dich anſchaue. — Ja Mathilde,
die höhere Welt iſt uns näher, als wir ge¬
wöhnlich denken. Schon hier leben wir in
ihr, und wir erblicken ſie auf das Innigſte
mit der irdiſchen Natur verwebt. — Du wirſt
mir noch viel herrliche Sachen offenbaren,
Geliebteſter. — O! Mathilde, von dir allein
kommt mir die Gabe der Weißagung. Alles
iſt ja dein, was ich habe; deine Liebe wird
mich in die Heiligthümer des Lebens, in das
Allerheiligſte des Gemüths führen; du wirſt
mich zu den höchſten Anſchauungen begei¬
ſtern. Wer weiß, ob unſre Liebe nicht dereinſt
noch zu Flammenſittichen wird, die uns auf¬
heben, und uns in unſre himmliſche Heimath
tragen, ehe das Alter und der Tod uns er¬
reichen. Iſt es nicht ſchon ein Wunder, daß
du mein biſt, daß ich dich in meinen Armen
halte, daß du mich liebſt und ewig mein
ſeyn willſt? — Auch mir iſt jetzt alles glaub¬
lich, und ich fühle ja ſo deutlich eine ſtille
Flamme in mir lodern; wer weiß ob ſie uns
nicht verklärt, und die irdiſchen Banden all¬
mählich auflöſt. Sage mir nur, Heinrich, ob
du auch ſchon das grenzenloſe Vertrauen zu mir
haſt, was ich zu dir habe. Noch nie hab' ich
ſo etwas gefühlt, ſelbſt nicht gegen meinen Va¬
ter, den ich doch ſo unendlich liebe. — Liebe
Mathilde, es peinigt mich ordentlich, daß ich
dir nicht alles auf einmal ſagen, daß ich dir
nicht gleich mein ganzes Herz auf einmal
hingeben kann. Es iſt auch zum erſtenmal
in meinem Leben, daß ich ganz offen bin.
Keinen Gedanken, keine Empfindung kann
ich vor dir mehr geheim haben; du mußt al¬
les wiſſen. Mein ganzes Weſen ſoll ſich mit
dem deinigen vermiſchen. Nur die grenzen¬
loſeſte Hingebung kann meiner Liebe genü¬
gen. In ihr beſteht ſie ja. Sie iſt ja ein
geheimnißvolles Zuſammenfließen unſers ge¬
heimſten und eigenthümlichſten Daſeyns. —
Heinrich, ſo können ſich noch nie zwey Men¬
ſchen geliebt haben. — Ich kanns nicht
glauben. Es gab ja noch keine Mathilde.
— Auch keinen Heinrich. — Ach! ſchwör es
mir noch einmal, daß du ewig mein biſt;
die Liebe iſt eine endloſe Wiederholung. —
Ja, Heinrich, ich ſchwöre ewig dein zu ſeyn,
bey der unſichtbaren Gegenwart meiner gu¬
ten Mutter. — Ich ſchwöre ewig dein zu
ſeyn, Mathilde, ſo wahr die Liebe die Ge¬
genwart Gottes bey uns iſt. Eine lange
Umarmung, unzählige Küſſe beſiegelten den
ewigen Bund des ſeligen Paars.
Neuntes Kapitel.
Abends waren einige Gäſte da; der Gro߬
vater trank die Geſundheit des jungen
Brautpaars, und verſprach bald ein ſchönes
Hochzeitfeſt auszurichten. Was hilft das
lange Zaudern, ſagte der Alte. Frühe Hoch¬
zeiten, lange Liebe. Ich habe immer geſehn,
daß Ehen, die früh geſchloſſen wurden, am
glücklichſten waren. In ſpätern Jahren iſt
gar keine ſolche Andacht mehr im Eheſtande,
als in der Jugend. Eine gemeinſchaftlich
genoßne Jugend iſt ein unzerreißliches Band.
Die Erinnerung iſt der ſicherſte Grund der
Liebe. Nach Tiſche kamen mehrere. Hein¬
rich bat ſeinen neuen Vater um die Erfül¬
lung ſeines Verſprechens. Klingsohr ſagte
zu der Geſellſchaft: Ich habe heute Heinri¬
chen verſprochen ein Mährchen zu erzählen,
wenn ihr es zufrieden ſeyd, ſo bin ich bereit.
Das iſt ein kluger Einfall von Heinrich, ſag¬
te Schwaning. Ihr habt lange nichts von
euch hören laſſen. Alle ſetzten ſich um das
lodernde Feuer im Kamin. Heinrich ſaß
dicht bey Mathilden, und ſchlang ſeinen Arm
um ſie. Klingsohr begann:
Die lange Nacht war eben angegangen.
Der alte Held ſchlug an ſeinen Schild, daß
es weit umher in den öden Gaſſen der
Stadt erklang. Er wiederholte das Zeichen
dreymal. Da fingen die hohen bunten Fen¬
ſter des Pallaſtes an von innen heraus helle
zu werden, und ihre Figuren bewegten ſich.
Sie bewegten ſich lebhafter, je ſtärker das
röthliche Licht ward, das die Gaſſen zu er¬
leuchten begann. Auch ſah man allmählich
die gewaltigen Säulen und Mauern ſelbſt
ſich erhellen; Endlich ſtanden ſie im reinſten,
milchblauen Schimmer, und ſpielten mit den
ſanfteſten Farben. Die ganze Gegend ward
nun ſichtbar, und der Wiederſchein der Figu¬
ren, das Getümmel der Spieße, der
Schwerdter, der Schilder, und der Helme,
die ſich nach hier und da erſcheinenden Kro¬
nen, von allen Seiten neigten, und endlich
wie dieſe verſchwanden, und einem ſchlichten,
grünen Kranze Plaz machten, um dieſen her
einen weiten Kreis ſchloſſen: alles dies ſpie¬
gelte ſich in dem ſtarren Meere, das den
Berg umgab, auf dem die Stadt lag, und
auch der ferne hohe Berggürtel, der ſich
rund um das Meer herzog, ward bis in die
Mitte mit einem milden Abglanz überzogen.
Man konnte nichts deutlich unterſcheiden;
doch hörte man ein wunderliches Getöſe her¬
über, wie aus einer fernen ungeheuren
Werkſtatt. Die Stadt erſchien dagegen hell
und klar. Ihre glatten, durchſichtigen
Mauern warfen die ſchönen Strahlen zurück,
und das vortreffliche Ebenmaaß, der edle
Styl aller Gebäude, und ihre ſchöne Zuſam¬
menordnung kam zum Vorſchein. Vor allen
Fenſtern ſtanden zierliche Gefäße von Thon,
voll der mannichfaltigſten Eis- nnd Schnee¬
blumen, die auf das anmuthigſte funkelten.
Am herrlichſten nahm ſich auf dem gro¬
ßen Platze vor dem Pallaſte der Garten aus,
der aus Metallbäumen und Kryſtallpflanzen
beſtand, und mit bunten Edelſteinblüthen
und Früchten überſäet war. Die Mannich¬
faltigkeit und Zierlichkeit der Geſtalten, und
die Lebhaftigkeit der Lichter und Farben ge¬
währten das herrlichſte Schauſpiel, deſſen
Pracht durch einen hohen Springquell in der
Mitte des Gartens, der zu Eis erſtarrt war,
vollendet wurde. Der alte Held ging vor
den Thoren des Pallaſtes langſam vorüber.
Eine Stimme rief ſeinen Namen im Innern.
Er lehnte ſich an das Thor, das mit einem
ſanften Klange ſich öffnete, und trat in den
Saal. Seinen Schild hielt er vor die Au¬
gen. Haſt du noch nichts entdeckt? ſagte die
ſchöne Tochter Arcturs, mit klagender Stim¬
me. Sie lag an ſeidnen Polſtern auf einem
Throne, der von einem großen Schwefelkry¬
ſtall künſtlich erbaut war, und einige Mäd¬
chen rieben ämſig ihre zarten Glieder, die
wie aus Milch und Purpur zuſammengefloſ¬
ſen ſchienen. Nach allen Seiten ſtrömte unter
den Händen der Mädchen das reizende Licht von
ihr aus, was den Pallaſt ſo wunderſam erleuch¬
tete. Ein duftender Wind wehte im Saale.
Der Held ſchwieg. Laß mich deinen Schild be¬
rühren, ſagte ſie ſanft. Er näherte ſich dem
Throne und betrat den köſtlichen Teppich. Sie
ergriff ſeine Hand, drückte ſie mit Zärtlichkeit
an ihren himmliſchen Buſen und rührte ſeinen
Schild an. Seine Rüſtung klang, und eine
durch¬
durchdringende Kraft beſeelte ſeinen Körper.
Seine Augen blitzten und das Herz pochte
hörbar an den Panzer. Die ſchöne Freya
ſchien heiterer, und das Licht ward brennen¬
der, das von ihr ausſtrömte. Der König
kommt, rief ein prächtiger Vogel, der im
Hintergrunde des Thrones ſaß. Die Diene¬
rinnen legten eine himmelblaue Decke über
die Prinzeſſin, die ſie bis über den Buſen be¬
deckte. Der Held ſenkte ſeinen Schild und ſah
nach der Kuppel hinauf, zu welcher zwey
breite Treppen von beyden Seiten des Saals
ſich hinauf ſchlangen. Eine leiſe Muſik
ging dem Könige voran, der bald mit einem
zahlreichen Gefolge in der Kuppel erſchien
und herunter kam.
Der ſchöne Vogel entfaltete ſeine glän¬
zenden Schwingen, bewegte ſie ſanft und
ſang, wie mit tauſend Stimmen, dem Könige
entgegen:
S
Nicht lange wird der ſchöne Fremde
ſäumen.
Die Wärme naht, die Ewigkeit beginnt
Die Königin erwacht aus langen
Träumen,
Wenn Meer und Land in Liebesglut
zerrinnt.
Die kalte Nacht wird dieſe Stätte räu¬
men,
Wenn Fabel erſt das alte Recht ge¬
winnt.
In Freyas Schooß wird ſich die Welt
entzünden
Und jede Sehnſucht ihre Sehnſucht
finden.
Der König umarmte ſeine Tochter mit
Zärtlichkeit. Die Geiſter der Geſtirne ſtellten
ſich um den Thron, und der Held nahm in
der Reihe ſeinen Platz ein. Eine unzählige
Menge Sterne füllten den Saal in zierlichen
Gruppen. Die Dienerinnen brachten einen
Tiſch und ein Käſtchen, worin eine Menge
Blätter lagen, auf denen heilige tiefſinnige
Zeichen ſtanden, die aus lauter Sternbildern
zuſammengeſetzt waren. Der König küßte
ehrfurchtsvoll dieſe Blätter, miſchte ſie ſorg¬
fältig untereinander, und reichte ſeiner Toch¬
ter einige zu. Die andern behielt er für ſich.
Die Prinzeſſin zog ſie nach der Reihe her¬
aus und legte ſie auf den Tiſch, dann be¬
trachtete der König die ſeinigen genau, und
wählte mit vielem Nachdenken, ehe er eins
dazu hinlegte. Zuweilen ſchien er gezwun¬
gen zu ſeyn, dies oder jenes Blatt zu wäh¬
len. Oft aber ſah man ihm die Freude an,
wenn er durch ein gutgetroffenes Blatt eine
ſchöne Harmonie der Zeichen und Figuren le¬
gen konnte. Wie das Spiel anfing, ſah
man an allen Umſtehenden Zeichen der leb¬
hafteſten Theilnahme, und die ſonderbarſten
Mienen und Gebehrden, gleichſam als hätte
jeder ein unſichtbares Werkzeug in Händen,
womit er eifrig arbeite. Zugleich ließ ſich
eine ſanfte, aber tief bewegende Muſik in
der Luft hören, die von den im Saale ſich
wunderlich durcheinander ſchlingenden Ster¬
nen, und den übrigen ſonderbaren Bewegun¬
gen zu entſtehen ſchien. Die Sterne ſchwan¬
gen ſich, bald langſam, bald ſchnell, in be¬
ſtändig veränderten Linien umher, und bil¬
deten, nach dem Gange der Muſik, die Fi¬
guren der Blätter auf das kunſtreichſte
nach. Die Muſik wechſelte, wie die Bilder
auf dem Tiſche, unaufhörlich, und ſo wun¬
derlich und hart auch die Übergänge nicht
ſelten waren, ſo ſchien doch nur Ein einfa¬
ches Thema das Ganze zu verbinden. Mit
einer unglaublichen Leichtigkeit flogen die
Sterne den Bildern nach. Sie waren bald
alle in Einer großen Verſchlingung, bald
wieder in einzelne Haufen ſchön geordnet
bald zerſtäubte der lange Zug, wie ein
Strahl, in unzählige Funken, bald kam
durch immer wachſende kleinere Kreiſe und
Muſter wieder Eine große, überraſchende Fi¬
gur zum Vorſchein. Die bunten Geſtalten
in den Fenſtern blieben während dieſer Zeit
ruhig ſtehen. Der Vogel bewegte unaufhör¬
lich die Hülle ſeiner koſtbaren Federn auf die
mannichfaltigſte Weiſe. Der alte Held hat¬
te bisher auch ſein unſichtbares Geſchäft äm¬
ſig betrieben, als auf einmal der König voll
Freuden ausrief: Es wird alles gut. Eiſen,
wirf du dein Schwerdt in die Welt, daß ſie
erfahren, wo der Friede ruht. Der Held
riß das Schwerdt von der Hüfte, ſtellte es
mit der Spitze gen Himmel, dann ergriff er
es und warf es aus dem geöffneten Fenſter
über die Stadt und das Eismeer. Wie ein
Komet flog es durch die Luft, und ſchien an
dem Berggürtel mit hellem Klange zu zer¬
ſplittern, denn es fiel in lauter Funken her¬
unter.
Zu der Zeit lag der ſchöne Knabe Eros
in ſeiner Wiege und ſchlummerte ſanft, wäh¬
rend Ginniſtan ſeine Amme die Wiege ſchau¬
kelte und ſeiner Milchſchweſter Fabel die
Bruſt reichte. Ihr buntes Halstuch hatte ſie
über die Wiege ausgebreitet, daß die hell¬
brennende Lampe, die der Schreiber vor ſich
ſtehen hatte, das Kind mit ihrem Scheine
nicht beunruhigen möchte. Der Schreiber
ſchrieb unverdroſſen, ſah ſich nur zuweilen
mürriſch nach den Kindern um, und ſchnitt
der Amme finſtere Geſichter, die ihn gutmü¬
thig anlächelte und ſchwieg.
Der Vater der Kinder ging immer ein
und aus, indem er jedesmal die Kinder be¬
trachtete und Ginniſtan freundlich begrü߬
te. Er hatte unaufhörlich dem Schreiber et¬
was zu ſagen. Dieſer vernahm ihn genau,
und wenn er es aufgezeichnet hatte, reichte
er die Blätter einer edlen, göttergleichen
Frau hin, die ſich an einen Altar lehnte, auf
welchem eine dunkle Schaale mit klarem
Waſſer ſtand, in welches ſie mit heiterm Lä¬
cheln blickte. Sie tauchte die Blätter jedes¬
mal hinein, und wenn ſie bey'm Herausziehn
gewahr wurde, daß einige Schrift ſtehen ge¬
blieben und glänzend geworden war, ſo gab
ſie das Blatt dem Schreiber zurück, der es
in ein großes Buch heftete, und oft verdrie߬
lich zu ſeyn ſchien, wenn ſeine Mühe vergeb¬
lich geweſen und alles ausgelöſcht war. Die
Frau wandte ſich zu Zeiten gegen Ginni¬
ſtan und die Kinder, tauchte den Finger in
die Schaale, und ſprützte einige Tropfen auf
ſie hin, die, ſobald ſie die Amme, das Kind,
oder die Wiege berührten, in einen blauen
Dunſt zerrannen, der tauſend ſeltſame Bil¬
der zeigte, und beſtändig um ſie herzog und
ſich veränderte. Traf einer davon zufällig
auf den Schreiber, ſo fielen eine Menge
Zahlen und geometriſche Figuren nieder, die
er mit vieler Ämſigkeit auf einen Faden zog,
und ſich zum Zierrath um den magern Hals
hing. Die Mutter des Knaben, die wie die
Anmuth und Lieblichkeit ſelbſt ausſah, kam
oft herein. Sie ſchien beſtändig beſchäftigt,
und trug immer irgend ein Stück Hausgerä¬
the mit ſich hinaus: bemerkte es der arg¬
wöhniſche und mit ſpähenden Blicken ſie ver¬
folgende Schreiber, ſo begann er eine lange
Strafrede, auf die aber kein Menſch achtete.
Alle ſchienen ſeiner unnützen Widerreden ge¬
wohnt. Die Mutter gab auf einige Augen¬
blicke der kleinen Fabel die Bruſt; aber
bald ward ſie wieder abgerufen, und dann
nahm Ginniſtan das Kind zurück, das an
ihr lieber zu trinken ſchien. Auf einmal
brachte der Vater ein zartes eiſernes Stäb¬
chen herein, das er im Hofe gefunden hatte.
Der Schreiber beſah es und drehte es mit
vieler Lebhaftigkeit herum, und brachte bald
heraus, daß es ſich von ſelbſt, in der Mitte
an einem Faden aufgehängt, nach Norden
drehe. Ginniſtan nahm es auch in die
Hand, bog es, drückte es, hauchte es an,
und hatte ihm bald die Geſtalt einer
Schlange gegeben, die ſich nun plötzlich in
den Schwanz biß. Der Schreiber ward
bald des Betrachtens überdrüßig. Er ſchrieb
alles genau auf, und war ſehr weitläuftig
über den Nutzen, den dieſer Fund gewähren
könne. Wie ärgerlich war er aber, als ſein
ganzes Schreibwerk die Probe nicht beſtand,
und das Papier weiß aus der Schaale her¬
vorkam. Die Amme ſpielte fort. Zufällig
berührte ſie die Wiege damit, da fing der
Knabe an wach zu werden, ſchlug die Decke
zurück, hielt die eine Hand gegen das Licht,
und langte mit der Andern nach der Schlan¬
ge. Wie er ſie erhielt, ſprang er rüſtig, daß
Ginniſtan erſchrak, und der Schreiber bey¬
nah vor Entſetzen vom Stuhle fiel, aus der
Wiege, ſtand, nur von ſeinen langen gold¬
nen Haaren bedeckt, im Zimmer, und be¬
trachtete mit unausſprechlicher Freude das
Kleinod, das ſich in ſeinen Händen nach
Norden ausſtreckte, und ihn heftig im In¬
nern zu bewegen ſchien. Zuſehends wuchs
er.
Sophie, ſagte er mit rührender Stimme
zu der Frau, laß mich aus der Schaale trin¬
ken. Sie reichte ſie ihm ohne Anſtand, und er
konnte nicht aufhören zu trinken, indem die
Schaale ſich immer voll zu erhalten ſchien.
Endlich gab er ſie zurück, indem er die
edle Frau innig umarmte. Er herzte Gin¬
niſtan, und bat ſie um das bunte Tuch,
das er ſich anſtändig um die Hüften band.
Die kleine Fabel nahm er auf den Arm.
Sie ſchien unendliches Wohlgefallen an ihm
zu haben, und fing zu plaudern an. Gin¬
niſtan machte ſich viel um ihn zu ſchaffen.
Sie ſah äußerſt reizend und leichtfertig aus,
und drückte ihn mit der Innigkeit einer
Braut an ſich. Sie zog ihn mit heimlichen
Worten nach der Kammerthür, aber Sophie
winkte ernſthaft und deutete nach der Schlan¬
ge; da kam die Mutter herein, auf die er
ſogleich zuflog und ſie mit heißen Thränen
bewillkommte. Der Schreiber war ingrimmig
fortgegangen. Der Vater trat herein, und
wie er Mutter und Sohn in ſtiller Umar¬
mung ſah, trat er hinter ihren Rücken zur
reitzenden Ginniſtan, und liebkoſte ihr. So¬
phie ſtieg die Treppe hinauf. Die kleine Fabel
nahm die Feder des Schreibers und fing zu
ſchreiben an. Mutter und Sohn vertieften
ſich in ein leiſes Geſpräch, und der Vater
ſchlich ſich mit Ginniſtan in die Kammer,
um ſich von den Geſchäften des Tags in ih¬
ren Armen zu erholen. Nach geraumer Zeit
kam Sophie zurück. Der Schreiber trat her¬
ein. Der Vater kam aus der Kammer und
ging an ſeine Geſchäfte. Ginniſtan kam mit
glühenden Wangen zurück. Der Schreiber
jagte die kleine Fabel mit vielen Schmähun¬
gen von ſeinem Sitze, und hatte einige Zeit
nöthig ſeine Sachen in Ordnung zu bringen.
Er reichte Sophien die von Fabel vollgeſchrie¬
benen Blätter, um ſie rein zurück zu erhalten,
gerieth aber bald in den äußerſten Unwillen,
wie Sophie die Schrift völlig glänzend und
unverſehrt aus der Schaale zog und ſie ihm
hinlegte. Fabel ſchmiegte ſich an ihre Mut¬
ter, die ſie an die Bruſt nahm, und das
Zimmer aufputzte, die Fenſter öffnete, friſche
Luft hereinließ und Zubereitungen zu einem
köſtlichen Mahle machte. Man ſah durch
die Fenſter die herrlichſten Ausſichten und ei¬
nen heitern Himmel über die Erde geſpannt.
Auf dem Hofe war der Vater in voller Thä¬
tigkeit. Wenn er müde war, ſah er hinauf
ans Fenſter, wo Ginniſtan ſtand, und ihm
allerhand Näſchereien herunterwarf. Die
Mutter und der Sohn gingen hinaus, um
überall zu helfen und den gefaßten Ent¬
ſchluß vorzubereiten. Der Schreiber rührte
die Feder, und machte immer eine Fratze,
wenn er genöthigt war, Ginniſtan um etwas
zu fragen, die ein ſehr gutes Gedächtniß hat¬
te, und alles behielt, was ſich zutrug. Eros
kam bald in ſchöner Rüſtung, um die das
bunte Tuch wie eine Schärpe gebunden war,
zurück, und bat Sophie um Rath, wann und
wie er ſeine Reiſe antreten ſolle. Der
Schreiber war vorlaut, und wollte gleich
mit einem ausführlichen Reiſeplan dienen,
aber ſeine Vorſchläge wurden überhört. Du
kannſt ſogleich reiſen; Ginniſtan mag dich
begleiten, ſagte Sophie; ſie weiß mit den We¬
gen Beſcheid, und iſt überall gut bekannt.
Sie wird die Geſtalt deiner Mutter anneh¬
men, um dich nicht in Verſuchung zu führen.
Findeſt du den König, ſo denke an mich;
dann komme ich um dir zu helfen.
Ginniſtan tauſchte ihre Geſtalt mit der
Mutter, worüber der Vater ſehr vergnügt
zu ſeyn ſchien; der Schreiber freute ſich, daß
die beiden fortgingen; beſonders da ihm Gin¬
niſtan ihr Taſchenbuch zum Abſchiede ſchenk¬
te, worin die Chronik des Hauſes umſtänd¬
lich aufgezeichnet war; nur blieb ihm die
kleine Fabel ein Dorn im Auge, und er hät¬
te, um ſeiner Ruhe und Zufriedenheit willen,
nichts mehr gewünſcht, als daß auch ſie un¬
ter der Zahl der Abreiſenden ſeyn möchte.
Sophie ſegnete die Niederknieenden ein, und
gab ihnen ein Gefäß voll Waſſer aus der
Schaale mit; die Mutter war ſehr beküm¬
mert. Die kleine Fabel wäre gern mitgegan¬
gen, und der Vater war zu ſehr außer dem
Hauſe beſchäftigt, als daß er lebhaften An¬
theil hätte nehmen ſollen. Es war Nacht,
wie ſie abreiſten, und der Mond ſtand hoch
am Himmel. Lieber Eros, ſagte Ginniſtan,
wir müſſen eilen, daß wir zu meinem Vater
kommen, der mich lange nicht geſehn und ſo
ſehnſuchtsvoll mich überall auf der Erde ge¬
ſucht hat. Siehſt du wohl ſein bleiches ab¬
gehärmtes Geſicht? Dein Zeugniß wird mich
ihm in der fremden Geſtalt kenntlich ma¬
chen.
Die Liebe ging auf dunkler Bahn
Vom Monde nur erblickt,
Das Schattenreich war aufgethan
Und ſeltſam aufgeſchmückt.
Ein blauer Dunſt umſchwebte ſie
Mit einem goldnen Rand,
Und eilig zog die Fantaſie
Sie über Strom und Land.
Es hob ſich ihre volle Bruſt
In wunderbarem Muth;
Ein Vorgefühl der künft'gen Luſt
Beſprach die wilde Glut.
Die Sehnſucht klagt' und wußt' es nicht,
Daß Liebe näher kam,
Und tiefer grub in ihr Geſicht
Sich hoffnungsloſer Gram.
Die kleine Schlange blieb getreu:
Sie wies nach Norden hin,
Und beyde folgten ſorgenfrey
Der ſchönen Führerin.
Die
Die Liebe ging durch Wüſteneyn
Und durch der Wolken Land,
Trat in den Hof des Mondes ein
Die Tochter an der Hand.
Er ſaß auf ſeinem Silberthron,
Allein mit ſeinem Harm;
Da hört' er ſeines Kindes Ton,
Und ſank in ihren Arm.
Eros ſtand gerührt bey den zärtlichen
Umarmungen. Endlich ſammelte ſich der al¬
te erſchütterte Mann, und bewillkommte ſei¬
nen Gaſt. Er ergriff ſein großes Horn und
ſtieß mit voller Macht hinein. Ein gewalti¬
ger Ruf dröhnte durch die uralte Burg.
Die ſpitzen Thürme mit ihren glänzenden
Knöpfen und die tiefen ſchwarzen Dächer
ſchwankten. Die Burg ſtand ſtill, denn ſie
war auf das Gebirge jenſeits des Meers ge¬
T
kommen. Von allen Seiten ſtrömten ſeine
Diener herzu, deren ſeltſame Geſtalten und
Trachten Ginniſtan unendlich ergötzten, und
den tapfern Eros nicht erſchreckten. Erſtere
grüßte ihre alten Bekannten, und alle er¬
ſchienen vor ihr mit neuer Stärke und in der
ganzen Herrlichkeit ihrer Naturen. Der un¬
geſtüme Geiſt der Flut folgte der ſanften
Ebbe. Die alten Orkane legten ſich an die
klopfende Bruſt der heißen leidenſchaftlichen
Erdbeben. Die zärtlichen Regenſchauer ſa¬
hen ſich nach dem bunten Bogen um,
der von der Sonne, die ihn mehr anzieht,
entfernt, bleich da ſtand. Der rauhe Donner
ſchalt über die Thorheiten der Blitze, hinter
den unzähligen Wolken hervor, die mit tau¬
ſend Reizen daſtanden und die feurigen
Jünglinge lockten. Die beyden lieblichen
Schweſtern, Morgen und Abend, freuten ſich
vorzüglich über die beyden Ankömmlinge.
Sie weinten ſanfte Thränen in ihren Umar¬
mungen. Unbeſchreiblich war der Anblick
dieſes wunderlichen Hofſtaats. Der alte Kö¬
nig konnte ſich an ſeiner Tochter nicht ſatt
ſehen. Sie fühlte ſich zehnfach glücklich in
ihrer väterlichen Burg, und ward nicht mü¬
de die bekannten Wunder und Seltenheiten
zu beſchauen. Ihre Freude war ganz unbe¬
ſchreiblich, als ihr der König den Schlüſſel
zur Schatzkammer und die Erlaubniß gab,
ein Schauſpiel für Eros darin zu veranſtal¬
ten, das ihn ſo lange unterhalten könnte,
bis das Zeichen des Aufbruchs gegeben wür¬
de. Die Schatzkammer war ein großer Gar¬
ten, deſſen Mannichfaltigkeit und Reichthum
alle Beſchreibung übertraf. Zwiſchen den
ungeheuren Wetterbäumen lagen unzählige
Luftſchlöſſer von überraſchender Bauart, eins
immer köſtlicher, als das Andere. Große
Heerden von Schäfchen, mit ſilberweißer,
goldner und roſenfarbner Wolle irrten um¬
her, und die ſonderbarſten Thiere belebten
den Hayn. Merkwürdige Bilder ſtanden
hie und da, und die feſtlichen Aufzü¬
ge, die ſeltſamen Wagen, die überall zum
Vorſchein kamen, beſchäftigten die Aufmerk¬
ſamkeit unaufhörlich. Die Beete ſtanden
voll der bunteſten Blumen. Die Gebäude
waren gehäuft voll von Waffen aller Art,
voll der ſchönſten Teppiche, Tapeten, Vorhän¬
ge, Trinkgeſchirre und aller Arten von Ge¬
räthen und Werkzeugen, in unüberſehlichen
Reihen. Auf einer Anhöhe erblickten ſie ein
romantiſches Land, das mit Städten und
Burgen, mit Tempeln und Begräbniſſen
überſäet war, und alle Anmuth bewohnter
Ebenen mit den furchtbaren Reizen der Einö¬
de und ſchroffer Felſengegenden vereinigte.
Die ſchönſten Farben waren in den glücklich¬
ſten Miſchungen. Die Bergſpitzen glänzten
wie Luſtfeuer in ihren Eis- und Schneehül¬
len. Die Ebene lachte im friſcheſten Grün.
Die Ferne ſchmückte ſich mit allen Verände¬
rungen von Blau, und aus der Dunkelheit
des Meeres wehten unzählige bunte Wimpel
von zahlreichen Flotten. Hier ſah man ei¬
nen Schiffbruch im Hintergrunde, und vorne
ein ländliches fröliches Mahl von Landleuten;
dort den ſchrecklich ſchönen Ausbruch eines
Vulkans, die Verwüſtungen des Erdbebens,
und im Vordergrunde ein liebendes Paar
unter ſchattenden Bäumen in den ſüßeſten
Liebkoſungen. Abwärts eine fürchterliche
Schlacht, und unter ihr ein Theater voll der
lächerlichſten Masken. Nach einer andern
Seite im Vordergrunde einen jugendlichen
Leichnam auf der Baare, die ein troſtloſer
Geliebter feſthielt, und die weinenden Eltern
daneben; im Hintergrunde eine liebliche
Mutter mit dem Kinde an der Bruſt und
Engel ſitzend zu ihren Füßen, und aus den
Zweigen über ihrem Haupte herunterblickend.
Die Szenen verwandelten ſich unaufhörlich,
und floſſen endlich in eine große geheimnißvolle
Vorſtellung zuſammen. Himmel und Erde
waren in vollem Aufruhr. Alle Schrecken
waren losgebrochen. Eine gewaltige Stimme
rief zu den Waffen. Ein entſetzliches Heer
von Todtengerippen, mit ſchwarzen Fahnen,
kam wie ein Sturm von dunkeln Bergen
herunter, und griff das Leben an, das mit
ſeinen jugendlichen Schaaren in der hellen
Ebene in muntern Feſten begriffen war, und
ſich keines Angriffs verſah. Es entſtand ein
entſetzliches Getümmel, die Erde zitterte; der
Sturm brauſte, und die Nacht ward von
fürchterlichen Meteoren erleuchtet. Mit un¬
erhörten Grauſamkeiten zerriß das Heer der
Geſpenſter die zarten Glieder der Lebendi¬
gen. Ein Scheiterhaufen thürmte ſich em¬
por, und unter dem grauſenvollſten Geheul
wurden die Kinder des Lebens von den
Flammen verzehrt. Plötzlich brach aus dem
dunklen Aſchenhaufen ein milchblauer Strom
nach allen Seiten aus. Die Geſpenſter woll¬
ten die Flucht ergreifen, aber die Flut wuchs
zuſehends, und verſchlang die ſcheusliche
Brut. Bald waren alle Schrecken vertilgt.
Himmel und Erde floſſen in ſüße Muſik zu¬
ſammen. Eine wunderſchöne Blume ſchwamm
glänzend auf den ſanften Wogen. Ein
glänzender Bogen ſchloß ſich über die Flut
auf welchem göttliche Geſtalten auf prächti¬
gen Thronen, nach beyden Seiten herunter,
ſaßen. Sophie ſaß zu oberſt, die Schaale
in der Hand, neben einem herrlichen Manne,
mit einem Eichenkranze um die Locken, und
einer Friedenspalme ſtatt des Szepters in
der Rechten. Ein Lilienblatt bog ſich über
den Kelch der ſchwimmenden Blume; die
kleine Fabel ſaß auf demſelben, und ſang
zur Harfe die ſüßeſten Lieder. In dem Kel¬
che lag Eros ſelbſt, über ein ſchönes
ſchlummerndes Mädchen hergebeugt, die ihn
feſt umſchlungen hielt. Eine kleinere Blüthe
ſchloß ſich um beyde her, ſo daß ſie von den
Hüften an in Eine Blume verwandelt zu
ſeyn ſchienen.
Eros dankte Ginniſtan mit tauſend Ent¬
zücken. Er umarmte ſie zärtlich, und ſie er¬
wiederte ſeine Liebkoſungen. Ermüdet von
der Beſchwerde des Weges und den man¬
nichfaltigen Gegenſtänden, die er geſehen
hatte, ſehnte er ſich nach Bequemlichkeit und
Ruhe. Ginniſtan, die ſich von dem ſchönen
Jüngling lebhaft angezogen fühlte, hütete
ſich wohl des Trankes zu erwähnen, den
Sophie ihm mitgegeben hatte. Sie führte
ihn zu einem abgelegenen Bade, zog ihm
die Rüſtung aus, und zog ſelbſt ein Nacht¬
kleid an, in welchem ſie fremd und verführe¬
riſch ausſah. Eros tauchte ſich in die ge¬
fährlichen Wellen, und ſtieg berauſcht wieder
heraus. Ginniſtan trocknete ihn, und rieb
ſeine ſtarken, von Jugendkraft geſpannten
Glieder. Er gedachte mit glühender Sehn¬
ſucht ſeiner Geliebten, und umfaßte in ſüßem
Wahne die reitzende Ginniſtan. Unbeſorgt
überließ er ſich ſeiner ungeſtümen Zärtlich¬
keit, und ſchlummerte endlich nach den wol¬
lüſtigſten Genüſſen an dem reizenden Bu¬
ſen ſeiner Begleiterin ein.
Unterdeſſen war zu Hauſe eine traurige
Veränderung vorgegangen. Der Schreiber
hatte das Geſinde in eine gefährliche Ver¬
ſchwörung verwickelt. Sein feindſeliges Ge¬
müth hatte längſt Gelegenheit geſucht, ſich
des Hausregiments zu bemächtigen, und ſein
Joch abzuſchütteln. Er hatte ſie gefunden.
Zuerſt bemächtigte ſich ſein Anhang der
Mutter, die in eiſerne Bande gelegt wurde.
Der Vater ward bey Waſſer und Brod
ebenfalls hingeſetzt. Die kleine Fabel hörte
den Lärm im Zimmer. Sie verkroch ſich
hinter dem Altare, und wie ſie bemerkte,
daß eine Thür an ſeiner Rückſeite verborgen
war, ſo öffnete ſie dieſelbe mit vieler Behen¬
digkeit, und fand, daß eine Treppe in ihm
hinunterging. Sie zog die Thür nach ſich,
und ſtieg im Dunkeln die Treppe hinunter.
Der Schreiber ſtürzte mit Ungeſtüm herein,
um ſich an der kleinen Fabel zu rächen, und
Sophien gefangen zu nehmen. Beyde wa¬
ren nicht zu finden. Die Schaale fehlte
auch, und in ſeinem Grimme zerſchlug er den
Altar in tauſend Stücke, ohne jedoch die
heimliche Treppe zu entdecken.
Die kleine Fabel ſtieg geraume Zeit.
Endlich kam ſie auf einen freyen Platz hin¬
aus, der rund herum mit einer prächtigen
Colonnade geziert, und durch ein großes Thor
geſchloſſen war. Alle Figuren waren hier
dunkel. Die Luft war wie ein ungeheurer
Schatten; am Himmel ſtand ein ſchwarzer
ſtrahlender Körper. Man konnte alles auf
das deutlichſte unterſcheiden, weil jede Figur
einen andern Anſtrich von Schwarz zeigte,
und einen lichten Schein hinter ſich, warf;
Licht und Schatten ſchienen hier ihre Rollen
vertauſcht zu haben. Fabel freute ſich in ei¬
ner neuen Welt zu ſeyn. Sie beſah alles
mit kindlicher Neugierde. Endlich kam ſie
an das Thor, vor welchem auf einem maſ¬
ſiven Poſtument eine ſchöne Sphinx lag.
Was ſuchſt du? ſagte die Sphinx; mein
Eigenthum, erwiederte Fabel. — Wo
kommſt du her? — Aus alten Zeiten; — Du
biſt noch ein Kind — Und werde ewig ein
Kind ſeyn. — Wer wird dir beyſtehn?— Ich
ſtehe für mich. Wo ſind die Schweſtern,
fragte Fabel? — Überall und nirgends,
gab die Sphinx zur Antwort. — Kennſt du
mich? — noch nicht. — Wo iſt die Lie¬
be? — In der Einbildung. — Und So¬
phie? — Die Sphinx murmelte unvernehm¬
lich vor ſich hin, und rauſchte mit den Flü¬
geln. Sophie und Liebe, rief triumphirend
Fabel, und ging durch das Thor. Sie trat
in die ungeheure Höhle, und ging frölich auf
die alten Schweſtern zu, die bey der kärgli¬
chen Nacht einer ſchwarzbrennenden Lam¬
pe ihr wunderliches Geſchäft trieben. Sie
thaten nicht, als ob ſie den kleinen Gaſt be¬
merkten, der mit artigen Liebkoſungen ſich ge¬
ſchäftig um ſie erzeigte. Endlich krächzte die
eine mit rauhen Worten und ſcheelem Ge¬
ſicht: Was willſt du hier, Müßiggängerin?
wer hat dich eingelaſſen? Dein kindiſches
Hüpfen bewegt die ſtille Flamme. Das Öl
verbrennt unnützer Weiſe. Kannſt du dich
nicht hinſetzen und etwas vornehmen? —
Schöne Baſe, ſagte Fabel, am Müßiggehn
iſt mir nichts gelegen. Ich mußte recht über
eure Thürhüterin lachen. Sie hätte mich
gern an die Bruſt genommen, aber ſie mu߬
te zu viel gegeſſen haben, ſie konnte nicht
aufſtehn. Laßt mich vor der Thür ſitzen,
und gebt mir etwas zu ſpinnen; denn hier
kann ich nicht gut ſehen, und wenn ich ſpin¬
ne, muß ich ſingen und plaudern dürfen, und
das könnte euch in euren ernſthaften Gedan¬
ken ſtören. — Hinaus ſollſt du nicht, aber
in der Nebenkammer bricht ein Strahl der
Oberwelt durch die Felsritzen, da magſt du
ſpinnen, wenn du ſo geſchickt biſt; hier liegen
ungeheure Haufen von alten Enden, die dre¬
he zuſammen; aber hüte dich: wenn du
ſaumſelig ſpinnſt, oder der Faden reißt, ſo
ſchlingen ſich die Fäden um dich her und er¬
ſticken dich. — Die Alte lachte hämiſch, und
ſpann. Fabel raffte einen Arm voll Fäden
zuſammen, nahm Wocken und Spindel, und
hüpfte ſingend in die Kammer. Sie ſah
durch die Öffnung hinaus, und erblickte das
Sternbild des Phönixes. Froh über das
glückliche Zeichen fing ſie an luſtig zu ſpin¬
nen, ließ die Kammerthür ein wenig offen,
und ſang halbleiſe:
Erwacht in euren Zellen,
Ihr Kinder alter Zeit;
Laßt eure Ruheſtellen,
Der Morgen iſt nicht weit.
Ich ſpinne eure Fäden
In Einen Faden ein;
Aus iſt die Zeit der Fehden.
Ein Leben ſollt' ihr ſeyn.
Ein jeder lebt in Allen,
Und All' in Jedem auch.
Ein Herz wird in euch wallen,
Von Einem Lebenshauch.
Noch ſeyd ihr nichts als Seele,
Nur Traum und Zauberey.
Geht furchtbar in die Höhle
Und neckt die heil'ge Drey.
Die Spindel ſchwang ſich mit unglaublicher
Behendigkeit zwiſchen den kleinen Füßen;
während ſie mit beyden Händen den zarten Fa¬
den drehte. Unter dem Liede wurden unzählige
Lichterchen ſichtbar, die aus der Thürſpalte
ſchlüpften und durch die Höhle in ſcheuslichen
Larven ſich verbreiteten. Die Alten hatten
während der Zeit immer mürriſch fortgeſpon¬
nen, und auf das Jammergeſchrey der kleinen
Fabel gewartet, aber wie entſetzten ſie ſich,
als auf einmal eine erſchreckliche Naſe über
ihre Schultern guckte, und wie ſie ſich umſa¬
hen, die ganze Höhle voll der gräßlichſten
Figuren war, die tauſenderley Unfug trieben.
Sie fuhren in einander, heulten mit fürchter¬
licher Stimme, und wären vor Schrecken zu
Stein geworden, wenn nicht in dieſem Au¬
genblicke der Schreiber in die Höhle getreten
wäre, und eine Alraunwurzel bey ſich gehabt
hätte. Die Lichterchen verkrochen ſich in die
Felsklüfte und die Höhle wurde ganz hell,
weil die ſchwarze Lampe in der Verwirrung
umgefallen und ausgelöſcht war. Die Alten
waren froh, wie ſie den Schreiber kommen
hörten, aber voll Ingrimms gegen die kleine
Fabel. Sie riefen ſie heraus, ſchnarchten ſie
fürchterlich an und verboten ihr fortzuſpin¬
nen. Der Schreiber ſchmunzelte höhniſch,
weil er die kleine Fabel nun in ſeiner Ge¬
walt zu haben glaubte und ſagte: Es iſt gut,
daß du hier biſt und zur Arbeit angehalten
werden kannſt. Ich hoffe daß es an Züchti¬
gun¬
gungen nicht fehlen ſoll. Dein guter Geiſt
hat dich hergeführt. Ich wünſche dir langes
Leben und viel Vergnügen. Ich danke dir
für deinen guten Willen, ſagte Fabel; man
ſieht dir jetzt die gute Zeit an; dir fehlt
nur noch das Stundenglas und die Hippe,
ſo ſiehſt du ganz wie der Bruder meiner
ſchönen Baſen aus. Wenn du Gänſeſpulen
brauchſt, ſo zupfe ihnen nur eine Handvoll
zarten Pflaum aus den Wangen. Der
Schreiber ſchien Miene zu machen, über ſie
herzufallen. Sie lächelte und ſagte: Wenn
dir dein ſchöner Haarwuchs und dein geiſtrei¬
ches Auge lieb ſind, ſo nimm dich in Acht; be¬
denke meine Nägel, du haſt nicht viel mehr
zu verlieren. Er wandte ſich mit verbißner
Wuth zu den Alten, die ſich die Augen
wiſchten, und nach ihren Wocken umhertapp¬
ten. Sie konnten nichts finden, da die Lam¬
pe ausgelöſcht war, und ergoſſen ſich in
U
Schimpfreden gegen Fabel. Laßt ſie doch
gehn, ſprach er tückiſch, daß ſie euch Taran¬
teln fange, zur Bereitung eures Öls. Ich
wollte euch zu euerm Troſte ſagen, daß Eros
ohne Raſt umherfliegt, und eure Scheere flei¬
ßig beſchäftigen wird. Seine Mutter, die
euch ſo oft zwang, die Fäden länger zu
ſpinnen, wird morgen ein Raub der Flam¬
men. Er kitzelte ſich, um zu lachen, wie er
ſah, daß Fabel einige Thränen bey dieſer
Nachricht vergoß, gab ein Stück von der
Wurzel der Alten, und ging naſerümpfend
von dannen. Die Schweſtern hießen der Fa¬
bel mit zorniger Stimme Taranteln ſu¬
chen, ohngeachtet ſie noch Öl vorräthig hat¬
ten, und Fabel eilte fort. Sie that, als öff¬
ne ſie das Thor, warf es ungeſtüm wieder
zu, und ſchlich ſich leiſe nach dem Hinter¬
grunde der Höhle, wo eine Leiter herunter
hing. Sie kletterte ſchnell hinauf, und kam
bald vor eine Fallthür, die ſich in Arkturs
Gemach öffnete.
Der König ſaß umringt von ſeinen Rä¬
then, als Fabel erſchien. Die nördliche Kro¬
ne zierte ſein Haupt. Die Lilie hielt er mit
der Linken, die Wage in der Rechten.
Der Adler und Löwe ſaßen zu ſeinen Füßen.
Monarch, ſagte die Fabel, indem ſie ſich ehr¬
furchtsvoll vor ihm neigte; Heil deinem feſt¬
gegründeten Throne! frohe Bothſchaft dei¬
nem verwundeten Herzen! baldige Rückkehr
der Weisheit! Ewiges erwachen dem Frie¬
den! Ruhe der raſtloſen Liebe! Verklärung
des Herzens! Leben dem Alterthum und Ge¬
ſtalt der Zukunft! Der König berührte ihre
offene Stirn mit der Lilie: Was du bitteſt,
ſey dir gewährt. — Dreymal werde ich bit¬
ten, wenn ich zum viertenmale komme, ſo iſt
die Liebe vor der Thür. Jetzt gieb mir die
Leyer. — Eridanus! bringe ſie her, rief der
König. Rauſchend ſtrömte Eridanus von
der Decke, und Fabel zog die Leyer aus ſei¬
nen blinkenden Fluten.
Fabel that einige weißagende Griffe;
der König ließ ihr den Becher reichen,
aus dem ſie nippte und mit vielen Dank¬
ſagungen hinweg eilte. Sie glitt in rei¬
zenden Bogenſchwüngen über das Eismeer,
indem ſie fröliche Muſik aus den Saiten
lockte.
Das Eis gab unter ihren Tritten die
herrlichſten Töne von ſich. Der Felſen der
Trauer hielt ſie für Stimmen ſeiner ſuchen¬
den rückkehrenden Kinder, und antwortete
in einem tauſendfachen Echo.
Fabel hatte bald das Geſtade erreicht.
Sie begegnete ihrer Mutter, die abgezehrt
und bleich ausſah, ſchlank und ernſt gewor¬
den war, und in edlen Zügen die Spuren ei¬
nes hoffnungsloſen Grams, und rührender
Treue verrieth.
Was iſt aus dir geworden, liebe Mut¬
ter? ſagte Fabel, du ſcheinſt mir gänzlich
verändert; ohne inneres Anzeichen hätt' ich
dich nicht erkannt. Ich hoffte mich an dei¬
ner Bruſt einmal wieder zu erquicken; ich
habe lange nach dir geſchmachtet. Ginni¬
ſtan liebkoſte ſie zärtlich, und ſah heiter und
freundlich aus. Ich dachte es gleich, ſagte
ſie, daß dich der Schreiber nicht würde ge¬
fangen haben. Dein Anblick erfriſcht mich.
Es geht mir ſchlimm und knapp genug,
aber ich tröſte mich bald. Vielleicht habe ich
einen Augenblick Ruhe. Eros iſt in der Nä¬
he, und wenn er dich ſieht, und du ihm vor¬
plauderſt, verweilt er vielleicht einige Zeit.
Indeß kannſt du dich an meine Bruſt legen;
ich will dir geben, was ich habe. Sie
nahm die Kleine auf den Schooß, reichte ihr
die Bruſt, und fuhr fort, indem ſie lächelnd
auf die Kleine hinunter ſah, die es ſich gut
ſchmecken ließ. Ich bin ſelbſt Urſach, daß
Eros ſo wild und unbeſtändig geworden iſt.
Aber mich reut es dennoch nicht, denn jene
Stunden, die ich in ſeinen Armen zubrachte,
haben mich zur Unſterblichen gemacht. Ich
glaubte unter ſeinen feurigen Liebkoſungen
zu zerſchmelzen. Wie ein himmliſcher Räu¬
ber ſchien er mich grauſam vernichten und
ſtolz über ſein bebendes Opfer triumphiren
zu wollen. Wir erwachten ſpät aus dem
verbotenen Rauſche, in einem ſonderbar ver¬
tauſchten Zuſtande. Lange ſilberweiße Flü¬
gel bedeckten ſeine weißen Schultern, und
die reihende Fülle und Biegung ſeiner Ge¬
ſtalt. Die Kraft, die ihn ſo plötzlich aus ei¬
nem Knaben zum Jünglinge quellend getrie¬
ben, ſchien ſich ganz in die glänzenden
Schwingen gezogen zu haben, und er war
wieder zum Knaben geworden. Die ſtille
Glut ſeines Geſichts war in das tändelnde
Feuer eines Irrlichts, der heilige Ernſt in
verſtellte Schalkheit, die bedeutende Ruhe in
kindiſche Unſtätigkeit, der edle Anſtand in
drollige Beweglichkeit verwandelt. Ich fühl¬
te mich von einer ernſthaften Leidenſchaft
unwiderſtehlich zu dem muthwilligen Kna¬
ben gezogen, und empfand ſchmerzlich ſeinen
lächelnden Hohn, und ſeine Gleichgültigkeit
gegen meine rührendſten Bitten. Ich ſah
meine Geſtalt verändert. Meine ſorgloſe
Heiterkeit war verſchwunden, und hatte ei¬
ner traurigen Bekümmerniß, einer zärtli¬
chen Schüchternheit Platz gemacht. Ich hät¬
mich mit Eros vor allen Augen verbergen
mögen. Ich hatte nicht das Herz in ſeine
beleidigenden Augen zu ſehn, und fühlte
mich entſetzlich beſchämt und erniedrigt. Ich
hatte keinen andern Gedanken, als ihn, und
hätte mein Leben hingegeben, um ihn von
ſeinen Unarten zu befreyen. Ich mußte ihn
anbeten, ſo tief er auch alle meine Empfin¬
dungen kränkte.
Seit der Zeit, wo er ſich aufmachte und
mir entfloh, ſo rührend ich auch mit den hei¬
ßeſten Thränen ihn beſchwor, bey mir zu
bleiben, bin ich ihm überall gefolgt. Er
ſcheint es ordentlich darauf anzulegen, mich
zu necken. Kaum habe ich ihn erreicht, ſo
fliegt er tückiſch weiter. Sein Bogen richtet
überall Verwüſtungen an. Ich habe nichts
zu thun, als die Unglücklichen zu tröſten,
und habe doch ſelbſt Troſt nöthig. Ihre
Stimmen, die mich rufen, zeigen mir ſeinen
Weg, und ihre wehmüthigen Klagen, wenn
ich ſie wieder verlaſſen muß, gehen mir tief
zu Herzen. Der Schreiber verfolgt uns mit
entſetzlicher Wuth, und rächt ſich an den ar¬
men Getroffenen. Die Frucht jener geheim¬
nißvollen Nacht, waren eine zahlreiche Men¬
ge wunderlicher Kinder, die ihrem Großva¬
ter ähnlich ſehn, und nach ihm genannt ſind.
Geflügelt wie ihr Vater begleiten ſie ihn be¬
ſtändig, und plagen die Armen, die ſein Pfeil
trifft. Doch da kömmt der frölichen Zug.
Ich muß fort; lebe wohl, ſüßes Kind. Sei¬
Sei¬
ne Nähe erregt meine Leidenſchaft. Sey glück¬
lich in deinem Vorhaben. — Eros zog wei¬
ter, ohne Gimniſtan, die auf ihn zueilte, ei¬
nen zärtlichen Blick zu gönnen. Aber zu
Fabel wandte er ſich freundlich, und ſeine
kleinen Begleiter tanzten fröhlich um ſie her.
Fabel freute ſich, ihren Milchbruder wieder
zu ſehn, und ſang zu ihrer Leyer ein munte¬
res Lied, Eros ſchien ſich beſinnen zu wol¬
len und ließ den Bogen fallen. Die Klei¬
nen entſchliefen auf dem Raſen. Ginniſtan
konnte ihn faſſen, und er litt ihre zärtlichen
Liebkoſungen. Endlich fing Eros auch an
zu nicken, ſchmiegte ſich an Ginniſtans
Schooß, und ſchlummerte ein, indem er ſeine
Flügel über ſie ausbreitete. Unendlich froh
war die müde Ginniſtan, und verwandte kein
Auge von dem holden Schläfer. Während
des Geſanges waren von allen Seiten Ta¬
ranteln zum Vorſchein gekommen, die über
die Grashalme ein glänzendes Netz zogen, und
lebhaft nach dem Takte ſich an ihren Fäden
bewegten. Fabel tröſtete nun ihre Mutter,
und verſprach ihr baldige Hülfe. Vom Fel¬
ſen tönte der ſanfte Wiederhall der Muſik,
und wiegte die Schläfer ein. Ginniſtan
ſprengte aus dem wohlverwahrten Gefäß ei¬
nige Tropfen in die Luft, und die anmuthig¬
ſten Träume fielen auf ſie nieder. Fabel
nahm das Gefäß mit und ſetzte ihre Reiſe
fort. Ihre Saiten ruhten nicht, und die
Taranteln folgten auf ſchnellgeſponnenen Fä¬
den den bezaubernden Tönen.
Sie ſah bald von weitem die hohe Flam¬
me des Scheiterhaufens, die über den grü¬
nen Wald emporſtieg. Traurig ſah ſie gen
Himmel, und freute ſich, wie ſie Sophieens
blauen Schleyer erblickte, der wallend über
der Erde ſchwebte, und auf ewig die unge¬
heure Gruft bedeckte. Die Sonne ſtand
feuerroth vor Zorn am Himmel, die gewalti¬
ge Flamme ſog an ihrem geraubten Lichte,
und ſo heftig ſie es auch an ſich zu halten
ſchien, ſo ward ſie doch immer bleicher und
fleckiger. Die Flamme ward weißer und
mächtiger, je fahler die Sonne ward. Sie
ſog das Licht immer ſtärker in ſich und bald
war die Glorie um das Geſtirn des Tages
verzehrt und nur als eine matte, glänzende
Scheibe ſtand es noch da, indem jede neue
Regung des Neides und der Wuth den Aus¬
bruch der entfliehenden Lichtwellen vermehrte.
Endlich war nichts von der Sonne mehr
übrig, als eine ſchwarze ausgebrannte
Schlacke, die herunter ins Meer fiel. Die
Flamme war über allen Ausdruck glänzend
geworden. Der Scheiterhaufen war verzehrt.
Sie hob ſich langſam in die Höhe und zog
nach Norden. Fabel trat in den Hof, der
verödet ausſah; das Haus war unterdeß
verfallen. Dornſträuche wuchſen in den Ri¬
tzen der Fenſtergeſimſe und Ungeziefer aller
Art kribbelte auf den zerbrochenen Stiegen.
Sie hörte im Zimmer einen entſetzlichen Lärm;
der Schreiber und ſeine Geſellen hatten ſich
an dem Flammentode der Mutter geweidet,
waren aber gewaltig erſchrocken, wie ſie den
Untergang der Sonne wahrgenommen hat¬
ten.
Sie hatten ſich vergeblich angeſtrengt,
die Flamme zu löſchen, und waren bey die¬
ſer Gelegenheit nicht ohne Beſchädigungen
geblieben. Der Schmerz und die Angſt pre߬
te ihren entſetzliche Verwünſchungen und
Klagen aus. Sie erſchraken noch mehr, als
Fabel ins Zimmer trat, und ſtürmten mit
wüthendem Geſchrey auf ſie ein, um an ihr
den Grimm auszulaſſen. Fabel ſchlüpfte
hinter die Wiege, und ihre Verfolger traten
ungeſtüm in das Gewebe der Taranteln, die
ſich durch unzählige Biſſe an ihnen rächten.
Der ganze Haufen fing nun toll an zu tan¬
zen, wozu Fabel ein luſtiges Lied ſpielte.
Mit vielem Lachen über ihre poſſierlichen Fra¬
tzen ging ſie auf die Trümmer des Altars zu,
und räumte ſie weg, um die verborgene
Treppe zu finden, auf der ſie mit ihrem Ta¬
rantelgefolge hinunter ſtieg. Die Sphinx frag¬
te: Was kommt plötzlicher, als der Blitz?
Die Rache, ſagte Fabel. — Was iſt am
vergänglichſten? — Unrechter Beſitz. — Wer
kennt die Welt? — Wer ſich ſelbſt kennt. —
Was iſt das ewige Geheimniß? — Die Lie¬
be. — Bey wem ruht es? — Bey Sophieen.
Die Sphinx krümmte ſich kläglich, und Fabel
trat in die Höhle.
Hier bringe ich euch Taranteln, ſagte ſie
zu den Alten, die ihre Lampe wieder ange¬
zündet hatten und ſehr ämſig arbeiteten.
Sie erſchraken, und die eine lief mit der
Scheere auf ſie zu, um ſie zu erſtechen. Un¬
verſehens trat ſie auf eine Tarantel, und
dieſe ſtach ſie in den Fuß. Sie ſchrie er¬
bärmlich. Die andern wollten ihr zu Hülfe
kommen und wurden ebenfalls von den er¬
zürnten Taranteln geſtochen. Sie konnten
ſich nun nicht an Fabel vergreifen, und ſpran¬
gen wild umher. Spinn' uns gleich, riefen
ſie grimmig der Kleinen zu, leichte Tanzklei¬
der. Wir können uns in den ſteifen Röcken
nicht rühren, und vergehn faſt vor Hitze,
aber mit Spinnenſaft mußt du den Faden
einweichen, daß er nicht reißt, und wirke
Blumen hinein, die im Feuer gewachſen
ſind, ſonſt biſt du des Todes. Recht gern,
ſagte Fabel und ging in die Nebenkammer.
Ich will euch drey tüchtige Fliegen ver¬
ſchaffen, ſagte ſie zu den Kreuzſpinnen, die
ihre luftigen Gewebe rund um an der Decke
und den Wänden angeheftet hatten, aber
ihr müßt mir gleich drey hübſche, leichte
Kleider ſpinnen. Die Blumen, die hinein
gewirkt werden ſollen, will ich auch gleich
bringen. Die Kreuzſpinnen waren bereit und
fingen raſch zu weben an. Fabel ſchlich ſich
zur Leiter und begab ſich zu Arktur. Mo¬
narch ſagte ſie, die Böſen tanzen, die Guten
ruhn. Iſt die Flamme angekommen? Sie
iſt angekommen ſagte der König. Die Nacht
iſt vorbey und das Eis ſchmilzt. Meine
Gattin zeigt ſich von weitem. Meine Fein¬
dinn iſt verſenkt. Alles fängt zu leben an.
Noch darf ich mich nicht ſehn laſſen, denn
allein bin ich nicht König. Bitte was du
willſt. — Ich brauche, ſagte Fabel, Blumen,
die im Feuer gewachſen ſind. Ich weiß, du
haſt einen geſchickten Gärtner, der ſie zu zie¬
hen verſteht. — Zink, rief der König, gieb
uns Blumen. Der Blumengärtner trat
aus der Reihe, holte einen Topf voll
Feuer, und ſäete glänzenden Samenſtaub
hinein. Es währte nicht lange, ſo flogen
die Blumen empor. Fabel ſammelte ſie in
ihre Schürze, und machte ſich auf den Rück¬
weg. Die Spinnen waren fleißig geweſen,
und es fehlte nichts mehr, als das Anheften
der Blumen, welches ſie ſogleich mit vielem
Geſchmack und Behendigkeit begannen. Fa¬
bel hütete ſich wohl die Enden abzureißen,
die noch an den Weberinnen hingen.
Sie trug die Kleider den ermüdeten
Tänzerinnen hin, die triefend von Schweiß
umgeſunken waren, und ſich einige Augen¬
blicke von der ungewohnten Anſtrengung er¬
holten. Mit vieler Geſchicklichkeit entkleide¬
te ſie die hagern Schönheiten, die es an
Schmä¬
Schmähungen der kleinen Dienerin nicht feh¬
len ließen, und zog ihnen die neuen Kleider
an, die ſehr niedlich gemacht waren und vor¬
trefflich paßten. Sie pries während dieſes
Geſchäftes die Reize und den liebenswürdigen
Charakter ihrer Gebieterinnen, und die Al¬
ten ſchienen ordentlich erfreut über die
Schmeicheleyen und die Zierlichkeit des An¬
zuges. Sie hatten ſich unterdeß erholt, und
fingen von neuer Tanzluſt beſeelt wieder an,
ſich munter umherzudrehen, indem ſie heim¬
tückiſch der Kleinen langes Leben und große
Belohnungen verſprachen. Fabel ging in die
Kammer zurück, und ſagte zu den Kreuzſpin¬
nen: Ihr könnt nun die Fliegen getroſt ver¬
zehren, die ich in eure Weben gebracht ha¬
be. Die Spinnen waren ſo ſchon ungeduldig
über das hin und herreißen, da die Enden
noch in ihnen waren und die Alten ſo toll
umherſprangen; ſie rannten alſo hinaus, und
X
fielen über die Tänzerinnen her; dieſe woll¬
ten ſich mit der Scheere vertheidigen, aber
Fabel hatte ſie in aller Stille mitgenommen.
Sie unterlagen alſo ihren hungrigen Hand¬
werksgenoſſen, die lange keine ſo köſtlichen
Biſſen geſchmeckt hatten, und ſie bis auf das
Mark ausſaugten. Fabel ſah durch die
Felſenkluft hinaus, und erblickte den Perſeus
mit dem großen eiſernen Schilde. Die
Scheere flog von ſelbſt dem Schilde zu, und
Fabel bat ihn, Eros Flügel damit zu ver¬
ſchneiden, und dann mit ſeinem Schilde die
Schweſtern zu verewigen, und das große
Werk zu vollenden.
Sie verließ nun das unterirdiſche Reich,
und ſtieg frölich zu Arkturs Pallaſte.
Der Flachs iſt verſponnen. Das Lebloſe
iſt wieder entſeelt. Das Lebendige wird re¬
gieren, und das Lebloſe bilden und gebrau¬
chen. Das Innere wird offenbart, und das
Äußere verborgen. Der Vorhang wird ſich
bald heben, und das Schauſpiel ſeinen An¬
fang nehmen. Noch einmal bitte ich, dann
ſpinne ich Tage der Ewigkeit. — Glückliches
Kind, ſagte der gerührte Monarch, du biſt
unſre Befreyerin. Ich bin nichts als So¬
phiens Pathe, ſagte die Kleine. Erlaube
daß Turmalin, der Blumengärtner, und
Gold mich begleiten. Die Aſche meiner Pfle¬
gemutter muß ich ſammeln, und der alte
Träger muß wieder aufſtehn, daß die
Erde wieder ſchwebe und nicht auf dem Cha¬
os liege.
Der König rief allen Dreyen, und be¬
fahl ihnen, die Kleine zu begleiten. Die
Stadt war hell, und auf den Straßen war
ein lebhaftes Verkehr. Das Meer brach ſich
brauſend an der hohlen Klippe, und Fabel
fuhr auf des Königs Wagen mit ihren Be¬
gleitern hinüber. Turmalin ſammelte ſorg¬
fältig die auffliegende Aſche. Sie gingen
rund um die Erde, bis ſie an den alten Rie¬
ſen kamen, an deſſen Schultern ſie hinunter
klimmten. Er ſchien vom Schlage gelähmt,
und konnte kein Glied rühren. Gold legte
ihm eine Münze in den Mund, und der
Blumengärtner ſchob eine Schüſſel unter ſei¬
ne Lenden. Fabel berührte ihm die Augen,
und goß das Gefäß auf ſeiner Stirn aus.
So wie das Waſſer über das Auge in den
Mund und herunter über ihn in die Schüſ¬
ſel floß, zuckte ein Blitz des Lebens ihm in
allen Muskeln. Er ſchlug die Augen auf und
hob ſich rüſtig empor. Fabel ſprang zu ih¬
ren Begleitern auf die ſteigende Erde, und
bot ihm freundlich guten Morgen. Biſt du
wieder da, liebliches Kind? ſagte der Alte;
habe ich doch immer von dir geträumt. Ich
dachte immer, du würdeſt erſcheinen, ehe mir
die Erde und die Augen zu ſchwer würden.
Ich habe wohl lange geſchlafen. Die Erde
iſt wieder leicht, wie ſie es immer den Gu¬
ten war, ſagte Fabel. Die alten Zeiten keh¬
ren zurück. In Kurzem biſt du wieder unter
alten Bekannten. Ich will dir fröliche Tage
ſpinnen, und an einem Gehülfen ſoll es auch
nicht fehlen, damit du zuweilen an unſern
Freuden Theil nehmen, und im Arm einer
Freundinn Jugend und Stärke einathmen
kannſt. Wo ſind unſere alten Gaſtfreundin¬
nen, die Hesperiden? — An Sophiens Sei¬
te. Bald wird ihr Garten wieder blühen,
und die goldne Frucht duften. Sie gehen
umher und ſammeln die ſchmachtenden
Pflanzen.
Fabel entfernte ſich, und eilte dem Hau¬
ſe zu. Es war zu völligen Ruinen gewor¬
den. Epheu umzog die Mauern. Hohe
Büſche beſchatteten den ehmaligen Hof, und
weiches Moos polſterte die alten Stiegen.
Sie trat ins Zimmer. Sophie ſtand am
Altar, der wieder aufgebaut war. Eros lag
zu ihren Füßen in voller Rüſtung, ernſter
und edler als jemals. Ein prächtiger Kron¬
leuchter hing von der Decke. Mit bunten
Steinen war der Fußboden ausgelegt, und
zeigte einen großen Kreis um den Altar her,
der aus lauter edlen bedeutungsvollen Figuren
beſtand. Ginniſtan bog ſich über ein Ruhe¬
bett, worauf der Vater in tiefem Schlummer
zu liegen ſchien, und weinte. Ihre blühende
Anmuth war durch einen Zug von Andacht
und Liebe unendlich erhöht. Fabel reichte
die Urne, worin die Aſche geſammelt war,
der heiligen Sophie, die ſie zärtlich um¬
armte.
Liebliches Kind, ſagte ſie, dein Eifer und
deine Treue haben dir einen Platz unter den
ewigen Sternen erworben. Du haſt das Un¬
ſterbliche in dir gewählt. Der Phönix ge¬
hört dir. Du wirſt die Seele unſers Lebens
ſeyn. Jetzt wecke den Bräutigam auf. Der
Herold ruft, und Eros ſoll Freya ſuchen und
aufwecken.
Fabel freute ſich unbeſchreiblich bey die¬
ſen Worten. Sie rief ihren Begleitern Gold
und Zink, und nahte ſich dem Ruhebette.
Ginniſtan ſah erwartungsvoll ihrem Begin¬
nen zu. Gold ſchmolz die Münze und füll¬
te das Behältniß, worin der Vater lag, mit
einer glänzenden Flut. Zink ſchlang um
Ginniſtans Buſen eine Kette. Der Körper
ſchwamm auf den zitternden Wellen. Bücke
dich, liebe Mutter, ſagte Fabel, und lege die
Hand auf das Herz des Geliebten.
Ginniſtan bückte ſich. Sie ſah ihr viel¬
faches Bild. Die Kette berührte die Flut,
ihre Hand ſein Herz; er erwachte und zog
die entzückte Braut an ſeine Bruſt. Das
Metall gerann, und ward ein heller Spie¬
gel. Der Vater erhob ſich, ſeine Augen blitz¬
ten, und ſo ſchön und bedeutend auch ſeine
Geſtalt war, ſo ſchien doch ſein ganzer Kör¬
per eine feine unendlich bewegliche Flüſſig¬
keit zu ſeyn, die jeden Eindruck in den man¬
nigfaltigſten und reitzendſten Bewegungen
verrieth.
Das glückliche Paar näherte ſich Sophi¬
en, die Worte der Weihe über ſie ausſprach,
und ſie ermahnte, den Spiegel fleißig zu
Rathe zu ziehn, der alles in ſeiner wahren
Geſtalt zurückwerfe, jedes Blendwerk ver¬
nichte, und ewig das urſprüngliche Bild feſt¬
halte. Sie ergriff nun die Urne und ſchütte¬
te die Aſche in die Schaale auf dem Altar.
Eie ſanftes Brauſen verkündigte die Auflö¬
ſung, und ein leiſer Wind wehte in den
Gewändern und Locken der Umſtehenden.
Sophie reichte die Schaale dem Eros
und dieſer den Andern. Alle koſteten den
göttlichen Trank, und vernahmen die freund¬
liche Begrüßung der Mutter in ihrem In¬
nern, mit unſäglicher Freude. Sie war je¬
dem gegenwärtig, und ihre geheimnißvolle
Anweſenheit ſchien alle zu verklären.
Die Erwartung war erfüllt und über¬
troffen. Alle merkten, was ihnen gefehlt ha¬
be, und das Zimmer war ein Aufenthalt der
Seligen geworden. Sophie ſagte: das gro¬
ße Geheimniß iſt allen offenbart, und bleibt
ewig unergründlich. Aus Schmerzen wird
die neue Welt geboren, und in Thränen
wird die Aſche zum Trank des ewigen Le¬
bens aufgelöſt. In jedem wohnt die himm¬
liſche Mutter, um jedes Kind ewig zu gebä¬
ren. Fühlt ihr die ſüße Geburt im Klopfen
eurer Bruſt?
Sie goß in den Altar den Reſt aus der
Schaale hinunter. Die Erde bebte in ihren
Tiefen. Sophie ſagte: Eros, eile mit deiner
Schweſter zu deiner Geliebten. Bald ſeht
ihr mich wieder.
Fabel und Eros gingen mit ihrer Be¬
gleitung ſchnell hinweg. Es war ein mächti¬
ger Frühling über die Erde verbreitet. Alles
hob und regte ſich. Die Erde ſchwebte nä¬
her unter dem Schleyer. Der Mond und
die Wolken zogen mit frölichem Getümmel
nach Norden. Die Königsburg ſtrahlte mit
herrlichem Glanze über das Meer, und auf
ihren Zinnen ſtand der König in voller
Pracht mit ſeinem Gefolge. Überall erblick¬
ten ſie Staubwirbel, in denen ſich bekannte
Geſtalten zu bilden ſchienen. Sie begegne¬
ten zahlreichen Schaaren von Jünglingen
und Mädchen, die nach der Burg ſtrömten,
und ſie mit Jauchzen bewillkommten. Auf
manchen Hügeln ſaß ein glückliches eben er¬
wachtes Paar in lang' entbehrter Umar¬
mung, hielt die neue Welt für einen Traum,
und konnte nicht aufhören, ſich von der
ſchönen Wahrheit zu überzeugen.
Die Blumen und Bäume wuchſen und
grünten mit Macht. Alles ſchien beſeelt.
Alles ſprach und ſang. Fabel grüßte überall
alte Bekannte. Die Thiere nahten ſich mit
freundlichen Grüßen den erwachten Men¬
ſchen. Die Pflanzen bewirtheten ſie mit
Früchten und Düften, und ſchmückten ſie auf
das Zierlichſte. Kein Stein lag mehr auf
einer Menſchenbruſt, und alle Laſten waren
in ſich ſelbſt zu einem feſten Fußboden zu¬
ſammengeſunken. Sie kamen an das Meer.
Ein Fahrzeug von geſchliffenem Stahl lag
am Ufer feſtgebunden. Sie traten hinein
und löſten das Tau. Die Spitze richtete ſich
nach Norden, und das Fahrzeug durchſchnitt,
wie im Fluge, die buhlenden Wellen. Lis¬
pelndes Schilf hielt ſeinen Ungeſtüm auf,
und es ſtieß leiſe an das Ufer. Sie eilten
die breiten Treppen hinan. Die Liebe wun¬
derte ſich über die königliche Stadt und ihre
Reichthümer. Im Hofe ſprang der lebendig¬
gewordne Quell, der Hain bewegte ſich mit
den ſüßeſten Tönen, und ein wunderba¬
res Leben ſchien in ſeinen heißen Stäm¬
men und Blättern, in ſeinen funkelnden
Blumen und Früchten zu quellen und
zu treiben. Der alte Held empfing ſie
an den Thoren des Pallaſtes. Ehrwür¬
diger Alter, ſagte Fabel, Eros bedarf dein
Schwerdt. Gold hat ihm eine Kette gege¬
ben, die mit einem Ende in das Meer hin¬
unter reicht, und mit dem andern um ſeine
Bruſt geſchlungen iſt. Faſſe ſie mit mir an,
und führe uns in den Saal, wo die Prinzeſ¬
ſin ruht. Eros nahm aus der Hand des
Alten das Schwerdt, ſetzte den Knopf auf
ſeine Bruſt, und neigte die Spitze vorwärts.
Die Flügelthüren des Saals flogen auf, und
Eros nahte ſich entzückt der ſchlummernden
Freya. Plötzlich geſchah ein gewaltiger Schlag.
Ein heller Funken fuhr von der Prinzeſſin nach
dem Schwerdte; das Schwerdt und die Kette
leuchteten, der Held hielt die kleine Fabel, die
beynah umgeſunken wäre. Eros Helmbuſch
wallte empor. Wirf das Schwerdt weg, rief
Fabel, und erwecke deine Geliebte. Eros
ließ das Schwerdt fallen, flog auf die Prin¬
zeſſin zu, und küßte feurig ihre ſüßen Lippen.
Sie ſchlug ihre großen dunkeln Augen auf,
und erkannte den Geliebten. Ein langer
Kuß verſiegelte den ewigen Bund.
Von der Kuppel herunter kam der Kö¬
nig mit Sophien an der Hand. Die Geſtir¬
ne und die Geiſter der Natur folgten in
glänzenden Reihen. Ein unausſprechlich hei¬
trer Tag erfüllte den Saal, den Pallaſt, die
Stadt, und den Himmel. Eine zahlloſe
Menge ergoß ſich in den weiten königlichen
Saal, und ſah mit ſtiller Andacht die Lie¬
benden vor dem Könige und der Königinn
knieen, die ſie feyerlich ſegneten. Der König
nahm ſein Diadem vom Haupte, und band
es um Eros goldene Locken. Der alte Held
zog ihm die Rüſtung ab, und der König
warf ſeinen Mantel um ihn her. Dann gab
er ihm die Lilie in die linke Hand, und So¬
phie knüpfte ein köſtliches Armband um die
verſchlungenen Hände der Liebenden, indem
ſie zugleich ihre Krone auf Freyas braune
Haare ſetzte.
Heil unſern alten Beherrſchern, rief das
Volk. Sie haben immer unter uns gewohnt,
und wir haben ſie nicht erkannt! Heil uns!
Sie werden uns ewig beherrſchen! Segnet
uns auch! Sophie ſagte zu der neuen Köni¬
ginn: Wirf du das Armband eures Bundes
in
in die Luft, daß das Volk und die Welt
euch verbunden bleiben. Das Armband zer¬
floß in der Luft, und bald ſah man lichte
Ringe um jedes Haupt, und ein glänzendes
Band zog ſich über die Stadt und das
Meer und die Erde, die ein ewiges Feſt des
Frühlings feyerte. Perſeus trat herein, und
trug eine Spindel und ein Körbchen. Er
brachte dem neuen Könige das Körbchen.
Hier, ſagte er, ſind die Reſte deiner Feinde.
Eine ſteinerne Platte mit ſchwarzen und wei¬
ßen Feldern lag darin, und daneben eine
Menge Figuren von Alabaſter und ſchwar¬
zem Marmor. Es iſt ein Schachſpiel, ſagte
Sophie; aller Krieg iſt auf dieſe Platte und
in dieſe Figuren gebannt. Es iſt ein Denk¬
mal der alten trüben Zeit. Perſeus wandte
ſich zu Fabel, und gab ihr die Spindel. In
deinen Händen wird dieſe Spindel uns
ewig erfreuen, und aus dir ſelbſt wirſt du
Y
uns einen goldnen unzerreißlichen Faden
ſpinnen. Der Phönix flog mit melodiſchem
Geräuſch zu ihren Füßen, ſpreizte ſeine Fit¬
tiche vor ihr aus, auf die ſie ſich ſetzte, und
ſchwebte mit ihr über den Thron, ohne ſich
wieder niederzulaſſen. Sie ſang ein himmli¬
ſches Lied, und fing zu ſpinnen an, indem
der Faden aus ihrer Bruſt ſich hervorzuwin¬
den ſchien. Das Volk gerieth in neues Ent¬
zücken, und aller Augen hingen an dem lieb¬
lichen Kinde. Ein neues Jauchzen kam von
der Thür her. Der alte Mond kam mit ſei¬
nem wunderlichen Hofſtaat herein, und hin¬
ter ihm trug das Volk Ginniſtan und
ihren Bräutigam, wie im Triumph, ein¬
her.
Sie waren mit Blumenkränzen umwun¬
den; die königliche Familie empfing ſie mit
der herzlichſten Zärtlichkeit, und das neue
Königspaar rief ſie zu ſeinen Statthaltern
auf Erden aus.
Gönnet mir, ſagte der Mond, das Reich
der Parzen, deſſen ſeltſame Gebäude eben
auf dem Hofe des Pallaſtes aus der Erde
geſtiegen ſind. Ich will euch mit Schauſpie¬
len darin ergötzen, wozu die kleine Fabel
mir behülflich ſeyn wird.
Der König willigte in die Bitte, die klei¬
ne Fabel nickte freundlich, und das Volk freu¬
te ſich auf den ſeltſamen unterhaltenden Zeit¬
vertreib. Die Hesperiden ließen zur Thronbe¬
ſteigung Glück wünſchen, und um Schutz in
ihren Gärten bitten. Der König ließ ſie be¬
willkommen, und ſo folgten ſich unzählige
fröliche Bothſchaften. Unterdeſſen hatte ſich
unmerklich der Thron verwandelt, und war
ein prächtiges Hochzeitbett geworden, über
deſſen Himmel der Phönix mit der kleinen Fa¬
bel ſchwebte. Drey Karyatiden aus dunkelm
Porphyr trugen es hinten, und vorn ruhte
daſſelbe auf einer Sphinx aus Baſalt. Der
König umarmte ſeine erröthende Geliebte,
und das Volk folgte dem Beyſpiel des Kö¬
nigs, und liebkoſte ſich unter einander.
Man hörte nichts, als zärtliche Namen und
ein Kußgeflüſter. Endlich ſagte Sophie: Die
Mutter iſt unter uns, ihre Gegenwart
wird uns ewig beglücken. Folgt uns in un¬
ſere Wohnung, in dem Tempel dort werden
wir ewig wohnen, und das Geheimniß der
Welt bewahren. Die Fabel ſpann ämſig,
und ſang mit lauter Stimme:
Gegründet iſt das Reich der Ewigkeit,
In Lieb' und Frieden endigt ſich der Streit,
Vorüber ging der lge Traum der Schmer¬lb/>zen,
Sophie iſt ewig Prieſterin der Herzen.