Lienhard
und
Gertrud .
Ein Buch fuͤr 's Volk .
Vierter und lezter Theil .
Frankfurt und Leipzig ,
1787 .
An Herrn
Felix Battier
Sohn
in Baſel .
Freund !
D u fandeſt mich wie eine zertretene Pflanze am
Weg — und retteteſt mich unter dem Fußtritt der
Menſchen .
— Davon rede ich nicht . —
Liſ Freund ! dieſe Bogen . Ich ende mit
Ihnen das Ideal meiner Dorffuͤhrung . — Ich
fieng bey der Huͤtte einer gedruͤckten Frauen , und
)( 3
mit dem Bild der groͤſten Zerruͤttung des Dorfs
an , und ende mit ſeiner Ordnung . —
Das Vaterland ſagte laut und allgemein ,
als ich anfieng , das Bild der armen Huͤtte und
der Zerruͤttung des Dorfs iſt Wahrheit . — Der
Mann am Ruder des Staats und der Tagloͤh-
ner im Dorf fanden einſtimmig , es iſt ſo ! —
Es war das Bild meiner Erfahrung — ich
konnte nicht irren . —
Nun gieng ich weiter , ſtieg zu den Quellen
des Uebels hinauf . Ich wollte nicht blos ſagen
es iſt ſo — ich verſuchte zu zeigen , warum iſt es
ſo ? Und wie kann man machen , daß es anderſt
werde ?
Das Bild ward umfaſſender . — Die Huͤtte
der armen Frauen verſchwand im Bild der allge-
mach anruͤckenden Darſtellung des Ganzen . —
Es foderte viel . Die Maͤngel des Dorfs muß-
ten in allen Verhaͤltniſſen dargelegt werden , wie
die Maͤngel des Lienhards und des Hummels .
Die Mißbraͤuche im Einfluß der Religion —
und die Irrthuͤmer in der Geſetzgebung muͤßten
beruͤhrt , die Hinderniſſe des Fortſchritts einer
wahrhaft guten Menſchenbildung mußten enthuͤllet ,
und ihre Quellen dargelegt werden .
Die Schwierigkeiten einer beſſern Volksfuͤh-
rung mußten auf eine dem wahren Zuſtand des
Volks angemeſſene Art gehoben , und die Moͤg-
lichkeit der gaͤnzlichen Umſchaffung der Seelenſtim-
mung deſſelben , im Zuſammenhang aller ſeiner
Verhaͤltniſſe entwickelt und dargelegt werden .
Der Geiſt im Dienſt des Staats — die in-
nere Enzwecke ſeiner Verwaltung — und eben ſo
der Geiſt des Dienſts am Altar — und der Einfluß
ſeiner wirklichen Verwaltung mußte aufgedeckt ,
und bey beyden in allen Branchen ſeines Einfluſ-
ſes gezeiget werden , was dieſe Dienerſchaft ſeyn
koͤnnte — ſollte — und nicht iſt . —
Die wahren Grundſaͤtze der geſellſchaftlichen
Ordnung mußten durch alles Gewirr der tauſend-
fachen Hinderniſſe hinab in die niedern Huͤtten ge-
bracht — und das alles ſollte ſich allenthalben an
wirkliche Volksbegriffe und Volksgefuͤhle anſchlieſ-
ſen , und allenthalben ſollte die innere Stimmung
der niedern Menſchheit den Bildern nahe ſtehen ,
die ich hinwerfe ſie zu reizen , ſich ſelber zu helfen .
Ich wollte offen handeln vor dem Volk wie
vor ſeinen Herren , und beyde durch richtigere Kennt-
niſſe der gegenſeitigen Wahrheit in ihren Verhaͤlt-
niſſen einander naͤher bringen .
Das iſt , was ich verſuchte zu leiſten ; das
weſentliche , von allem , was ich ſage , habe ich
geſehen . —
Und ſehr vieles von dem , was ich anrathe ,
hab ich gethan . — Ich verlor den Genuß mei-
nes Lebens in der Anſtrengung meines Verſuchs
fuͤr die Bildung des Volks — und ich habe den
wahren Zuſtand deſſelben , ſo wie die Mittel es zu
aͤndern ſowohl in ihrem großen Zuſammenhang
als im ungeheuern Detail ſeiner Millionenfachen
ſich immer vom Ganzen abſondernden und allein wir-
kenden Verhaͤltniſſe geſehen , wie vielleicht Nie-
mand . — Auch iſt meine Bahn unbetreten , es
hat es noch Niemand verſucht den Gegenſtand in
dieſen Geſichtspunkten zu behandeln — alles was
ich ſage , ruhet in ſeinem Weſen ganz bis auf ſei-
nen kleinſten Theil auf meinen wirklichen Erfah-
rungen . —
Freylich irrte ich mich in dem , was ich aus-
fuͤhren wollte , aber eben dieſe Irrthuͤmer meines
thaͤtigen Lebens haben mich in Lagen geſezt , das
zu lernen , was ich nicht konnte , da ich es that .
Liſ Freund ! dieſe Bogen , und nimm meinen
Dank fuͤr die wichtigſten Geſichtspunkte derſelben
— die ohne dich nie ſo weit zur Reife gekommen
waͤren , und laß mich von denſelben dir ſagen , —
ich kenne Niemand , von dem ich mehr gelernt
habe , und deſſen Urtheil mir in Abſicht auf die
wichtigſten Theile der Volksfuͤhrung und ihrer
Fundamente wichtiger iſt , als das deine ! —
Freund ! die Laſt meiner Erfahrungen liegt
noch auf mir — noch leb ich wie im Traum , im
Bild dieſes Thuns , und mein Streben nach die-
ſem Ziel endet nicht in mir ſo lang ich athme —
und ſo lang ich athme , bin ich nicht in meine r
Sphaͤre bis ich fuͤr die erſte Geſichtspumkte mei-
nes Lebens wirklich thaͤtig werden kann .
Sey forthin mein Freund ! Ich bin ewig
mit Dank und Liebe
der Deine
P**
§. 1.
Anfangs Sonnenſchein .
W ir ſind um einen Schritt weiter — mit die-
ſem Wort endete ich . —
— Ich fange wiederum an . —
Als er heim kam , fand er zwey Briefe auf
ſeinem Pult ; der eine den er zuerſt aufſchnitt ,
war von dem Grafen Bylifsky , und lautet alſo —
„ Lieber ! der Herzog iſt entzuͤckt uͤber alles was
du machſt . Er hat mir deinen letzten Brief , den
er nicht genug leſen konnte , noch izt nicht wieder
zuruͤckgegeben ; und will dich , wie du unter den
Kindern von Bonnal im Pfarrhausgarten am Bo-
den ſitzeſt , von unſern Menzow abmahlen laſſen ;
und ſagte , das Gemaͤhlde muͤſſe in das kleine
Zimmer , das er ſeinen Winkel heißt , in welchem
noch kein einziges Portrait iſt , als das einige ,
A
deſſen Original du an Hals und Augen dem ſchlim-
men großen Kopf gleich fandeſt , den Fuͤeßli in
Lavaters Phyſiognomie gezeichnet — neben dieſen
kommſt izt du — du gute Seele ! gerade vor ihm
voruͤber . — Was wirſt du wohl auch — ſo ge-
rade vor dieſem Kopf voruͤber auf dieſer Wand
machen ? — Und was wird der Herzog denken ,
wenn er dieſen Kontraſt — der wahrlich eine große
Satire auf ſeine Regierung iſt — fuͤhlen wird ,
wie er ihn gewiß fuͤhlen wird ! — Die Zeit wird
es lehren . Freund ! man redt izt von dir bey
Hof ; und wie natuͤrlich haſſet dich der Mann
ſchon , dem alles zuwider , was den Herzog an das
Menſchengeſchlecht erinnert . Er ſagt laut : dieſer
Gedanke ſey ihm nicht geſund ; und doch wird er
ihm anrathen , ſeinen Geluſt zu erfuͤllen , deine Anſtal-
ten ſelber zu ſehen ; aber ich werde es noch lang
hintertreiben . Wenn je ein Mittel iſt , aus allem
was du gethan , geſchwind wieder Nichts zu ma-
chen ; ſo iſt es dieſes , daß der Herzog eine Lan-
desſache daraus mache , ehe du ſie als deine Pri-
vatſache vollendeſt . Das koͤnnte Helidor wuͤn-
ſchen , aber die Freude muß ihm nicht werden ,
dein Portrait auf dieſem Wege von dem grauem
Gobelin herabzubringen , auf dem er ſich ſo wohl
gefaͤllt allein zu hangen . Waͤreſt du doch nur ſchon
dort ! du verdienſt es mehr als Niemand — Du
lebſt in deiner Unſchuld wie ein Kind — und
weißeſt weder was du biſt , noch was du thuſt ;
aber in einem ganz umgekehrten Sinn als wir
hier , denen das leider auch begegnet .
Dein Lieutenant iſt Gold werth : ſage ihm
von meinetwegen , er ſolle dein Werk vollenden ;
und es ſichs nicht verdrießen laſſen , ſo lang es
noͤthig , auf dieſer niedern Stafel ſeiner ſo ſichern
als großen Leiter zu ſtehen .
Was machen deine Kinder ? Und Thereſe ?
Gruͤß mir ſie ; und ſage ihr , ich ſehe die Hofcer-
kles nicht mehr , ſeit dem der Schwan weggeflo-
gen , deſſen ſich unſere Gaͤnſe auch izt , nur noch
mit Neid erinnern . Thereſe war vorigen Sommer bey Hof . Lebe wohl ! Schreib mir
bald wieder . — Ich muͤßte dich izt um Briefe
bitten , wenn ich ſie auch ſchon nicht gern haͤtte . —
Was ich dir wuͤnſche , mein Freund ! iſt , daß
dein Gluͤck dem Meinigen nie gleich werde , denn
es druͤckt mich auf beyden Achſeln .
Bylifsky —
A 2
§. 2.
Folget Regen .
D ie Freude uͤber dieſen Brief verlohr ſich ob dem
andern . Dieſer war von ſeinem Onkle , dem Ge-
neral von Arnburg , der mit Sylvia , ſeiner Niece ,
einen Beſuch fuͤr etliche Wochen ankuͤndigte .
Ob ihm erſchracken ſie nicht . Er war ein
guter Mann , der den Morgen mit ſeiner Schok-
kolade und Toilette durchbrachte , ohne jemand zu
plagen , und zufrieden war , wenn man ihn denn
nur nach dem Mittagsſchlaf bis zum Nachteſſen
vergeſellſchaftete . — Aber ob der Sylvia erſchra-
cken ſie herzlich . Es waͤre das gleiche geweſen ,
wo er ſie immer mitgenommen haͤtte — denn außer
ihm wuͤrde gewiß kein Menſch , der ſie kennt , nicht
erſchrecken etliche Wochen mit ihr unter einem
Dache zu wohnen , und er ſelber gewiß auch ; aber
ſie war ſeines Bruders Tochter , und aus Mitlei-
den hatte er ſich ihrer beladen .
In der Jugend , von einem verſchwenderiſchen
Vater wie eine Prinzeßin verderbt , hatte ſie in vollem
Maaß die Fehler der Menſchen , die nicht wiſſen , wo
das Brod herkommt ; und durch ſeinen Tod ploͤtzlich
in Armuth und Abhaͤnglichkeit verſezt , haſſet ſie
izt jedermann , dem es beſſer geht als ihr ; und
braucht das Einzige was ſie eigenthuͤmliches hat ,
ihr bischen Geiſt , zu kraͤnken wen ſie beneidet .
Ihr ganzes Weſen iſt krum . Sie ſchaͤmt ſich
nicht . — Was ſie redet , thut der Unſchuld weh ,
oder macht ſie erroͤthen . — Sie haſſet was den
geraden Weg gehet , und verachtet was natuͤrlich ,
unverdreht und unverkehrt iſt . —
— So ein Menſch iſt ſie . —
Wenn man von einem ſchwangern Weib
redt , ſo ſpeyt ſie auf den Boden , und es iſt ihr
Wort — „ Haͤtte der Narr nichts geſcheiders thun
koͤnnen , als noch ein elendes Geſchoͤpf mehr auf
die Welt ſetzen ? „ —
Die Perſon , die ſie mit ſich gebracht , hat
viel aͤhnliches mit ihr ; aber ſie iſt mehr —
Sie giebt ihr den Namen Freundin ; ich denke ſo
lange es gut geht , denn ſie ſteht bey ihr im Jahr-
lohn , ſie heißt Aglee . — Beyde ſind nicht gern
auf das Land gekommen , und hatten den Onkle
ſchon zwey Jahre von dieſer Reiſe abgehalten .
Dieß Jahr konnten ſie es nicht ; und brachten alſo
neben ihren Karaktern noch ihre boͤſe Laune mit ſich .
Der Rollenberger war der erſte ob dem ſie ſie
ausſtießen . Er legte mit ſeinem Karl einiges Saa-
menzeug im Garten auf einer Bank in Ordnung ;
A 3
als dieſe beyde ſchon am andern Morgen ihres daſi-
gen Aufenthalts , ſo franzoͤſiſch neben ihn auf beyden
Seiten abſaßen , daß das halbe Saamenzeug ab der
Bank in Boden fallen mußte .
Der Karl , der ſeiner Lebtag kein Bauernweib
in einem fremden Hauſe ſo auf einer Bank die
voll Zeug war , abſitzen geſehen , machte ihnen Au-
gen , wie er auch ſeiner Lebtag noch keiner Bauern
Frau gemacht — und das Maul war ihm ſchon
mehr als halb offen , als er ſah , daß ihm der
Rollenberger winkte . — Er that es wieder zu , und
gieng , ohne ein Wort zu ſagen , fort — aber man
ſahe ihm an , daß es ihm weh that — er ward
roth . — Sylvia lachte ſpoͤttiſch uͤber ſein Roth-
werden gegen Aglee ; ſagte dann zum Rollenberger ,
was er ihn auch lehre , es duͤnke ſie , er wiſſe ſo
nichts .
Betroffen uͤber dieſe Frage antwortete dieſer ,
er hoffe , wenn ſie ſich eine Weile hier aufhalten ,
ſo werden ſie es dann ſelber ſehen . —
Sie erwiederte , ob er auch eine Bibliothek
habe ? und wo er ſtudiere ?
Nicht gewohnt , alſo gefragt zu werden ; und
unwiſſend , wo dieſe Fragen hinlangen , ſchwieg er
einen Augenblick ſtill , dann antwortete er ihr ſteif
ins Geſicht ſehend : Nein ! er habe nirgend ſtudiert
und habe keine Bibliothek !
Sie blieb ihm , wie natuͤrlich , mit den Augen
nichts ſchuldig und fuhr fort — Ob er ſchon eine
Erziehung unter den Haͤnden gehabt ?
Daruͤber antwortete er Ja und das eine von
zwoͤlf Kindern . —
Sie . Was er aus ihnen gemacht ?
Er . Nach einigen Staunen — brauchbare
Kinder , uͤber die bis izt Gottlob noch Niemand
einige Klage hat . —
Sie . Wo dieſe Kinder ſeyen ?
Er . Daheim bey ihrem Vater . —
Sie . So — Wer iſt denn ihr Vater ?
Er . Der Amtmann von Cleberg .
Sie . Sie wolle wohl glauben , daß er im
Stande ſey , fuͤr einen Bauernamtmann eine ganze
Heerde Kinder zu erziehen — aber ihr Vetter ſey
ein Narr , und wiſſe nicht , was eine Erziehung
fuͤr ſeinen Stand brauche — und er haͤtte auch
dieſen Dienſt nicht ſuchen ſollen . —
Er . Er habe den Dienſt ( das Wort Dienſt
langſam ausſprechend ) — nie geſucht .
Sie . Man werde ihm fuͤr dieſen Dienſt ( das
Wort Dienſt hart und eben ſo langſam ihn ver-
ſpottend ausſprechend ) nachgelaufen ſeyn ? —
A 4
Sie ſprach in dieſem Ton noch lange fort .
Es trieb dem guten Menſchen den Schweiß in
die Fingerſpitzen ; aber endlich nahm er den Reißaus .
Als die Frage zum Drittenmal wieder kam ,
was er denn in aller Welt auch verſtehe und koͤnne
den Buben zu lehren ? Antwortete er : Muß ich ih-
nen denn alles ſagen , was ich kann ?
Sie erwiederte , fang er nur einmal an etwas
zu ſagen .
Auf dieſes hin ſagte er , nun dann — ich kann
Kuͤhe und Ochſen maͤſten — ich kann zu Acker trei-
ben , und anſaͤen ; ich kann Waſſermatten und Klee-
felder anlegen — ich verſtehe den Waldbau , wie
den Bergbau — ich kann mit den Bauern rechnen
wie mit den Herren ; und was man mir anver-
traut , dem lieg ich fruͤh und ſpaͤt ob .
Dieſe Antwort ſprengte die Dame von der
Bank auf — So ein Maul habe ich in meinem
Leben nicht geſehen fuͤr einen Idioten , ſagte ſie
beym Weggehen zur Aglee . Dieſe erwiederte ihr ,
ſagen ſie ihm nicht ſo , er iſt ihrer Meiſter worden .
§ . 3.
Von der adelichen Erziehung .
Von den adelichen Rechten .
Und auch etwas von Bauern Rechten .
S ich zu raͤchen , erzaͤhlte ſie die ganze Unterredung ,
und noch mit Zuſaͤtzen , dem Arner , und dann noch
in Gegenwart des Generals , von dem ſie wußte ,
daß er auf des Adels hinterſte Zugabe kindiſch auf-
merkſam immer glaubte , man koͤnne faſt nicht ge-
nug thun , ein adeliches Kind unterſchieden genug
von den andern zu erziehen . Dieſer fand auch ,
wie natuͤrlich , der Vetter ſey mit einem ſolchen
Menſchen hiezu nicht verſorget ; und der Knabe
werde fuͤr ſeinen Stand , und fuͤr ſeine hohen Rechte ,
bey weitem nicht in der Ordnung erzogen .
Bey dieſem Worte fiel ihm Sylvia in die Re-
de , und ſagte — ja Onkle , der Vetter achtet die
hohen Rechte nicht viel , er achtet ſie ſo wenig ,
daß er den ſchon angefangenen Weg uͤber die Fel-
ſen , der das Schloß doppelt ſo viel werth machen
wuͤrde , und den ſein Großvater mit ſo vieler Muͤhe
von den Bauern erſtritten , eingehen laͤßt , wie wenn
dieſes Recht nichts waͤre ; aber er kann ſo den lie-
ben Bauern und dem lieben Bauernvieh die Arbeit
ſchenken .
Erbittert uͤber dieſen Ton und dieſes Anbrin-
gen erwiederte Arner kurz und trocken , ſie waren
mir den Weg nicht ſchuldig .
Sylvia . Es iſt doch ein Urtheil von Hof
aus wider ſie ergangen . —
Arner . Es iſt ihnen Unrecht geſchehen . —
Sylvia . Das waͤre !
General . Aber wie iſt ihnen Unrecht ge-
ſchehen ?
Arner . Sie haben Brief und Siegel dafuͤr ,
daß ſie den Weg nicht ſchuldig ſind . —
Sylvia . Warum verlohren ſie denn den
Prozeß ?
Arner . Nur um des kleinen Umſtands wil-
len , weil man ihnen die Briefe und Siegel im
Amte hinterhalten ; und deutſch geſagt , gerade zu
abgelaͤugnet hat .
Sylvia . Und Sie haben ſie ihnen da wie-
der gegeben ?
Arner . Das verſteht ſich ; und beſtaͤtiget
dazu .
General . Das iſt izt doch zu viel . —
Arner . Warum lieber Onkle ?
General . Deine Kinder und Kindeskinder
koͤnnten anderſt denken als du ; und man muß nie
eine Gewalt die man hat aus den Haͤnden laſſen :
wenn man meynt man habe das Recht nicht dazu ,
ſo kann man ſie ſo lang man will nicht brauchen ,
und das iſt doch denn ja genug .
So wie er den Karl erzieht , iſt er ſicher , daß
er nicht anders denken wird , ſagte Sylvia .
Der General erwiederte , das gehoͤrt izt nicht
hieher . —
Und Arner — Onkle ! man thut gewiß am
Beſten , man laſſe einem jeden ſeine Rechte , wie
man die ſeinigen auch gern hat .
Sylvia erwiederte , das iſt nicht geredt . Die
Bauern haben keine Rechte ; ihre Rechte ſind nur
Gnadenſachen .
General . Voͤllig ſo iſt es doch auch nicht .
Arner . Und wenns auch waͤre , ſo waͤr es
nicht fuͤr mich . Die Bauern machen ſo widrige
Geſichter wenn man ihnen ihre Rechte nimmt , daß
ich auch nur kein Roß im Stall haben moͤchte , das
den Kopf und das Maul haͤngen , und Augen ma-
chen wuͤrde wie dergleichen Bauern . —
Sylvia . Die Roßordnung und die Bauern-
ordnung laſſen ſich nicht miteinander vergleichen .
Arner . Ihr meynet etwa , man koͤnnte nicht
beſtehen , wenn man die Bauern ſo gut halten wuͤr-
de als die Pferde ? —
Sylvia . Meinethalben ! probiert es , ihr
werdet es denn erfahren .
Das Geſpraͤch machte dem Onkle Muͤhe ; er
war mit beyden unzufrieden ; und gieng bey Anlaß
der Pferde in den Stall , zu ſehen , was ſein Brauner
mache . — Der Knecht hatte ihm geſtern geſagt ,
es fehle ihm etwas am Fuß . —
§ . 4.
Die Spinne arbeitet fleißig an ihrem
Gewebe .
S ie fuͤrchteten Niemand ; und nichts als des Lieu-
tenants Augen und Stille . Sie ſahen wohl , daß er
reden konnte , wenn er wollte ; dafuͤr aber ſuchten ſie
ihn aus dem Schloſſe zu ſprengen , ſo bald ſie koͤnn-
ten ; und da ſie vernommen , er ſchneide den Kin-
dern in der Schule die Haare und die Naͤgel ab ,
hatten ſie ihre Sache in der Ordnung . —
Bey dem erſten Eſſen ruͤckte Aglee , da er ihr ,
wie gewoͤhnlich , den Teller anboth , mit dem Stuhl
hinter ſich von ihm hinweg . Er wußte nicht was
es war , der ganze Tiſch ſah hinunter , was es ge-
ben wolle , und Sylvia ſagte dann ganz laut und
vernehmlich von oben herab : „ Es ſey nichts an-
„ders , als ihre Freundin ſey ein wenig eckel , und
"ihr Herr Nachbar ſchneide den Kindern in der
"Schule die Haare und die Naͤgel ab . „ —
Izt ſtund der Lieutenant auf , nahm ſeinen
Stock und Hut , und gieng auf ſein Zimmer .
Der General rief ihm zwar , es ſey nicht ſo Boͤſe
gemeynt ; er muͤſſe es nicht ſo nehmen , es ſeyen
Frauenzimmer . Aber Sylvia ſagte eben ſo laut :
Laßt ihn doch gehen , es iſt juſt was wir wollen . —
Arner rief , indem er auch aufſtund , ſeinen
Knechten vom Tiſch weg , wo ſie aufwarteten ; und
befahl noch in der Stuben , im Augenblick ſeine
Kutſche anzuſpannen . Schrieb dann in des Lieute-
nants Zimmer mit Bleyſtift auf eine Karte an den
Pfarrer von Bonnal :
„ Ich habe Leute bey mir , die keine Men-
"ſchen ſind ; und bis dieſe fort ſind , kann ich
"keine Menſchen bey mir haben . „ —
Und ſandte den lieben Mann mit dieſem Fracht-
brief auf Bonnal . Als er ihm in die Kutſche hin-
einhalf , ſagte er ihm noch : Was mir leid iſt , mein
Lieber ! iſt , daß ich nicht mit kann . —
Alles war izt am Tiſche ſtill ; und man hoͤrte
keinen Ton , als daß Karl halb laut zu ſeinem Rol-
lenberger ſagte — „ Es darf izt nur Niemand kein
"Wort ſagen ! es iſt doch nicht recht , es wiſſens
"alle , wie die Jungfern in ihrer Stube eine Ord-
"nung haben , und wie ihnen aller Gattung Haa-
"re und Straͤle , und dergleichen Zeug , in allen
"Ecken herumliegen ; gehe man in Herrn Lieute-
"nants Zimmer , und ſehe , ob man ſo etwas da-
"rinn finde . „
So gab es alle Tage etwas — Auch frug der
Karl alle Tage die Mama , wann gehen ſie auch
wieder fort ?
Armer Karl ! du wirſt noch viel erleben bis
dann — Der General will den Selzer hier trinken ,
und hat ihn kaum angefangen , aber er kann ihm
nicht wohl thun ; er hat keine Freude dabey ; Syl-
via verbittert alles .
Arner hatte doch das ganze Haus , von oben
bis unten , ihrenthalben in Ordnung gebracht ;
Stall und Jagdzeug , und Kutſchengeſchirr ausputzen
laſſen ; und Thereſe alle Huͤner , und alles was le-
bendig war , aus dem Hofe wegſchaffen und ein-
ſperren laſſen ; und auch um ihrentwillen keinen
Miſt in die Gaͤrten gethan , da juſt darein ſollte ;
und hingegen alle Spatziergaͤnge mit Sand uͤber-
fuͤhren laſſen . Auch hatten ſie ihnen faſt alle Tage
Geſellſchaft , oder fuhren mit ihnen aus , und das
allemal auf Schloͤſſer , nie in kein Pfarrhaus , und
nie zu keinem Buͤrger , damit ſie ja nichts zu klagen
haͤtten . Aber es war umſonſt ; Sylvia hatte ſich
vorgenommen ihnen Verdruß zu machen , und
machte den General taͤglich auf hundert Umſtaͤnde
aufmerkſam , die ſeinen Adelſtolz reizten , indem ſie
ihm bald alle Stunden etwas zeigte , das er fuͤr ih-
ren Stand nicht ſchicklich hielt . — Sie bracht' es
auch bald dahin , daß er es nicht mehr ausſtehen
konnte , wenn Arner von der Schule , vom Lieute-
nant , oder vom Pfarrer in Bonnal nur ein Wort
redte , und ihm taͤglich ſagte : du plageſt dich mit
Sachen , die dich nichts angehen ; und beladeſt dich
mit Leuten , von denen du keine Ehre haſt , auch
kannſt du ſo unmoͤglich geſund ſeyn , wie du dich
den ganzen Tag anſtrengſt . — Umſonſt ſagte ihm
dieſer , es mache ihm keine Muͤhe , er thue es ja
gern . Man ſiehts dir ja an , erwiederte der Alte ,
daß du nicht wohl biſt ; es iſt nichts daran ſchuld
als dieſes , und der taͤgliche Verdruß , den du dir
noch damit zuzieheſt . — Das plagte Arnern , und
der Plage los zu werden ſagte er endlich dem Hof-
mann , es ſtehe nicht mehr bey ihm , ob er dieſe
Sachen wollte liegen laſſen oder nicht , der Herzog
wiſſe davon , halte die Sache fuͤr gar wichtig , und
er muͤſſe gar oft Berichte von allem nach Hof ſchi-
cken , die ſeiner Durchlaucht ſelbſt zu Handen kom-
men .
Dann iſts etwas anders , wenn der Herzog
davon weißt ! — dann iſts etwas anders — ſagte
izt der Alte ; und es freute ihn ſo ſehr , daß er nicht
mehr daran ſinnte , es ſchade dem Vetter an ſei-
ner Geſundheit . —
§ . 5.
Die Spinne glaubt ihn wie eine Muͤcke
im Netz ; aber die Muͤcke fallt durch ,
und zerreißt ihr das Garn .
E r ſagte wohl noch viermal , dann iſts etwas an-
ders — und gieng bald hinauf in der Sylvia Zim-
mer , ſagte ihr das gleiche , und der Herzog wiſſe
davon , man muͤſſe ſich gewahren ; aber dieſe lachte
ihn aus , und erwiederte ihm , ſie muͤßte es auch
wiſſen , wenn im geringſten ſo etwas wahr waͤre ;
aber ſie koͤnne ihn verſichern , alles was man vom
guten Vetter bey Hof wiſſe und ſage , ſey mehr nicht
und minder nicht , als er ſey ein Narr .
Du mußt izt dieſes auch nicht ſagen , ſagte der
Alte . Sie aber erwiederte : Nun — ihr wiſſet
doch gewiß noch , daß ich es ſchon vor 5 Wochen
erzaͤhlt , daß Helidor , da ich ihm von euerer Reiſe
hierher etwas geſagt , mir zur Antwort gegeben ,
was wir auch hier thun wollten , Arner ſey einer
der erſten Fantaſten in der Welt . Das iſt wahr ,
antwortete der General ; aber er ſteht mit Bylifsky
gut . —
Aber
Aber was iſts dann ? antwortete Sylvia , By-
lifsky iſt fuͤr den Herzog nur ein Karrenroß , der
andere iſt Kutſcher , und der Bylifsky , der gut
weiß daß der andere das iſt , hat ſeinen Platz zu
lieb , als daß er dem Herzog von Sachen rede ,
die dem Helidor zuwider ſind wie Gift . —
Meynſt du denn der Herzog wiſſe gar nichts
davon , und er habe mir dieß nur ſo angegeben ?
ſagte der General . —
Silvia . Der Vetter muß ihnen das vor
dem Nachteſſen noch ſelber bekennen . —
General . Wenn du das machen koͤnnteſt ,
ich wuͤrde Morgen wieder verreiſen , wenn ich ſchon
meine Cur erſt angefangen .
Sylvia . Auf dieſes hin will ich noch heute
einpacken .
General . Nein : wart doch bis Morgen ,
es iſt dann noch Zeit .
Sylvia . Fangen ſie nur beym Thee wieder
davon an . —
Der Thee kam , und der Herzog war bald da .
Der Vetter wird wohl geſpaßet haben , ſagte
Sylvia alſobald . — Das juſt nicht , erwiederte Ar-
ner . —
Sylvia . Aber der Herzog — was wird
wohl der Herzog von ihrer Schule wiſſen ?
Arner . Vieles . —
B
Sylvia . Gewiß ? —
Arner . Ich koͤnnte noch mehr ſagen . —
Sylvia . Was koͤnnten ſie wohl mehr ſagen ?
Arner . Ich koͤnnte ſagen , — Alles . —
Sylvia . Ich denke wohl , ſie koͤnnten ſagen
— alles — Aber wenn man es dann auch glaubte .
Arner . Sie haben recht , es iſt beſſer , ich
bleibe beym Vieles .
Sylvia . Ich wuͤßte etwas , das noch beſſer
waͤre . —
Arner . Was das ?
Sylvia . Wenn ſie ſagen wuͤrden , gar nichts —
Arner . Wenn ſie allein da waͤren , ich wuͤr-
de ihnen ſicher ſagen , gar nichts . —
So woͤrtleten ſie miteinander , bis Arner end-
lich Bylifskys Brief herabholte , und zwey davon
dem Generalen ganz zu leſen gab ; den dritten laſ'
er ihm vor bis auf die Stell im Anfang , in der
Bylifsky die Gleichheit Helidors mit Fuͤeßlis Teufel
in Lavaters Phyſiognomik bemerkte , das dorfte er
ihm nicht vorleſen , weil Sylvia ihn kannte . —
Sie gieng , ſo bald der Onkle die Brille aufſetzte
und anfieng laut zu leſen , vom Tiſch weg , aber der
General ſagte , indem er einen Augenblick ſtill hielt ,
es iſt izt gleich viel , es ſcheint du habeſt recht ,
und ſie habe unrecht . — Er laſ dann mit ſeiner
Brille an den Ohren fort , das Herz klopfte ihm
vor Freuden , beſonders daß der Miniſter dem Vetter
noch Du ſage ; das haͤtte zu meiner Zeit nicht ſtatt
gehabt , ſagte er , wenn einer ſo hoch hinauf geſtiegen ,
ſo hat er das gegen Niemand mehr gethan .
Er haͤtte mir bald ausgeſchrieben , erwiederte
Arner , wenn er ſeinen Ton um ſeines Poſtens wil-
len geaͤndert haͤtte , ich wuͤrde ihm gewiß kein Wort
antworten .
Der General wußte vor Freuden nicht , was er
machen wollte , und ſagte etlichemal , er muͤſſe izt
ſehen , daß er aufrichtig ſey , und er wolle es ihm
ſeiner Lebtage nicht vergeſſen . Dann fieng er vor
lauter Freude an uͤber Sylvia zu klagen , und ſag-
te , er ſey auch nicht mit ihr zufrieden , und ſie
mache es ihm auch nicht wie ſie ſollte , er wolle es
izt nur ſagen , er wiſſe wohl daß es im Vertrauen ge-
redt ſey , ſie haben die vorige Woche auf ihrer Stube
etwas gemacht , das ihm gar nicht gefallen habe .
Arner fieng an vom Herzog zu reden , um ihn
von dieſem Geſpraͤch wegzulenken , aber er fuhr fort ,
und ſagte , Nein : du mußt mich es izt doch ſagen
laſſen , ſie haben von ihrem kleinen Hund den
Schattenriß genommen , und dann den Hundskopf
in Hut und Zopf und Kleid mit des Lieutenants
ſeinem Profil ſo gleich gemacht als ſie haben koͤn-
nen , und ich weiß nicht , wozu ſie dieſe Bosheit
brauchen wollen .
B 2
Arner und Thereſe waͤren beyde froh geweſen ,
ſie haͤtten das nicht vernommen , und ſagten dem
Onkle , es iſt einem woͤhler , wenn man dergleichen
Sachen nicht weißt . — Ich habe es euch einmal
auch ſagen muͤſſen , erwiederte der Alte — aber es
habe ihn doch gereuet , ſo bald es zum Maul hin-
aus war , denn er fuͤrchtete Sylvia .
Dieſe ſagte auf ihrem Zimmer ganz kalt und
bitter zu Aglee , ſie koͤnne nicht begreifen , daß By-
lifsky es wage von ſolchen Affereyen mit dem Her-
zog zu reden . Aglee erwiederte , ſie verwundere ſich
gar nicht daruͤber , es ſey izt das Modefieber an
vielen Hoͤfen .
Aber an unſerm , ſagte Sylvia , wo der Her-
zog ſchon vor 20 Jahren darob ein Narr wor-
den , da iſts doch gewiß ein Wunder , daß mans
wagt , ihm muthwillig und oͤffentlich dieſes Fieber
wieder in den Leib zu jagen , damit ich der ſchoͤnen
Krankheit keinen andern Namen gebe .
Dann ſtaunte ſie eine Weile , und ſagte bald
darauf noch , entweder weiß Helidor etwas davon ,
und dann iſt es nichts anders als eine Falle , die
er dem Bylifsky legt , und ich glaube es , der Dick-
hals mache izt den Blinden , und wiſſe von allem
nichts , bis der Miniſter mit ſeinem guten Freund
bis uͤber die Ohren hinauf im Kothe ſteckt , denn
juckt er einsmal hervor , und zeigt ſie dem Herzog
wie ſie ſtecken . Im andern Fall , wenn es ein Um-
weg vom Bylifsky waͤre , was am Ende auch moͤg-
lich iſt , hat Helidor Bericht noͤthig ; und es traͤum-
te ihr , ſie ſey izt am Platz , wo ſie ihm in beyden
Faͤllen mehr als ein Menſch dienen koͤnne ; denn
ſagte ſie zu ſich ſelbſt , er muß gewiß , und wuͤnſcht
gewiß , ſeiner blinden Durchlaucht hieruͤber den
Nebel von den Augen weg zu thun , und die Herren
Menſchlichkeitskraͤmer mit Raritaͤtenkaͤſtchen recht
geſchwind in das Koth hineinzufuͤhren , wo ſie hin-
eingehoͤren , und wo ſie fruͤher oder ſpaͤter , auch
ohne daß man ihnen helfen wuͤrde , hineinkommen
muͤſſen .
Von dieſem Augenblick an waren alle ihre
Sinnen auf dieſen Zweck gerichtet .
§ . 6.
Das Herz giebt allem , was der Menſch
ſieht und hoͤrt , und weißt , die Farbe .
I hr Jaͤger kannte den Lieutenant , und hatte
ihr , ſo bald er gemerkt , wie ſie es mit ihm habe ,
ſchon laͤngſt erzaͤhlt , daß er nichts mehr und nichts
weniger ſey als ein armer Schlukker , der ſich viele
Jahre lang in dieſen Gegenden auf den Schloͤſſern
B 3
herum gebettelt , und reichen und armen Junkern
fuͤr das liebe Brod Land ausgemeſſen ; er ſey aber ,
nach ſeiner Erzaͤhlung , woruͤber angetroffen , hochmuͤ-
thig , und ſo verachtet worden , daß die Dienſte in den
Schloͤſſern die Bauern und das junge Volk allenthal-
ben gegen ihn aufgehezt , ſo daß ſie ihm hinter allen
Hecken nachgerufen : „ Joggeli willt Geld ? und Jog-
geli haſt Geld ? „ Dieſen Jaͤger rief ſie auf ihr Zim-
mer , und ſagte ihm , er muͤſſe ihr des Joggeli willt
Geld ? und die Ungeziefer Hiſtorie unter die Bauern
von Bonnal bringen , und wenn es auch ſchon etli-
che Maaß Wein koſte , ſuchen aufzutreiben , was
die Leute in dieſer Gegend uͤber dieſe drey Herren
und ihre ſchoͤne neue Ordnung alles ſagen .
Er thats wie ein Held . — Vor Uebermorgen
wußten alle Kinder in Bonnal das Joggeli , willt
Geld ? und die Ungeziefer Luͤge wie auswendig . —
Und der Sylvia bracht er ab dem Riedt heim , es ſey
eine Lumpen-Maurersfrau , die , wie man glaube ,
dem Junker gar wohl gefalle , an allem Schuld ;
ſie habe dem Lieutenant die neue Schulordnung und
das Spinnen und Lernen mit einander angegeben ,
und ihm im Anfang in der Schul ſelber zeigen
muͤſſen wie ſie es mache . — Die Kinder lernen zwar
mehr ; aber ſie werden geizig und hochmuͤthig , und
verachten die Aeltern , und meynen es wiſſe Nie-
mand nichts als ſie . Und dann — der Junker ha-
be freylich einen Vogt abgeſezt , der ein Schelm ge-
weſen , aber dafuͤr einen gemacht , der ein Narr
ſey , und im Grund habe es das Dorf nicht beſſer ,
es gehe unter Narren immer noch ſchlimmer als
unter Schelmen , und man thue izt im Geheim ,
was man zuvor oͤffentlich gethan . — Und dann —
Der Pfarrer achte den Gottesdienſt nichts ,
predige wann er wolle , und wann er nicht wolle ,
ſo laſſe er es bleiben , und wann es ihn ankomme ,
ſo laufe er mit ſeinen Leuten wie mit einer Heer-
de Schaafe zur Kirche hinaus , und im Dorf herum .
Vom Teufel ſey keine Rede mehr und uͤber
die Geſpenſter treiben ſie ihr Muthwillen ſo weit ,
daß ſie es nicht achten , wenn ſchon das halbe
Dorf dabey koͤnnte ungluͤcklich werden . Sein Kut-
ſcher habe vor wenig Wochen beynahe den halben
Kirchgang im Eybach erſaͤuft , er habe zu Nacht
um 12 Uhr , da die guten Leute auch mit einem
Glas voll Wein im Kopf vom Markt heimgekom-
men , mit ſeinen großen Kutſchenlichtern aus Muth-
wille mitten in der Straße ſtill gehalten , und die
armen Leute erſchreckt , daß alle miteinander in den
Bach gefallen , und wenn er groß geweſen waͤre ,
wie er zu Zeiten ſey , gewiß ihrer etliche haͤtten er-
trinken koͤnnen .
B 4
Wann Buben Voͤgel fangen , haben ſie kei-
ne groͤßere Freude , als Sylvia , wann der Jaͤger
ſolche Nachrichten heimbrachte . — Das iſt Waare
— fuͤr den Dickhals — ſagte ſie bey ſich ſelbſt , ich
koͤnnte keine beſſere wuͤnſchen , und plagte dann noch
den guten Onkle damit , daß ſie ihm alles erzaͤhlte ,
und noch mehr ihm als der Jaͤger ihr ſelbſt prophe-
zeyte , mit der ganzen Behaglichkeit eines den gu-
ten Mann druͤckenden Wohlgefallens , wie des Vet-
ters großer Ruhm ſich gewiß mit einer luſtigen Hof-
komoͤdie endigen werde !
Es machte dem armen Alten ſo angſt , und je
mehr es ihm angſt machte , je mehr glaubte er es ;
und je mehr er es glaubte , je mehr kam die boͤſe
Laune wieder in ihn hinein : der Vetter koͤnnte auch
anderſt ſeyn — wenn es dennoch nichts nuͤtze , ſo
ſey es doch widrig , daß er auch nicht ſey wie an-
dere Leute , und wie ſeines gleichen .
Auf dieſem Wege ward er wieder unzufrieden ,
wenn nur ein Bauer kam ; und wenn einer kam ,
zeigte ihn ihm Sylvia ſchon von Weitem , und machte
gemeiniglich dabey noch die Anmerkung , es kommt
wieder jemand fuͤr ihn , er wird euch izt wohl ſte-
hen laſſen .
Das begegnete alle Tage , und alle Tage ward
der Alte daruͤber empfindlicher , und das um ſo
mehr , da er izt zu Arner nichts mehr daruͤber
ſagte . Sylvia ſah es , und ſagte dieſer Tage zur
Aglee , es kochet in ihm , wie ich es gern ſehe !
Sie hatte recht , es kochte wirklich in ihm ,
und uͤberſott bald wie ſie es gerne ſah .
§ . 7.
Ein Mann , ein Weib , ein Hund , und
ein Kind .
D er Tag war heiß , ſie hatten Fremde , und er
hatte mehr als gewohnt getrunken . Er erkuͤhlete
ſich nach der Mahlzeit auf der Terraſſe . Da zeigte
ihm Sylvia wieder einen Bauern am Thor , und
wieder mit den Worten : Er wird uns izt bald wie-
der laſſen , da er jemand fuͤr ihn hat .
Das Feuer war im Dach , er rief dem Bauern
hinunter , er ſolle ſich packen , ſo lieb ihm Gott ſey .
Aber der Michel am Thor dachte , der Wein
redt aus dem Herrn — ich muß meinen Brief ab-
legen , gieng nur ein wenig beyſeits und nicht fort .
Da ſehet ihr , ſagte Sylvia , es weißt ein jeder
Bauer , was ihr hier zu befehlen habt , und reizte
ihn mit allem Fleiß ſo fort , bis er endlich dem Jaͤ-
ger rief , er ſoll den Kerl da unten mit den Hun-
den wegjagen .
Er hatte es kaum geſagt , ſo rief man ihm
wieder in die Stube an ſein Spiel — und der Jaͤ-
ger hatte Hund und Mann jeden an ſeinem Ort
gelaſſen — aber Sylvia winkte ihm , er ſolle ihn
hetzen .
Der Karl ſah ihn zur Scheuer hinabſpringen
und die Hunde abloͤſen . Was will das geben ?
dachte er bey ſich ſelber . Aber als er ſie hetzte ,
dacht' er nicht mehr — er lief ihnen , was er ver-
mochte nach , rief ſie zuruͤck , faßte den Sultan
der ihm folgte , am Halsband , und lief ſo den
Hund mit an der Hand dem andern nach , und rief
immer , Tuͤrk , Tuͤrk , hier , hier , aber er kame nicht .
Sylvia ſahe dem Spiel wie eine Komoͤdie von
der Terraſſe hinab zu , und rief ihm von da hinun-
ter , du Narrenbub ! er wird ihn nicht freſſen .
Es iſt wahr , er haͤtte ihn nicht gefreſſen , er
haͤtte ihn nicht einmal gebiſſen , wenn er ſeine Ord-
nung verſtanden haͤtte . Der Schloßhund war ge-
wohnt , den armen Leuten , gegen die man ihn hetzte ,
nichts zu thun als ihnen ein Stuͤck , aber nicht gar
ein kleines von ihren Fetzenkleidern vom Leibe zu
reißen , wenn er dann aber das hatte , ſetzte er ſich
nieder , nahm es zwiſchen die Tatzen ins Maul ,
und ſpielte damit , aͤhnlich wie ein Menſch , der
Freude daran hat , wenn er einen armen gekraͤnkten
Menſchen voll Furcht , er ſey von ihm gebiſſen ,
von ihm weglaufen ſiehet .
Das war des Hunds ſeine Ordnung , aber
wie geſagt , der Michel verſtund ſie nicht , und
ſtellte ſich , ſo bald er ihn gegen ſich anſpringen ſahe ,
mit dem Ruͤcken gegen die Mauer , ſagte ganz laut ,
iſt es ſo gemeynt ? Empfieng ihn da mit ſeinem
Knorrenſtock , wie ein Mann , der auch ſchon Hunde
geſehen , und nicht vor einem jeden flieht . Der
Hund dieſes Empfangs ſo ungewohnt als der Mi-
chel des Angrifs , vergaß ob dem Streich ſeine Er-
ziehungsregeln vollends , und packte ſeinen Mann
wie ein ganz natuͤrlicher und ohne Kunſt gezogener
Hund mit der vollen Kraft ſeiner Zaͤhne am Schen-
kel ; aber dieſer ſtaͤrker als der Hund , ſchwenkte
ihm den Schenkel aus der Schnorren , und ſchlug
ihm den zweyten Streich ſo hart auf die Rippen ,
daß er heulend zuruͤck wich , und auf dem Bauch
kroch .
Du verfluchter Bube , wart ! wenn der Hund
drauf geht , rief ihm Sylvia von der Terraſſe hin-
unter , und er , der vor Schmerz und Wuth nur
den Hund im Kopf hatte , und in dieſem Augen-
blick noch nicht im Stand war einen genugſamen
Unterſchied zwiſchen ihr und ihm zu machen , rief
ihr hinauf , und wenn ich darauf gehe , ſo wart
denn Du ! —
Schweig doch , ſchweig doch , und gieb ihr kei-
ne Antwort ! du ſieheſt ja wohl wer es iſt , ſagte
der Karl , der izt mit ſeinem Sultan neben ihm ſtand .
Biſt du es Bub ? ja komm doch , komm doch ,
ſagte das Kind , und zog ihn am Rocke fort .
Der Michel mußte izt weinen ob der Guͤte des
Buben , an deſſen Hand er izt fortgieng .
Er verdiente die Thraͤnen des Mannes . Er
entſchuldigte ſeinen Vater , und ſagte zu ihm , er ſey
gewiß nicht Schuld , und werde ihm gewiß helfen . —
Ich weiß es wohl , daß dein Papa nicht Schuld
iſt , und wenn ich auch ſterben muͤßte , er waͤre mir
gleich lieb , ſagte Michel .
Aber du ſtirbſt doch nicht ? Gelt ! du ſtirbſt
doch nicht ? Es war ihm angſt , er ſah ihm das
Blut uͤber ſein Bein herabfließen .
Wie der Donquiſchotte Bub das Haͤndchen dem
Mann giebt ! den ſein Onkle mit den Hunden fort-
jagen laſſen , ſagte Sylvia auf ihrer Mauer zu Ag-
lee — und war das erſte Wort , das ſie redte , ſeit
dem er ihr , „ und wenn ich drauf gehe , ſo mußt
"denn du warten ! „ hinaufgerufen . Sie ſchaͤm-
te Anmerkung . Es iſt ein Zug ihres Karak-
ters , ſie ſchaͤmt ſich nie — daß ſie ſich izt
ſchaͤmt , widerſpricht dieſem Zug nicht , ſo wie
der Hochmuth ohne Ehrliebe ſtatt hat , ſo hat
falſche Scham ohne wahre Schamhaftigkeit
ſtatt . — — ſich ob dieſem Wort vor Aglee , that derglei-
chen , wie wenn ſie ihn nicht verſtanden — aber
doch redte ſie bis izt nichts . —
Es iſt gleich viel , erwiederte dieſe . Der Mann
hat ſich doch beſſer gehalten als der Hund .
Es iſt wahr , ſagte Sylvia , die Beſtie hat kein
Herz , ich habe es geſehen , ſie hat ihr ſchon ge-
fuͤrchtet , eh' er ihr den erſten Streich gab . Dann
gieng auch ſie in die Stube , ſagte dem Onkle ins
Ohr , ſie glaube , der Hund habe dem Kerl zu Ader
gelaſſen , aber nur ein wenig am Bein , und es ma-
che nichts . Dieſer gaͤhnte eben als ſie es ſagte ,
und hoͤrte es kaum . — Aber der Michel blutete
immer ſtaͤrker , und unten am Vorreyn wollte ihm
ohnmaͤchtig werden , er merkte es und ſchickte den
Karl fort , dem Klaus zu ſagen , er ſoll zu ihm
hinunter kommen , und das geſchwind . —
Du biſt izt hier ſicher , und es thut dir hier ge-
wiß Niemand nichts , ſagte der Knabe , und dann
im Fortſpringen einsmal uͤber das andere zu ſich
ſelber , die Hundsleute , die Hundsleute ! das iſt
Zwingherrn Arbeit , wie auf der Tapete .
§ 8 .
Die Weisheit der Alten , und das Maul
der Neuen .
E r meynte die Tapete im alten Ritterſaal , die der
gute Ahnherr , von dem alle Dorffreyheiten herſtam-
men , ſeinen Kindern und Kindskindern und auch
den Rittern , ſeinen Nachbarn zur Lehre und zum
Exempel , mit den groͤſten Fehlern und den beſten
Tugenden der Ritterleuten hat bemahlen laſſen .
Es ſind 12 ſolche Tapeten , und auf einer jeden
Tafel ein ſogeheißener Ritterſtreich ; dann oben an
dem Ritterſtreich diejenige chriſtliche Tugend , die
dieſem Ritterſtreich entgegen iſt , abgemahlt . Vor-
nen an der erſten Tafel iſt auf einer Fahne , die Blut
roth iſt , mit großen Buchſtaben das Wort Heiden
Ritter , und oben vornen an den Tugenden auf
einem weißen Schild das Wort chriſtlicher
Adel .
Die ſchoͤnſte unter den 12 Tafeln , oder ein-
mal die , woruͤber der Karl am meiſten gelacht ,
ſtellt einen ſolchen Heiden Ritter vor , mit einem gro-
ßen Hut , einer Kette darum , und einer weißen
Feder darauf , juſt wie man izt auf allen Pettſchaf-
ten ſieht , und wie ich glaube , Freyheits-Hut
heißt . Dieſer Heiden Ritter laͤßt auf der Tafel einen
Bauern , der ihm Wild geſchoſſen , auf einen großen
Hirſchen ſchmieden ; aber hinter ihm iſt dann der
Teufel abgemahlt , wie er ſeine ſchwarzen Klauen
gegen eine weiße Freyheitsfeder , und gegen ſeinen
Hals ausſtreckt , und wie ihm die Worte „ Laß ihn
"nur reiten , du mußt dann auch reiten „ — zum
ſchwarzen Maul hinausfallen . — Die Buchſtaben
ſind alle roth , und eng an einander , ſo daß es iſt ,
wie wenn er die Worte zum Maul aus blutete .
Auch iſt von dieſen rothen Buchſtaben im Schloſſe
das Spruͤchwort entſtanden , daß man wohl 300
Jahr in dem Hauſe allen unmenſchlichen und harten
Worten , und allen dergleichen Ritterſtreichen kei-
nen andern Namen gegeben , als Teufels Blut .
So bald der Karl den Klaus gefunden und
fortgeſchickt , gieng er wie er war , die Haare uͤber
die Stirne , und mit Blut am Kleid und an den
Haͤnden , in die Stube , wo man ſpielte , und draͤng-
te ſich zwiſchen Herren und Frauen , die er nicht ſah ,
hindurch zum Papa ihm zu ſagen , was begegnet ſey .
Thereſe ſah , daß es etwas unrichtiges ſeyn muͤſſe ,
und ſtund von ihrem Tiſch auf . Sylvia hinge-
gen blieb ſitzen , und rief mit den Karten in der
Hand gegen ſie uͤber , „ ſie bitte den jungen Herrn ,
"daß er nicht ſo viel Weſens mache , ſie habe allem
"zugeſehen , der Kerl ſey friſch und geſund vom
"Schloß weggegangen , und alſo koͤnne ihm nicht
"viel fehlen , uͤbrigens ſey er an allem ſelber
"Schuld , und habe es ſo wollen . — „
Arner fiel ihr in die Rede , und ſagte , und er
bitte ſie , dem Kind zu erlauben , ſeinem Vater zu
erzaͤhlen , was begegnet .
Alles ward aufmerkſam , man legte an allen
Tiſchen das Spiel ab — alles ſtund auf , und um
ihn her , und Sylvia ſah izt aus , wie wenn ſie eine
gute natuͤrliche Farbe haͤtte , als er wieder anfieng .
„ Eben ſie iſt Schuld — und ſonſt kein Menſch ! „
Aber in dieſem Augenblick kam die Haushaͤlterin
außer Athem in das Zimmer und ſagte — der
Mann liegt todt auf dem Vorreyn ! — Mit dem
Wort war Arner aus dem Saale und die Treppe
hinunter . — Er riß mit ſeinem Sporn das Tafel-
tuch nach , und Porzellain , und Glas , und Silber ,
was darauf war , lag am Boden . — Er ſah nicht
zuruͤck , auch Thereſe , die ihm folgte , ſah nicht
zuruͤck . —
Sylvia war ob dem Wort todt betroffen —
aber ſie konnte ſich doch nicht enthalten auch izt noch
zu ſagen — das iſt eein Ordnung — !
§. 9.
§ . 9.
Was mich zum Schweigen bringt .
W as red' ich von ihr ! — Er iſt nicht todt —
er lag nur in Ohnmacht . — Thereſe ſizt izt unter
freyem Himmel in ihrer Seide auf einem Stein am
Weg , unter dem Baume , an dem er liegt ; ſie nimmt
ſeinen Kopf vom Boden auf ihren Schoos , reibt
ihm Stirn und Schlaͤfe mit riechendem Waſſer ,
haͤlt ihm die Flaſche an die Naſe . —
Wie einer Mutter ihr Herz klopft , deren Kind
ohnmaͤchtig auf ihrem Schoos liegt , bis es wieder
erwacht , ſo klopfte ihr Herz , bis er wieder erwa-
chete . —
Und wie einer Mutter Thraͤnen uͤber die Backen
laufen , wann es wieder die Augen oͤfnet —
Er oͤfnet ſie wieder — ſie ſiehts — Freuden-
thraͤnen fallen auf ihre Wangen . — Er weiß nicht ,
wo er iſt — ſieht zuerſt hinauf gegen den hellen
Himmel — dann an den Baum , unter dem er
liegt — Er ſieht ſie , und eine Freudenthraͤne uͤber
ſein Erwachen faͤllt auf ſein Angeſicht . —
Ich muß ſchweigen — meine todte Feder hat
nun am wenigſten Kraft , wo ich am meiſten empfinde .
C
Koͤnnt' , koͤnnt ich dieſes Erwachen mahlen ,
daß es lebendig waͤre und redte ! ich wuͤrde Men-
ſchen , Menſchen regieren lernen — aber ich kann
es nicht — ich kann dieſes Erwachen nicht mahlen
— daß es lebendig wuͤrde und redte .
Leſer ! denk dir dieſes Erwachen , und mahl' es
aus bey dir ſelber — ich aber will ſchweigen —
dir dieſes Bild nicht zu verderben . —
Edler ! biſt du fertig ? — Soll ich wieder
reden ? —
Als die erſte Empfindung uͤber dieſes Erwachen
voruͤber war , ſagte er , er habe dem Karl das Leben
zu danken ! — und er waͤre beyder Hunden zugleich
nicht Meiſter geworden .
Ja — wenn ich nur den andern auch haͤtte
zuruͤckbringen koͤnnen ! erwiederte Karl , aber der
garſtige Tuͤrk hat mir nicht folgen wollen . —
Du haſt genug gethan — mehr als genug !
ſagte der Mann , und erzaͤhlte dann , wie der gute
Knab ihn ſo ſorgfaͤltig weggefuͤhrt , auch wie er ſei-
nen Papa entſchuldiget und geſagt , er ſey gewiß
nicht Schuld — und alle Woͤrtchen , die er zu ihm
geſagt hatte .
Arner und Thereſe freueten ſich herzlich , und
ſagten ihm : Wehre dich deiner Lebtag ſo brav fuͤr
deine Leute , wann ihnen jemand etwas thun will ! —
Ja ! ſagte Karl , aber wann dergleichen Leute ,
wie die ſind , zu mir kommen , und ich groß und
Meiſter bin , ſo ſchicke ich ſie fort . — Und einen
Augenblick darnach ſagte er , nicht wahr , Papa !
wenn ſie fort ſind , ſo iſt dann ihren Huͤnden ſchon
gewehrt ? —
Dieſes Wort freute den Michel ſo , daß er
ſagte , er wollte nicht um den Biß , ſo weh er ihm
thue , daß er das nicht gehoͤrt haͤtte . —
Sie ließen ihn , da er verbunden und vollends
beſorgt war , in ihrem Tragſeſſel uͤber den Berg
heim bringen . Er wollte zwar nicht in das ſchoͤne
Haus hinein , und ſagte , wenn er auch noch ſo ſehr
Sorg haben wuͤrde , ſo koͤnnte er doch etwas daran
verderben .
Es iſt nichts daran gelegen , wenn du ſchon
etwas verderbſt , wir ſind dir mehr ſchuldig als das ,
erwiederte Arner — und half ihm denn noch ſelbſt
hinein . —
C 2
§. 10.
Glaubet mir , ein ſolcher Mann iſt brauch-
bar — aber glaubet mir auch , es kann
ihn nicht jeder brauchen .
D er Michel dachte nur erſt an den Brief , den er
bey ſich hatte — er war voll Blut — und lautete
alſo . —
Edler , lieber Junker Vater !
„ Es ſtuͤrmt alles uͤber den guten Mann los , den
Sie mir geſandt haben , ſie verfolgen ihn in unſerm
Thal nicht weniger als an Ihrem Tiſch . Ihr Jaͤ-
ger kommt izt alle Tage in unſere Bahn , und ſtreut
Sachen aus , die ihn auf den Tod kraͤnken muͤßten ,
wenn ihn etwas kraͤnken koͤnnte . Er ſagt nichts
geringers von ihm , als er ſey ein Landſtreicher —
und ſey noch aus allen Schloͤſſern , wo er ihn ange-
troffen , weggejagt worden , wie aus dieſem — und
man habe ihm allenthalben hinter allen Hecken
„ Joggeli willt Geld ? und Joggeli haſt Geld ? “ und
dergleichen Bosheiten nachgerufen , und auch in
Ihrem Schloß habe er ſicher fuͤr ſeiner Lebtage aus-
geeſſen . — — Ich mag nicht fortfahren — —
Alle Kinder im Dorf reden davon , und er weiß
alles , aber es wagt es doch kein Menſch , wie es
ſonſt unter den Bauern der Gebrauch iſt , mit ihm
davon zu reden .
Sie haben , wie Sie wiſſen , an nichts anderm
eine ſolche Freude , als wenn ſie in dergleichen Faͤllen
jemanden mit dem Heuchler Ton von Mitleiden
und Theilnehmung kraͤnken koͤnnen — aber ihn
laſſen ſie gehen . Es hat es ein einziger gewagt —
der Naͤggelſpitz — ein Kerl , von dem Freund und
Feind ſagen : wenn er etwas im Mund habe , koͤnne
er nicht ſchweigen , auch wenn der Henker mit dem
Schwert vor ihm ſtuͤnde — aber der Lieutenant hat
nur die Augen etwas mehr als gewohnt gegen ihn
aufgethan , auch den Kopf etwas mehr als gewohnt
ob ſich und gegen ihn gerichtet . Das Wort iſt
dem armen Niggel , wie geſagt , vor meinen Augen
im Maul ſtocken geblieben .
So viel Gewalt hat er uͤber die Leute , und
ihm macht es nichts , aber hingegen iſt es doch fatal
fuͤr unſere Ordnung , und kann uns ſehr ſchaden .
Alles Gute iſt noch Nagelneu , der alte Sauerteig
noch nichts weniger als todt , man braucht nur
Waſſer dazu zu ſchuͤtten , ſo geht er in allen Ecken
wieder auf . —
Ich ſpuͤre alle Tage mehr , daß noch viele Leute ,
und dieſe noch von den erſten im Dorf ſind , die
C 3
darnach hungern und duͤrſten , etwas Widriges gegen
unſere Ordnung auszuſpuͤren , und bey ſo neuen
noch unreifen Einrichtungen iſt man nie ſicher , wie
weit auch die kleinſten Umſtaͤnde , die widrig ſind ,
langen moͤgen . Aber ich bin vielleicht zu aͤngſtlich ,
und will von dieſem ſchweigen , um mit Ihnen
noch von ihm zu ſchwatzen . —
Ich glaubte laͤngſt , daß ich ihn kenne , aber ich
bin bey weitem noch nicht da . Man ſollte glauben ,
ſeine Schul ſey ihm alles , aber ſie iſt ihm nichts .
Junker ! dieſe Schule , aus der er alles macht , ſie iſt
ihm ſicher nichts , er macht ſie ohne Maaß zu gut ,
als daß ſie ihm etwas ſeyn koͤnnte . Ich weiß es ,
wann ſie gemacht iſt , er wirft ſie weg wie einen
Ball , mit dem er einen Wurf that , blos um zu
zeigen , wie leicht er darmit ſpiele . Die Richtung
ſeines Geiſtes , mit der er bey jedem Wort , und bey
jeder Handlung die Beduͤrfniſſe des Menſchenge-
ſchlechts umfaßt , laßt ihm keine Ruhe , weder Tag
noch Nacht ; — er muß — er kann nicht anderſt
als die groͤſten Endzwecke haben — deſſen bin ich
ſicher . Ich hoͤrte ihn einmal in der Stube , da er
ſich in ſeinem Ecken allein glaubte , und mit ſich
ſelber redte , beſtimmt die Worte ſagen , ich will ih-
nen zeigen wer ich bin : und eine Weile darauf ,
wenn die Staffeln an der Leiter gluͤhend waͤren ,
ſo muß es ſeyn ! — Sie wiſſen die Worte von den
Staffeln an der Leiter in des Grafen Brief ? —
Sein Selbſtgefuͤhl hat keine Graͤnzen . Er haßt
den Faden , der ihn an das Menſchengeſchlecht bin-
det , und im Grund iſt kein Fuͤrſt ſo ſtolz als er . —
Er ſagte bey einem Anlaß , wann einer unter zehen
Tauſenden allein ſteht , ſo merken die neun Tauſend
neun hundert und neun und neunzig nichts weniger
als daß er nicht mit ihnen Heu frißt . —
Ich durfte ihn nicht fragen , aber ich hatte es
auf der Zunge , ob er mit dieſer Zeile die Geſchichte
und die Leiden ſeines Lebens entworfen ? —
Bey allem dem iſt er gut wie ein Kind , und
ich kann Ihnen nicht ſagen , wie wehe es ihm that ,
daß Gertrud um ſeinetwillen ihr Liſeli in der Schule
abgeſtraft . Die Schwaͤtzerin ſagte unter der Schul-
thuͤre zu dem Knaben , dem er das Leztemal die
Haare abgeſchnitten : Du ! — es ſind gewiß von
deinen Thierchen geweſen , um derenwillen der Hr.
Lieutenant hat aus dem Schloß muͤſſen ! Gertrud
brachte es mit der Ruthe ſelber in die Schule , und
hatte daſſelbe ſo hart abgeſtraft , als ich es nicht von
ihr erwartet , und als gewiß keine Frau im Dorf
es gethan haͤtte . Ich mußte den Lieutenant unter
einem Vorwand ins Pfarrhaus nehmen , ſonſt haͤtte
er es nicht zugelaſſen . — Ich muß enden . Ich
ſchwatze , wie wenn wir einander nie mehr ſehen
wuͤrden , und wie wenn Sie ſonſt nichts zu thun
haͤtten . Leben Sie wohl ! Ich kann nicht ſatt
C 4
werden Ihnen , edler , lieber Junker , Vater zu ſa-
gen . Gott ſegne Sie und Ihren Sie verehrenden
Pfarrer Ernſt .
§ . 11.
Der Suͤnde Sold iſt wohl der Tod ;
aber der Sichelmann nimmt immer
den eigentlichen Suͤnder .
E s war zu viel fuͤr heute ! Er zitterte ob dem An-
fang des Briefs , und konnte ihn nicht fortleſen . —
Der Schreck ob dem Michel hatte ihn erſchuͤttert ,
und der Verdruß daruͤber empoͤrt — Er war noch
wie im Jaſt , und izt uͤbernahmen ihn die Bos-
heiten mit den Bauern in Bonnal , die ihm ganz
neu waren , daß er zitterte und den Brief nicht fort-
leſen konnte ; es war ihm , wie wenn ſein Herz
zerſpringen wollte . —
Thereſe , die in der dunkeln Stube des Bauern
am Vorreyn , und ob der Angſt und der Arbeit mit
dem Michel keine Veraͤnderung an Arner bemerkte ,
ſahe erſt izt , wie blaß und entſtellt Er ausſah , und
ſagte , was iſt es doch wieder ? — Jeſus ! du ſieheſt
elender aus als der Michel ! Er hatte den Brief in
ſeiner ſinkenden Hand , und konnte ihn ihr faſt nicht
geben . —
Haͤtt ' mich , haͤtt ' mich , erwiederte Er , —
und ſeine Augen ſtarrten — haͤtt' mich nur ein
Hund gebiſſen , aber es nagt ein ſchlimmers Thier
an meinem Herzen . —
So ein Wort hatte Arner in ſeinem Leben
nicht geredt ; auch erſchrack Thereſe mehr darob ,
als ſie ob einem Donnerſchlag , die ſie doch fuͤrch-
tete , erſchrocken waͤre . Sie ſah , daß Er aufs
Aeußerſte getrieben , und dem Ausbruch einer Krank-
heit nahe ſey , und ſtammelte mehr , als ſie ſagte :
„ Geh doch ins Bett , wann du heimkommſt , du
biſt krank — ! „
Immer noch ſo innig herzgut , ſagte Er , ſie
wuͤrden dann meynen , es waͤre eine Schalkheit um
des Hunds willen . —
Da ſie gegen die Linde kamen , ſtund Sylvia
vor ihren Augen von der Bank auf und gieng fort .
Das that Arnern von neuem weh . — Da Er auf
ſein Zimmer kam , legte er ſeinen Kopf auf ſein Pult
ab . Alles , was heute begegnet war , ſtund ihm wie
ein Gemaͤhlde vor ſeinen Augen — und Sylvia
war der Anfang und das Ende von allem , was ihm
vor Augen ſtund , ſein Blut wallte , und ſein In-
nerſtes empoͤrte ſich immer ſtaͤrker , je mehr er ſie
vor Augen ſah . Es uͤberfiel ihn ein Froſt , daß
Stuhl und Tiſch mit ihm zitterten — dann rollten
ſeine Augen — ſeine Fauſt ballete ſich — er ſtampfte
mit dem Fuße , und ſagte einmal uͤber das andere ,
was habe ich dem Thier , was habe ich dem ver-
fluchten Thier auch gethan , daß ſie es mir ſo
macht ? —
Thereſe hoͤrte das Zittern des Pults , und dann
das Stampfen ſeines Fußes , ſprang hinauf , und
verſtand noch vor der Thuͤre die Worte , „ was habe
ich dem Thier , dem verfluchten Thier auch ge-
than ? — „
Da Er ſie ſah , wollte er ruhiger ſcheinen , aber
er zitterte noch und konnte nicht reden ; — Sie eben
ſo wenig — Sie ſaß mit ſtummer Beklemmung
neben ihn ab , und er legte ſein Todtengeſicht auf
den Schooß , auf dem ſo eben der Michel gelegen
— Sein Athem war laut , und das Fieber ſicht-
bar — aber er redte nicht , und lag ſo bis man zum
Eſſen klingelte , auch da noch wollte er herabkom-
men , damit ſie nicht zoͤrneten , aber Er ſank in den
Stuhl zuruͤck , von dem er aufſtehen wollte , und
mußte ins Bett . —
Sylvia machte bey dem Tiſche boͤſe Anmer-
kungen , daß man ſie allein laſſe , und Thereſe eilte
bey ihrem kranken Manne , daß ſie ſie nicht lang
allein laſſen muͤſſe .
Aber Arner hatte eine ſchlimme Nacht . Froſt
und Hitze wechſelten miteinander ab , und die Em-
poͤrung ſeines Innerſten erhoͤhte das Wallen ſeines
Bluts und ſeines Fiebers . — Sein Karl hoͤrte ihn
zweymal nacheinander halb laut , daß es Thereſe
nicht verſtund , bey ſich ſelber ſagen — ſie bringen
mich noch ins Grab — ſie bringen mich noch ins
Grab . —
Das gute Kind huͤllte ſich tief in ſeine Decke ,
damit der Papa und die Mama ſein Schluchzen
nicht hoͤrten . —
§. 12.
Knechten Groͤße iſt auch Menſchen Groͤße .
S o bald der Wein verraucht war , konnte der Ge-
neral auch nicht mehr ſchlafen . Der Mann , den
der Hund gebiſſen , gieng ihm im Kopf herum . Es
war ihm wie ein Traum , — er ſey todt , dann war
ihm wider , nein , er ſey nicht todt ! — dann ſtaunte
er nach , wie es auch gekommen , daß er ihn mit
den Hunden gehezt — glaubte halb , Sylvia ſey
daran Schuld — dachte dann wieder , nein , er
koͤnnte ihr unrecht thun , der Wein thue viel im
Menſchen , das er nicht wiſſe — dann duͤnkte ihn
wieder — ſie ſey doch neben ihm geſtanden , und
haͤtte ihn koͤnnen abhalten — Dann wars ihm
auch , er habe nur keinen Hund geſehen , und doch
das in ſeinem Leben nie gethan , und auch der Jaͤ-
ger haͤtte es nicht thun ſollen , wenn er es ihn auch
geheißen haͤtte . —
So wirbelten ihm in ſeiner Schlafloſigkeit Ge-
danken von Angſt und Gutmuͤthigkeit durcheinan-
der , und das erſte und letzte dieſer Gedanken war
immer , wenn der Mann nur nicht todt iſt ! —
Daß Arner krank ſey , dachte er nur nicht —
aber da er ſeine Thuͤre einmal uͤber das andere auf-
und zugehen hoͤrte , wunderte es ihn was es ſey !
Und da er den Klaus , der die Treppe hinauf- und
hinabgieng , an ſeinem Schritte erkannte , ſtund
er auf , gieng unter die Thuͤre , und fragte ihn , ob
es etwas Unrichtiges ſey ? — Der Knecht antwor-
tete ihm , der Junker ſey gar nicht wohl ; und erſt da
kam ihm wieder in den Sinn , Er ſey ſchon geſtern
nicht bey dem Nachteſſen geweſen . Aber das erſte
Wort , das er daruͤber ſagte , war , iſt es auch vom
Hund her ? —
Ich weiß nicht , es wird alles zuſammenge-
ſchlagen haben , der Hund und die Leute , erwie-
derte der Klaus . —
Jeſus ! iſt es uͤbel ? ſagte der General — und
in gleichem Augenblicke — eh der Knecht hierauf
antworten konnte — ſage mir doch , iſt der Mann
todt , der gebiſſen worden ? —
Klaus . Nein , er iſt nicht todt , aber er haͤtte
es koͤnnen werden — und mit dem Junker iſt es gar
nicht gut .
General . Komme doch eine Viertelſtunde
zu mir hinein , du muſt mir erzaͤhlen , wie es mit
dem Hund zugegangen ? ſagte er zum Klaus . —
Dieſer aber mußte hinauf , denn der Junker hatte
entſetzlichen Durſt , und das Waſſer zum Thee ko-
chete eben . Der General wollte mit hinauf , ihn zu
ſehen was er mache , der Klaus aber ſagte ihm , ſie
wurden izt nur ob euch erſchrecken ! —
Der General erwiederte , ſo will ich dann da
bleiben , aber ſage ihnen , daß ich habe wollen kom-
men , und ich laſſe ihm gute Beſſerung wuͤnſchen
— und dann , ſezte er hinzu , wann du nichts mehr
oben zu thun haſt , ſo komme doch dann noch zu
mir , und bring mir auch Theewaſſer — ich muß
mit dir reden . —
Es freuete Arner und Thereſe , daß er habe
hinauf kommen wollen ; ſie ſagten beyde , waͤre er
doch allein da , es waͤre uns allen ſo wohl bey ein
ander , und machten recht geſchwind mit dem , was
der Klaus bey ihnen zu thun hatte , damit er bald
mit dem Thee zu ihm herab kam , und er nicht
lang auf ihn warten muͤſſe .
So bald er kam , fragte er ihn wieder , wie es
auch mit dem Hund zugegangen ?
Er antwortete ihm gerad heraus , Sylvia ſey
an allem die Schuld , er ſey ſchon ab der Terraſſe
fort und wieder in der Stube geweſen , ehe der Jaͤ-
ger noch zum Thor hinausgegangen , auch waͤre da
gewiß nichts mehr begegnet , wenn Sylvia ihm
nicht gewunken , daß er doch gehe — daß ſie das
gethan , haben von den Dienſten , ſo wohl von den
Fremden , als von denen die im Hauſe , gar viele
geſehen .
General . Es wiſſen alſo viele Leute , daß
ſie ſchuldig iſt ?
Klaus . Freylich . —
General . Was haben ſie auch dazu geſagt ?
Klaus . Ihr Gnaden koͤnnen ſich wohl ein-
bilden , was gemeine Leute , die bey dergleichen Faͤl-
len denken , es koͤnnte ihnen ein anderer oder eine
andere auch ſo machen , dazu ſagen ! —
General . Nein — ſag es mir doch , ich
moͤchte es wiſſen , was ſie darzu geſagt ? —
Klaus . In Gottes Namen ! ſie ſagten , es
ſey ein gottloſes Stuͤck , und es werde ihr wohl be-
kommen , wenn ſie den Lohn darfuͤr noch auf dieſer
Welt bekomme . — Ihr Gnaden , man redt un-
ter gemeinen Leuten nicht anderſt uͤber dergleichen
Sachen , und ich bitte nicht ungnaͤdig zu nehmen ,
Sie haben es befohlen . —
General . Es macht nichts — es macht
nichts — Gottlob ! daß der Mann nicht todt iſt . —
Klaus . Ihr Gnaden laſſen dieß das Fraͤu-
lein ſagen „ Gottlob ! daß er nicht todt iſt „ —
General . Warum das ? —
Klaus . Sie waͤre ihres Lebens nicht ſicher ,
wenn er todt waͤre . —
General . Meynſt du das ?
Klaus . Ganz gewiß . Die Bauern neh-
mens hier nicht ſo leicht auf , wenn man ihrer einen
zu tod hezt . —
General . Wiſſen es die Bauern izt auch
ſchon ?
Klaus . Sie haben auf dem ganzen Burg-
feld die Pfluͤg ſtill ſtehen laſſen , und ſind zu Dutzen-
den zugelaufen , man ſage , er liege todt am Reyn .
General . Aber es thut ihr izt doch Niemand
nichts ? — weil das nicht iſt . —
Klaus . Ich moͤchte nicht dafuͤr gut ſtehen ,
und ihr auch nicht rathen , bis der erſte Sturm vor-
uͤber , gar zu weit vom Schloß allein wegzugehen . —
General . Es waͤre erſchrecklich , wenn ſie
nicht ſicher waͤre .
Klaus . Es iſt wohl ſo , Ihr Gnaden , aber
man muß auch nicht ſeyn , wie ſie iſt , ſie hat keinen
guten Menſchen .
General . Warum doch auch das ?
Klaus . Sie will es nicht anderſt . Sie ſagt
zu keinem Menſchen weder einen guten Tag , noch
gute Nacht , und giebt Niemandem kein gutes Wort ,
außert ſie wolle von jemand etwas , dann kann ſie
ſo freundlich ſeyn als keine . —
Der General erwiederte ihm , das wolle doch
izt nichts ſagen , es ſey mit dem Gruͤßen und Behuͤ-
ten ſo eine Gewohnheit , der eine habe ſie , der an-
dere habe ſie nicht .
Aber Klaus ließe ihm nichts daraus gehen , und
ſagte , die gemeine Leute koͤnnen den Unterſchied ge-
wiß ſo gut machen als die andern ; ob eine Herr-
ſchaft ſo etwas aus Gewohnheit thue , oder aus boͤ-
ſem Willen , und in der Abſicht zu kraͤnken : und
das thue Sylvia gegen Große und Kleine , gegen die
Herrſchaft , und gegen die Dienſte , und ſo gar ge-
gen unſchuldige Kinder . Wo ſie nur den guten
Karl ſehe , der doch außer ihr allen Menſchen lieb
ſey , koͤnne ſie ſich nicht enthalten , es moͤge um den
Weg ſeyn wer immer wolle , ihn zu verſpotten .
General . Aber thut ſie doch das ? —
Klaus . Mein Gott ! was fuͤr ein Unmenſch
muͤßte ich auch ſeyn , wenn ich ſo etwas wider je-
mand
mand ſagen koͤnnte , und nicht gewiß wuͤßte , daß es
wahr waͤre ! —
General . ( Mit einem Seufzer ) Nein ,
nein : ich glaube nicht , daß das gelogen ſey . —
Klaus . Erlauben Ihr Gnaden , ich muß izt
einmal noch etwas ſagen , das mir auf dem Herzen
liegt ; Ihr Gnaden ſind ſo gut , und Sie meynen
es auch mit dem Fraͤulein ſo gut , daß ich nicht
anderſt koͤnnte als es Ihnen klagen ; ſie treibt wider
einen Menſchen , der an der Jugend in Bonnal ei-
nen Gotteslohn und mehr thut als , glaube ich , kein
Menſch in der Welt an Bauernkindern gethan hat ,
und der darum auch dem Junker ſo lieb wie ein
Bruder iſt , wider dieſen Mann treibt ſie Boshei-
ten , die himmelſchreyend ſind , und braucht den
gleichen Jaͤger dazu , den ſie geſtern zum Hundhe-
tzen gebraucht hat — und ſie bringt den Junker
ins Grab — wenn ſie ſo fortfahrt . —
Der gute Klaus kam nach und nach ins Feuer .
Die Nacht , die Umſtaͤnde , die Guͤte des Genera-
len , und alles brachte ihn dahin , daß er faſt mit
ihm redete , wie mit ſeines Gleichen , aber er brachte
dem alten Herrn ſo viel auf einmal in den Kopf ,
daß er ihm Angſt machte ; er fieng an zu wuͤnſchen ,
daß er doch ſchwiege , und es duͤnkte ihn , es ſey
doch zu viel fuͤr einen Knecht — denn es war zu viel
fuͤr ihn . — Er ſeufzete ein paarmal , dann ſagte
D
er , du wirſt gar eifrig — und ich moͤchte doch izt
bald wieder ſchlafen — damit ſchickte er ihn —
Aber er empfande doch , daß der Kerl ein ſeltenes
Stuͤck von Ehrlichkeit fuͤr einen Knecht ſey , und
daß zwiſchen ihm und allen Dienſten , die er noch
gehabt , ein groͤßerer Unterſchied ſey , als zwiſchen
einem Offizier und einem Gemeinen ; auch wollte
er ihm ein Trinkgeld geben , aber Klaus nahm es
nicht , und ſagte , ich werde euch ſonſt immer dar-
fuͤr danken , wenn ihr mir etwas geben wollet , aber
in der Stunde , in der ich etwas boͤſes uͤber jemand
geſagt , waͤre es mir nicht anderſt , als ich wuͤrde
einen Judas-Pfenning fuͤrs Verrathen annehmen
— und ich ſcheue dergleichen Pfenninge . —
Nun , nun , ſagte der General — wenn du es
lieber ein Andermal willt , ſo ſey es , aber fuͤr den
Mann , den mein Hund gebiſſen , muſt du etwas
anders abnehmen , du muſt mir Morgen Brod ,
Fleiſch , und Wein fuͤr ihn kaufen , und ſag' ihm
nur , ich wolle ihn nicht vergeſſen , bis er wieder
geſund ſey , und es ſey mir ſo leid als es mir nur
ſeyn kann , daß dieſes begegnet ſey , er ſolle es mir
verzeihen .
Der Klaus ſagte , er kenne den Mann , und
wiſſe , daß dieſe Worte ihm mehr als ein Pflaſter
auf ſeine Wunden wohlthun werden .
§. 13 .
Es giebt eine Seelenſtimmung , die dem
Menſchen zu einem Kropf helfen kann .
S o viel Wahrheiten fuͤr einen Knecht , uͤber den
er auch ob keinem Wort zoͤrnen konnte , machten den
alten Mann nachſinnen , bis die Sonne hoch war .
Sylvia fand ihn bey der Schokkolade , die
ſie immer mit ihm trank , gegen ſie ganz veraͤndert ,
und Aglee hoͤrte in der Kuͤche , daß er tief in der
Nacht mit dem Klaus geredt . Sylvia zweifelte
nicht , ſie habe dieſe Veraͤnderung , dieſem falſchen ,
ſchimmelgrauen Krauskopf zu danken , der unter
ihren Augen , wenn ſie etwas rede oder thue , im
Stand ſey den Kopf zu ſchuͤtteln .
Eine Weile darauf vernahm ſie wieder , er
muͤſſe dem Michel einen ganzen Korb voll Eßwaa-
ren bringen , und ihn im Namen des Generalen
um Verzeihung bitten .
Es iſt gut , daß die Leute von dem Zorn ande-
rer nicht gleich ſterben , ſonſt waͤre der Klaus izt
maustodt , ſo ſehr brachte ſie das Letzte auf ; ſie
ſtampfte vor Zorn , und ſagte unter vielem andern ,
der Onkle wird in dieſem Bauernneſt ein Narr
wie der Vetter . —
D 2
Der General aber aͤngſtigte ſich in ſeiner Stube
uͤber den Kranken , und nahm einsmal den Ent-
ſchluß , gieng zu ihr in ihr Zimmer und ſagte , ſie
ſoll ſich in Acht nehmen , der Vetter ſey gar nicht
wohl , und er wolle nicht zwey Ungluͤck , es ſey ge-
nug an einem . — Izt war ſie aufs aͤußerſte ge-
trieben , ſie verlohr alle Maͤßigung , trozte , und
ſagte ihrem Wohlthaͤter , ſie laſſe nicht ſo mit ſich
umgehen .
Du kraͤnkſt Niemand als alle Menſchen , er-
wiedert' er , und gieng fort . —
Sie kehrte ihm den Ruͤcken , noch ehe er hin-
aus war — und er hatte kaum die Thuͤre be-
ſchloſſen , ſo ſagte ſie zu Aglee — ich frag ihm nichts
nach . — Es war wirklich ſo — die Renten , die er
ihr gab , waren izt verſichert — und mir nichts
und dir nichts — ſie frug ihm nichts nach , und
gieng ihm auf dem Fuß nach in Arners Zimmer ,
ſpatzierte da hinein wie ein Pfau , oder wie eine
Taͤnzerin , und fragte den guten Kranken vom ge-
ſtreckten Hals herab , mit verbiſſenem Maul — die
Woͤrter geſezt , wie wenn ſie die Buchſtaben zaͤhlte
„ Wie befinden Sie ſich Vetter ? „ ſchwenkte dann ,
ehe er ihr antworten konnte , hinter dem General
vorbey ans Fenſter , und ſah dann auf dem Geſimſe
den blutigen Brief von Bonnal ; Thereſe hatte ihn
geſtern dahin gelegt , und vergeſſen ihn ins Pult zu
legen , und Sylvia , die ſich von allen , die am Bett
ſaßen , durch die Vorhaͤnge bedeckt ſah , laſ den
Brief ſo friſch fort , wie wenn er an ſie lautete ,
aber er erbaute ſie nicht .
§. 14 .
Vom Papier verbrennen , und vom wie-
der zu ſich ſelbſt kommen .
E in unbeſchreibliches Gemiſch von Empfindungen
durchkreuzte ihr Innerſtes ; es war , wie wenn es in
ihrem Kopf hammerte , da ſie ihn laſ , und da ſie
ihn geleſen , mußte ſie ihn wieder leſen . Das Bild
des Lieutenants druͤckte ſie wie Bley , ſie konnte nicht
ſagen , es iſt nicht wahr , ſie ſelber hat ihn gefuͤrch-
tet , wenn er den Kopf etwas mehr als gewohnt hin-
ter ſich gerichtet , und etwas mehr als gewohnt die
Augen aufgethan ; deſto mehr empoͤrte das Bild ,
und die 9999 , die nicht mit ihm Heu freſſen , und die
gluͤhende Stafel an der Leiter Bylifsky — und ihrer
mit keinem Wort gedacht — und ſie doch gemeynt
— und ihr ganzes Abſcheu verrathen , und dann
der Geiſt , der bey jedem Wort , und bey jeder
Handlung die Beduͤrfniſſe des Menſchengeſchlechts
umfaßt — und das Wegwerfen der Schule wie ein
Ball , mit dem er blos einen Wurf thue , nur um
3
zu zeigen , wie leicht er damit ſpiele , und dann der
Pfarrer , der nicht ſatt werden kann dem Vetter ,
lieber Junker Vater zu ſagen . — —
Das alles war zu viel — ſie ſteckte den Brief
zu ſich , lief mit fort — laſ' ihn dann wieder —
dann wirft ſie ihn ploͤtzlich in die Glut , die vor ihr
zum Friſieren da ſteht — er iſt izt darinn — izt
will ſie ihn wieder — „ es iſt ein Stuͤck vor Helidor
wie ich keines mehr finde „ — ſie will ihn wieder
— ſie greift in die Glut — ſie faßt ihn — er
brennt — ſie kann ihn nicht halten — er fallt ihr
aus den Fingern an den Boden — iſt ganz eine
Flamme — und hin !! — Aber ihre Finger waren
verbrannt , ſie mußte ſie izt oͤlen , und waͤhrend
dem ſie ſie im Glas hielt , wiederholte ſie den Brief
in ihrem Gedaͤchtniß — es machte einen Unterſchied
— das blutige Papier — — Aber das blutige
Papier , die Handſchrift des Pfarrers , den ſie haßte
— ſeine eigenen Worte — ſeine eigenen Buchſtaben
— waren izt Aſche . — So wie ihre Finger im Oel
erkalteten , ſo erkaltete auch der erſte Eindruck uͤber
dieſen Brief . Sie fieng an zu finden , er habe zwo
Seiten , und auch eine fuͤr ſie . —
So bald ſie das fand , ſuchte ſie natuͤrlich nur
dieſe , und wie ſie dieſe fand , verlor ſich der Ein-
druck der andern . — Sie erinnerte ſich deutlich der
Worte „ Es ſey noch alles Nagelneu — der alte
Sauerteig ſey noch nichts weniger als todt — es
brauche nur Waſſer daran zu ſchuͤtten , ſo gehe er
wieder in allen Ecken auf — und es ſeyen noch gar
viele Leute , und zwar von den erſten im Dorf die
darnach hungern und duͤrſten , etwas wider die neue
Ordnung auszuſpuͤhren , und bey ſo neuen unreifen
Einrichtungen koͤnne man nie wiſſen , wie weit
die kleinſten Umſtaͤnde , die widrig ſeyen , langen
koͤnnen „ — Dieſe Seite des Briefs machte
ſie izt die andere voͤllig wieder vergeſſen . — Es
duͤnkte ſie izt vollends nichts anders als bloße Groß-
ſprecherey , was vom Lieutenant darinn geſagt ſey ,
und alles unvernuͤnftig uͤbertrieben — ſie konnte
auch nicht begreifen , wie ſie , da ſie den Brief noch
in der Hand gehabt , und er noch nicht verbrannt
geweſen , daruͤber ſo habe in die Hitze kommen koͤn-
nen . — ꝛc .
Es macht zwar einen Unterſchied , aber es iſt
doch wunderbar , das gleiche mit dem Papierver-
brennen iſt ſchon Herren und Obrigkeiten , die ſich
gar nicht zu einer ſolchen Jungfer rechnen ließen ,
begegnet , daß ſie , wann ſie ganz im Eifer Papier
verbrennt oder verbrennen laſſen , dann auch ſo , faſt
ehe die Aſche davon unter dem Staatshaus recht
kalt geworden , wieder , nicht anderſt als die Jung-
fer mit dem verbrannten Finger , auch zu ſich ſelber
gekommen , und dann auch nicht haben begreifen
koͤnnen , wie ſie uͤber dieſe Papiere , ehe ſie verbrennt
D 4
geweſen , ſo haben koͤnnen — ich darf nicht ſagen
— außer ſich ſelbſt kommen — aber das darf ich
ſagen — Gebe Gott , daß in Zukunft mehr Jung-
fern als Herren ſich ſo die Finger verbrennen , oder
wenn ihr lieber wollt , ſo wieder zu ſich ſelber kom-
men ! —
Es freute Sylvia izt , da ſie wieder in ihrem
Gleiſe war , nichts mehr , als daß ſie die Peitſcherey
der Gertrud mit ihrem Kind durch dieſen Brief ver-
nommen .
Das muß ein Weib ſeyn , dachte ſie bey ſich
ſelbſt , wie der Teufel ! —
Freudig wie ein Philoſoph , wenn er meynt ,
er habe eine neue Wahrheit entdeckt , ſagte ſie izt zu
ſich ſelbſt , das iſt izt das Meiſterweib , wornach ſich
die andern modeln wollen ! — und boshaft wie ein
Mauſchel ( Jud ) der glaubt , er habe einen Chriſten
bald im Garn , und ſchon die Gaͤnge zaͤhlt , die er
noch braucht , bis er mit ihm am Ziel iſt , ſezt ſie
hinzu , es braucht nicht mehr viel , zwo oder drey
ſolcher Hiſtorien , ſo habe ich es im Sack mit ihnen
zu machen was ich nur will , und ihnen Schande
anzuthun ſo viel ſie nur brauchen . —
Das Kind , ſetzte ſie bey ſich ſelber hinzu , das
muß ich ſehen , koſte es was es wolle , und ſtellte ſich
vor , wie ſie ſelbſt in dieſem Alter uͤber ihre Mutter
raſend geworden waͤre , wenn ſie ihr ſo etwas ge-
than ! — Sie dachte , das Liſeli muͤſſe izt uͤber
die Gertrud eben ſo raſend ſeyn ; und traͤumte ſchon ,
was ſie alles aus ihm herausbringen werde , was es
fuͤr eine ſchoͤne Mutter habe , wann ſie es einmal im
Schloß habe . —
So war ſie vollends wieder in ihrer Ordnung ,
und eifriger als noch nie , dem Dickhals zu dienen ,
und Arners Weſen mit ihren beyden Haͤnden unter
uͤber ſich zu kehren .
Mit dieſem Vorſatz gieng ſie auch nach dem
Eſſen auf die Straße von Bonnal , um heute ein-
mal die Freude zu haben , das ſelbſt zu thun , was
bisher ihr Jaͤger fuͤr ſie verrichtete .
Der General warnete ſie vor dieſem Spatzier-
gang . — Da ſie am Tiſch ſagte , ſie wolle nach dem
Eſſen uͤber Feld , ſo kam dem guten Mann in den
Sinn , daß der Klaus dieſe Nacht zu ihm geſagt
habe , ſie koͤnnte vielleicht nicht ſicher ſeyn , wenn
ſie zu weit von dem Schloß weggienge ; es machte
ihm Angſt , er ſagte ihr ſo freundlich als moͤglich ,
ſie ſolle doch nicht allein gehen . —
Warum das ? war ihre Antwort . Er ſtund
auf , gieng zu ihr hin , und ſagte ihr ins Ohr , es
ſeyen ihr nicht alle Leute wohl , und es koͤnnte ihr
auf den geſtrigen Vorfall leicht Jemand etwas zu
Leid thun .
Sagt es nur laut , ich weiß wohl , daß mir
hier alles Feind iſt , aber probiere es jemand , und
thue mir etwas , es wird ſich dann zeigen . — Mit
dieſem gieng ' ſie zur Thuͤr hinaus , und der Gene-
ral meynte , ſie thue wie gewohnt nur mit dem
Maul ſo groß , und nehme dann doch jemand mit
ſich . Er irrte ſich diesmal , ſie nahm Niemand
mit , und ſagte zur Aglee — „ du muſt izt expreß
daheim bleiben ! „ und wenn ihm ſchon Angſt
wird , ſo komme mir nicht nach , ſag' ihm nur , ich
hab' es dir verboten . — Ich will ihm es ſo ſa-
gen , erwiederte Aglee , und die andere gieng . —
§ . 15.
Der Alte iſt gut , — darum fallen ſeine
Fehler vor den Augen des Kindes weg .
D er Karl wollte nicht zum Tiſch — er ſagte zu
ſeiner Mamma — er wollte lieber Hunger ſterben ,
als mehr zum Tiſch kommen , ſo lang die Leute
noch da ſeyen , ſie bringen alles Ungluͤck ins Haus
— und den Papa ins Grab . —
Thereſe wollte es ihm ausreden , und ſagte , er
ſolle izt nicht ſo ſeyn , es werde mit dem Papa wohl
wieder beſſer werden , und der Onkle meyne es
gut mit ihm , und ſey dem Papa lieb .
Du wirſt dann wohl anderſt reden , wann der
Papa todt iſt , erwiederte der Knab — und ſetzte
hinzu — ſie machen es ihm wie dem Michel . Ich
weiß ſchon , was er geſtern geſagt hat — und warum
es mir alſo iſt .
Was hat er denn geſagt , erwiederte Thereſe ?
— und Karl — ich hab' es dir nicht wollen ſa-
gen , aber ich muß es izt doch ſagen . —
Er hat im Bette einmal uͤber das andere ge-
ſagt , — ſie bringen mich ins Grab — ſie bringen
mich noch ins Grab . — Du haſt es nicht gehoͤrt ,
du biſt nicht nahe genug bey ihm geweſen , und er
hat es nur ſo halb laut geſagt .
Hat er das geſagt — haſt du das gehoͤrt ? —
frug Thereſe mit leiſer Stimme . —
Ja — er hat es gewiß geſagt , antwortete der
Knabe , und ſezte hinzu — ich habe geglaubt , ich
muͤſſe mich zu tod weinen , und die ganze Nacht
konnte ich kein Auge zuſchließen , und meynte im-
mer , ich hoͤre es ihn noch einmal ſagen . —
Izt ſahen ſie einander an . Das Druͤcken der
Wehmuth beſchloß ihre Lippen , machte ihre Augen
naß , und preßte ihren Athem . — So ſahen ſie
ſchweigend einander an , als die Thuͤr aufgieng und
der General vor ihnen ſtund .
Die Thuͤre war vorher ſchon halb offen . —
Er hatte alle Worte gehoͤrt — in ſeinem Leben war
ihm nichts alſo zu Herzen gegangen — er em-
pfand das Recht des Kinds , und es war ihm ,
er ſehe den Vetter todt vor ſeinen Augen — er
fuͤhlte den Schauer des Entſetzens bey dem Ge-
danken , er ſey daran Schuld ; er ſchwankte
hinein , wie wenn ihn ſeine Beine nicht tragen
wollten , hielt die Hand vor den Mund , ſein
Schluchzen zu hemmen ; und winkte wie ein Stum-
mer Thereſen mit dem Kopf beyſeits . —
Dem Karl und der Thereſe uͤbergieng das
Herz , da ſie ihn ſo ſahen — beyde weinten —
beyde ſtunden an ihn an — Thereſe gab ihm die
Hand — und er ſagte , giebſt du mir ſie auch
von Herzen ? — Das war ſein erſtes Wort . —
Ja , gewiß lieber Onkle ! zweifelt doch nicht an
dem — erwiederte Thereſe . —
Ich kann es faſt nicht glauben , ſagte der
Alte , und ſezte hinzu , ich hab' in Gottes Namen
alles gehoͤrt , ich meynte , es toͤdte mich , ſo weh
that es mir — aber wenn du mir izt einen Ge-
fallen thun willſt , ſo zwing den Knaben nicht zum
Tiſch , er hat recht , ſo lang er den erſchrecklichen
Gedanken hat , ich wolle ihm ſeinen Vater ins
Grab bringen ; aber ich will ihm wills Gott zei-
gen , daß das nicht iſt , und daß mir ſein Vater
lieb iſt . —
Der Knabe ſah an ihn hinauf . Zweifel und
Mitleid waren in ſeinen Augen , und auf ſeiner
Stirn . Da ſagte ihm Thereſe , ſiehſt izt auch ,
wie gut der Onkle iſt ? willſt izt nicht mit ihm zum
Tiſche ? — O wohl ! ich will mit ihm gehen —
erwiederte der Knabe .
Es freute den Alten ſo , daß er ihn wuͤrde
auf den Arm genommen haben , wenn er ihn haͤtte
tragen koͤnnen . — Sie nahmen ihn beyde in die
Mitte , und brachten ihn ſo zu Tiſche . Auf dem
Weg ſagte der General , es wird wills Gott mit
dem Vetter auch wieder beſſer werden ! — und
ſie trockneten noch vor der Thuͤr alle drey ihre
Augen . —
Sylvia ſah den General nicht anderſt an , als
ob er ihr unrecht thue , daß er den Knaben ſo an
der Hand an den Tiſch bringe . Er achtete es
nicht , aber der Karl achtete es , und ſagte zur
Mamma , da ſie ihm das Handtuch umlegte , ſie
macht uns ſchon wieder Augen ! Er kehrte ihr auch
bey dem Tiſch den Ruͤcken , und da ſie ihm ein
Stuͤck Fiſch auf den Teller legte , ruͤhrte er es
nicht an , und gab , ohne daß es die Mamma merkte ,
den Teller dem Klaus fort .
Sylvia ſah wieder einen Augenblick gut aus ,
das Blut ſtieg ihr in die Backen ( Wangen ) da
ſie ſah , daß der Klaus , oder wie ſie ihn nannte ,
der Grauſchimmel lachte , da er dem Knaben den
Teller abnahm .
§ . 16.
Ihr kennet die Thiere , die meiſtens paar-
weis aus einem Trog eſſen , und hier
findet ihr etwas dergleichen .
D eſto geſchwinder ſtund ſie vom Tiſch auf , und
gieng an ihren Spatziergang .
So gerade nach Mittag ſind die Straßen
meiſtens leer . Sie kam weit , und traf keine
Seele an . Endlich neben dem Hochwald , unter
dem Berg , kommt ein dickes Weib mit einem
Korb auf dem Kopf den Hohlweg hinab . — Es
iſt die Rechte , unter allen in Bonnal iſt keine , die
die drey Herren und ihre Ordnung haſſet , wie dieſe . —
Es iſt die nemliche , die der Klaus am lezten
Maymarkt voll und toll in ſeiner Kutſche ins
Schloß fuͤhrte , und mit einer andern im Bettler-
ſtall uͤbernachten ließ . Dieſe beyde muͤſſen izt ,
wann ſie mit jemand im Dorf Streit haben , alle-
mal ihre Kutſchenfahrt hoͤren , und ſelber ihr
Mann , der Speckmolch , ſagt ihr , wann er unzu-
frieden iſt , nichts anders als der Klaus ſollte dich
nur wieder einmal in den Bettlerſtall fuͤhren , und
ſezt oft noch gar hinzu , es war mir ſo wohl an
dieſer Markt-Nacht am lezten May ! —
Sylvia verdoppelte ihre Schritte , daß ſie ihr
nicht entrinne .
Es war unnoͤthig ; die Speckmolchin ſuchte
nichts wenigers als zu entrinnen ; ſie ſah die Jung-
fer kaum , ſo dachte ſie , wie gewiß iſt das die , ſo
den Lieutenant aus dem Schloß vertrieben ! —
Klein , mager , gekleidet wie ſonſt keine , voller
Ecke , Schnoͤrkel — und ſo , daß man etwas anders
an ihr zu ſehen hat , als ſie ſelber — ſo war ſie
beſchrieben — ſo war ſie — das iſt ſie — ich kann
nicht fehlen — ſagte die Molchin — mit dieſer
muß ich reden — ſtellte den Korb auf einen Stein
ab , als ob ſie ausruhen wollte . —
Seyt ihr nicht die Jungfer , die den Herrn
Lieutenant ſo hat koͤnnen aus dem Schloß auf
das Dorf ſpatzieren machen ?
Und wenn ich es waͤre ? — So gieng das
Geſpraͤch an . — Dann kam ſie bald auf die gott-
loſe Kutſchenfahrt — und wie man ſie nicht an-
derſt als ein Hauptvieh die ganze Nacht im Stall
und auf Stroh habe liegen laſſen — und vom Stall
wars gar nicht weit in die Schule — wie da eine
gottloſe Ordnung ſey , und wie man nicht anderſt
handle , als wenn es voͤllig genug ſey , wenn die
Kinder nur die Freßordnung recht lernen , und
Geld verdienen , als wenn an allem andern gar
nichts gelegen waͤre . —
Es melkt ein Kuͤher ſeinen Stall aus bis auf
den Tropfen — ſo melkte Sylvia das Menſch aus
in allem , was es wider die neue Ordnung wußte ,
bis auf den Tropfen .
Dann ſagte ſie am Ende noch , ſind aber viele
Leute im Dorf , die hierinn denken , wie du ? —
Mein Gott , Ja ! erwiederte die Speckmol-
chin . Es wird es euch zwar nicht eine jede , wie
ich , ſo gerade heraus ſagen , aber nicht der zehen-
de Theil iſt ganz zufrieden , daß es iſt , wie es iſt ,
und die ſo am meiſten zufrieden thun , ſind Lum-
penleute , denen ihre Kinder mehr Geld heimbrin-
gen als vorher ; wenn das nicht waͤre , ich will
glauben , ihr wuͤrdet im ganzen Dorf nicht einen
Menſchen finden , der nicht ſagte , wie gottlos die
Kinder in der Religion verſaͤumt , und nur auf
das Zeitliche gezogen werden .
Sylvia gab ihr dann an , ſie ſollen ihre Kin-
der , wenn es ſo ſey , nicht mehr in die Schul
ſchicken , und fragte ſie , ob ſie machen koͤnnte , daß
das
das ihrer etliche thaͤten , und gab ihr Erlaubniß ih-
ren Namen zu brauchen , und zu ſagen , ſie finde
es auch gottlos , daß es ſo ſey . Wenn ich das darf ,
ſagte die Molchin , ſo macht es mir dann keinen
Kummer noch vor Morgen Abend ein halb Dotzend
bey einander zu haben , die ihre Kinder dieſem Pe-
ruͤquenmachergeſell nicht mehr in die Schul ſchicken .
Sylvia . Warum ſagſt du ihm , Peruͤquen-
machergeſell ?
Speckmolchin . Ja , als wenn ihr es nicht
wuͤßtet !
Sylvia . Nein , das weiß ich nicht .
Speckmolchin . Wißt ihr auch nicht , wer
uns geſagt hat , daß er Joggeli heißt ?
Sylvia . ( Lachend ) Es ſcheint doch , ihr
ſeyd gelehrige Leute ?
Speckmolchin . Dergleichen Sachen be-
halten auch die Dummen . —
Sylvia . Aber noch etwas — kennſt du der
Maurerin ihr Liſeli ?
Speckmolchin . Ja freylich .
Sylvia . Die gottloſe Frau hat das Kind auf
eine unverſchaͤmte Art in der Schule geſchlagen .
Speckmolchin . Wißt ihr das auch
ſchon ?
E
Sylvia . Das denk ich — du glaubſt nicht ,
wie mich das Kind dauert , ſag' ihm doch , es ſoll
nicht fehlen , und zu mir in das Schloß kommen ,
ich wolle ihm etwas ſchenken , das es freuen werde ,
weil es ſo unſchuldig habe leiden muͤſſen . —
Auch das verſprach die Speckmolchin auszu-
richten .
Aber Sylvia ſahe , daß der Schatten vom Wald
gegen ſie kam , und fieng an zu denken , es ſey doch
beſſer , bey Tage heim zu gehen . —
Auch das Weib nahm ihren Korb auf den
Kopf , und ſagte , geht ihr izt ſo allein heim , und
iſt noch ſo weit ?
§. 17.
Duͤnkts dich luſtig Nachbar ? Gut ! aber
behaupte nicht , daß gar kein Hang zur
Grauſamkeit in der menſchlichen Na-
tur liege ! —
S ie haͤtte izt wohl gern jemand bey ſich gehabt ,
ſah ſich auch links und rechts um , ob jemand auf
dem Weg ſey , aber es war alles todt und ſtill um
ſie her wie die Nacht — und ſie das Erſtemal auf
dieſer Straße — ſo weit vom Hauſe und Allein —
aber es war izt nichts anders zu machen — ſie
mußte gehen — und gieng — und die Freude uͤber
alles was ſie von der Molchin vernommen , und
was ſie mit ihr abgeredt , machte , daß ſie an nichts
anders dachte — ſo vergieng ihr die Angſt . —
„ Die andere Woche gehen izt ſchon , denk
ich , wohl ein Dutzend Kinder nicht mehr in die
Schule — Morgen oder Uebermorgen kommt mir
das Liſeli in das Schloß — und die Woche hernach
ſchreib ich dem Dickhals . — So traͤumte ſie ,
ſchuͤttelte vor Freude die ſeidenen Wellen des Kopf-
zeugs — und gieng ihre Straße . —
Aber izt geht ein Mezger an der Wand des
Hochwalds , nicht weit von ihr — ſo ſteigt bey der
Stille des Himmels ein Woͤlkchen am Berg auf ,
hinter dem Woͤlklein flieht die Stille des Himmels ,
und Sturm und Gewitter erheben ſich . —
Der Mezger an der Wand des Hochwalds
kommt aus dem Wirthshaus — da redten die Ti-
ſche voll Bauern nur von ihr . —
Es war nur ein Wort , und nur eine Stimme
in allen Ecken der Stube „ ein ſolches Laſterthier
ſollte man lehren Gott erkennen „ ! — und alle ſag-
ten , es waͤr' ein Gottslohn , wenn ſie der erſte , der
ſie antraͤfe , auch mit den Hunden hezte , daß ſie
E 2
lernte Menſchen fuͤr Menſchen achten . — Selbſt
die Aelteſten ſprachen nichts dagegen — ſie ſagten
vielmehr mit allem Nachdruck , das ſey etwas un-
erhoͤrtes , und bey Mannsdenken nicht mehr ge-
ſchehen — auch die ſchlechteſten und wildeſten Jun-
kern haben es ſeit dem man 1700 zaͤhle , nicht mehr
gewagt die Hunde wider einen Bauern zu hetzen ,
wie man ſage , daß es vor Altem begegnet ſey . —
Es war ſogar , als wenn ſie die Jugend noch
aufhezten . — Sie ſagten einmal laut , man haͤtte
unrecht , wenn man das wieder aufkommen laſſen
wuͤrde . —
Izt ſieht ſie der Mezger — das iſt ſie — erkennt
ſie — klein , mager , gekleidet wie ſonſt keine —
voller Ekken und Schnoͤrkel — und ſo daß man
auch etwas anders an ihr zu ſehen habe als ſie ſel-
ber — ſo war ſie beſchrieben — ſo war ſie — es
iſt ſie ! —
Dem Mezger wallet das Blut , er ſieht ſich um
— alles iſt todt um ihn her wie die Nacht und wie
um Sylvia — er ſtaunt — lenkt uͤber den Graben
ins Gehoͤlz — ſein junger Hund waͤdelt um ihn her
— und macht ſeine Spruͤnge , wie er ſie macht
wenn er meynt , er ſey bey dem Stall , wo er ſein
Kalb findet .
— Soll ich — ſoll ich — ſagte der Mann ,
ſein Herz ſchlug — er war blaß — ich will , ſprach
er izt — ſo eine ſtraft keine Obrigkeit — ich will —
ſprach er izt — zeigt ſie mit dem Finger durch die
Tannen dem Hund und hezt ihn . — Der Hund
war ſicher — er hatte ſeine Zeichen — und auf das
Zeichen ruͤhrete er ſie mit der Schnorre nicht an , er
ſtund nur mit den Pfoten an ſie auf , ſprang dann
um ſie herum , und dann wieder an ſie herauf , und
bellete laut . — Das war alles — es war freylich
nicht wenig . — Ihr Guͤrtel brach unter ſeinen
Klauen — das Band lag am Boden — und das
weite Oberkleid riß von oben herunter , ſo oft der
Hund anſprang ; ſeine langen weißen Stuͤck flogen
um ſie her , und an ihr auf , wie Tuͤcher an der
Haͤnke eines Bleicherhauſes , wenn der Wind wehet ;
— und der Korb ihres Kopfzeuges hieng an ihrem
Ruͤcken herab , daß all ſein Innwendiges hervor-
gieng . Zwo Minuten , ſagte der Mann , muß ſie
mir leiden — Nahm ſeine Uhr in die Hand — und
als ſie voruͤber , pfiff er dem Hund . —
Ihr Geſchrey erfuͤllte den Himmel . — Nein , ſo
weit herauf kam es nicht — aber unten auf dem
Boden toͤnte es weit herum in die Runde . —
Der Jaͤger , den der General , da es dunkelte ,
nachgeſchickt , hoͤrte ſie von weitem , aber er dachte
lang , es ſey nur ein Bauerngeſchrey , und gieng
keinen Schritt geſchwinder . Es iſt ihm nicht zu
verargen , er konnte nicht denken , daß ſein gnaͤdi-
E 3
ges Fraͤulein ſo heule ; aber als er hinzu kam ,
merkte er da , daß das Geſchrey dem Kraͤhen gar
gleich komme , das ſie daheim allemal treibt , wann
eine Muͤcke gegen ſie fliegt , oder eine Maus , oder
eine Spinne um den Weg iſt . Izt hieß es laufen .
— Er lief auch , und war bald da . — Aber als
er um eine Ecke herum kam , und ſie ploͤtzlich vor
den Augen hatte , ſtellte es ihn ſtill , er mußte ſich
umkehren und lachen . — Die weißen Tuͤcher in
den Luͤften , ihre Haͤnde uͤber den kahlen Kopf rin-
gend — und der Haarkorb mit Miſt und Federn
am Ruͤcken — wer mußte nicht lachen ! Der Jaͤ-
ger mußte ſich umkehren , den Bauch in die Haͤnde
nehmen und den Athem zuruͤckhalten , daß ſie ihn
nicht hoͤre . —
Sie kannte ihn nicht , und als ſie ihn kannte ,
konnte ſie nicht reden , ſie verkruͤmmte den Mund ,
ballte die Zunge , und konnte einige Augenblicke
keinen vernehmlichen Ton herausbringen . —
Er fragte , ich weiß nicht wie manchmal , was
doch Ihr Gnaden , der Fraͤulein begegnet ? Ehe er
verſtehen konnte , daß ein wuͤtender Hund ſie ange-
fallen habe . —
Aber er glaubte es nicht , und meynte Buben ,
die ſie im Wald angetroffen , ſeyen der Hund —
er gab ihr auch zu verſtehen , die wuͤtenden Hunde
haben es ſonſt nicht in der Gewohnheit , den Leuten
gerade Riſſe in die Kleider zu machen . —
Indeß ſchob er ihr Gnaden der Fraͤulein den
Haarkorb mit Miſt und Federn von hinten herauf
wieder uͤber den Kopf , ſuchte in allen Taſchen
Schnuͤre , die fliegenden Stuͤcke ihrer Robe zuſam-
men zu binden , fand aber nichts als einen ziemlich
dicken Strick , den er ſonſt zu etwas ganz anderm
brauchte , aber er war izt ihr Gnaden der Fraͤulein
recht gut , ſie band die fliegenden Stuͤcke ihres Ober-
kleids wieder zuſammen , und ſo giengen ſie dann
mit einander heim .
§. 18 .
Von Volks Ausdruͤcken , und von ſeinem
wahren Vortheil .
G uter Klaus ! da du geſtern zum General ſagteſt ,
es werde ihr wohl bekommen , wenn ſie den Lohn
darfuͤr noch in dieſer Welt erhalte , dachteſt du
wohl nicht , daß ſie ihn noch heut erhalten werde ,
und dann noch auf dem Bonnaler Weg , und von
einem Hund ? —
Und du arme Sylvia ! dachteſt auch nicht , daß
ein Mezger-Pfiff dich noch vor heut Abend von
E 4
deinen Hoͤhen herabblaſen und dahin bringen wer-
de , daß du izt nicht einmal mehr ſelbſt an die
Traͤume glaubeſt , die dich geſtern noch ſo ſtark
aufgeblaſen ?
Die arme Sylvia ! — ſie iſt wie außer ſich
ſelbſt , ſie meynt nichts anders als ſie werde wuͤ-
tend werden — und in wenigen Tagen bellen wie
ein Hund , und dann ſterben . —
Sie waͤlzt ſich am Boden , und ſchreyt einmal
uͤber das andere „ ich bin gebiſſen , ich muß ſterben
— ich muß ſterben ! —
Umſonſt ſagte Aglee , ein ſolches Betragen har-
moniere nicht mit ihren Grundſaͤtzen . —
Grundſaͤtze — ja Grundſaͤtze — ich bin ge-
biſſen — ich bin gebiſſen — und muß ſterben ! —
ſagt ſie , und waͤlzte ſich fort .
Es iſt wirklich ſo mit den Grundſaͤtzen — er-
wiederte Aglee , und legte ihr Kuͤſſen und Tuͤcher an
Boden . —
Umſonſt ſagte der Schaͤrer — die kleinen Ritze ,
die ſie hie und da habe , ſeyen nicht von den Zaͤh-
nen , ſondern nur von den Tatzen des Hunds , und
ſie ſey nicht gebiſſen .
— Es iſt doch wahr — ich bin dabey gewe-
ſen , und weiß es gar wohl — ich bin gebiſſen —
ich bin gebiſſen — und Morgen , werdet ihr ſehen ,
bin ich wuͤtend — ſagte ſie wieder — und wo ihr ein
Glas oder ein Becken mit Waſſer ins Aug kam , fuhr
ſie wirklich zuſammen , und zitterte , wie wenn ſie die
Krankheit ſchon haͤtte . Dieſes machte dem Gene-
ralen und der Thereſe ſelber Angſt , aber der Schaͤ-
rer ſagte , es habe gar nichts zu bedeuten , die Ein-
bildung mache eine kurze Zeit die gleiche Wirkung ,
wie die Wahrheit , man muͤſſe in ſolchen Faͤllen nur
warten — und ſezte hinzu — wenn ſie izt geſchla-
fen , und dann wieder erwachet , ſo iſt das alles
vorbey ! —
Ohne dieſe drey war ſonſt kein Menſch im
Haus , der Mitleiden mit ihr hatte ; es war faſt
nur ein Wort , ſie thue izt wie ein Narr , und habe
aber immer ſo gethan . Sie hat keinen guten Men-
ſchen — Die Dienſte geben ihr ſchon lange unter
einander keinen andern Namen , als der Teufel
Asmodi . Sie hatten aber fuͤr alle drey ihre
Namen — die Aglee hießen ſie das Buͤchergeſpenſt ,
und den Generalen den Hofgriggi .
Das iſt ein unverſchaͤmt Geſindel — und von
von des Arners Dienſten haͤtt' ich das nicht erwar-
tet , — hoͤr' ich ſagen — aber halt ein wenig Nach-
bar ! die Sache hat eine andere Seite . — Das
Volk druͤckt mit ſolchen Namen ſein Wahrheitsge-
fuͤhl aus ; und da ihm Bildung , Begriffe , Worte
und Ausdruͤcke verſagt ſind , die Menſchen nach
unſerm Buͤchermodell , und nach unſern Allgemein-
heiten zu ſchildern , ſo ſind dergleichen Ausdruͤcke
in ſeinem Munde nicht vollends das gleiche , was ſie
in unſerm waͤren — Pasquillen und Laͤſterworte —
und ich muß dir ſagen , lieber Nachbar , man thut
dem Volk , wenn man in der Ahndungsart ſolcher
Worte nicht auf den Unterſchied ſiehet , woher ſie
kommen , und einen jeden , dem etwan ein ſolcher
Ausdruck an einem unrechten Ort oder zur Unzeit
entrinnt , leicht alzuhart ſtraft , unrecht . —
Die gemeinen Leute brauchen dieſe Ausdruͤcke
unter ſich ſelber alle Tage und ungeſcheut gegen
einander , die braͤvſten wie die ſchlechteſten : Es iſt
ihre Sprache , ſie haben keine andere , und es kann
nicht anderſt ſeyn , es muß ihnen hier und da auch
ein ſolches Wort entrinnen , wo es nicht ſollte .
Sie brauchen dergleichen tauſende , ſo bald ſie
allein ſind , und allein mit einander reden . —
Doch nein ich irre ; — man ſtrafe ſie immerhin
dafuͤr — es waͤre unharmoniſch mit ihrer uͤbrigen
Fuͤhrung — und wider ihren wahren Vortheil ,
wenn man es nicht thun wuͤrde . —
Der Menſch , der das Gefuͤhl der Rechten ſei-
ner Natur in ſich ſelber erſticken muß — muß auch
lernen ſein Maul halten . — Und es iſt des Volks
eigener Vortheil , daß es lerne behutſam ſeyn , vor
ſeinen Obern , vor den Knechten ſeiner Obern , und an
einigen Orten noch weiter vor den Spionen dieſer
Knechten , und dann an andern noch weiters auch
vor den Hunden dieſer Spionen — das iſt an vie-
len Orten der Welt des Volks liebe Nothdurft —
und die Sach iſt nicht leicht zu aͤndern — die Ur-
ſache davon liegt in den Finanzen des Staats . —
Alſo laſſe mans mit dem Maulbrauchen fuͤrs Volk
gelten , wie es iſt — und goͤnne ihm ferners den
Vortheil , daß es lerne ſchweigen .
§. 19.
Volks Gefuͤhl in Frevelſachen , und ſeine
Folgen auf die Juſtiz .
D as haͤtteſt du nicht von mir erwartet , Leſer !
aber es glaubte kein Menſch in dem Hauſe mehr ,
daß der Hund die Sylvia gebiſſen und wuͤtend ge-
weſen ſey — der Klaus ſagte dem Generalen viel-
mehr , es ſey gewiß , daß er an ſie gehezt worden ,
und man muͤſſe ſie fragen , wie er ausgeſehen . —
Sie antwortete , er ſey entſetzlich groß gewe-
ſen , groͤßer als ſie ; es ſey ihr izt noch , ſie ſehe ihm
in ſeinen Rachen hinunter , ſie habe in ihrem Le-
ben kein ſolches Gebiß geſehen , und keinen ſolchen
Schlund . —
Der General erwiederte , das ſey den Hund
nicht beſchrieben , ſie ſoll doch ſagen , wie er aus-
geſehen , und was er fuͤr eine Farb habe ? —
Und ſie — das koͤnne ſie nicht ſagen — er ſey
ihr im Anfange weiß vorgekommen , und hernach
ſchwarz — und es ſey ihr izt , als wenn ſie ihm nur
den Kopf und das Maul geſehen habe . —
Das war nichts . — Der General ſahe wohl ,
daß es nichts ſey , und minder als nichts — aber
er fragte doch links und rechts , ob denn auch izt
nichts zu machen ſey ? —
Der Eine rieth' ihm das , der Andere dieſes —
die meiſten ſagten ihm , was ſie meynten , das er gern
hoͤrte .
Der Schreiber kam mit dem Einſtecken — der
Schafner mit dem Geld darauf bieten — der Schloß-
vogt mit dem Herumſchicken der Spionen in den
Doͤrfern — eine Frau meynte , man muͤſſe auf der
Kanzel darauf predigen — ſie ſagte , wenn ſich die
Pfarrer recht angreifen , und recht darauf druͤcken ,
ſo koͤnne die Stunde ſo gut ſeyn , daß der Thaͤter
auf dem Stuhl ſchwitzen muͤſſe , und nicht zur
Kirche hinaus koͤnne , ohne daß man es ihm an-
ſaͤhe — dann koͤnne man ihn greifen . —
So wurde er vom Pontio zum Pilato gewieſen .
Wers ehrlich meynte , und nicht in den Tag
hinein redte , ſagte ihm , es ſey ſchwer zu rathen ,
und nicht viel zu machen . Der Klaus ſagte das
gleiche , und ſezte hinzu , wenn in einem ſolchen Fall
die Leute gegen den Beſchaͤdigten kein Mitleiden
haben , und einer dem andern ins Ohr ſagt , es
ſey ihm recht geſchehen , er habe es ob dem oder
ob dieſem verdient , ſo helfe dann das alles , den
Thaͤter zu verbergen , und weit die meiſten Bauers-
leute machen ſich in dieſem Fall ein Gewiſſen ihn
der Obrigkeit zu entdecken , das ſey oben und unten
im Land ſo eingewurzelt , daß er Frevel erlebt habe ,
wo zwanzig und dreyßig Menſchen davon gewußt
haben , und doch ſey es der Obrigkeit unmoͤglich
geweſen , den Thaͤter herauszubringen ; die jungen
Burſche haben in ſolchen Faͤllen eine Freude daran ,
und alles macht ſich eine Ehre daraus zu helfen ,
daß es nicht an den Tag komme — es komme aber
gewoͤhnlich am meiſten an Tag , wenn man ſtill
dazu thue und ſchweige , und alſo rathe er zu die-
ſem . —
§. 20.
Herzens Ruͤhrung , und Bekehrungsge-
danken .
A ber das war nicht der Sylvia Meynung ; da ſie
den Tag darauf nach einem langen Schlafe wie-
der erwachte , und wie der Schaͤrer prophezeyet ,
nicht mehr ſchrie — ich bin gebiſſen — ich bin ge-
biſſen — erinnerte ſie ſich , daß ſie im Wald pfei-
fen gehoͤrt , und fand izt ſelber , der Hund ſey an
ſie gehezt worden ; aber ſie meynte nun , man ſollte
faſt halbe Doͤrfer einſtecken , wenigſtens jedermann ,
der Hunde halte und pfeife , auch wer ihr feind
ſey , und namentlich den Schulmeiſter , der , wenn ei-
ner , ſagte ſie heftig , im Stande iſt einen ſolchen
Streich anzugeben , ſo iſt es gewiß dieſer . Aber der
General wollte nicht in dieſe Nuß beißen . Von
dieſem iſt keine Rede , war aufs erſte Wort ſeine
Antwort , mit dem Zuſatz , waͤreſt du daheim ge-
blieben , oder haͤtteſt jemand mit genommen , wie
ich dirs angerathen , ſo wuͤrde dir das nicht be-
gegnet ſeyn .
Wollt ihr denn keinen Menſchen fuͤr mich ein-
ſtecken laſſen ? ſagte Sylvia .
Keine Katze auf gerathwohl hin — erwiederte
der General . — Er war zornig — er hatte ſein
moͤglichſtes gethan zu ſehen was zu machen ſey —
fuͤhlte , daß ſie nicht einmal das verdiene — und
izt forderte ſie ſolche Unverſchaͤmtheiten .
Wie geſagt , er gab ihr zur Antwort — keine
Katze auf gerathwohl hin , aber wenn wir auf et-
was fußen koͤnnen , ſo kannſt du dir ſelber einbilden ,
man werde thun was moͤglich iſt — Mit dieſem
gieng er fort .
Beydes , die Antwort und ſein Fortgehen ,
ſchlugen ſie nieder . So lange ſie hofte , ſich raͤchen
zu koͤnnen , konnte ſie ſich beſitzen ; aber izt fieng ſie
an zu weinen wie ein Kind , und ſagte , man laſſe
ſie ihre Armuth entgelten , und ihr nicht einmal
Gerechtigkeit wiederfahren wie dem geringſten Men-
ſchen . Sie fiel izt von ihrem Stolz in eine Gat-
tung uͤbernaͤchtliche Schwermuth , daß es ſchien ,
daß ſie ein ganz anderes Menſch waͤre als vorher . —
Sie haͤngt den Kopf wie eine Suͤnderin , und
fuͤhlt wie eine Buͤßerin , daß ſie nichts in der Welt
iſt , und daß ſie nichts darinn kann , daß ſie izt
nicht einmal mehr dem verachteten Arner den Tritt
kann werden laſſen , den ſie ihm zugedacht .
Mezger-Hund ! das danken wir dir ! kein
Menſch in der Welt hatte ſie noch ſo weit zur Er-
kenntniß ihrer ſelbſt gebracht . Lohns dir dein Mei-
ſter mit Kaͤlberkutlen und mit Schaafsfuͤßen ! ich
will ihn bezahlen — wenn er ſich dafuͤr meldet .
Ich bin ſonſt nicht unbarmherzig , aber ich
kanns nicht verheelen , es iſt mir angenehm , ſie vor
mir zu ſehen , wie ſie izt da ſizt , und Bange hat ob
dem Gedanken , das Geſpoͤtt , das ſie ob der Bon-
naler Ordnung habe treiben wollen — falle izt auf
ſie . —
Sie glaubte nichts anders , als im erſten Brief ,
wenn der Junker dieſe Geſchichte dem Bylifsky
ſchreiben werde , ſo werde es nicht fehlen , der Men-
zow mahle ſie ihm ab — und dann ſtellte ſie ſich
vor , was das fuͤr ein Gemaͤhlde geben werde mit
den Tuͤchern , die um ſie herumfliegen , und mit dem
leeren Kopf , und mit dem Strick , und mit dem Jaͤger
— konnte ſich ſchon einbilden , wie der Herzog darob
lachen werde — und dachte dann richtig zu dieſem
allem hinzu , wenn er darob lacht , ſo giebt mich
der Helidor preiß wie ein Schuhlumpen .
Es preßte ihr den Schweiß aus . — Was bin
ich denn mehr in der Welt ! ſagte ſie izt zu ſich
ſelber — und huͤllte ſich in die Decke des Betts , wie
geſtern der Karl , aber ſie biſſ' in die Tuͤcher , da
er mit denſelben ſich die Augen getrocknet . —
Das iſt der Unterſchied .
Und
Und wenn ſie den Kopf unter der Decke hervor
hat — ſagt ſie in einem Athemzug — ſie wollte , ſie
waͤr nicht mehr in der Welt — und im gleichen
Augenblick zankt ſie mit Aglee , und ſagt ihr , ſie
glaube nicht , daß ſie ihr verboten habe mitzukom-
men , und wenn ſie ihr verboten habe mitzukom-
men , ſo haͤtte ſie nachkommen koͤnnen — und
murrte ſo was unverſtaͤndliches von Schuldigkeit
mit unter . —
Aber Aglee , die , wie ihr wißt , es nicht ſo mit
ihr verſteht , gab ihr , da ſie das that , zur Antwort ,
ſie ſolle warten bis ſie ihre fuͤnf Sinne alle wieder
bey einander habe , und dann mit ihr reden . —
Mit dieſem ließ ſie ſie ſitzen .
§. 21 .
Unter den Voͤgeln iſt der Nachtigall Kla-
geton der ſchoͤnſte ; aber unter den
Menſchen iſt wohl ein jeder anderer
Ton beſſer .
S ie gieng hinaus , der Jaͤger gieng hinein , und
ſagte , es ſey eine große dicke Bauernfrau im Hofe ,
die gerne mit ihr Gnaden der Fraͤulein reden
moͤchte . —
F
Aber ihr Gnaden die Fraͤulein hatte izt nicht
Luſt mit der Baͤuerin zu reden , obwohl ſie verſtan-
den , es ſey juſt die , die ſie geſtern auf dem Spa-
tziergang angetroffen . Es war nicht mehr geſtern —
ſie habe nichts mit ihr zu reden , ſie ſolle nur gehen
wo ſie wolle , war izt die Antwort . Der Jaͤger
ſagte ihr dieſe Worte . Die Frau aber ſagte zum
Jaͤger — Iſt etwann das Ungluͤck daran Schuld ,
das , wie ich hoͤre , ihr geſtern im Wald mit ei-
nem Hund begegnet ? —
Du haſt izt deine Antwort , und kannſt gehen ,
erwiederte der Jaͤger . —
Das wohl — das wohl — ſagte die Baͤuerin
aber ſaget ihr nur noch , es ſey auch nichts , was ſie
von mir wollen , in beyden Stuͤcken ſey es nichts .
— Er gieng noch einmal hinein , und ſagte auch
dieſes . —
Meinethalben , ſagte Sylvia , gehe alles wie
es wolle , und ſezte , da er fort war , hinzu , es be-
triegt mich doch alles , und es hilft mir doch kein
Menſch — ich bin ein armes ungluͤckliches Ge-
ſchoͤpf . —
Gebe doch Niemand viel auf dieſe Sprach Ach-
tung ! Sie iſt die mißbrauchteſte und die betrieglich-
ſte , die den Staub dieſer Erde befleckt ; kaum iſt
ſie unter tauſend Faͤllen einmal nicht Unſinn , oder
Larve . Der Wolf braucht ſie in der Grube , der
Fuchs in der Falle , der Eſel , wenn er im Koth
ſteckt , und das Faulthier , wenn der Baum , deſſen
Blaͤtter es gefreſſen , nun leer iſt , und es ihm Muͤ-
he macht auf einen andern zu kriechen . —
Aber wer gut bey Sinnen und Gedanken iſt ,
der redt nicht ſo . Brave Leute klagen wenig —
wer viel heulet iſt nichts nuͤtz . Ein gutes Herz em-
pfindet immer , was es gutes hat , und wer etwas
werth iſt , den macht Erfahrung und Ungluͤck beſ-
ſer . — Was will der Menſch mehr auf dieſer Erde ?
Die neue Kopfhaͤngerin hat der Speckmolchin
unrecht gethan , ſie hatte ſich auf das moͤglichſte be-
fliſſen auszurichten , was ſie ihr zugemuthet , und
das in beyden Stuͤcken . —
Kaum war ſie heim , ſo ſchlich ſie gegen des
Maurers Haus , und ließ es ſich nicht dauren wie
ein Affe herumzuſehen , und wie ein Fuͤllen , das an
den Hecken Gras ſucht , auf- und abzugehen , bis
das Liſeli ſich unter der Thuͤre zeigte , winkte ihm
hinter den Schweinſtall , und ſagte ihm , wie die
Jungfer im Schloße mit ihm Mitleid habe , daß
es ſo geſchlagen worden , und wie ſie ihm etwas
recht ſchoͤnes ſchenken wolle , wenn es zu ihr ins
Schloß komme .
F 2
Beydes , das Mitleiden und das Geſchenk , ge-
fiel dem Kind recht wohl , aber da die Molchin fort-
fuhr zu predigen , und der Laͤnge und Breite nach
herauszuſtreichen , wie gottlos und unchriſtlich ſeine
Mutter mit ihm gehandelt habe , u. ſ. w. roch es dem
Kind auf , daß das nicht in der Ordnung ſey ; und
einsmals , da die Frau meynte , ſie ſey mit ihm in
der beſten Ordnung — machte es ein veraͤchtliches
Maul — ſchuͤttelte den Kopf , und ſagte , die Jung-
fer im Schloß mag mir ein Narr ſeyn ! meine Mut-
ter iſt mir lieb , haͤtte ich mein Maul gehalten , ſo
haͤtte ſie mir nichts gethan ; mit dem ſprang es
fort in ſeine Stube , und die Molchin ſah , daß es
aus war , und mußte auch weiters .
An den andern Orten ſchien es im Anfange
beſſer zu gehen .
Zwey Weiber verſprachen ihr , wenn es ſo ſey ,
wie ſie ſage , und ſie die Jungfer im Schloß ſelber
darum fragen doͤrfen , ſo wollen ſie ihre Kinder
nicht mehr in die Schule ſchicken . —
Aber die Kinder , die nicht mehr in die Schul
ſollten , fiengen ein Geſchrey an , daß die Leute vor
den Fenſtern ſtill ſtunden .
Wohl ließen die Muͤtter ſie ſchreyen —
Wohl wollten ſie es auch bey den Vaͤtern er-
zwingen , aber ſie bekamen zur Antwort , das iſt nur
eine Aufwieglung von der Kutſchenfahrerin , um
ihrentwillen machen wir keine Aufruhr mit unſern
Kindern . —
Selbſt ihr Mann wollte es nicht thun , und
da ſie mit der Jungfer im Schloß kam , gab er ihr
zur Antwort , die Jungfer im Schloß iſt die Jung-
fer im Schloß , und du biſt der Eſel im Dorf ;
mit dem mußten ſeine Kinder , wie die andern , den
folgenden Tag auch wieder in die Schule .
Ihrer etliche ſagten bey dieſem Anlaß , es iſt
heut gut , daß der Vater Meiſter iſt . —
So giengs der Speckmolchin geſtern und izt ,
da ſie es izt auch ihrer Jungfer im Schloß klagen
wollte , war ſie abgewieſen . —
Heute hatte ſie nur mit Niemanden nichts mehr
von ihr reden doͤrfen .
Der Grund iſt — der General hatte jeder-
mann geklagt , es ſey ſo uͤbel , daß ſie nicht wiſſe
wie der Hund ausgeſehen , und erzaͤhlte einem je-
den alle Worte , die ſie daruͤber geredt . —
— Und wie ein Lauffeuer gieng izt von Mund zu
Mund , er ſey ihr zu erſt weiß vorgekommen , und her-
nach ſchwarz , und ſie habe nichts an ihm geſehen ,
als den Kopf und das Gebiß und einen erſchreckli-
chen Schlund ; es brauchte nicht mehr , von Dorf
zu Dorf herumzubringen , der Hund ſey kein natuͤr-
F 3
licher Hund geweſen , ſondern durch Zulaſſung Got-
tes ein erſchreckliches Strafgericht vom leidigen
Satan , das ſie aber auch ob dem Michel verdienet
habe . —
Auf das hin , denket ihr wohl , es haͤtte die
Molchin gewiß von ihrer Jungfer geſchwiegen .
§. 22 .
Wie verſchieden die Aeußerungen gleicher
Eindruͤcke bey den Menſchen ſind .
A ber Arner war immer kraͤnker , mit jedem Abend
war das Fieber ſtaͤrker , und mit jedem Morgen
ſeine Schwaͤche groͤßer . —
Mit jeder Stunde ſtieg die Jammerverwirrung
des Schloſſes . —
Du lieſeſt auf allen Geſichtern Furcht und
Schrecken — Bangigkeit iſt in aller Augen — druͤ-
ckende Angſt preßt alle Lippen — die Stunden waͤh-
ren Jahre , die Tage Ewigkeiten , und die Naͤchte
haben kein Ende . —
Ohne Schlaf und ohne Speiſe wartet ihm
Thereſe ab . Ohne Schlaf und ohne Speiſe ſteht
der Karl wie ein Verwirrter umher , und faltet in
Winkeln und Ecken die Haͤnde , und bethet mit ſei-
nen Schweſtern auf den Knien . —
Der Rollenberger kann ſie nicht mehr lehren ,
er weißt oft nicht was er redt . —
Gedruͤckter , als ſie alle , iſt noch der General .
Er hat 70 Jahre hinter ſich , und vielleicht nicht
zwey Naͤchte hinter einander nicht geſchlafen , und
vielleicht keinen Tag ohne Zerſtreuung verlebt —
Kummer und Sorgen ſind bey ihm immer in
Minuten leichter Kuͤrze vorbey gegangen . Izt hat
er ſchon vier ſchlafloſe Naͤchte und vier ruhloſe
Tage nur einen einzigen Gedanken , nur eine ein-
zige Empfindung in ſeiner belaſteten Seele . — Er
nimmt an Fleiſch und Farbe mehr als der Kranke
im Bett ab , meynt es ſey nichts anders , Arner
muͤſſe ſterben , kann nicht aufhoͤren zu denken , er
ſey die Schuld daran , und glaubt , er ſterbe ihm
bald nach .
In dieſem Zuſtand flieht er Sylvia , wo er ſie
ſieht . — Und da Thereſe ihrer Schwermuth hal-
ben Mitleiden zeigte , gab er zur Antwort , ſie hat
das Haus angezuͤndet , izt ſchalket ſie noch . —
Sie gieng umher wie der Schatten an der
Wand , zog den Athem , daß man ſie von weitem
hoͤrte ; ſtellte ſich vor , es ſey ihr izt alles gleich ,
und es moͤge kommen wie es wolle , ſo ſey ſie im-
F 4
mer verloren ; und ſagte oft , ſie moͤchte nur wuͤn-
ſchen , daß ſie nichts mehr ſehen , nichts mehr hoͤ-
ren , und nichts mehr denken muͤßte — auch ſuchte
ſie zu ſchlafen wo ſie konnte , und aß und trank von
ſtarken Sachen und Gewuͤrz , was um den Weg
war , und ſo tief ſie den Kopf haͤngte , kaͤute ſie
doch immer etwas mit dem Maul : aber auch izt
meynte ſie noch nicht , daß ſie unrecht habe , und
glaubte , Arner habe ſein Schickſal , das ſie minder
bekuͤmmerte als eine Floh , ſeinen Narrheiten zu
danken .
Die Dienſte im Haus waren uͤber ſie aufge-
bracht , daß ihrer viele nicht wußten , was ſie tha-
ten , wenn ſie um den Weg war . Die Kuͤchenmagd
warf allemal , wenn ſie ſie ſah , was ſie in den Haͤn-
den hatte , an den Boden . Es haͤtte einen Wink
gebraucht , ſie haͤtten ſie uͤber alle Mauren hinab-
geworfen , und den Jaͤger in Stuͤcke zerriſſen . —
Sie waren eigentlich wild uͤber Arners Krank-
heit , oder vielmehr uͤber ihre Urſachen . —
Der Huͤnerbub warf dem Tuͤrk Maͤuſegift dar ,
und ſagte , du muſt mir auch nicht mehr leben , du
biſt auch ſchuldig ; und als er beym Stall ſchon
verreckt da lag , ſo ſtieß der Kuͤher dem Aas noch
die Miſtgabel in den Leib , und ſagte , wenn ich ſie
dem rechten Aas in den Leib hineinſtoßen doͤrfte , ich
wollte anderſt ſtoßen . —
Die guten Leute aßen uͤber dieſe Zeit blos fuͤr
den Hunger , ſtunden im Augenblick wieder vom
Tiſch auf , damit ſie nicht lange neben des Gene-
rals Dienſten ſitzen muͤſſen , und nahmen das Brod ,
das ſie nicht bey Tiſch aßen , mit ſich in dem Sack
fort ; und da des Generals Dienſte ſie fragten ,
warum ſie ſo unfreundlich mit ihnen ſeyen ? und
ſagten , ſie wiſſen doch nicht , was ſie ihnen zu Leid
gethan , bekamen ſie zur Antwort , es ſey ihnen izt
nicht um reden , ſie ſollen ſelbſt unter einander re-
den , es ſeyen ihrer genug , und ſie gehoͤren zuſam-
men .
Der Klaus aber , der in ſolchen Faͤllen kein
Blatt fuͤr das Maul nahm , ſagte , er habe nichts
wider die andern , aber es ſey einer unter ihnen —
tauſend und tauſend ſeyen am Galgen verfault , die
nicht den zehenden Theil ſo viel Schlimmes gethan
haben als er — und neben dieſem , muͤſſe er geſte-
hen , ſitze er nicht gern lange am Tiſch . —
Die andern ſagten , er ſolle dem Kind den Na-
men geben , und ſagen , wen er meyne ?
Ich meyne den , antwortete der Klaus , der
dem Michel den Hund angehezt , und uͤber den Lieu-
tenant Sachen geredt , die den Junker ins Bett
gebracht , und wer weiß wohl , ob nicht noch ins
Grab ! —
Der Jaͤger wollte das nicht leiden , und gieng
auf der Stelle es dem General zu klagen , aber
dieſer ſagte ihm , man hat izt anders zu ſchaffen als
mit dir — und da er nicht ſchweigen wollte , und
immer vom Klaus redte , antwortete er , komm
mir nicht mit dem Klaus — ein ganzes Regiment
Schlingel wie du , hat keinen Tropfen ſo ehrliches
Blut wie der alte Mann die Haut voll hat — und
geh mir nur aus den Augen . — Er mußte gehen
— und gieng — zur Sylvia — klagte dann dieſer ,
wie er durch ſie in dieſes Ungluͤck gekommen , und
wie ihm ſein Herr weder Hilf noch Rath ertheile ! —
Was willt du reden ? Er macht es dir dann
nur wie auch mir — er haͤtte nur keine Katze um
meinetwillen eingeſteckt — antwortete Sylvia . —
Dann beſann ſie ſich wieder , daß ihr izt an
allem nichts gelegen — und ſagte , was geht das
mich an ! — da haſt Geld — Geld iſt fuͤr alles —
aber plag mich mit nichts — ich will nichts von
allem mehr wiſſen . —
Sie ſagts — der Jaͤger ſchiebt die Thaler in
den ehrloſen Sack — Aglee geht aus der Stube —
und iſt nicht ſo bald vor der Thuͤre , ſo ſagt Sylvia
dem Jaͤger , du haͤtteſt es dieſer ſagen koͤnnen , wie
mir — ſie iſt ſchuldig wie ich .
Aber was haͤtte ich davon , wenn ich es thun
wuͤrde ? Sie wuͤrde mir keinen faulen Vierer an
den Schaden geben , erwiederte der Jaͤger . — Syl-
via ſagte , du haſt recht — und Aglee hoͤrte vor
der Thuͤre , was ſie ſagte . —
§. 23.
Unſterblichkeit und Wahrheit .
Deutſchland und Aſien .
I m Sturm dieſer Verwirrung war Arner allein
ruhig . Das Fieber , das ihm ſeinen Kopf frey
ließ , gab ſeiner Einbildungskraft eine Stimmung ,
die ihn bey Stunden wie in einem Traum erhielt ,
in welchem ihm wohl war . —
Er ſtaunte in dieſem Zuſtand zuruͤck in ſein
Leben , alles Thun der Menſchen ſchien ihm ein
Spiel , das nicht ſo faſt um ſeiner Wirkung willen ,
als um die Kraͤfte des Menſchen in Uebung zu er-
halten , und deſſelben Anlagen zu entwickeln , eini-
gen Werth habe .
So ſah er ſein Werk in Bonnal an ; es freute
ihn , daß er ſich darnach beſtrebt , aber das Uebrige
war ihm izt nichts , und die Bilder des Todes und
der Ewigkeit waren ihm ſo lebhaft und reizend ,
daß er oft mit einer Art Sehnſucht beym Stun-
denſchlag zu ſich ſelber ſagte , wann izt die Uhr noch
ſo und ſo manchmal ſchlagt , ſo bin ich dann dort !
— Er ſagte ſo gern , das Leben duͤnke ihn nichts
— und da er einmal ſah , daß es Thereſe wehe that ,
ſagte er zu ihr — kraͤnke dich doch nicht daruͤber ,
daß ich das ſage , Geliebte ! die Ueberzeugung , daß
das Leben nichts iſt , iſt mir Ueberzeugung der Un-
ſterblichkeit ! — und ſezte hinzu , Fleiſch und Blut
koͤnnen nicht glauben , daß das Leben nichts iſt ,
vom Wurm hinauf bis zum Menſchen iſt ihnen das
Leben alles . — Er hielt ſeinen Tod fuͤr gewiß , und
nahm am fuͤnften Tage von allen Abſchied — es
war ihm dieſen Morgen leicht ums Herz .
Die Sonne gieng ſchoͤn auf , er ſah gegen ſie
hin , und ſagte zu Thereſe , ſie ſtehet auf zu ihrem
Tagwerk ; ſuchte dann mit Worten , denen er Stun-
den lang nachgedacht , ihre gute Seele zu der Noth-
wendigkeit des Seinigen vorzubereiten . —
Sie faßte ihre Kraͤfte zuſammen — und er
ſchien ſo ruhig — und ſagte ſo herzlich , ſo manch-
mal , und ſo heiter , es ſey ja nur zur Vorſorge ,
daß ſie heute minder litte , als an einem andern
Tage . —
Er redte zuerſt von ſeinen Kindern , drang auf
die Fortſetzung einer einfachen haͤuslichen Arbeits-
Erziehung , als auf das beſte Mittel , dem Schwin-
delgeiſt , und der Anmaßungsſucht unſerer Zeit und
ihren Folgen bey den Menſchen vorzubeugen .
Er ſagte , der Verſtand bildet ſich am beſten
bey Geſchaͤften , weil ſich aller Irrthum , und alles
Verſehen bey denſelben ſo viel als auf der Stell zei-
get , und Gottlob fuͤr das menſchliche Geſchlecht zei-
gen muß ; — da man hingegen in Meynungen und
Buͤcherſachen einander ganze Ewigkeiten hindurch
die Worte im Mund umkehren , und wieder um-
kehren kann .
Eben ſo behauptete er , bewahre die trockene ,
kalte , ſchwerfaͤllige , und auf der Nothwendigkeit
ruhende Natur der Geſchaͤftswahrheit , das Herz
der Menſchen vor Geluͤſten nach dem Sommervo-
gelleben unſerer Zeit , und vor dem Hang gleich
dieſen Wuͤrmern mit Goldfluͤgeln auf dieſer Erde
wie auf Blumenbetten herum zu flattern und herum
zu ſchmachten .
Liebe deutſche Frau ! ſagte er , die Reichen
und die Hofleute , und das Haͤpfengeſchlecht der
Staͤdter , die ſie verderbt , naͤhern ſich in ihrem In-
nern und Aeußern immermehr den ſchwachen Ge-
ſchoͤpfen aus den heißen Erdſtrichen ; Geſichter ,
Stellungen , Kleidungsarten , die ſogar mit den
verunſtalteten Figuren auf dem Chineſiſchen Por-
zellan auffallende Aehnlichkeit haben , werden immer
gemeiner ; man ſucht immermehr fuͤr die thieriſche
Vegetation die Reize dieſer Erdſtrichen zu erzwin-
gen , und die ſtarken weichen Genießungen , die uns
unſer Klima verſagt hat , wenn wir an der Luft le-
ben , in das Innere unſerer Zimmer zu bringen ,
wo man mit Geld eine Luft machen kann , wie man
ſie haben will — daher die Naͤherung unſerer Ge-
muͤthsſtimmung mit den ſchwachen Laſtern und
Thorheiten der heißern Gegenden — daher das in
unſerer Zeit auffallende Steigen des Aberglaubens ,
der Rentes viageres , der Lottos , der Bleichſucht ,
des vielartigen Kindermords , des Hautgouts in
unſern Meynungen , und die allmaͤchtige Ehrerbie-
tung fuͤr alles was außen fix und innen nix iſt —
daher die tauſend ſonderbaren Auftritte unſerer Zeit
— daher die ſchwaͤrmeriſche Religioſitaͤt deſpotiſcher
Menſchen — daher die Neigung zum Bilderdienſt ,
und zu ſinnlichen Vorſtellungsarten von Gott dem
Herrn , der ſeinem Volk ſo gar in heißen Laͤndern
ſolche Vorſtellungsarten verboten — daher die Ge-
walt geheimer Verbindungen , und des Glaubens
an Menſchen , die ihre wichtigſten Verſprechen nicht
halten — daher das freche Steigen aller Charla-
tanerieen , ſo gar das laute Ruͤhren der Zauber-
trommel — das alles hat den eigentlichen Feuer-
heerd , wo es ſeinen Gift kochet , in der Naͤherung
des Innwendigen der vornehmen und reichen Haͤu-
ſer , gegen den aſiatiſchen Zuſchnitt . —
Kaltes Waſſer , liebe deutſche Frau ! zum trin-
ken und baden , und alle Jahr einmal zur Probe
viermal mit den Kindern , am Maytag auf unſern
Hackenberg hinauf und hinunter — und Garten ,
Kuche und Keller — und lieber Rollenberger ! der
gute Bauerngewerb , und das Einmaleins , und die
Mathematik dazu , das erhaltet in Buben und Maͤd-
chen deutſches Blut , deutſches Hirn , und deutſchen
Muth . — Gottlob ! Es iſt mir fuͤr meine Kinder ,
wie wenn das alles nicht in der Welt waͤre . —
§ . 24.
Der chriſtliche Junker ; eine Kloſterge-
ſchichte aus der Ritter-Zeit .
E r haßte die Schwaͤrmerey , und empfahl auch
in dieſem Geſichtspunkte der Thereſe die Geſchichte
des alten Ahnherrn , der noch auf ſeinem Schloßgut
ſelber pfluͤgte , und den weit und breit alles den
chriſtlichen Junker nannte , weil er gerecht
war , ſeinen Bauern ein harmloſes , ſicheres und
vergnuͤgtes Leben verſchafte , und das Kloſter Him-
mel auf dem Boden eben machte .
Seine Vorfahren hatten daſſelbe geſtiftet ; aber
den vergabten Bauern große und wichtige Rechte
vorbehalten , namentlich — daß ſie vom Kloſter zu
ewigen Zeiten nicht anderſt doͤrfen angeſehen und
behandelt werden als die uͤbrige Angehoͤrige der
Herrſchaften der Herren von Arnburg , mit Zuſiche-
rung ihres und ihrer Nachkommenden pflichtmaͤßi-
gen Schutzes ; aber da die Stifter die Augen zuge-
than , und das Kloſter ſeine offen behalten , verlo-
ren die Bauern ein Recht nach dem andern . Die
Ehrwuͤrdigen Herren wollten bald von keiner Ver-
gabungsbedingniß mehr wiſſen , und behandelten
die Bauern unbedingt als des Kloſters eigne bloße
Gnadenleute ; als nach hundert und fuͤnf und ſie-
benzig Jahren der chriſtliche Junker unter den Pa-
pieren ſeiner Ahnen die eigenhaͤndig vom Stifter ge-
ſchriebene Vergabungsbedingniſſe wieder vorfand ,
und den Tag darauf dann den beeintraͤchtigten Leu-
ten durch den Weibel in ſeiner Farb einen Schutz-
und Schirmbrief gegen die Eingriffe dieſes Klo-
ſters zuſtellen ließ . —
Wenn er das Mariabild ab ihrem Altar haͤtte
wegtragen laſſen , die Patres waͤren kaum ſtaͤrker
zuſammen gelaufen , als ſie izt zuſammen liefen ;
ſie proteſtirten zu erſt , und thaten dergleichen , als
wenn ſie alle Papiere in ihren Archiven durchſuch-
ten , und verſicherten heilig , daß ſie keine Spur
von einer Verkommniß faͤnden , die dem Ritter ein
ſolches Recht ertheile .
Er
Er trug mit deutſcher Treu des Vaters Schrift
ins Kloſter ; aber es war als wenn ihn die Patres
flohen . — Es zeigte ſich ein einziger hagerer langer ,
den er nicht kannte — der Ritter gab ihm die
Schrift — der Pater laſ ſie , buͤckte ſich tief , und
ſagte mit der Hand auf der Bruſt — Ihr Hoch-
wuͤrden und Gnaden , der Abt , und ein howuͤrdiges
Konvent , werden die Schrift reiflich bedenken . —
Aber uͤber 8 Tage wollte Ihr Hochwuͤrden
und Gnaden der Abt und ein hochwuͤrdiges Kon-
vent nichts von der Schrift wiſſen . —
Der Ritter ſtand da wie Loths geſalzenes
Weib , die Patres ſtoben und flohen von ihm weg ,
kreuzigten ſich , wenn er nur wieder zur Pforte
hinaus waͤr .
Der Ritter gehet die Halle auf und nieder ; in
einer Ecke an dem dunkelſten Orte erſcheint ihm
wieder der lange hagere Pater ; es war ihm er ſehe
ein Geſpenſt in dem Dunkeln des Gangs , er buͤckte
ſich wieder ſo tief , hielt die Hand wieder auf die
Bruſt , und ſagte zum Ritter : Er ſolle in Gnaden
verzeihen , ſeine Hochwuͤrdigen Obern koͤnnen ihm
dieſe ganz unſtatthafte , ſiegelloſe und nichtsbewei-
ſende Schrift um ſeiner Seele Heil willen nicht wie-
der zuruͤckſtellen , indem dieſelbige den wunderthaͤ-
tigen Gnadenſitz ihres Kloſters widerrechtlich bekuͤm-
G
mere , und ihre Bauern zu aufruͤhriſchen , laͤſterli-
chen Worten und Handlungen gegen daſſelbe ver-
fuͤhre , mit dem Zuſatz : daß das alles auf ſeine , des
Ritters Seele fallen wuͤrde , wenn er fortfahren
werde , ihre Unterthanen mit einer ſolchen falſchen
Schrift ferner gegen ihre leibliche und geiſtliche Ob-
rigkeit aufzuwiegeln . — Der Pater ſagte es , und
war' in ſeine Hoͤhle verſchwunden — Er that
wohl — der Ritter grif nach ihm eben da er ver-
ſchwand ; — aber er ſtieß ſich den Kopf an — lief
dann wie wuͤtend zu ſeinen Pferden , ſaß wieder auf ,
und ſagte im Reiten — Ha — meines Vaters
Schrift — eine falſche Schrift ! — von ihnen —
die ſein Brod eſſen ; gut , daß das H. ... ch mein
iſt , Großvater hat es Gott gegeben , nicht Sch ...n
— dann zog er aus , machte das Kloſter H im-
mel auf dem Boden eben , nahm ſeine Bauern und
ſein Land wieder zu ſeinen Handen , und ſtiftete
zur Ruhe ſeiner Seele ein ewiges Allmoſen , groͤſſer
als der Werth des Eingezogenen , ſchrieb an den
Biſchof was er gethan habe , und weil er des Kaiſers
Freund war , kam er nicht in den Bann . —
Der Meyerhof , der an dem Ort ſteht , wo das
Kloſter geſtanden , heißt izt noch der Himmelhof ,
und ſeine naͤchſte groſſe Matte , die Himmel-
matte . Es waͤchst herrlicher Klee auf der Mat-
te , zwanzig auserleſene Kuͤhe weyden auf ihr , und
izt ein einziger Ochs .
§. 25.
Grundſaͤtze zur Bildung des Adels .
Z oͤrnet es nicht , gute Kloͤſter ! ihr ſeyd nicht allein
diejenige , welche etwann zu Zeiten die Gewalt ge-
gen das Volk mißbraucht , und ihm etwann zu Zei-
ten eine Schrift hinterhalten habt , die euern Finan-
zen im Wege ſtund , ſelber die Nachkommen des
chriſtlichen Ritters haben Jahrhunderte lang aus
der Lebensgeſchichte dieſes Ritters , ihrem aͤlteſten
Familienſtuͤck , ein Geheimniß gemacht , weil die
Rechte und Freyheiten , die er ſeinen Bauern gege-
ben , alle darinn aufgeſchrieben waren , und ſie eben
ſo wenig als die Patres im Himmelauf , Lumpen-
bauern gerne Treu und Glauben hielten , und ihnen
Jahrhunderte durch eben ſo wenig behagte in die-
ſem Buche zu leſen ; die einfaͤltige , gutmuͤthige und
unverfaͤngliche Art , mit der er mit ſeinen Bauern
umgieng , wie er allem Streit vorbog , und haupt-
ſaͤchlich , wie wenig er zu ſeinem Edelmanns Auf-
wand , nach ſeinem Ausdruck , von dem Brod ſeiner
Bauern abſchnitt , und dabey ſein Haus doch aͤuf-
nete , wie kein Edelmann ſeiner Nachbarſchaft , und
daſſelbe weit uͤber diejenige emporbrachte , die un-
geſaͤttigt vom Brod ihrer armen Leuten , noch ſie
ſelber aufaßen . —
G 2
Dieſes alte Denkmal ihres Hauſes empfahl
Arner der Thereſe zum erſten Lehrbuch ihres Karls ,
mit den Worten : praͤg ihm fruͤh die alte Lehre ein ,
die Mittel , durch welche ſein Haus gegruͤndet wor-
den , werden auf immer die beſten ſeyn , es auch zu
erhalten . —
Dann ſezte er den Karl zu ſich auf das Bett ,
und ſagte ihm , er ſolle ſeiner Lebtag daran denken ,
daß ſein Vater ihn izt , da er nicht wiſſe , ob er
noch mehr leben werde oder nicht , ſo zu ſich auf
das Bett genommen , und ſo in den Haͤnden ge-
habt , und ihn gebethen habe , daß er ſo ein chriſt-
licher Junker werde wie der Großvater , und ſeiner
Lebtag nie ſuche zu ſchneiden , wo er nicht geſaͤet —
und ſeiner Lebtag nie ſeine Doͤrfer und ſeine Bauern
unbeſorgt und ungeleitet ſich ſelber und dem blinden
Gluͤck uͤberlaſſen , und ſo verwahrloſen wolle , daß
die armen Leute aufwachſen und werden muͤſſen
wie herrenloſes Geſindel . —
Dann that er das alte Buch auf , zeigte ihm
zuerſt die Figuren und Gemaͤhlde , die darinn ſind —
und dann die Rechnungen — und ſagte , Karl !
wir ziehen izt , wo der Großvater einen Gulden aus
dieſen guten Doͤrfern bezogen , mehr als zehen , und
duͤnkt es dich nicht auch , wir waͤren keine ehren-
veſte , rittermaͤßige und chriſtliche Edelleute , ſondern
vielmehr unedelmuͤthige , unchriſtliche und harte
Judenleute , wenn wir uns weniger Muͤhe geben
wuͤrden , dieſen guten Leuten zu einem vergnuͤgten ,
ſichern , harmloſen Leben zu verhelfen , als er in
ſeiner Zeit und in ſeinen Umſtaͤnden ſich Muͤhe da-
fuͤr gegeben ! — Uebrigens , ſezte er hinzu , thun
wir , was wir ihnen thun , nur uns , und eine jede
von dieſen fuͤnf hundert Haushaltungen muß uns ,
wenn wir auch auf nichts als auf unſern Nutzen ſe-
hen wollten , immer in dem Grade viel werther
ſeyn als wir wohl fuͤr ſie ſorgen , oder welches gleich
viel iſt , als ſie wohl ſtehet und in der Ordnung iſt .
— Glaube mir das , dieſe drey Stuͤcke gehoͤren
unzertrennt zuſammen . —
Dann wandte er ſich an den Rollenberger und
ſagte ihm , fuͤhren Sie ihn doch fleißig und immer zu
allem Schweiß und zu aller Muͤhe dieſer Leute ,
und rechnen Sie ihm anhaltend und umſtaͤndlich
aus , wie wenig ihnen in allen Theilen ihrer Wirth-
ſchaft und ihres Erwerbs reinen Vortheil uͤbrig
bleibe , und machen Sie ihn doch nie vergeſſen , daß
der reine Ertrag der Wirthſchaft ſeiner Leute und
ihr Hausgluͤck der einzige ſichere Maaßſtab ſey , wie
weit er fuͤr ſich und ſeine Unterthanen wohl regie-
ren werde ! —
Dann kam er auch auf die Ruhmſucht unſers
Zeitalters , und ſagte , er ſey ſo froh , daß er unter
ſeinen Haͤnden unmoͤglich koͤnne ruhmſuͤchtig wer-
G 3
den ; aber hingegen , fuhr er fort , guter , beſchei-
dener Mann ! muß ich euch ſagen , machet auch
daß er anderer Leuten ihrer Ruhmſucht nie Bock
ſtehe — ( aufhelfe , unterſtuͤtze ) — und ohne Furcht
ihn damit zu verderben , ſagte er in dieſem Augen-
blick zu ſeinem Karl , flieh du deiner Lebtag die Leu-
te , die du von unten auf ſehen muſt , ſie ſind nicht
fuͤr dich — und werde du keines Menſchen Knecht !
— — er redte aber nicht blos von der Knechtſchaft
des Leibs , ſondern auch von der Knechtſchaft des
Geiſts — und ſagte bald darauf — uͤber das Brod ,
um deßwillen der Menſch ſeinen Leib in die Knecht-
ſchaft giebt , iſt der ſtaͤrkere Meiſter , aber ein See-
lenknecht hat nicht einmal des Leibes Nothdurft vor-
zuwenden — glaub du nie , daß einer alles wiſſe —
es iſt das Loos des Menſchen , daß die Wahrheit
keiner hat — ſie haben ſie alle , aber vertheilt — und
wer nur bey einem lehrt , der vernimmt nie , was die
andern wiſſen .
Einen Augenblick darauf ſagte er , es iſt eine
boͤſe Zeit mit der Wahrheit , es meynt ein jeder ſein
Traum ſey dieſelbe , und ein jeder will ſeinen Traum
aufs Hoͤchſte hinauftreiben — und brauchte dann
hieruͤber den Ausdruck eines Manns , der , indem
er ſich ſelber zerreißt , aus dem Menſchen mehr zu
machen als er auf der Erde ſeyn kann , Goldkoͤrner
und Diamanten von Menſchlichkeit , Seelengroͤße
und Weisheit auswirft , die , wenn der Wurm der
Zeit das Richtige ſeiner Meynungen wird zernagt
haben , wie er das Richtige der Meynungen aller
Menſchen zernagt , noch Goldkoͤrner und Diaman-
ten ſeyn werden , und die , wann einſt die Zauberli-
nien die Welt im Menſchen mit Gott , und im Men-
ſchen ohne Gott zu vertheilen , und ſie vor der Zeit
in zwo Heerden zu ſoͤndern in ihre Beſtandtheile
aufgeloͤſt , und die Zahl und die Namen der Stuͤr-
mer dieſer Linien , wie die Zahl und die Namen ih-
rer Vertheidiger vergeſſen , und der Reiz ihres
Blendwerks auch von ſeinen Augen wird wegge-
fallen ſeyn , ihm noch den Dank unſers Geſchlechts
und die Aufmerkſamkeit der Nachwelt ſichern wer-
den . — Er ſagte nemlich zum Rollenberger mit
Lavaters Worten , „ ſorgen ſie , daß mein Kind
nie an keine Allgemeinheiten glaube , die nicht ir-
gendwo in einem Individuo in der Welt wirklich
exiſtiren . „
Den General , der vor ihm zu faſt in Thraͤnen
vergieng , zu beruhigen , ſagte er , er ſoll doch nicht
glauben , daß ſeine Krankheit nicht ſchon lange in
ihm gelegen ſey , und berief ſich auf den Pfarrer
von Bonnal , der ihm bezeugen werde , er habe ſie
ſchon vor Monaten voraus geſehen , und mit ihm
ſchon damals auf dem Bonnaler Riedt auf den Fall
ſeines Todes Einrichtungen und Abreden getrof-
fen .
G 4
Mit dem Pfarrer redete er von der Unſterblich-
keit der Seele , und ſagte , das Leben und Leiden
Chriſti ſey ihm ein groͤßerer Beweis davon , als
ſeine Auferſtehungsgeſchichte ; und die Gewißheit ,
daß der Menſch den ſtaͤrkſten Trieben ſeiner Natur
entgegen handeln und fuͤr andere leiden und ſterben
koͤnne , um ſich beſſer , groͤßer und vollkommner zu
fuͤhlen , als wenn er das nicht thun wuͤrde , ſey
ihm ein groͤßerer Beweis der Unſterblichkeit , als
alles , was man davon ſagen koͤnne . —
Der Lieutenant litt mehr , und ſaß niederge-
ſchlagener da , als am Abend der Schlacht , da er
ſein Bein verloren , und Stunden lang Niemand
fuͤr ihn da war , ihn zu beſorgen . —
Arner ſagte ihm , ſeyd ein Mann ! wenn unter
uns beyden einer ſterben muß , ſo iſt es beſſer ich
ſterbe . — Ihr kommet ohne mich fort , aber ich
wuͤrde ohne euch nicht fort kommen — Gott ſteh
euch bey ! Wann ich ſterbe , ſo iſt Bylifsky euer
Freund , und ihr bleibt der Freund meines Hauſes
und meiner Doͤrfer ! —
Der Pfarrer litt minder ; gewohnt am Tod-
bette der Menſchen nur das Druͤckende ihres nichti-
gen zu Grundgehens , und ihres ſeelenloſen Ausloͤ-
ſchens zu ſehen , war ihm auf eine Art wirklich
wohl um Arner . —
Nur erſt da er von ihm fortgehen und wieder
allein laſſen mußte , uͤbernahm ihn die volle Gewalt
des Schmerzens . Die Vorſtellung von ſeinem Ver-
luſt und dem Verluſt ſeiner Gemeinde , und den
Hofnungen , die er geſchoͤpft — und dem Zuſtand ,
dem ſie kaum halb entronnen , und in welchen ſie
izt wieder hinabſinken — das alles brachte ihn dann
am Abend , da er wieder allein war — und die
Nacht durch — faſt in Verzweiflung . —
§. 26.
Viele Menſchen wuͤnſchen Arner den Tod .
A rner fuͤhlte ſich dieſen Abend entkraͤftet , und
mußte allein ſeyn . Sein Fieber ward wieder ſtaͤr-
ker , und er traumte in ſeiner Hitze uͤber das nichti-
ge Schickſal der Menſchen — — — — —
— — — — — — — — — —
— — — — — — — — — —
— — — — — — — — — —
— — — — — — — — — —
Am Morgen lag er in einer Todes-Ermattung .
Sein Athem war kurz — ſeine Glieder erkaltet —
und alle Zeichen der aͤußerſten Entkraͤftung ſtiegen
auf das Hoͤchſte . — So verließen ihn der Pfarrer
und der Lieutenant , und fuhren auf Bonnal .
Das Volk des Dorfs , das aus allen Haͤuſern
herzuſtroͤmte zu fragen , wie es ſtehe ? ſahe ihre Au-
gen ausgeweint , und ihre Geſichter entſtellt wie tief
kranker Leuten — und verſtund ihre Antwort , ehe
ſie redten , ſie machten aber auch ſelber wenige Hof-
nung . — Viele Kinder weinten laut , und viele alte
Leute , welche die Kinder weinen ſahen , weinten
mit — und es war in dieſem Augenblicke unter dem
Volk nur Eine Stimme : „ Wenns doch nur Got-
tes Wille waͤr , daß Er wieder aufkommen wuͤrde !!
— Er ſey ein ſo braver Herr ! — „ und ein jedes
wußte in dieſem Augenblick etwas Liebes und Gu-
tes zu erzaͤhlen , das er ihnen und den ihrigen
erwieſen . —
Aber nur eine Stunde hernach war es ſchon
nicht mehr vollends ſo —
Sie achteten ihn izt alle ſo viel als todt . —
Sie hatten es von des Pfarrers Knecht , der auch
im Schloß war , ſelbſt gehoͤrt , daß man ihm die-
ſen Morgen ſo viel als auf das Ende gewartet ha-
be . In dieſem Glauben giengen ſie von der Kut-
ſche weg ; und als ſie heimkamen , ein jedes in ſeine
Stube , und anfiengen auch denen zu erzaͤhlen , die
daheim geblieben waren , und die Menge der wei-
nenden Kinder , und die entſtellten Geſichter des
Pfarrers und des Lieutenants nicht mehr vor ih-
ren Augen hatten — und der erſte Eindruck der
Neuheit und des Theilnehmens vorbey war —
waren die Leute bald da — daß ein jeder , juſt ſo
wie ihm ſein Kopf ſtund , und wie ihm ſein Herz
ſchlug , ſich dieſe oder jene Gedanken machte , und
dieſe oder jene Vorſtellungen hatte , wie es dann
auch kommen werde , wann er todt ſey ? —
Und ſchneller als der Faden der Spinne , ent-
ſpannen ſich in den Koͤpfen der Leute die ſonder-
barſten Gedanken — und reger als das Kroſſeln
vieler Krebſe in einem Kratten regten ſich in ihren
Herzen die ſonderbarſten Begierden , und verdeck-
ter als hinter Buſch und Schilf und unter den
Halmen des Roggens ein Ausreißer da liegt , zit-
tert ſich zu zeigen , und doch immer weiters vorruͤckt
wohin er zielet , ſo ſteckte hinter dem Spinnen der
ſonderbaren Gedanken , und hinter dem Regen der
ſonderbaren Begierden ein abſcheulicher Wunſch ,
der ſich zitterte zu zeigen , und doch immer weiter
vorruͤckte , wohin er zielte . —
Wer etwas gerne gehabt haͤtte , und weil er
lebte , nicht dazu kommen konnte , der dachte , ich
komme dann dazu . —
Wer etwas nicht gerne ſah , oder nicht gerne
hatte , und nicht aͤndern konnte , weil er lebte , der
dachte , es hoͤrt dann auf . —
Das war der Anfang — dann kamen ſie wei-
ter zu denken — in Gottes Namen , er iſt auch ein
Menſch , und muß auch ſterben wie ich — und wie
alle andere — ich kann ihm nicht helfen . —
Andere druͤckten ſich ſo aus — es ſcheint doch ,
es koͤnnte noch kommen , wie der Jaͤger es geſagt
hat , daß die alte Ordnung vor dem andern Jahr
wieder Meiſter werden muͤſſe . —
Wieder andere — es iſt ein Laͤrm , wie wenn
ein Koͤnig ſterben wollte ! — zulezt wird kein Pflug
ſtill ſtehen , wann er nicht mehr iſt . —
So wurden die Gedanken nach und nach im-
mer haͤrter und ſchlechter , und hie und da floß ſo
gar ein Wort , ich will es dem oder dieſem denn
auch zeigen , wann es ſo kommt . —
Die Vorgeſezten hatten es ihm nichts weniger
als vergeſſen , daß ſie mit dem Hut in der Hand ,
und auf den Knien ihre Armen um Verzeihung
hatten bitten muͤſſen — und von denen , die Geißen
von ihm hatten , dachten nicht wenige , ſie muͤſſen
ſie ihm dann nicht mehr bezahlen . —
Mit jeder Stunde ſagten ihrer mehrere , es
wuͤrde einmal viel wieder anderſt kommen , und
anderſt werden , wann er todt waͤre ; und die ſo
es ſagten , hatten ſicher alle in dem oder dieſem
Stuͤck einen Grund , warum ſie es ſagten , und wa-
rum ſie es wuͤnſchten , und ſagten es ſich nur um
deßwillen , weil ſie es wuͤnſchten . —
Aber der Menſch iſt in ſolchen Faͤllen gar hoͤflich
mit ſich ſelber , und glaubt nichts weniger als et-
was dergleichen von der ehrlichen Chriſtenhaut , in
der er ſteckt , und die er ſo wohl kennt . — So iſt
es in aller Welt , ſo war es auch hier . — Dem
Schlimmſten traumte es nicht , daß er das wuͤnſche ,
oder nur den geringſten Gedanken davon in dem
hinterſten Schlupfwinkel ſeines Herzens habe . —
Die guten Leute ! ſie konnten ja nichts wider
Gottes Willen , und wenn ſie ein Kraut oder ein
Pulver , das fuͤr den Tod gut iſt , gehabt oder ge-
wußt haͤtten , ſie waͤren dennoch darnach gelaufen
und haͤtten's ihm gebracht oder gegeben , wenn denn
das , was ſie etwan gewuͤnſcht , ſchon nicht anderſt
gekommen waͤr . —
Ich weiß nicht — vielleicht waͤren doch nicht
alle gelaufen . —
— Es greift immer weiter — es wird immer
lauter , ein freches und hie und da laͤchlendes Re-
den unter den Weibern und Maͤnnern — ich will
gerne ſehen , wie es noch koͤmmt . —
Es zeigt ſich , die Menge fuͤrchtet ihn ſchon
izt nicht mehr , weil er im Bett liegt . —
Man reichte , was bey Monaten nie mehr
als im Geheim bey Nacht und Nebel geſchah ,
izt bey hellem Tage , Wein uͤber den Berg zum
Saufen . —
Es ſpielten Buben die Nacht durch mit Kar-
ten . —
Die Weydhirten fuhren am Morgen im Nebel
in die Einſchlaͤge der Armen .
Die Reichen lachten ungeſcheut daruͤber , und
ſagten , den Armen zu kraͤnken unverhohlen , es
ſcheint , die Buben merken es ſchon , wie es etwann
bald wieder kommen moͤchte . —
Von den Armen dachten ſchon mehr als die
Haͤlfte , es iſt aus mit unſerm Traum — und ihrer
viele ſagten , das Gluͤck hilft nur denen , die etwas
haben . —
Arme Leute ! iſt denn eine gute Obrigkeit nur
ein Gluͤck ? — Anmerkung . Das Wort Gluͤck hat natuͤr-
licher Weiſe hier keinen andern Sinn als
Loos in der Lotterie — hazard — ꝛc .
Der Kienaſt mit den vielen Kindern glaubte
auch , mit den geſchenkten Frohndienſten und dem
Buͤrgerholz ſey es dann aus , die Vorgeſezte geben
ihm dann nichts mehr — und dem Untervogt , der ,
ſeit dem der Junker zu ihm geſagt , er koͤnne mit
einer jeden Frau im Dorf mehr ausrichten als mit
ihm , vom Morgen bis in die Nacht nachgedacht ,
wie er mit Ehren wieder koͤnnte vom Dienſte kom-
men , dem wars izt nicht mehr ſo — wenn er todt
iſt , dachte er , ſo ſagt er mir nichts mehr derglei-
chen , und es ſchien ihm , es moͤchte ihm dann bey
der Stelle recht wohl ſeyn , wann er des Meiſters
los waͤre . — Auch fragte er jedermann , der vom
Schloß in das Dorf kam , ob es auch gewiß wahr
ſey , daß es ſo uͤbel mit ihm ſtehe ? und gar keine
Hofnung zum Aufkommen mehr da ſey ? — Er
war auch , ſo lange er den Mantel trug , nie ſo
guten Muths als izt . —
§. 27 .
Was die Meyerin zur Braut macht .
U nd ſeine Frau meynte , es koͤnnte izt gar mit dem
Sonnenwirth gerathen . — Es kann nicht anderſt
ſeyn , ſagte ſie , ſie hat dem Lumven Rudi nur um
des Junkers willen Hofnung gemacht , und weil es
izt ſo iſt , ſo iſt ſie gewiß froh , wenn der Sonnen-
wirth ſich wieder meldet .
Es wird ſich , wohl geben , wenn er todt iſt ,
ſagte ihr Mann , ſie aber antwortete , du kommſt
immer mit deinem „ Es wird ſich wohl geben „
Du Narr ! es giebt ſich nichts , als das , was man
macht — und mit deiner Schweſter warten , bis er
todt iſt , heißt juſt den Wagen vor das Roß ge-
ſpannt , und dann wollen fahren — du ſollteſt dich
ſchaͤmen , dreyßig Jahre eine Schweſter zu haben ,
und ſie nicht beſſer zu kennen . —
Du zankeſt immer , und zankeſt ob allem , ſagte
der Untervogt — und ſie — es iſt doch wahr , man
muß blind ſeyn , in den Tag hinein zu reden wie
du redeſt , kommt dir dann nicht auch in den Sinn ,
ſie ſcheue ſich , wenn der Junker todt iſt — und
wolle dann nicht den Namen haben , daß es ſey wie
es iſt . Nein , wenns gerathen muß , ſo iſt izt die
rechte Zeit , weil ſie noch mit Ehren kann umkeh-
ren . —
Der Vogt an ihre Sprache ſo gewoͤhnt als an
ſeine Mittagsſuppe , ſagte kein Wort daruͤber , als :
darinn haſt du izt recht . —
Hab ich recht , erwiederte die Voͤgtin ? Es iſt
mir lieb , daß du es merkſt — aber es iſt nichts zu
verſaumen — geh doch , ſo geſchwind als du kannſt ,
rede noch einmal mit ihr — aber mache deine Sa-
che beſſer als das Leztemal meine Waͤſcherin . —
So ſchickte ſie ihn — doch ſezte ſie noch hinzu
— die Stunde iſt vielleicht ſo gut , daß ſie izt froh
iſt , wenn du kommſt . —
Er
Er gieng' , aber er bekam von ſeiner Schwe-
ſter zur Antwort — ſie brauche keine Anſchicksmaͤn-
ner , wie ſie ihm ſchon einmal geſagt , und er ſolle
nur ſchweigen , ſie verliere kein Wort mit ihm uͤber
dieſen Punkt . —
Es machte ſie wild , beydes , daß ſie glaubten ,
ſie nehme den Rudi nur um des Junkers willen ,
und denn , daß ſie izt wie Schelmen des guten
Herren ſeine Krankheit dazu brauchen wollen , ſie
dem armen Rudi auf eine ſolche hinterliſtige Art
abzujagen , und gleichſam abzuſtehlen .
Nein ! erſt izt muß er mich haben , ſagte ſie zu
ſich ſelber — ſo bald ihr Bruder , der mehr aus-
richten ſollte , und minder ausrichtete , als ſeiner
Frauen Waͤſcherin wieder fort war . —
Und ich will ihnen izt zeigen , ſezte ſie hinzu ,
daß ich ihn nicht um des Junkers willen genom-
men — aber weil es ſo iſt , und ſie es ſo machen ,
ſo muß es izt ſeyn — er hat lange genug gewar-
tet — ſo ſagt ſie — ihr Herz ſchlaͤgt — ſie ſtaunt
— Thraͤnen fallen uͤber ihre Wangen — und ſie
ſagt wieder — ich will ihn in Gottes Namen neh-
men — ſtaunt wieder — denkt izt nicht mehr an
den Vogt , und nicht mehr an die Voͤgtin — und
eben ſo wenig , wie ſie zu dem Entſchluſſe ihn izt
heute zu nehmen gekommen ſey — ſie ſieht ihn izt ſel-
H
ber vor ihren Augen , und ſeine Kinder , und ſeine
Stube , bis auf die Helgen ( Kupferſtiche ) die an
der Wand hangen — ſie ſtaunt wieder — Thraͤnen
fallen auf Thraͤnen — ſie verriegelt die Thuͤre —
ſizt nieder zum Tiſch — ſie nimmt ihn — ſie nimmt
das Gebethbuch von der Wand , und bethet laut
das Gebeth einer Tochter , die in den Ehſtand tre-
ten will ; legt dann ihren Kopf uͤber ihre Haͤnde ,
und uͤber das Buch , netzet beyde mit Thraͤnen ,
und bethet noch ſelber , daß Gott ihren Entſchluß
ſegne und heilige ; ſtehet dann wieder auf , trocknet
ihre Augen , fuͤhlt ſich mit ſich ſelber zufrieden , und
ſagt , ich will in Gottes Namen izt zur Gertrud ,
kleidet ſich langſam an , trocknet noch manchmal
ihre Augen — und geht . —
§. 28 .
Ein Mißverſtand .
G ertrud dachte an nichts weniger , als daß ſie eine
gute Botſchaft haͤtte ; ſie war vielmehr unzufrie-
den , daß ſie den guten Rudi ſo lange aufziehe ;
und da ſie ſie langſam und ſtaunend die Gaſſe hin-
auf kommen ſah , dachte ſie wirklich mit einer Art
von Unwille , was hat ſie izt wohl im Kopfe ? und
gieng nicht einmal ihr fuͤr die Thuͤr entgegen .
Das Herz war der Meyerin ſo voll — ſie ſezte
ſich nieder , wie wenn ſie krank waͤre , und ſagte leiſe
und ſchnaufend — wie eine kurzathmende Frau ,
die gar bange hat — zur Gertrud , du ! ich habe
mich in Gottes Namen entſchloſſen , ich will ihn
nehmen . —
Dieſe verſtund es vom Sonnenwirth , und
antwortete mit einem Gemiſch von Unwillen und
Wehmuth , ich haͤtte dir das nicht zugetraut . —
Ae — was haͤtteſt du mir nicht zugetraut ?
ſagte die Meyerin , die nicht wußte , was ſie meynte . —
Daß du den Mantel ſo nach dem Wind haͤn-
gen wuͤrdeſt , erwiederte dieſe . —
Meyerin . Ae — wie haͤng ich den Mantel
nach dem Wind ? — Haſt nicht verſtanden was ich
ſage ? oder was ſteckt dir im Kopfe ? —
Gertrud . ( Noch immer im Irrthum ) Du
machſt ſo viel Fragen — ich wuͤßte nicht , auf wel-
che ich dir lieber antworten moͤchte . —
Meyerin . So biſt du mir noch nie begeg-
net — was iſt das ? —
Gertrud . Es thut mir auch weh , daß du
juſt , weil der Junker krank iſt , das thuſt , und ſo
einsmals den Sonnenwirth nimmſt . —
Izt verſtund ſie die Meyerin , ſchwieg einen
Augenblick , und ſagte dann laͤchelnd : izt redeſt du
H 2
doch auch , daß man dich verſteht , vorher habe ich
nicht gewußt , was du meynſt ? —
Gertrud . Izt mit naſſen Augen — und
du lacheſt noch ? —
Meyerin . Ich habe Urſache . —
Gertrud . Schweige ! du haſt keine — und
macheſt mich boͤs . —
Meyerin . Ich will dich dann auch wieder
gut machen .
Gertrud . Du kannſt noch ſpotten ? So
wareſt du nie ! —
Meyerin . Siehe , ich hab es nur im Spaß
geſagt , er weißt es noch nicht , wann du wieder
gut mit mir biſt , wer weißt , was ich dir noch zu
Gefallen thue ! —
Gertrud . Du machſt mich wild ! —
Meyerin . Und du mich lachen — merkſt
auch nicht , daß du im Traum biſt ? —
Gertrud . Wie im Traum ?
Meyerin . Ich will den Sonnenwirth nicht —
Gertrud . Ae — was hab ich denn gehoͤrt ?
— und einen Augenblick darauf — Herr Jeſus !
— haſt vom Rudi geredt ? —
Izt war ſie aus ihrem Traume , und fuͤhrte
die Meyerin bald zu ihrem lieben Rudi . —
§. 29 .
Die Brautſtunde einer Stiefmutter .
E r haſpelte eben das Garn ſeiner Kinder , aber der
Haſpel ſtund ihm in der Hand ſtille , wie die Augen
im Kopf , als ſie in die Stube hinein kamen . — Er
ſaß da wie angenagelt , und konnte die Hand nur
nicht zur Kappe ( Muͤtze ) hinaufbringen , ſie abzuzie-
hen . — Die Meyerin ſaß neben ihn ab , und Ger-
trud ſagte zu ihm — ſie iſt izt dein ! — Eine Weile
war alles ſtill — die Kinder ſtunden von ihren Raͤ-
dern auf . — Gertrud ſagte ihnen , ſie iſt izt euere
Mutter ! — Dann ermunterte ſich die Meyerin , ſtund
auf , gab den Kindern einem nach dem andern die
Hand , und ſagte , liebe Kinder , geb uns Gott ſei-
nen Segen bey einander ; dann ſagte auch Ger-
trud , und der Rudi , der die Hand der Meyerin in
ſeinen beyden Haͤnden hielt — das gebe Gott ! —
Es war das erſte Wort , das er redte , und lange
darauf ſagte er noch kein anders . Seine Stille ge-
fiel der Meyerin ; ſie ſagte ſelber zu den Kindern , wir
wollen doch izt nicht viel reden ; aber ſie blieb den
ganzen Abend da , und ſo bald es ihr der erſte Ein-
druck zugelaſſen , ſagte ſie zur Gertrud , ſie ſolle doch
izt nichts anruͤhren , es freue ſie izt ein paar Stunden
zu thun , als wenn ſie ſchon eingeſeſſen waͤre ; dann
H 3
nahm ſie dem Rudi den Haſpel , und ſagte , es geht
dir izt doch nicht recht — haſpelte munter darauf
los , half den Kindern an ihren Raͤdern wo es fehl-
te , flochte zweyen die Zoͤpfe , kochte der Kleinen den
Brey , gab den Engelkind auf ihrem Schooß zu
eſſen , zog es dann ab , hielt es eine Weile nackend ,
wie die Mutter Gottes den lieben Heiland , auf
ihrem Arme — machte dann daſſelbe ſeinen Ge-
ſchwiſterten alen gute Nacht ſagen , hielt ihm das
Koͤpfgen an ihre Backen , ſie kuͤßten daſſelbe alle —
und es machte allen Ae — Ae — dann that ſie es
ins Bett , konnte faſt nicht von ihm weg , und ſang
ihm noch bis es entſchlafen war . Der Rudi ſtand
bey allem hinter ihr her wie ihr Schatten . — Doch
als ſie fortgehen wollten , machte er ſeine Kinder
aufſtehen , und der Gertrud danken — aber er hatte
ein ſilber und vergoldetes Halsband mit Granaten
und Bollen in einem Papier in der Hand — Ach ,
mein Gott ! er hatte es unter der Frauen ſelig einer
reichen Baͤurin verſezt , und izt , da er es konnte ,
auf dieſen Fall wieder heraus geloͤſt , und dachte
wohl tauſendmal , ſo oft er es anſah , wanns auch
die Frau ſelig wuͤßte , daß ich wieder dazu gekom-
men , es wuͤrde ſie doch auch freuen . — Aber er
dorfte das Papir der Meyerin faſt nicht geben , ſie
merkte es , und fragte ihn noch ſelber , was haſt
du da in den Haͤnden ? — Nahm ihm es ab —
und trug es den lieben Rudi zur Freude am Hals
heim , pfluͤckte dann noch in ſeinem Garten Blu-
men , und trug ſie in einem Koͤrbchen , das auch
ſein war , mit ſich heim .
§. 30.
Schleck ' Salz — ſo duͤrſtets dich —
D as Weib , das mit den Fehlern und Schwaͤchen
ihres Geſchlechts , noch die Roheit und Haͤrte des
maͤnnlichen verband — die Voͤgtin — ahndete
nichts weniger als daß izt ſo etwas begegne , ſie
meynte vielmehr die Antwort , „ ſie brauche keinen
Anſchicksmann “ u. ſ. w. wolle nur ſo viel ſagen ,
wenn der Vetter etwas mit ihr wolle , ſo ſoll er ſel-
ber kommen ! — Flugs ſandte ſie uͤber den Berg ,
und der , den ſie ſandte , brachte den Vetter hinuͤ-
ber . —
Die Meyerin fand ihn , da ſie heim kam , vor
der Thuͤre ſtehen . — Es duͤnkte ſie doppelt ſo un-
verſchaͤmt als die Anfrage am Morgen , doch war
ſie freundlich , machte ihn in die Stube hineinkom-
men , und er hatte ſchon gute Hofnung — als ſie
ihn izt fragte , was er Guts wolle ? —
Er muͤſſe ihr einmal , war ſeine Antwort , uͤber
die Sache , die ſie wohl wiſſe , und die er ſchon lange
an ſie geſucht habe , noch einmal etwas ſagen . —
H 4
Du kommſt mir eben recht , erwiederte die
Meyerin , ich habe dir juſt auch etwas daruͤber zu
ſagen — dann that ſie das Koͤrbchen auf , das ſie
unter dem Arme getragen , nahm friſche Roſen her-
aus weiße und rothe , Roſmarin und Majoran , und
ein großes dunkelgelbes Nelken , buͤſchelte einen
Straus , band' ein buntes Band darum , und lach-
te immer darzu . —
Der Ochſenfeißt wußte nicht , was das abgeben
wollte ; endlich war ſie fertig , gab ihm den Strauß
— und ſagte — da haſt du den erſten , den ich ma-
che , ſeit dem ich Braut bin — die Blumen gehoͤ-
ren dem Rudi , du kannſt ihm dann an der Hochzeit
danken . —
Der Ochſenfeißt that das Maul auf , und haͤng-
te es hinab , daß die Meyerin fuͤrchtete , es falle an
Boden hinunter . —
Sie lachte fort — und er kam mit Zeit und
Muͤhe dahin , zu ſagen — wenns ſo iſt — ſo bin
ich doch heut wohl vergebens gelaufen . —
Biſt du ſo gar muͤde geworden ? erwiederte
die Meyerin . —
Das eben nicht , ſagte der Ochſenfeißt , aber
es iſt doch weit und ein wuͤſter Weg . —
Jaͤ — aber denk' , ich habe dich nicht heißen
kommen , bey dem ſchlechten Weg , ſagte die Meyerin .
Mit dem gieng er . — Die Untervoͤgtin warf
ihm ſeinen Strauß mit ſamt dem Band zum Fen-
ſter hinaus auf den Miſt . — Ihr Mann ſagte , es
iſt izt aus — der Sonnenwirth ſezte hinzu — Katz
und d' Maus .
§. 31.
Zwey Schulmeiſterherzen .
D er Gedanke , es nimmt alles wieder ein Ende ,
wenn er die Augen zuthut , griff immer weiter ,
und hatte immer mehrere Folgen . Da die Kinder
aus der Schule ihren Aeltern daheim erzaͤhlten ,
der Lieutenant habe immer rothe Augen , und
weine faſt den ganzen Tag , gaben ihrer viele
ihnen zur Antwort , er hat wohl Urſach , ſein
Brodkorb iſt auch dahin , wenn der Junker todt
iſt . —
Aber bleibt er dann nicht mehr unſer Schul-
meiſter ? ſagten die Kinder , und es war ihnen ſo
angſt ! —
Wer wollte ihn bezahlen ? erwiederten die
Aeltern ; und viele ſezten hinzu , er kann dann auch
wieder ſpatzieren woher er gekommen . —
Das that den Kindern ſo weh , ſie konntens
nicht alle glauben , und redten mit einander ab ,
ſie wollen ihn ſelber fragen , das ſey das aller-
beſte .
Ihm zerſprengte es faſt das Herz , als ſie nach
der Schule mit naſſen Augen vor ihm zu ſtunden ,
und das ihm naͤchſte Kind mit ſichtbarem Zittern zu
ihm ſagte , ſie doͤrfen ihn faſt nicht fragen , aber
es ſey ihnen auch ſo angſt , er ſolle ihnen doch ſa-
gen , wenn der Junker ſterbe , ob er dann nicht
mehr ihr Schulmeiſter ſeyn koͤnne ? — Er mußte
ſich umkehren , Luft ſchoͤpfen unter dem Fenſter —
ſein Athem toͤnte wie eines Menſchen , der einen
großen Berg hinunter gejagt worden , und izt den
erſten Augenblick ſtille ſteht . — So bald er reden
konnte , kehrte er ſich wieder um , ſtreckte die Haͤn-
de gegen ſie aus , wie wenn er ſie alle darein neh-
men wollte , und ſagte dann , wohl Kinder ! auch
wenn es Gott gefallen ſollte , den Junker nicht
mehr aufkommen zu laſſen , will ich doch bey euch
bleiben — dann druͤckte er allen die Hand — und
er fuͤhlte , weißt Gott , daß die meiſten ſchwizten —
Wie ihm das zu Herzen gieng — und wie die Kin-
der ſo freudig heimgiengen ! —
Aber viele Aeltern durften ihnen noch ſagen ,
pochet nicht zu laut , wenn er ſchon will bleiben ,
es iſt denn die Frage , ob er es koͤnne ? Aber die
Kinder glaubten dem Schulmeiſter , und pocheten
fort . —
Indeſſen traͤumte ſich der alte Schulmeiſter
wieder in ſeinen Platz , und ließ ſich verlauten , die
Krankheit Arners , und ſein fruͤhzeitiger Tod , ſey
ein ſichtbares Strafgericht fuͤr ſeine Entheiligung
der Kirchen und Schulen . —
§. 32 .
Es faͤngt ſich an zu zeigen , daß der Baum
Wurzeln hat .
A ber habt nicht bange , lieben Leute , ihr wiſſet ja ,
daß der alte Schulmeiſter ein Narr iſt — ſo ohne
Schwertſtreich geht Arners Ordnung nicht verlo-
ren , auch wenn er ſterben ſollte ; und ihr wiſſet ja
noch nicht einmal das . — Hoͤret einmal was izt
begegnet . —
Da die Spinnweiber zum Mareili kamen —
und demſelben klagten , was man ſage und was ſie
hoͤren , und wie uͤbel es waͤre , wenn es kommen
wuͤrde , wie man ſage und meyne , gab es ihnen zur
Antwort — wenn ſo leicht ein Kraut zu finden
waͤre dem Junker zu helfen , als es fuͤr das , was
ihr fuͤrchtet , Mittel und Wege hat , ſo haͤtte ich izt
etliche Naͤchte mehr geſchlafen , als ich nicht ge-
than . —
Ja , ja , wenn du wuͤßteſt , was man aller Or-
ten ſagt , und wie viele Leute izt ſchon zeigen , daß
ſie darauf warten und blangen ( ungeduldig ſind )
bis es wieder anderſt werde — erwiederten die
Weiber . —
Und das Mareili gieng zur Stunde zu ſeinem
Bruder in die obere Stube , und ſagte zu ihm , ich
bin izt 20 Jahre bey dir , und habe noch nie nichts
von dir begehrt , und was mein iſt , iſt dein —
aber izt muſt du dich angreifen , und zeigen , daß
du nicht mehr der Bettler Marti biſt . —
Was willt du mit dieſer Vorrede ? ſagte der
Meyer . —
Ha — ich will darmit , du muͤſſeſt machen ,
daß wenn in Gottes Namen der Junker , wie man
fuͤrchtet , zum Sterben kommen ſollte , der Schul-
meiſter da bleiben koͤnne , und die neue Ordnung
nicht gleich wieder zu nichten gehe . —
O — dafuͤr haſt du mich nicht zu bitten —
erwiederte der Meyer — ich bin mir ſelber nicht ſo
feind , daß ich eine Schul und Einrichtungen ſo
leicht wieder zu Grund gehen laſſe , die meine Ar-
beiter ſo weit in eine Ordnung und fuͤr ſich gebracht
haben , als ich ſie ohne Hilfe mein Lebtag nicht
haͤtte fuͤr ſich bringen koͤnnen . —
Er ſezte hinzu , wenn ich ihn allein bezahlen
muͤßte , ich wuͤrde ihn nicht fortlaſſen , aber in ſol-
chen Faͤllen thut man immer beſſer , man mache ,
daß die andern auch wollen —
Das iſt wahr , ſagte das Mareili , und gieng
innig mit ihm zufrieden , auf der Stell zur Reinol-
din , auch mit ihr daruͤber zu reden .
Es verſteht ſich , antwortete dieſe , ehe es kaum
halb geſagt hatte , was es wollte , daß er nicht wie-
der fort muß — ließ es ſtehen , und ſprang hin-
aus zu ihrem Mann , der eben bey einem kranken
Hauptvieh im Stall war . —
Dieſer antwortete ihr uͤber ſeine Kuͤhe heruͤber
— ja freylich , wie du willt ! —
Ja — aber wir muͤſſen mit deinem Vater
daruͤber reden , erwiederte die Frau , ihm darf es
Niemand abſchlagen , willt du nicht mit uns kom-
men ? —
Ich will nur auch zuerſt mit der Kuh fertig
machen , ſagte der Mann . —
Und die Frau — aber es geht doch nicht lang ?
Es gieng nicht lang , und ſie nahmen das
Mareili mit ſich . —
Ihr Anbringen freuete den Alten ſo ſehr , daß
er ihnen ſagte , er wiſſe ſich nicht zu gedenken , daß
ihm vor Freude das Herz ſo geklopft haͤtte wie
izt . —
Er zog alſobald eine neue warme Kappe uͤber
die Ohren , ſezte den Hut daruͤber auf , nahm war-
me Handſchuh , und ſeinen Stab aus dem Kaſten ,
und gieng . —
Ae — was will doch der Großvater , daß er
bey dem ſchlechten Wetter zu uns kommt ? fragte
ihn ein jedes , wo er zuſprach — und wo er zu-
ſprach , war er der liebe alte Mann , der jedermann
gedient , und den jedermann in Ehren hielt — er
war der Reichſte , und obgleich ſchon alt , ſo war
kein Haus , in welchem Mann und Frau , ſo bald
er ſagte was er wollte , einander nicht anſahen , und
Winke ſich gaben , es gelte ſich zu beſinnen , was
man antworte , und man doͤrfe es ihm nicht ab-
ſchlagen . —
Er bettelte nicht , er ſagte die Sach , und ſezte
hinzu , die Sache iſt ſo noͤthig und gut , und es ſind
unſer uͤber die zwanzig Bauern , die das wohl koͤn-
nen , und die , wenn ſie es nicht thun , an ihren
Kindern und am ganzen Dorf auf eine leichtfertige
Art ſich verſuͤndigen — ich hoffe , ihr ſchlaget es
mir nicht ab ; aber ich ſage es zum voraus , wenn
mir einer abſchlagt , ſo muß es doch ſeyn ; ich will
es denn fuͤr ihn thun , und ſeinen Kindern und dem
Dorf zum Allmoſen geben , und es muß mir denn
ſo eingeſchrieben werden . — Aber es ließ ſich das
Niemand zum Allmoſen einſchreiben — mancher
ſchuͤttelte zwar wohl den Kopf , und haͤtte es ſicher
Niemand anderm eingeſchrieben , aber ihm ſchlug
es Niemand ab , und der Rodel war , ehe die Son-
ne untergegangen , vollſtaͤndig . —
Es ſcheint ein Miſchmaſch durcheinander —
die Freude der Leuten , daß es wieder anderſt kom-
me , wenn der Junker ſterbe — und das leichte
Vollmachen dieſes Rodels .
Aber das Thun aller Menſchen iſt ſo ein Miſch-
maſch , und das Unbegreiflichſte , das der Menſch
mit ſich herum traͤgt , iſt die Schwaͤche , mit der er
in tauſend und aber tauſend Faͤllen um nichts und
aber nichts ſich dahin bringen laͤßt , zu thun , was
ihm in der Seele zuwider iſt . —
Ach , es braucht ſo wenig einen ganzen Haufen
Menſchen nach ſeiner Pfeife tanzen zu machen , daß
mir ein Baͤrenfuͤhrer ein anderer Kerl iſt , als einer ,
der die Menſchen tanzen macht .
Im Grund aber , wenn ſchon viele dieſes oder
jenes gerne in der alten Ordnung gehabt haͤtten ,
ſo wars doch nicht an dem , daß ihrer viele die ganze
alte Ordnung wieder zuruͤck gewuͤnſcht haͤtten , das
durfte nur Niemand ſagen ; und es waren immer
noch die Mehrere , und die Stillen und Armen alle ,
welche aufrichtig wuͤnſchten , daß alles ſo bleibe . —
Der Alte brauchte auch die Liſt , wenn er ſchon
den Weg doppelt machen mußte , daß er zuerſt zu
denen gieng , die es gerne thaten ; er wußte wohl ,
wann es einmal einen Anfang habe , ſo ſchrieben
ſich die andern auch ein — wie die Gaͤnſe gagen
— er war immer ſein Lebtag in guter Laune , und
hatte immer mit den Leuten Spaß — und auch izt
ſagte er etlichen , wenn ſie ihre Federn abgelegt ,
und er ihre Tolgen-Namen auf dem Papier getrocknet
im Sack hatte , wiſſet ihr izt auch , daß ihr euch
dem Baumwollen Meieli , und nicht mir , unter-
ſchrieben ? — Ae ( Ey ) — wie das — wie das ?
Es wird etwa nicht ſo ſeyn , ſagten Maͤnner und
Weiber . — Wohl freylich , antwortete der Reinold ,
laßt es euch nur nicht gereut haben , es hat mich
dafuͤr angeſprochen , daß ich mit euch rede , und
es und ſein Bruder haben zuerſt verſprochen , aber
ſie wollen dann zulezt unterſchreiben .
Das wurmte nicht nur einem ſo , daß er mit
Kopfſchuͤtteln ſagte , wenn er das gewußt haͤtte , daß
die Bettlerherrin darhinter ſteckte , ſo haͤtt' er es ge-
wiß nicht gethan .
Ein Mann , der kein Narr war , gab ihm zur
Antwort — du biſt nicht ſchuld — deine Sohns-
frau und das Mareili ſchicken dich im Dorf her-
um ; ohne ihren Weiberbund wuͤrdeſt du izt daheim
ſitzen und die Haͤnde am Ofen halten . — Der
Alte
Alte mußte lachen , und trug den Weiberbund her-
um , wo er hinkam . —
Und das Baumwollen Mareili ſagte , ſo bald
es von dieſem Bund hoͤrte — izt , weil mans ſagt ,
iſts eben recht ihn zu machen ; und was vorher nicht
beſtimmte Abred war , das war es izt . — Die
Reinoldin , die Meyerin , Gertrud , und es ver-
banden ſich izt foͤrmlich zuſammen , es moͤge nun
mit dem Junker kommen wie es wolle , im Dorfe
alles daran zu ſetzen , daß die Sachen bleiben , wie
ſie ſeyen , und wie ſie der Junker angefangen und
haben wolle . —
§. 33 .
Ein Phantaſt , der auf eine Religions-
wahrheit kommt — und ein Pfarrer ,
der ſich auf der Kanzel vergißt , und
nur wie ein Menſch redt .
D er Bund machte allen Leuten Gedanken . —
Wer haͤtte auch das gemeynt ? ſagten Maͤnner und
Weiber — aber die groͤſte Betruͤbnis daruͤber hatte
der alte Schulmeiſter . — Der arme Tropf fand
heute nicht mehr wie geſtern , es ſey ein Wunder
vom Herrn , daß Arner auf dem Todbett liege —
J
er lobpreiſete auch den Namen des Herrn heute nicht
mehr ſo laut mit dem Maul — er ſagte es nicht
mehr , die Wege des Herrn ſind richtig und recht
— er ſagte nur , ſie ſind unerforſchlich . —
Das findet zulezt auch der Thor , wenn es ihm
nicht geht wie er will — aber wer Gott nicht fuͤr
einen Menſchen , und nicht fuͤr ein Kind achtet , der
findet es immer — und meynt nie , er wiſſe was
Gott mache , oder was er wolle .
Aber der aberglaͤubiſche Menſch und der Goͤ-
tzendiener weißt das immer — es iſt ihm nie ver-
borgen , was Gott thut , und was der will , der die
Himmel regiert . — Es iſt ihm nichts unerforſch-
lich und nichts verborgen als das , was ihm vor
der Naſe liegt . —
Mitten in allem dieſem floſſen viele ſtille Thraͤ-
nen fuͤr den kranken Mann — viele Gebethbuͤcher
wurden naß , die bey Jahren nie naß geworden ,
und viele hundert Menſchen lagen ſeinetwegen
Naͤchte durch ſchlaflos . — Der Kummer der in-
nigſten Liebe trieb ihrer viele bis zum Zagen der
Verzweiflung . —
Das Kind der Rickenbergerin ſank wieder in
den Zuſtand , in welchen es gerade nach ſeines Va-
ters Tod gefallen , blieb ganze Naͤchte auf ſeinem
Grab , weinte da , und oft , wenn ſeine Mutter und
ſeine Geſchwiſterte bey ihm ſtunden , ſah es ſie nicht .
— Wo es war , verfolgte daſſelbe der erſchreckli-
che Gedanke , es ſey nicht Gottes Wille , daß ein
guter Vater auf der Welt ſey , wenn einer da ſey ,
ſo muͤſſe er ſterben , und es duͤnkte ihns , die Men-
ſchen muͤſſen nicht werth ſeyn einen zu haben , ſonſt
waͤr' es anderſt . —
Und der Pfarrer fuͤhrte am Sonntag auf der
Kanzel , weiß Gott , faſt die gleiche Sprache .
Es ſey , ſagte er , wie wenn es nicht ſeyn
muͤſſe , daß Menſchen durch ihre Mitmenſchen ver-
ſorget werden . — Die ganze Natur und die ganze
Geſchichte rufe dem Menſchengeſchlecht zu , es ſoll
ein jeder ſich ſelber verſorgen , es verſorge ihn Nie-
mand , und koͤnne ihn Niemand verſorgen ; und
das Beſte , das man an dem Menſchen thun koͤnne ,
ſey , daß man ihn lehre , es ſelber zu thun .
Auch hat Arner nichts anders geſucht als die-
ſes , ſagte er mit einer Stimme , die an allen Waͤn-
den klang , und ſezte mit dumpfem leiſem Ton hin-
zu , aber was wird izt daraus werden ?
Nach einer Weile ſagte er wieder , es liege in
Gottes Namen in der Natur , daß der Menſch auf
Niemanden auf Erden zaͤhle ; ſelbſt Aeltern , die
fuͤr den Saͤugling in Feuer und Waſſer ſpringen ,
den lezten Biſſen im hungrigen Mund kaͤuen , und
J 2
nicht hinunter ſchlucken , ſein Leben zu erretten ,
ſpringen fuͤr ihn nicht mehr in Feuer und Waſſer ,
theilen nicht mehr mit ihm den lezten Biſſen , wann
er erwachſen iſt , und ſagen ihm vielmehr , hilf dir
izt ſelber , du biſt erzogen ! —
Und im Grund iſt es vollkommen recht , und
fuͤr das Menſchengeſchlecht gut , daß Aeltern und
Obrigkeiten die Menſchen dahin weiſen , und es iſt
wider ihre Rede , „ ihr ſeyd erzogen , und helfet
euch ſelber “ , nichts zu ſagen , wenn ſie nemlich
wahr iſt , aber wenn ſie nicht wahr iſt , wenn Kind
und Volk nicht erzogen ſind , ſich ſelber helfen zu
koͤnnen , wenn vielmehr die armen Geſchoͤpfe in
beyden Verhaͤltniſſen verwahrloſet , zu Kruͤppeln und
Serblingen ( Schwindſuͤchtigen ) gemacht und un-
muͤndig gelaſſen werden , nichts ſind , und nichts
aus ſich machen , und ſich nicht helfen koͤnnen , und
man ihnen dann doch ſagt , hilf dir ſelber , du biſt
erzogen ! — und — wohl noch etwas anders darzu
— dann iſt es freylich was anders . —
O — Arner — Arner ! wie ſaheſt du das ein ,
und wie wuͤrdeſt du helfen , wenn du lebteſt ; aber
Gott im Himmel , was koͤnnen wir hoffen ? Lernet
doch arme Menſchen ! lernet euch ſelber verſorgen ,
es verſorget euch Niemand ! —
So redete der Mann — ! Und wer verziehet
ihm , wer verziehet der Rickenbergerin dieſe Sprache
nicht ? —
Wer will ſagen , es ſey wider Gott , wenns
dem Menſchen fuͤr Menſchen bange macht ? —
und es ſey wider die Obrigkeit , wenn er fuͤr die
Armen und Elenden , und Unverſorgten im Land
mit einem Feuer redet , das brennt ? —
O ! ihr Menſchen , das Feuer des Eiferers ,
der im Gefuͤhl der Verwahrloſung unſers Geſchlechts
dahinkommt , die Sprache der Verzweiflung zu re-
den , iſt ein heiliges Feuer , und ſeine Sprache iſt
wie ein Schatten der himmliſchen Wahrheit , und
wie ein verblichenes Siegel der Goͤttlichkeit unſerer
Natur — ! — Der Pfarrer aber ſagte nicht nur
dieſes .
§. 34 .
Ein Staatsminiſter auf dem Dorf .
I ndeſſen breitete ſich das Geruͤcht von ſeiner Krank-
heit , und von ihren Urſachen , weit umher aus ,
und kam ſchnell , wie auf den Fluͤgeln des Windes
mit allen Zuſaͤtzen , die es auf dem Wege von 20
Stunden aufnehmen konnte , an den Hof des Fuͤr-
ſten . — Durch allen Wirwarr der Berichten ſchien
ſo viel gewiß , daß Arner ſehr krank , und Sylvia
daran ſchuld ſeyn moͤchte . Der Herzog , der war-
men Antheil an Arners Krankheit nahm , und uͤber
I 3
die muthmaßlichen Urſachen derſelben aͤußerſt auf-
gebracht ſchien , ſtund eben vor Arners neuem Ge-
maͤhlde , darinn Menzow wirklich ſich ſelbſt uͤber-
troffen , als Bylifsky zu ihm kam , um die Freyheit
zu bitten , nach Arnburg zu reiſen — und er be-
fahl ihm , ſeinen Leibarzt mitzunehmen , und von
ſeinetwegen eben ſo wohl uͤber die Urſachen der
Krankheit genauen Bericht einzuziehen , als auch
alles zu veranſtalten , was er noͤthig finde , den Ar-
ner vor Verdruß zu ſichern . —
Helidor hatte zwar ſchon angefangen , die Be-
griffe ſeiner Durchlaucht uͤber den guten Arner her-
unter zu ſtimmen , aber da der Herzog vor dem
Leibarzt ſich uͤber Sylvia unwillig zeigte , ſtimmte
er hierinn vollends ein , und ſagte , es ſey wahr ,
ſie habe ein Maul zum toͤden , wenn ſie anfange je-
mand zu quaͤlen . —
So muß man ſie von meinetwegen , wenn es
im geringſten noͤthig , auf der Stelle aus dem
Schloſſe wegſchaffen , erwiederte der Herzog . —
Und auch hierin widerſprach Helidor kein Wort . —
Der ſchnellſte Jagdzug flog mit ihnen die Nacht
durch , und am Mittag waren ſie in Bonnal .
Da ſtieg Bylifsky aus , und ließ den Leibarzt
allein weiter fahren . Er wollte einen Augenblick
zum Pfarrer . — Dieſer war in der Kirche und be-
thete eben mit den Schulkindern ein ſtilles Gebeth
fuͤr das Leben des Junkers . — Bylifsky hoͤrts —
geht auch zur Kirche , thut mit leiſer Hand die
Thuͤre auf , tritt mit ſtillem unhoͤrbarem Schritt
hinein , ſiehet die Schaar der Kinder , und den
Pfarrer und ihren Lehrer vor dem Altar auf den
Knien , und ihr Angeſicht unverwandt gegen den
Boden , hoͤrt ihr Schluchzen , faͤllt in ſeinem Ecken
auf die Knie , weinet und bethet mit dieſen Kindern
fuͤr ſeinen Freund ; und da ſie wieder aufſtehen , ge-
het er zu ihnen hervor , ſagt wer er ſey , gruͤßet ſie
alle , und giebt wie der Pfarrer und der Lieutenant
den Behuͤte Gott ſagenden Kindern die Hand —
ſiehet eines nach dem andern ſo ſteif und genau an ,
als ob er keinen Gedanken in ſeiner Seele habe als
dieſe Kinder — ißt dann mit dem Pfarrer ſeine
Suppe geſchwind , wie ſie da ſtund , und geht mit
ihm und dem Lieutenant zu Fuß uͤber den Berg
nach Arnburg .
I 4
§ . 35.
Eine Dienſtmagd begehrt Abſcheid und
Rekommendationsbriefe von der gnaͤ-
digen Herrſchaft .
D er Leibarzt zuckte die Achſel — ſo bald er den
Kranken ſah — machte dann ſeine Feldapotheken
auf ; und Geruͤche aller Art fuͤllten die Stube . —
Fuͤrchterliche Silber- und Goldzangen und Na-
deln , und Meſſer , Schwaͤmme und Binden , Stuͤ-
cke von Schlangen , zerriebene Muͤcken , Gift , Me-
tallen , und halbe Metallen , chymiſche Geheimniſſe ,
und natuͤrliche Pulver , Salben und Pflaſter , lagen
ſichtbar und unſichtbar in dieſer Kiſte . Er nahm
heraus , wog , miſchete , rieb , ſtoßte , ließ warm
machen und wieder kalt werden , ſtrich Pflaſter und
Salben , und innert einer Stunde hatte Arner aller-
hand davon an ſeinem Leib , und nicht weniger da-
von ſelber darinn . —
Dann ließ er ihn eine Weile allein , und nuͤzte
dieſen Augenblick , Sylvien , die er ſchonen wollte ,
zu ſagen , was er gehoͤrt . — Sie ſtellte ſich ganz
gleichguͤltig , machte die kranke launige Dame , und
that , ſo lang er vom Herzog redete , wie wenn ihr
an allem nichts liege ; da er aber vom Helidor an-
fieng , konnte ſie das nicht mehr — ſie fragte mit
Haſtigkeit , hat er nichts dazu geſagt ? — aber er
wollte nicht mit der Sprache heraus — ſie bat ,
und zwang , und drang , und ließ ihn nicht ruhen ,
bis er es ihr ſagte . — In Gottes Namen , weil
ihr Gnaden befehlen — Er hat geſagt , ihr Gna-
den haben ein Maul , es haue und ſteche . So —
er hat das geſagt ? erwiederte ſie — ſtund ploͤtzlich
auf — verließ das Zimmer — lief unter ein Fen-
ſter , und wartete da dem Herzklopfen ab , das ſie
anwandelte — da ſeh ich — da ſeh ichs — ja izt
ſchon , daß er mir beym erſten Anlaß wie einem
Schuhlumpen den Tritt giebt . — Ihr Herz ſchlug
— und ſo bald ſie wieder zu Athem kam und die
Augen aufhub , ſah ſie Bylifsky , zwiſchen dem
Pfarrer und dem Lieutenant , den Vorreyn vor der
Burghalden hinaufkommen ; ſie redten von der
Schule , und der Lieutenant verthat ſeiner Gewohn-
heit nach die Haͤnde , weil er im Eifer war , ſie
aber meynte , er erzaͤhle izt ſicher von nichts anderm
als von ihr — ſie floh in ihre Stube , ſtampfte
mit dem Fuß , beſaß ſich nicht mehr — wuͤtete izt
mit Aglee , gab ihr in allem die Schuld , behaup-
tete , ſie haͤtte ſie von allem zuruͤckhalten ſollen , und
hatte zum Grund , ſie wiſſe wohl , was ſie uͤber ſie
vermoͤge . —
Dieſe gab ihr keine Antwort — aber am Mor-
gen fand Sylvia auf ihrem Pult folgenden Brief . —
„ Ich habe Sie beſtohlen , und bin fort —
meine Gruͤnde liegen zum Theil in Ihrem geſtrigen
Betragen , zum Theil in meiner immer mehr ſtei-
genden Ueberzeugung , daß wir nicht fuͤr einander
geſchaffen ; aber ich bin izt nichts weniger als in
der Laune , mich uͤber das , was ich thue , zu er-
klaͤren , oder mich zu rechtfertigen ; das iſt gewiß ,
daß ich fuͤr das , wozu Sie mich brauchten , nicht
bezahlt bin , und dieſes iſt , wie Sie wiſſen , von
einer Natur , daß wir beyde es nicht wohl von der
Obrigkeit koͤnnen ausmachen laſſen , was mir da-
fuͤr gebuͤhre .
Aber erſchrecken Sie um deßwillen nicht , ich
habe mich nicht uͤber die Gebuͤhr vergriffen ; Ihr
Schmuckkaͤſtchen iſt klein , und das Halbe und das
Beſte davon habe ich daraus weggethan , und in
die Ecke Ihres Schranks neben die blaue Haube ge-
legt , die Sie geſtern getragen . Ich will nichts als
von Ihnen fortkommen , meine philoſophiſche Jung-
fer ! mit dem Glauben , daß den Menſchen nichts
entehre als der Diebſtahl . Ich kenne Sie zu wohl ,
um nicht auch als eine Diebin auf meiner Hut zu
ſeyn , daß Sie mich mit Recht nicht verachten koͤn-
nen , wie ich Sie verachte .
Laſſen Sie mich Ihnen nur noch ſagen —
wir denken in keinem Stuͤck gleich ; und wenn wir
je das gleiche thaten , ſo hatten wir doch nie die
gleichen Gruͤnde . Ich half Ihnen freylich hier
den Junker und ſeine Leute kraͤnken , aber verachte
weder ihn noch die Juͤnkerin , noch den Rollenber-
ger , am wenigſten den Lieutenant ; der lezte zwang
mir eine Hochachtung ab , die ich keinem Menſchen
mehr ſchenken will .
Aber was geht es Sie an , wie ich daruͤber
denke ? Ich gehe uͤber Regenſpurg nach England ,
und erwarte am erſten Orte bey Ihrer Couſine ein
paar mir noͤthige Empfehlungsſchreiben von Ih-
nen ; und damit Sie nicht in Verſuchung gera-
then , mich einen Poſttag darauf warten zu laſſen ,
und eben ſo wenig ſich von Ihrer Hitze verleiten
laſſen , Morgens in den erſten Augenblicken von
meiner Abreiſe anderſt als in der Ordnung zu re-
den , finde ich noch noͤthig , Ihnen die Anzeige zu
machen , daß ich diejenige Papiere alle mit mir
genommen , die ich vor 3 Wochen , wie Sie glaub-
ten , vor Ihren Augen verbrannte . Ich habe die-
ſelben mit den neuern Geheimbriefen , die Sie bey
ſich herumtrugen , mit der Brieftaſche ebenfalls
mitgenommen . So viel brauchte ich , um Ihnen
mit Sicherheit vor die 2 erſten Stunden dieſes
Morgens ſo viel Verſtand zutrauen zu doͤrfen , als
ich will , daß Sie izt haben . Einen andern Ge-
brauch davon werd' ich nie machen . —
Ich habe weiter nichts mehr zu ſagen , als
lernen Sie in Zukunft den Namen Freundin gegen
Niemanden mehr alſo zu brauchen , wie Sie es
gethan haben gegen Ihre
gehorſame Dienerin
Aglee .
§. 36 .
Der Staatsminiſter in der Schule und
bey dem Schulmeiſter .
A ber es wird immer ſchlimmer mit Arner ! —
— Thereſe faͤllt aus einer Ohnmacht in die an-
dere . —
Der Leibarzt foderte , daß man ihn vollends
allein laſſe — und izt ſinkt er in eine aͤußerſte Er-
mattung , entſchlaͤft in derſelben — auf den Lip-
pen aller ſteht der Gedanke — Er iſt todt — und
wird nicht wieder erwachen . —
Thereſe reißt ſich aus den Armen Bylifsky —
Er iſt todt — Er iſt todt — und ſinkt vor ihm
nieder — Der Rollenberger liegt mit den Kindern
auf den Knien — der Pfarrer bethet laut , und alles
erwartet das Wort — Er athmet nicht mehr ! —
Wie bang — wie bang — wie bang iſt ih-
nen allen ! — wie horchet alles vor ſeiner Thuͤre !
man hoͤrt keinen Laut . — Iſt er todt ? — ach !
— iſt er noch nicht todt ? — vielleicht — viel-
leicht — vielleicht — —
Still ! ſeyd doch ſtill — ! man hoͤrt eine Be-
wegung — was iſts — was iſts — ? Der Leibarzt
kommt an die Thuͤr — er oͤfnet ſie faſt ohne einen
Laut , und ſagt faſt ohne zu athmen — es zeigt
ſich ein Schweiß , ich habe wieder einige Hofnung
— er ſchlaͤft fort — man eilt zu Thereſe — ſagt
ihr die Worte — ſie wills nicht glauben — und
faͤllt wieder in Ohnmacht . — Nach einer Viertel-
ſtunde oͤfnet er wieder , und ſagt , der Schweiß
wird immer ſtaͤrker — geht doch — und ſagts !
— Alle Viertelſtunden kommt er wieder , und
bleibt bey der Rede — er habe wieder Hofnung ! —
Gegen 9 Uhr erwachte der Kranke , und ſagte ,
es ſey ihm wie im ganzen Leib anderſt und leich-
ter — aber er war aͤußerſt ſchwach — entſchlief
bald wieder — und das bange Warten der Nacht
war entſezlich — man hoͤrte keinen Laut als be-
then — Thereſe hatte keine Ohnmachten mehr ,
und bethete izt auch — die Berichte kamen immer
gleich , es gehe ſo gut moͤglich , und es ſey gewiß
Hofnung ! — Und am Morgen durfte Thereſe wie-
der zu ihm hinein ; aber ſie kam nur , und verſchwand
wieder . — Der Leibarzt foderte heute noch die glei-
che Stille — und Bylifsky ſah' ihn nur durch eine
Seitenthuͤr , und brachte den Tag mit dem Pfarrer
und dem Lieutenant in Bonnal zu .
Er ſah da alles , und alles mit den Augen des
Manns , der im Stand iſt , im Saamenkorn des
Oelbaums ſich das allmaͤhlige Wachsthum der
Pflanzen von ihren Keimen an bis zu derjenigen
Groͤße vorzuſtellen , in welcher die Voͤgel des Him-
mels auf ſeinen Aeſten niſten , und die Menſchen
ſich unter ſeinem Schatten lagern .
Er ſah lang und genau nach allen Seiten ,
war im Anfang ſtill , redte wenig , nach und nach
aber immer mehr ; trat in die kleinſten Umſtaͤn-
de dieſer Leute hinein , und forſchte mit Genau-
heit dem Einfluß der neuen Ordnung auf dieſe
Umſtaͤnde nach , und kam dahin faſt mit dem hal-
ben Dorf zu reden , ſah den Baumwoll-Meyer ,
das Mareili , Gertrud , den alten Renold , die jun-
ge Renoldin , den Lindenberger , den Michel , und
ſelbſt den Hummel ; blieb , ſo lang die Schule
dauerte , am Morgen und Nachmittag , vom Anfang
bis zum Ende darinn , ſah aller Kinder Arbeit , und
warf die genaueſte Aufmerkſamkeit auf die Verbin-
dung des Lernens mit dem Arbeiten ; forſchte genau ,
wie weit das Eine das Andere nicht hindere , ur-
theilte kein Wort , bis er alles geſehen , alles ge-
pruͤft , dann erſt ſagte er zum Lieutenant , der frey-
lich izt auch gern ein Wort gehoͤrt haͤtte , was er
etwann meyne .
Ich finde euere Einrichtungen mit der innern
Natur des Menſchen , und mit ihrem wirklichen
geſellſchaftlichen Zuſtand gleich uͤbereinſtimmend —
und einen Augenblick darauf — die Großen ſchaͤ-
tzen den Menſchen nur in dem Grade , in welchem
ſie Nutzen von ihm ziehen koͤnnen , und das innere
Triebrad aller wirklichen Geſezgebungen iſt kein an-
ders , als jeden Staat fuͤr ſeinen Fuͤrſten ſo hoch
hinauf zu treiben als moͤglich , und die darinn le-
benden Menſchen ebenfalls ſo gut als moͤglich zu
dieſem Endzweck aufs Beſte zu nutzen und zu brau-
chen , und wenns gut geht , auch dazu zu bilden
und zu fuͤhren . — So wie das innere Triebrad
der wirklichen Einrichtungen eines jeden Eigenthuͤ-
mers dieſes iſt — ſein Haus und Hof , Beruf und
Gewerb , ſo hoch hinauf zu treiben als moͤglich ,
und ſeine Leute zu dieſem Endzweck eben ſo zu
nuͤtzen und zu brauchen , und wenns gut geht , auch
zu bilden und zu fuͤhren — desnahen iſt der Menſch
im Großen in dieſer Welt auch nur in ſo fern gluͤck-
lich und ſicher , als er dienſtfaͤhig gebildet und ge-
modelt iſt , den Platz , den er in der Geſellſchaft
mit geſetzlichem Recht behauptet , wohl auszufuͤl-
len . — —
Ihre Einrichtungen , mein Freund ! entſpre-
chen dieſem vorzuͤglichen Beduͤrfnis der Menſchen
auf eine Art , wie ich es noch nirgend geſehen ,
und koͤnnen nicht anderſt als das Urtheil der Fuͤrſten
uͤber den Werth ihrer Menſchen , und mit dieſem
die Aufmerkſamkeit ihrer Geſezgeber oder Geſez-
macher , auf das Gluͤck und die Sicherheit derſel-
ben erhoͤhen — in dem ſie dieſen wichtigen Ge-
ſichtspunkt nicht durch chimaͤriſche Traͤume — an
welche die Fuͤrſten durch die erſte Beduͤrfniſſe ihres
Stands in Ewigkeit gehindert werden , im Ernſt zu
glauben — ſondern durch viele Erhoͤhungen des
wirklichen Ertrags , und Dienſtfaͤhigkeit der Men-
ſchen , an die ſie immer gerne glauben , zu erzielen
ſuchen .
Auch halte ich , lieber Lieutenant ! Ihre Erzie-
hungsart und Ihre ganze Dorfeinrichtungen ſo be-
ſtimmt fuͤr eine Finanzſache , daß , wenn das Ka-
binet den Plan gemacht haͤtte , das Volk ganz allein
nach dem Geſichtspunkt ſeiner mehrern Ertragsfaͤ-
higkeit erziehen zu laſſen , daſſelbe ganz gewiß ſein
Werk mit Einrichtungen anfangen muͤßte , wie die
Ihrigen ſind . —
Gott ! denkt euch izt den Mann , dem noch
vorgeſtern Bonnals Geſindel gewagt hat , Joggeli
willt
willt Geld ? und Joggeli haſt Geld ? nachgerufen ,
und dem izt der erſte Miniſter ſeines Fuͤrſten dieſes
ſagt ! —
Wenn nach Jahre-langem innerm Kaͤmpfen
eine Beterin ſich ploͤzlich wie durch eine Erſchei-
nung erhoͤrt , und weit uͤber ihren Glauben erhoͤrt
ſieht , ſo ſteht ſie im erſten Gefuͤhle des Heils , das
ihr wiederfahren iſt , vor ihrem Gott da , wie die-
ſer Mann vor Bylifsky . —
Eine Thraͤne zitterte in ſeinem Auge , und auf
ſeinen Lippen das Verſtummen ſeiner ganzen Er-
ſchuͤtterung .
Der Miniſter kannte dieſes Verſtummen , es
war der beſte Lohn des Dienſts , den er ſeinem
Fuͤrſten that , er hatte ihn aber auch nicht ſelten
genoſſen , und nahm izt dem zitternden Mann ſeine
Hand , ſagte ihm , „ zaͤhlen Sie auf mich , aber
handeln Sie an ihrem Plaz vollends wie wenn Sie
mich nicht kennen wuͤrden , und wie wenn ich nicht
in der Welt waͤre . Der Weg , zu welchem Ihr
Werk fuͤhret , fodert dieſes . „ —
Mit dieſem verreißte er . Der Lieutenant ſah'
ihm nach , ſo weit er konnte ; er ſaß am Ende der
Schulmatten unter dem Nußbaum auf einem
Markſtein , hielt die Haͤnde zuſammen , entzog ihm
kein Aug , ſo lang er ihn ſah , und da er ihn nicht
K
mehr ſah , ſank ihm ſein Haupt gegen dem Boden ,
ſein Herz ſchlug , und ſein hoͤlzernes Bein zitterte
auf ſeinem Stumpen — er ſah es — armer
Stumpen , ſagte er zu ſich ſelber , ich habe dich
lang muͤhſelig herumgeſchleppt ; aber wenn ich auf
dir noch dahin huͤlpen kann , wohin mir izt ahn-
det , ſo iſt mir die Muͤhſeligkeit meines Lebens wie
nichts , und der Tag , an dem ich zum Kruͤppel
worden , wird mir dann der gluͤcklichſte meines
Lebens !
Ach ! er ſah mit inniger Freude , wie ſein
hoͤlzernes Bein zitterte ; und der Miniſter reißte
mit dem beruhigenden Gefuͤhl fort , eine Bahn
zur ſichern Verbeſſerung der Volksgeſezgebung ent-
deckt , und den Mann gefunden zu haben , der in
den Labyrinthen der Tiefe , in welchen die Geſez-
macher immer wie in der Irre herumtappen , und
in der Finſterniß wandeln ſo viel Licht anzuͤnden
kann , als einer braucht .
§. 37.
Aeußerungen der Freude und Freund-
ſchaft — Und der Strafe eines Ver-
laͤumders . —
E he er verreißte , nahm er noch in der Stille ;
aber ſehr genau , verſchiedene Zeugniſſe auf , was
des Generalen Jaͤger uͤber den Lieutenant in Bon-
nal fuͤr Reden ausgeſtreut — dann eilte er einſam
zu Fuß fort uͤber den Berg . Der Traum uͤber ſein
Dorf , und der Gedanke , wie es um Arner ſtehe ,
theilten ſeine Empfindungen bis gegen das Schloß .
So wie er ſich dieſem naͤherte , vergaß er die Schule ;
Furcht und Hofnung ſchlugen in ſeiner Bruſt , er
verdoppelte ſeine Schritte — er hatte befohlen ,
wann es im geringſten einen Anſchein zum Schlim-
merwerden habe , daß man ihn augenblicklich be-
richte — nun war es Abend , und kein Bericht da ,
das ſchien gut — Er eilte — Er eilte — izt iſt
er hinter den Tannen , ſieht das Schloß wieder ,
ſein Herz ſchlaͤgt , er entzieht ihm kein Aug , und
ploͤzlich ſieht er alle — alle — zum Schloß hin-
aus ihm entgegen . —
Thereſe — die Kinder — der General —
der Leibarzt — er ſiehts — ſie gehen — ſie lau -
K 2
fen — ſie zittern nicht — ſie ſind nicht mehr wie
geſtern — es fuͤhrt Thereſe Niemand — es iſt kein
Jammer in ihrer Geberde — er ſiehts — Arner
iſt gerettet — und ſpringt ! — der Karl ſpringt
auch von der Mamma weg , ruft ihm laut und von
weitem — es beſſert mit dem Papa !! Bylifsky
nimmt ihn bey der Hand , ſpringt wie der Knab —
Thereſe lauft izt auch , und ſinkt außer Athem und
ohne zu reden ihm in die Arme — Alle ſtehen um
ihn her — alle draͤngen ſich an ihn an , der Leib-
arzt ſagt wieder — Er iſt wills Gott gerettet ! und
ihm uͤberfließt das Herz von Wehmuth und
Wonne . —
So lauft ein Haus , das in den Flutten ge-
ſtanden , und wie im graͤßlichen Eisſtoß ſich wie ein
Wunder erhalten , einem Vater entgegen , der in
der Verheerung nicht da war ; die gerettete Mut-
ter ſinkt ihm ſprachlos an den Arm , ſein Aelteſter
ſpringt vor den andern her , ruft ihm von Ferne ,
wir ſind alle noch da ! und alle — alle — die noch
da ſind , ſtehen um ihn her , draͤngen ſich an ihn
an — und ihm uͤberfließt das Herz von Wehmuth
und Wonne . —
Arner wußte izt , daß Bylifsky da war , der
Leibarzt hatte es ihm geſagt , aber ihn auch gebe-
ten , ſich nicht in Gefahr zu begeben , und wenig
mit ihm zu reden . Das gleiche bat er den Bylifs-
ky . — Er gieng hinein , daß man ihn kaum hoͤrte ,
wog die Worte wie Gold ab , vermied jede Em-
pfindung , und ſaß nicht einmal nieder . —
Dieſe Aufmerkſamkeit hielt den Arner in
Schranken , daß ihm dieſe Freude nicht nachtheilig
war . Er ſagte ihm wohl einmal , du thuſt doch
vollends , als wenn dir an meiner Geſundheit mehr
liege als an mir ! Aber Bylifsky ließ ſich nicht
einmal zu einem Laͤcheln bewegen — er ſagte ihm :
ein andermal wollen wir ſpaßen ! — Arner fuͤhlte
daß er recht habe ; und da die halbe Viertelſtunde
vorbey war , die der Leibarzt erlaubt hatte , ließ
er ihn mit Willen von ſich , und Bylifsky verreißte
bald darauf , voll Hofnung ſeiner Geneſung —
Er konnte nicht laͤnger bleiben . —
Vorher ſtellte er dem General noch einen Be-
fehl zu , ſeinen Jaͤger geſchloſſen auf Bonnal fuͤh-
ren zu laſſen , um allda von Haus zu Haus den
Widerruf zu thun alles deſſen , was er gegen den
Lieutenant ausgeſtreut ; mit dem Beyfuͤgen , er er-
warte , daß , wenn Arner von Sylvia auch nur
dem entfernteſten Verdruß wieder ausgeſezt ſeyn ſoll-
te , der Herr General ſie in dieſem Fall auf der
Stelle von hier entferne . —
Dieſe Nota war unterzeichnet „ Auf ſpezialen
Befehl Sr. Durchlaucht — „
Bylifsky .
K 3
Sylvia erwartete ſelber ſo etwas . So lang
er da war , machte er allemal , wenn ſie ihm zu Ge-
ſicht kam , Augen , die ihr durch Leib und Seel gien-
gen ; ſie konnte es ſich nicht verhehlen , es war der
Blick des Manns , der es in ſeiner Hand hatte ,
ſie zu erdruͤcken , und beynahe darnach geluͤſtete .
§. 38.
Leidensgeſchichte eines herzguten Men-
ſchen , der aber das Handwerk , das er
treiben ſollte , nicht gut gelernet hatte .
I ndeſſen nuzte Helidor dieſe Tage , Ihr Durch-
laucht wegen der Bonnaler Arbeit , ſo viel an ihm
ſtund , erkalten zu machen .
Der gute Herzog war ſeit einiger mehr als je
in der Gewalt des Manns , der die beſten Empfin-
dungen ſeines Herzens in ihm zu Staub rieb , wie
man eine duͤrre Wurzel in dem Moͤrſel zu Staub
reibt — und er liebte den Mann , der ſeine Freude
daran hatte , ihm alle Augenblicke den Todtenge-
ruch vor die Naſe zu halten , der in ihm lag , und
taͤglich vor ihm zu lachen , bis er das Menſchenge-
ſchlecht aus dem Sinn ſchlug .
Armes dahingegebenes Geſchlecht der Menſchen !
Wenn deine Fuͤrſten dahin kommen , ſolche deines
gleichen zu lieben , die lachen , bis du ihnen aus
dem Sinn biſt — Armes verwahrloſetes Geſchlecht ,
wie biſt du dann zu bedauern ? — Aber dennoch
bey allem , ihr Fuͤrſten ! bey allem iſts noch die Fra-
ge , wer mehr zu bedauern ſey , das arme Geſchlecht
oder Ihr ? wenn ihr ſolche Lieblinge habt wie He-
lidor , der eine Stunde , ehe Bylifsky wieder heim
kam , lachend von ſeinem Fuͤrſten weggieng , weil
er den guten Mann , der mit herzlicher Theilneh-
mung zu ihm ſagte , er hoffe wills Gott , er bringe
gute Nachrichten von Arner , mit einem Wort er-
ſchuͤttert hatte , das ihm durch die Seele gieng . —
Vergeſſen Ihr Durchlaucht , ſagte er zu ihm , doch
niemal das Wort , womit Ihr Leibarzt Sie von
der gefaͤhrlichſten Krankheit geheilet , die Sie je wie-
der befallen konnte .
Ganze Reihen von Lebenserfahrungen , die alle
den Endzwecken Arners entgegen zu ſeyn ſchienen ,
kamen dem Herzog mit dieſem Wort , wie mit ei-
nem Schlag , wieder ins Gedaͤchtniß , und das große
druͤckende Bild der Verwirrungen , ſeiner Jugend
Gutmuͤthigkeit , ſtund ihm damit ploͤzlich vor Au-
gen . — Er gieng beyſeits — und Helidor hatte ,
was er wollte . —
Die Sach iſt dieſe . — Ihr Durchlaucht ka-
men im 21. Jahr mit einem Engelherzen , aber
als ein unwiſſendes Kind , an die Regierung , fan-
K 4
den beym Antrit Antritt einen verſchuldeten Staat , ein
elendes Volk , und ein Leben am Hof , das einem
ewigen Karneval glich . — So wollten Sie es
nicht — Sie wollten es anderſt erzwingen — Sie
boten jedem Projektmacher die Hand , jeder Schwaͤr-
mer und jeder Heuchler fand Eingang , aber Ihr
Volk ward immer elender , Ihr Hof immer ver-
wirrter , und der Staat immer verſchuldeter . —
Es rieb den jungen Mann faſt auf , er verlor
Muth , Farb , Heiterkeit , Sinnen , und ſank in
eine Abſchwaͤchung hinab , die fuͤr ſein Leben be-
ſorgt machte .
Ein Leibarzt alter Art , der ſchon mit ſeinem
Großvater geſpaßet , ſuchte ihn aufzumuntern , und
alle Morgen , wenn er ins Zimmer trat , war ſein
gewoͤhnliches Wort : „ Ihr Durchlaucht — Ihr
Durchlaucht — die Welt iſt ein Narrenhaus ! laſſen
Sie ſie gelten , was ſie iſt , und werden Sie ge-
ſund ! — „ Der Herzog gab ihm freylich im An-
fang zur Antwort , „ er iſt ein leichtſinniger Mann ,
ſchweig er mit ſolchen Worten , und geb er mir
ſeine Arzney . „ —
Aber der Leibarzt ſchuͤttelte den Wanſt , und
ſagte , dieſer Spruch gehoͤre mit zur Arzney ; und
Ihr Durchlaucht muͤſſen ihm wenigſtens noch 4
Wochen erlauben , dieſe Worte alle Morgen zu ſa-
gen, wie er ſie bisher geſagt , und dazu zu lachen ,
wie er bisher gelachet habe .
Ihr Durchlaucht ließen den Narren machen ;
aber es half . Der Herzog fand alle Morgen mehr
Wahrheit in dem Wort , das ihm der Dokter ſo
alle Morgen nuͤchter brachte und eingab , und ſein
Glaube an Projektmacher , Schwaͤrmer und Heuch-
ler , ſtimmte ſich wirklich hinunter , aber ſein Herz
aͤnderte ſich nicht ; ſo bald er wieder geſund war ,
konnte er nichts weniger als aufhoͤren , ſich an Men-
ſchen zu binden , von denen er glaubte , daß ſie an
ſeinem Volk vaͤterlich handeln wollten und koͤnnten
— aber er betrog ſich an allen ; dieſe Vaͤter hat-
ten immer ihre eigene Kinder , und die , ſo derglei-
chen thaten , als haͤtten ſie keine , hatten die mei-
ſten ; das Volk kam bey allen und jeden hinten
nach , wie es ohne ſeine Muͤhe vorher ſchon hin-
ten nach war . —
Er war großmuͤthig und ſtandhaft , und ließ
bey allem Fehlſchlagen nichts unverſucht , gieng
einmal ſogar zu den Frommen hinuͤber , und fand
da wirklich mehr Sorgfalt und mehr Verſtand in
Beſorgung einiger weſentlicher Angelegenheiten des
Volks , als er ſonſt noch nirgendwo gefunden ; aber
das Ganze ihrer Einrichtungen und ihrer Stim-
mung behagte ihm nicht — es war ſeiner Natur
zuwider , an Leute zu glauben , die ſo wenig mit
geradem Ruͤcken und feſtem Tritte vor ihm ſtehen
konnten , als mit natuͤrlichen Augen ; und es wollte
nicht in ihn hinein , daß das Gluͤck der Menſchen
in einer Seelenſtimmung beſtehe , die ihn in ſolchem
Grad ſchwach mache ; er kannte den Zuſammen-
hang zwiſchen dem ſchwach ſeyn und krumm wer-
den , und hielt es fuͤr das erſte Beduͤrfniß des
Menſchen , daß er gerad bleibe .
Auch ſah er nicht blos ihre Obern und Klu-
gen , er ſah auch ihre Untern und Dummen ; und
es fiel ihm auf , daß die erſtern ſind , was ſie wol-
len , und die andern , was ſie muͤſſen ; auch dieſer
Unterſchied behagte ihm nicht , noch weniger die
Gewalt , die er ſie uͤber die Koͤpfe ihrer Leute haben
ſah , der Seinige war ihm um keinen Preis feil ;
und wenn er auch ſein Volk damit auf eine Art
haͤtte gluͤcklich machen koͤnnen , ſo waͤre ihm das
nicht moͤglich geweſen , ihnen alſo ſein Haupt da-
hin zu geben , daß ſie daſſelbe , wie die Taͤnzerin
im Evangelio das Haupt Johannes des Taͤufers in
einer Schuͤſſel herum tragen konnten , zu Frau Muͤt-
tern , und wohin ſie wollten . Nein , das waͤre
ihm nicht moͤglich geweſen ; auch ſahen die Obern
den Fehler dieſer Eigenſuͤchtigkeit an ihm gar bald ,
wie ſie denn dieſen Fehler an jedermann geſchwind
bemerken , und immer gar hoch halten ; ſie nennen
ihn in ihrem Kinder-Unterricht den ſchlimmſten Tuck
des leidigen Satans , der allen Glauben verſcheue . —
Auch das lag ihm in der Natur , daß er alle
Haͤndel haßte , mit denen man nie zu Ende kom-
men konnte ; und es war ihm unmoͤglich , zu glau-
ben , daß das wahre Gluͤck des Menſchen von Got-
tes wegen , an Lehren , Meynungen und Urtheile
gebunden ſey , die ſeit Jahrhunderten zwiſchen ehrli-
chen Leuten im Streit ſind , und ihrer Natur nach
wahrſcheinlich bis ans Ende der Tagen im Streit
bleiben werden . —
Kurz es war nichts mit ihm zu machen , er
brach ab , ſo bald er merkte , daß es den Kopf
gelte , und wollte lieber mit offenen Augen in der
Irre herumlaufen , als mit verbundenen — viel-
leicht — in ein Paradies kommen .
So ſchwamm er Jahre lang wie auf den Wel-
len des Meers , fand fuͤr ſein Herz nirgend kein ſi-
cheres Ufer — und ſuchte zulezt — kurze Zeit . —
Er fand ſie meiſtens in der Einſamkeit — ſaß
Stundenlang einzig in ſeinem Winkel beym Kamin ,
brannte oft Feuer bis ihm der Kopf heiß war , warf
ganze Stoͤße Papier in die Flammen , und wenn
ſie Aſchen waren , ſagte er oft , „ das , was izt da-
von uͤbrig iſt , iſt ihre Wahrheit ! „
Die Regierungsgeſchaͤfte wurden ihm zur Laſt ,
ſie ſchienen ihm nichts anders als das Treiben eines
Fuhrmanns an einem uͤberladenen Wagen , der
durch Sumpf und Koth fort muß ; geh es wie es
geh . Auch iſt wahr , was Sylvia ſagte : Er hieß
ſeine beſten Miniſter gar oft Karrenroß — freylich
gab er ihnen dieſen Namen eben , wie gewiſſe Leute
ein wichtigers Scheltwort , der halben Welt nicht
mit Unwillen und Verachtung , ſondern mit Be-
dauren und Mitleiden ; aber ſie hoͤrtens doch nicht
gern , inſonderheit weil er mit dem ſchlechteſten
Mann , der am Hof war , eine Ausnahme machte ,
und dieſen nicht ſo nannte , aber er that es um
deßwillen nicht minder .
Oft gieng er einſam von der Jagd weg in die
Huͤtte des Landmanns , aß von ſeinem Brod , trank
von ſeiner Milch , legte ihm Gold in die Becken ,
floh dann wieder die niedere Huͤtte , und ſagte , waͤr
ich doch wie ihrer einer , und haͤtte ichs wie ſie ! —
Er gab dem Bettler am Weg ſeine Uhr , und
dem Kind , das ihn um Brod bat , ſeine Boͤrſe ;
ſagte oft im ganzen Gefuͤhl ſeines Ungluͤcks laut
ſeufzend : „ Ich meynte , ich wollte und koͤnnte ih-
nen ſeyn wie ein Vater . Aber waͤren ſie izt nur
vor mir ſicher , ſie ſind nicht einmal das — wer
mich kennt , den flieht das Volk , es zittert vor dem
Mann , der weißt , was meine Befehle ausweiſen ,
und mein Geſez iſt in ihren Augen und in ihrem
Mund nichts anders , als der Schluͤſſel zu ihren
Geldkiſten , den meine Knechte allenthalben wider
ſie im Sack haben . „
Ein anders Geſezbuch zu machen , dachte er
wohl , aber die es konnten , ſagten , ſie koͤnnen es
nicht ; und die , ſo es nicht konnten , wollten es
machen , aber er ſah , daß ſie es nicht konnten .
Das war ſeine Lage . Er ſah im Allgemeinen
wohl , wo er hindenken ſollte , aber er irrte ſich
Stuͤck fuͤr Stuͤck in den Mitteln , und kam endlich
dahin , wo viele Menſchen in aͤhnlichen Faͤllen hin-
kommen , zu glauben , es ſey unmoͤglich zu ſeinem
Ziel zu gelangen .
§. 39.
Grundſaͤtze des Dickhalſes , der dem Teu-
fel in der Lavateriſchen Phyſiognomik
gleich ſieht .
I n dieſer Lag und in dieſer Stimmung war er ,
als er mit Helidor Bekanntſchaft machte , und ſich
an ihm irrte . Zeitvertreib und Zerſtreuung waren
ihm wieder koͤrperliche Beduͤrfniſſe geworden , und
die unerſchoͤpfliche Kunſt des Manns , jeden Spiegel
umzukehren , der etwas unangenehmes darſtell-
te , und jeden Gedanken wegzubannen , den er
weg wuͤnſchte , der Anſchein eines unerſchuͤtter-
ten Muths , und ſeine Kunſt immer zu lachen
mußte dem Herzog in dieſer Lage behagen ; es ahn-
dete ihm nicht , daß dieſes alles die Frucht ſeiner
Gottesvergeſſenheit und ſeiner Menſchenverhoͤhnung
ſeyn konnte : er meynte vielmehr , ſeine Grundſaͤtze ,
ſo roh ſie toͤnen , ſeyen nicht boͤs gemeynt , und
bloße Folgen trauriger aber wahrer Erfahrun-
gen . — So gut war der Herr ; er war uͤber fuͤnf-
zig , und irrte ſich noch ſo ! —
Der andere nuzte den Irrthum ; er hatte die
unnachahmliche Kunſt , Sachen , die er wie in den
Tag hinein zu reden ſchien , den Menſchen tief in
die Seele hineinzubringen . Wenn man glaubte ,
er pfeife den Voͤgeln ein Lied vor , oder er ſehe zum
Fenſter hinaus auf die Bruck , ſo warf er , eh man
ſichs verſah , ein Wort weg , mit dem er ihrer Zehen
den Kopf umdrehete , die kaum ſahen , daß er da
war . Seine Meynungen waren kurz und beſtimmt ,
es war immer viel Wahrheit darinn , ſie ſchmei-
chelten dem Fuͤrſten , und er ſchien dem Volk nicht
unrecht thun zu wollen , indem er es wirklich that .
Man meynte , er kehre ihm den Ruͤcken nur da-
rum , weil es nicht moͤglich ſey , ihm die Haͤnde zu
bieten ; ſeine Entſchloſſenheit mahlte das Leben
leicht , er lenkte Muͤhſeligkeit ab , zerſchnitt den
Faden , wo er ihn nicht aufloͤſen konnte , und
machte kein Geheimniß aus dem Glaubensbekennt-
niß , das tauſend Schwaͤchere ſeines gleichen ver-
bergen , „ er ſorge fuͤr ſich ſelber , und das ſey die
Beſtimmung des Menſchen . „
Etliche ſeiner vorzuͤglichen Aeußerungen waren
dieſe : Wer herrſchen will , muß ſein Herz alſo in
den Kopf hinauf nehmen , daß er in keinem Fall
unter dem Hals mehr viel von ſich ſelber empfinde .
— Item — Es ſey die Hauptkunſt eines Fuͤrſten ,
weder Menſchen noch Sachen vor ſich kommen zu
laſſen , die ihm an einem Ort warm machen koͤnn-
ten , wo es einem Fuͤrſten nie warm werden ſoll . —
— Weiter : Ein Fuͤrſt muß nicht glauben , daß
er die Heerde wolle weyden lehren , dafuͤr hat ſie
ſelber ein Maul , und er iſt nicht um deswillen da .
— Item : Es liegt im Grund nicht ſo viel
daran , was er wirklich thut , die Heerde zu huͤten ,
als an dem , was er thut , den Hund und den
Wolf , und die Schaafe glauben zu machen , daß
er ſie huͤte .
Er machte ſich auch gar nichts daraus , laut
zu behaupten , man koͤnne die Menſchen nie in eine
Ordnung bringen , daß ſie wirklich vor einander
ſicher ſeyen , die Grundſaͤtze von der allgemeinen
Sicherheit ſeyen eine Chimaͤre , und wer daran
glaube , ein Narr oder Charletan .
Zur Beſtaͤtigung dieſes Satzes behauptete er ,
der Menſch habe einen Zahn im Mund gegen ſein
Geſchlecht , den ihm Niemand ausziehen koͤnne ,
und ſo lange er dieſen habe , ſo hoͤre ſein Beißen
nicht auf .
Es braucht viel und mehr als der Herzog
hatte , das Wahre und Falſche dieſer Saͤtze zu ſoͤn-
dern ; aber weil er ein ſo innig gutes Herz hatte , ſo
ſchadete ihm der Miſchmaſch nichts , er that ihm
vielmehr manchmal wohl , zerſtreute ihn , und
machte ihm gutes Blut — und ſonſt nichts ; wenn
es ihm ſchon zu Zeiten vorkam , es ſey wie er ſage ,
ſo blieb er im Grund immer was er war — und
Bylifsky zaͤhlte in allweg ſo ſicher auf ſein Herz ,
als der andere auf die Kunſt , ihm fuͤr einen Au-
genblick den Kopf herumzudrehen , wohin er wollte .
§. 40 .
Ein zweyfacher Unterſchied zwiſchen Sa-
chen und zwiſchen Menſchen .
D er erſte war klug genug , ſeinen Bericht von
Bonnal alſo einzurichten , daß er zwar mit Be-
ſtimmtheit aͤußerte , die Sache gehe gut , und ihre
allgemeine Ausfuͤhrung koͤnne mit der Zeit dem
Land von Wichtigkeit werden , aber hingegen ſich
nichts weniger als eifrig dafuͤr zeigte , ſondern
vielmehr eben ſo beſtimmt beyfuͤgte , ſe fodere
einen
einen langſamen Gang , und muͤſſe am Ort , wo
ſie angefangen , zu ihrer voͤlligen Reife gedeihen ,
ehe man daran denken koͤnne , einen Schritt weiters
zu gehen . —
Lang hernach , und nur wie beylaͤufig , ſezte
er hinzu , der Lieutenant iſt der Mann , der die
Sache ſeiner Zeit in vielen Doͤrfern ausfuͤhren
kann , wie ers izt in Bonnal thut .
Der Herzog ließ ihn von gar nichts anderm
reden ; er fieng wieder von neuem davon an , und
drang beſonders auf eine beſtimmte Antwort auf
die Frage , worinn der Unterſchied zwiſchen dieſem
Verſuch und den aͤhnlichen , die ihm ſo wohl als
andern Leuten ſo vielfaͤltig mißlungen , beſtehe ?
Der Miniſter antwortete : Ihr Durchlaucht !
man ſucht die Leute in Bonnal zu nichts anderm zu
machen , als was ſie in ihrem Plaz nothwendig wer-
den muͤſſen , aber man ruhet nicht , bis man da iſt ,
daß ſie dieſes recht werden , und braucht dazu in
einem jeden einzeln Stuck , vom Ackerfahren an bis
zum Maus und Ratzen fangen , allemal den Mann ,
der das einzelne Stuck , warum es zu thun iſt , am
beſten verſteht .
Dieſe Erklaͤrung gieng dem Fuͤrſten zu Herzen .
Das Bewußtſeyn , daß er ſelber an ſeinem Plaz
nicht ſey , was er darinn ſeyn ſollte ; und daß die-
L
jenige , die ihn dazu haͤtten bilden und fuͤhren ſol-
len , das gar nicht verſtanden , was ſie ihn haben
lehren ſollen , gab es ihm mit innigſter Bewegung
zu fuͤhlen , wie wichtig ſolche Anſtalten ſeyn wuͤr-
den , durch welche die Menſchen das wirklich wer-
den muͤßten , was ſie an ihrem Plaz ſeyn ſollen ,
und durch welche ſie das , was ſie in erwachſenen
Jahren treiben muͤſſen , durch Leute lernen koͤnn-
ten , die es ausuͤben .
Er ließ ſich alle Umſtaͤnde erzaͤhlen , und ſagte
am Ende , wenn es in der Welt moͤglich iſt , daß
aus einem Verſuch von dieſer Art etwas heraus-
kommt , ſo muß hier etwas herauskommen . —
Aber das machte den Helidor nicht irre ; als er
noch an dieſem Abend wieder zum Herzog kam ,
und ihm dieſer ſagte , kommen Sie mir izt heute
nicht damit , die Sachen in Bonnal ſeyen Charla-
tanerien wie die andern , erwiederte Helidor laͤchelnd ,
ich ſagte niemals , die Sachen in Bonnal ſeyen
Charlatanerien wie die andern , zog das Wort in
Bonnal und wie die andern langſam ſpoͤt-
tiſch — und ſezte hinzu : aber erlauben Ihr Durch-
laucht , wie viel ſteht Ihnen dieſen Monat im Spiel ?
Verflucht viel — erwiederte der Herzog — und
ſagte , es waͤre bald Zeit , daß ich wieder eine Ambe
gewinne .
Warum zaͤhlen Ihr Durchlaucht auf keine Ter-
ne oder Quaterne ? ſagte der Liebling , und laͤ-
chelte . —
Der Fuͤrſt ſah ihn an , und waͤhrend dem er
ihn anſah , fuͤhlte er , was er meynte , nemlich drey
Menſchen wie die in Bonnal treffen ſeltener zuſam-
men , als vielleicht eine Terne oder Quaterne . —
Es duͤnkte ihn wirklich es ſey ſo , und ſchwieg .
— Aber Helidor ſah , daß er es fuͤhlte , und druͤ-
ſtete ſich hernach mit ſeiner Terne und Quaterne ,
daß es Bylifsky wieder vernahm . —
Es machte ihm nichts ; er wußte , daß man
aus den Menſchen machen kann , was ſie nicht
ſind , und daß man ſie zuſammen ſtellen koͤnne ,
wenn das Gluͤck ſie nicht zuſammen tragen wolle —
daß alſo die Vergleichung hinke ; und es war ihm
gar recht , daß es dem Herzog da r uͤber kalt mache ;
er hatte vielmehr gefuͤrchtet , es werde das Gegen-
theil thun , und ihn verleiten , den Verſuch in ſei-
nem unreifen Zuſtand weiter zu treiben , um ihm
alſo den Herzſtoß zu geben .
Habe keinen Kummer , Leſer ! Der andere
wird vor ihm verſchwinden wie ein Kameel mit ei-
nem Hocker und Aufſaz vor einer Pyramide .
L 2
§. 41 .
Die Philoſophie meines Lieutenants ,
und diejenige meines Buchs .
E in Schiffer , den jenſeits der Linie , wenn er
ſchon das Feuer des halben Himmels befahren , zu-
lezt noch ein Sturm uͤber die Abgruͤnde vielfarbi-
ger Meere ſchleudert , ſehnet ſich nicht ſo ſehr nach
den weißen Voͤgeln , die das Ufer verkuͤnden , als
Arner ſich nach Bonnal ſehnte , da er wieder leich-
ter Athem ſchoͤpfte .
So warm und treibend redte er auch von kei-
nem Werk ſeines Hauſes , als er mit dem Pfarrer
und dem Lieutenant von Bonnal redte . Sie fan-
den alle drey , das Werk ſey ſo viel als angefan-
gen ; aber zu ſeiner eigentlichen Vollendung und
zur Sicherſtellung der Zukunft fehle ihm nichts —
als Alles — und vor allem aus , eine mit ihren
Einrichtungen und ihren Endzwecken uͤbereinſtim-
mende Geſezgebung . —
Aber der Junker und der Pfarrer ſchoben die-
ſen Punkt auf den Lieutenant , und ſagten ihm , er
ſollte ſich nur darauf gefaßt machen ; auch By-
lifsky erwarte dieſes Stuͤck ihres Werks nicht von
einem alten Pfarrer , und nicht von einem jungen
Junker , ſondern von ſeiner Erfahrung . — Er
machte kein Kompliment , und war wirklich darauf
gefaßt . —
Da er , ſeit dem er Bylifsky erſten Brief gele-
ſen , die Nachforſchungen uͤber die Natur einer
wahren Volksgeſezgebung zum Gegenſtand ſeines
Nachtwachens und jedes freyen Augenblicks im
Tage gemacht , dachte er nunmehr mit einer Hei-
terkeit und Beſtimmtheit uͤber dieſen Gegenſtand ,
daß er ſich nicht entzog , ſeine Begriffe daruͤber in
einem der erſten Abenden , den ſie bey dem wieder-
geneſenden Junker zubrachten , auseinander zu ſe-
zen — wie folget . —
Die neuern Geſezgebungen , die man aber nicht
im Ernſt fuͤr Volksgeſezgebungen ausgeben wird ,
ſetzen alle vom Menſchen , und beſonders vom min-
dern Menſchen , voraus , daß er ohne alles Verhaͤlt-
niß mehr und beſſer ſey , als er iſt , und als er ,
ohne daß ſie ihn in Stand ſtellen es zu werden ,
ſeiner Natur nach nicht ſeyn kann .
Der Menſch , fuhr er fort , iſt von Natur , wenn
er ſich ſelbſt uͤberlaſſen wild aufwaͤchst , traͤg , un-
wiſſend , unvorſichtig , unbedachtſam , leichtſinnig ,
leichtglaͤubig , furchtſam , und ohne Graͤnzen gierig ,
und wird dann noch durch die Gefahren , die ſeiner
Schwaͤche , und die Hinderniſſe , die ſeiner Gierig-
keit aufſtoßen , krumm , verſchlagen , heimtuͤckiſch ,
L 3
mißtrauiſch , gewaltſam , verwegen , rachgierig ,
und grauſam . — Das iſt der Menſch , wie er von
Natur , wenn er ſich ſelbſt uͤberlaſſen , wild auf-
waͤchst , werden muß ; er raubet wie er ißt , und
mordet wie er ſchlaͤft . — Das Recht ſeiner Natur
iſt ſein Beduͤrfniß , der Grund ſeines Rechts iſt ſein
Geluſt , die Graͤnzen ſeiner Anſpruͤche iſt ſeine Traͤg-
heit , und die Unmoͤglichkeit weiters zu gelangen .
In dieſem Grad iſt es wahr , daß der Menſch ,
ſo wie er von Natur iſt , und wie er , wenn er ſich
ſelbſt uͤberlaſſen , wild aufwaͤchst , und ſeiner Na-
tur nach nothwendig werden muß , der Geſellſchaft
nicht nur nichts nuͤtz , ſondern ihr im hoͤchſten Grad
gefaͤhrlich und unertraͤglich iſt .
Desnahen muß ſie , wenn er fuͤr ſie einigen
Werth haben , oder ihr auch nur ertraͤglich ſeyn ſoll ,
aus ihm etwas ganz anders machen , als er von
Natur iſt , und als er , wenn er ſich ſelbſt uͤber-
laſſen wild aufwaͤchst , werden koͤnnte .
Und der ganze buͤrgerliche Werth des Menſchen ,
und alle ſeine der Geſellſchaft nuzbare und brauch-
bare Kraͤfte ruhen auf Einrichtungen , Sitten , Er-
ziehungsarten , und Geſezen , die ihn in ſeinem In-
nerſten veraͤndern und umſtimmen , um ihn ins
Gleis einer Ordnung hineinzubringen , die wider
die erſten Triebe ſeiner Natur ſtreitet , und ihn fuͤr
Verhaͤltniſſe brauchbar zu machen , fuͤr welche ihn
die Natur nicht beſtimmt , und nicht brauchbar ge-
macht , ſondern vielmehr ſelber die groͤſte Hinder-
niſſe dagegen in ihn hineingelegt hat : desnahen iſt
der Menſch allenthalben in dem Grad , als ihm
wahre buͤrgerliche Bildung mangelt , Naturmenſch ;
und ſo weit ihm der Genuß von Einrichtungen ,
Anſtalten , Erziehungsarten , Sitten , Geſezen ,
welche nothwendig ſind , aus dem Menſchen das zu
machen was er in der Geſellſchaft ſeyn ſoll , man-
gelt , ſo weit bleibt er , troz aller innwendig leeren
Formen der aͤußerlichen buͤrgerlichen Einrichtungen ,
in ſeinem Innern das ſchwache und gefaͤhrliche Ge-
ſchoͤpf , das er im Wald iſt ; er bleibt , troz ſeines
ganzen aͤußerlichen Buͤrgerlichkeitsmodel , ein unbe-
friedigter Naturmenſch , mit allen Fehlern , Schwaͤ-
chen , und Gefaͤhrlichkeiten dieſes Zuſtands ; iſt auf
der einen Seite fuͤr die Geſellſchaft ſo wenig nutz ,
als ſie vor ihm ſicher iſt ; er druͤckt und verwirrt ſie
nirgends , als wo er kann und mag — und auf
der andern Seite hat er von ihr eben ſo wenig einen
befriedigenden Genuß ; und es waͤr' ihm , wenn er
in der Mitte der buͤrgerlichen Geſellſchaft von ihr
verwahrloſet , wild , und natuͤrlich aufwaͤchst , gewiß
beſſer , er waͤre nicht darinn , und koͤnnte ſeine nich-
tigen Tage thieriſch und wild , aber auch ungehemm-
und ungefeſſelt im Wald dahin leben , als Buͤrger
zu ſeyn , und aus Mangel buͤrgerlicher Bildung ,
L 4
am Fluch einer Ketten zu ſerben , die ihm das Ge-
fuͤhl der Rechten ſeiner Natur von allen Seiten ver-
wirrt , das Befriedigende ſeiner Naturtrieben in
allen Theilen beſchraͤnkt , und ihm nichts dargegen
giebt , als die Foderung das zu ſeyn , was weder
Gott noch Menſchen aus ihm gemacht haben , und
was ihn die Geſellſchaft , die es von ihm fodert ,
noch am meiſten hindert zu ſeyn . — Indeſſen iſt
es nichts weniger als leicht , aus dem Menſchen
etwas ganz anders zu machen als er von Natur
iſt , und es fodert die ganze Weisheit eines die
menſchliche Natur tiefkennenden Geſezgebers , oder
wenn ihr lieber wollt , ( denn beydes iſt wahr ) die
Frommkeit einer Engeltugend , die ſich Anbethung
erworben , den Menſchen dahin zubringen , daß er
beym Werk ſeines buͤrgerlichen Lebens , und bey
Verrichtung ſeiner Stands- Amts- und Berufs-
Pflichten eine das Innere ſeiner Natur befriedigen-
de Laufbahn finde , und an einer Kette nicht ver-
wildere , welche die erſten Grundtriebe ſeiner Natur
mit unerbittlicher Haͤrte beſchraͤnkt , und mit eiſer-
nem Gewalt etwas anders aus ihm zu machen be-
ginnet , als das iſt , wozu ihm alle Triebe ſeiner
Natur mit uͤbereinſtimmender Gewalt unwillkuͤhr-
lich in ihm liegender Reize hinlocken .
Eine jede Luͤcke in der buͤrgerlichen Geſellſchaft
— ein jeder Anſtoß im geſellſchaftlichen Leben —
eine jede Ahndung durch Gewalt oder durch Liſt
ſeine natuͤrliche Freyheit behaupten , und außer
dem Gleis der buͤrgerlichen Ordnung zur Befriedi-
gung ſeiner Naturtrieben gelangen koͤnnen , das
alles fachet in jedem Fall den Funken der Empoͤ-
rung gegen dieſe Kette , der tief in der Natur liegt ,
von neuem wieder an — das alles belebt in jedem
Fall die nie in uns ſterbende Keime unſerer erſten
Triebe , und ſchwaͤch t in jedem Fall von neuem die
Kraͤfte unſerer buͤrgerlichen Bildung , die dieſe
Triebe beſchraͤnken .
So viel , und weniger nicht , hat ein Geſezge-
ber zu bekaͤmpfen , der den Menſchen durch die
buͤrgerliche Verfaſſung gluͤcklich machen , und ihm
die erſten Vortheile der geſellſchaftlichen Verbin-
dung , Gerechtigkeit und Sicherheit nicht nur ver-
ſprechen , ſondern auch halten will — denn allent-
halben , wo man die Menſchen wild aufwachſen ,
und werden laͤßt , was ſie von ſich ſelbſt werden ,
da iſt Gerechtigkeit und Sicherheit in einem Staat
ein bloßer Traum . Beydes iſt in einem Staat
nur in dem Grad wahrhaft moͤglich , als die Men-
ſchen , die darinn wohnen , von den Hauptfehlern
ihres Naturlebens , namentlich vom Aberglauben ,
vom Leichtſinn , Gedankenloſigkeit , Liederlichkeit ,
Furchtſamkeit , von Unordnung , Unweſen , ſchwaͤr-
meriſchen Lebensarten , und von den Folgen dieſer
Grundfehler , oder vielmehr Schwaͤchen unſerer
Natur , vom Troz ihrer Dummheit , von der Ver-
wegenheit ihres Leichtſinns , von den Verwicklungen
ihrer Unordnung , von der Noth ihrer Liederlichkeit ,
von den Verlegenheiten ihrer Unanſtelligkeit , von
dem Unſinn ihrer Gierigkeit , von der Gewaltſam-
keit ihrer Anſpruͤchen , und von der Grauſamkeit
ihrer Rache , geheilet , und zu einem bedaͤchtlichen ,
vorſichtigen , thaͤtigen , veſten , im Zutrauen ſo wohl
als im Mistrauen ſicher gebenden , und die Mittel
zur Befriedigung ſeiner erſten Wuͤnſche in ſich
ſelber , und im Gebrauch ſeiner durch buͤrgerliche
Bildung erworbenen Fertigkeiten und Kraͤften fuͤh-
lenden Menſchen zu machen .
Denn wo dieſes nicht iſt , und die Geſellſchaft
mit ihren Gliedern handelt wie ein Bauer , der aus
ſeinem Weinberg nimmt , was Gott und die Reb
giebt , ohne ihn im Fruͤhjahr zu hacken , und den
Sommer uͤber zu ſchneiden und zu binden — wo
ſie vielmehr umgekehrt in dem Grad , als ein Buͤr-
ger in der Stufenfolge hoͤher ſtehet als der andere ,
ihm es leichter macht , ihren Banden zu entſchluͤp-
fen , und der Natur nach zu leben , da muß die
buͤrgerliche Geſellſchaft — ſie kann nicht anderſt —
eine Gerechtigkeit und eine Sicherheit erhalten ,
wie ſie der Geſezgeber in dieſem Land verdient , die
aber auch ausſieht , wie eines jeden liederlichen
Haushalters ſeine Hausordnung — und wie
zum Exempel , da — wo ſoll ich ſagen — ich
will in der Tiefe bleiben , wo ſich die hi her zie-
lende Wahrheit mit ganz unvernuͤnftig mehrerer
Behaglichkeit ſagen laͤßt — alſo — da z. Ex. wo
Schulz , Weibel , Untervogt , u. ſ. w. notoriſch ,
landskundig , und allgemein minder ehrlich , min-
der aufrichtig , minder unbeſcholten , minder zu-
verlaͤßig , gutmuͤthig , und treuherzig ſind , als ge-
meine Leute im Land ; und eben dadurch , daß ſie
Untervoͤgte , Weibel und Schulze ſind , dahin kom-
men , daß ſie , unbeſchadet ihrer Ehre , ihres guten
Namens und ihres Seckels , alles , was recht iſt ,
ſo auffallend minder ſeyn koͤnnen und doͤrfen , als
jeder gemeine Menſch im Land — und wieder , wo
ſie eben dadurch , daß ſie Untervoͤgte , Schulze , u.
ſ. w. ſind , dahin kommen , daß ſie in allem , was
Hausordnung , Erziehung , gemeinen Landesfleiß
u. ſ. w. antrift , minder anſtellig , und minder
rathlich , als alte kindlichgewordene Weiber und
Kuͤhhirten — Und im Gegentheil in allem , was
die Menſchen zur Verwilderung eines unbuͤrgerli-
chen und ungeſellſchaftlichen Lebens hinabfuͤhrt , und
ſie zu verdrehten , krummen , hinterliſtigen , falſchen ,
traͤgen , unordentlichen , und dabey verlogenen ,
heimtuͤckiſchen , gewaltthaͤtigen , rachſuͤchtigen und
grauſamen Naturmenſchen macht , ganze Meiſter
ſind , und eben dadurch , daß ſie Regierungsbeam-
tete ſind , und alſo in der Stufenfolge der geſell-
ſchaftlichen Ordnung hoͤher ſtehen als andere ,
dahin kommen koͤnnen , in dieſen Kunſtſtuͤcken
des Naturlebens ſolche Meiſter und Vorbilder zu
werden . —
Allenthalben , wo es immer ſo iſt , und wo im-
mer das wirkliche Reſultat der Geſezgebung im Ein-
fluß habenden Menſchen alſo ausſieht und auffaͤllt ,
da iſt Sicherheit der Perſonen und des Eigen-
thums , Freyheit und Gerechtigkeit eine Chimaͤre ,
weil unter dieſen Umſtaͤnden das Volk , das iſt , ſo
viel als alles was auf zwey Beinen geht — zu einem
Geſindel wird , das auf der einen Seite ſeine Sin-
nen und Gedanken und ſein ganzes Beſtreben da-
hin lenkt , auch , wie ſeine Obern , von der ver-
haßten Kette loszukommen , und wie ſie auch wie
im Wald zu leben , und dabey , wo moͤglich , noch
bey ihrem Waldleben andere zweybeinigte Geſchoͤpfe
zu ihrer Bedienung , zu ihrer Kommlichkeit und
ihrem Schutz unter ſich zu haben . — Und denn
aber auf der andern Seite von einer unter dieſen
Umſtaͤnden allerhoͤchſt wichtigen und allerhoͤchſt
nothduͤrftigen Galgen-Rad- und Galeeren-Gerech-
tigkeit Anmerkung . Pardon ! der Lieutenant
heißt eine Galgen-Rad- und Galeeren-Gerech-
tigkeit nicht eine ſolche , die Galgen und Rad
braucht , ſondern eine , die ſie darum brau-
chen muß , weil ſie das Volk verwahrloſet ,
und ſelber zu dem macht , wofuͤr ſie ihn hin-
tennach ſtraft — eine ſolche Gerechtigkeit , die zuruͤckgeſchreckt , zuruͤckgebunden , und zu-
ruͤckgemetzelt dahinkommen , durch die Umwege der
Falſchheit , des Betrugs , der Verſtellung und ei-
nes huͤndiſchen Kriechens zur Befriedigung der Trie-
be zu gelangen , wozu ihnen , durch den offenen ge-
raden Weg der Gewalt zu gelangen , alſo der Weg
geſperrt wird .
So , ſezte er mit Hitze hinzu , ließ man einſt
in Staaten fuͤr das Kopfgeld Zigeuner , und anders
Volk ihrer Art , ins Land , und verbot ihnen uͤbri-
gens bey Strafe und Ungnade den Bauern Enten
zu ſtehlen , und andere dergleichen Sachen zu machen .
Dieſer Unfug iſt noch allenthalben in der Welt ;
aber alle Gerechtigkeit , welche unter dieſen Umſtaͤn-
den in einem Staate moͤglich , iſt denn auch nichts
anders , als eine armſelige Nothjagd gegen ver-
wahrloſete und verwilderte Thiermenſchen , welche
aber das Geſchlecht ſo wenig aͤndert , beſſert , oder
zahm macht , als die Fallen und Gruben im Wald
den Fuchs , und den Baͤr und den Wolf anders
machen als ſie ſind .
Niemand im Land gerecht , aber das halbe
Land ungerecht macht , und denn die Kinder
ihrer eigenen Ungerechtigkeit behandelt , als
wenn ſie keine menſchliche Natur haͤtten , und
bey der buͤrgerlichen Verwahrloſung nicht noth-
wendig verwildern muͤßten — eine ſolche Ge-
rechtigkeit , und keine andere , heißt mein Lieu-
tenant eine Galgen- Rad- und Galeeren-Ge-
rechtigkeit .
Dieſes Geſchlecht wird nicht anders und nicht
beſſer , als wo es durch eine mit ſeiner Natur uͤber-
einſtimmende Bildung und Fuͤhrung , mit Weis-
heit , zu ſeiner buͤrgerlichen Beſtimmung empor
gehoben , und zu dem gemacht wird , was es in
der Welt wirklich ſeyn ſoll .
So redete der Lieutenant uͤber den Fundamen-
talirrthum der neuern Geſezgebungen . Es machte
den Herren beyderſeits bange : denn obwohl dieſe
Vorſtellungsart dem Pfarrer eine wichtige Frage
in ſeinem Katechiſmus erklaͤrte , und auch dem Jun-
ker Stuͤck fuͤr Stuͤck nichts dagegen in den Sinn
kam , ſo ſahen ſie doch , daß dieſelbe nicht weniger
weit lange , als die ganze im philoſophiſchen Jahr-
hundert wirklich in Ausuͤbung ſtehende Geſezgebung
auf den Kopf zu ſtellen — und wenn ſie Hollaͤnder
geweſen waͤren , ſo haͤtten ſie die Sache ad refe-
rendum genommen , oder als ein unlauteres Ge-
ſchaͤft ihre Aufheiterung Gott und der Zeit uͤber-
laſſen ; aber ſie waren deutſche Maͤnner , und gien-
gen ohne Furcht und Seitenſpruͤnge ihren geraden
Weg fort , mit dem Bleymaß in der Hand , den
Grund und Boden des Gewaͤſſers zu ſondieren , wel-
ches zu befahren ſie nun einmal ſich verpflichtet
hielten .
§. 42.
Uebereinſtimmung der Philoſophie mei-
nes Lieutenants mit der Philoſophie
des Volks .
S ie hatten dieſe Tage alle Abende den Lindenber-
ger , den Baumwollen Meyer , den Michel , den al-
ten Renold , und noch mehrere Bauern von Bon-
nal bey ſich , und forſchten umſtaͤndlich nach , was
auch ſie glaubten , das man machen koͤnne , um
auf eine dauerhafte , Kind und Kindskinder ſicher
ſtellende Art , eine beſſere Ordnung im Dorf in allen
Stuͤcken einzurichten und feſtzuſetzen ; und erſtaun-
ten , zu ſehen , wie die Bauern Stuͤck fuͤr Stuͤck
mit den Meynungen des Lieutenants uͤbereinkamen ,
bey den kuͤhnſten Aeußerungen deſſelben nicht die ge-
ringſte Verwunderung zeigten , ſondern in allen
Theilen eintraten , ſeine Meynungen durch ihre Er-
fahrungen zu bekraͤftigen . — Das konnte nicht
anders , es mußte die Bangigkeit , die den geiſtli-
chen und weltlichen Herren uͤber die Kuͤhnheit des
erfahrnen Lieutenants befallen hatte , verſchwinden
machen — es that es wirklich — und fuͤhrte ſie
beyde zu einer der erſten Quellen des menſchlichen
Muths , nemlich zum Glauben , daß alles , was all-
gemein als hoͤchſtnothwendig auffalle , hoͤchſtwahr-
ſcheinlich auch moͤglich ſey .
Die Bauern , die beſtimmt — wie er — fan-
den , daß die Menſchen , ſo bald ſie ſich ſelbſt uͤber-
laſſen , traͤg , unwiſſend , unvorſichtig , und voͤllig ,
wie er ſie beſchrieben , werden , hielten ſich , ihre
Meynung hieruͤber deutlich zu machen , an die Be-
ſchreibung der alten Ordnung in Bonnal , und ſag-
ten , die Leute ſeyen ſo ſinnlos und vergeßlich ge-
worden , daß ſie nicht mehr zu gebrauchen gewe-
ſen , und man mit ihnen in allen Stuͤcken nicht
mehr das Halbe habe ausrichten koͤnnen , was vor-
mals landsuͤblich geweſen .
Die Gruͤnde zum Rechtthun ſeyen den Leuten
wie vor den Augen weggethan — und hingegen
die Gruͤnde zum Lumpen und Schelmen wie vorge-
mahlt und vorgeſungen worden . Man habe es mit
Lumpenſtreichen und Bosheiten gar viel weiters
bringen , mehr dabey gewinnen , und damit leich-
ter zu Wein , Brod und Fleiſch kommen koͤnnen ;
auch haben ſie das Rechtthun fuͤr keine Ehre mehr
gehalten , und keine Freude dabey gehabt , ſo we-
nig als Scham und Furcht . Die kleinſten Kinder ,
wenn man ihnen etwas abgewehret , ſeyen im Stand
geweſen , den Ruͤcken zu kehren , und anfangen zu
ſingen : „ Was reden die Leute , was bellen die
Hunde ! „ Wer der Frecheſte und der Schlaueſte ,
und
und der Staͤrkſte geweſen , und das groͤſte Maul ge-
habt , der ſey an der Gemeinde , im Gericht und
im Chorgerichte , und allenthalben Meiſter geweſen ,
und dahin habe ſich natuͤrlich ein jedes gelenkt ,
wodurch er glaubte auch Meiſter zu werden . —
Man habe die Kinder laufen und aufwachſen laſſen
wie das unvernuͤnftige Vieh . — In der fruͤhen
Jugend haben die Aeltern uͤber ihre Bosheiten ge-
lacht , und dann , wenn ſie ihnen damit uͤber den
Kopf gewachſen , haben ſie mit Streichen dieſelben
wieder aus ihnen herausſchlagen wollen . — Die
Obrigkeit habe es nicht anders gemacht ; aber die
Erfahrung habe gezeiget , daß ſie auf beyden Sei-
ten 7 Teufel hineingeſchlagen , wo ſie geglaubt , ei-
nen auszutreiben . Am Ende ſeyen die Leute dieſes
Lebens gewohnt worden , daß ſie alles haben gehen
laſſen , wie wenns ſo ſeyn muͤßte , und ſich uͤber
nichts mehr graue Haare haben wachſen laſſen , ſo
wie die Schelmen und Bettler im Wald es auch
machen , und ſo lang ſie zu eſſen und zu trinken
haben , die luſtigſten Leute von der Welt ſeyen .
Die Kinder ſeyen bey dieſem Leben , wenn ſie nicht
in den erſten Monaten geſtorben , dennoch geſund
und friſch aufgewachſen , und da man ſie Schaa-
renweis mit rothen Backen , und mit Augen wie
Feuer in den groͤſten Fetzen , und halb nackend
im Schnee und Eis , und Koth geſehen herum-
laufen und Freude haben , ſo habe man faſt nicht
M
anders koͤnnen als denken , es ſey nicht ſo gar ſchlimm
mit dieſem Leben ; aber wann ſie dann aͤlter ge-
worden , und keines zu nichts zu brauchen gewe-
ſen , und man keinem nichts habe anvertrauen , und
auf keines in nichts ſich habe verlaſſen koͤnnen ,
dann haben einen die rothen Backen nicht mehr
verblendet , ſie ſeyen aber auch von ſich ſelber wieder
weggekommen ; und Kinder , die im zwoͤlften Jahre
ausgeſehen wie Engel , und gutmuͤthig geweſen wie
Laͤmmer , ſeyen im 16. bis 18ten geworden , daß
man ſie nicht mehr gekennt , und im zwanzigſten
wie eingefleiſchte Teufel . So weit gieng die Ueber-
einſtimmung der Ausſagen der Bauern mit den
Grundſaͤtzen des Lieutenants .
Der Lieutenant aber verſtund aus den Bauern
aller Arten ihre wahre Meynung uͤber das , was er
wunderte , ſo gut herauszulocken , als ein Apothe-
ker aus Knochen , Kraͤutern und Wurzeln , den
Geiſt , welchen er heraus haben will . Er fand
aber auch meiſtens etwas ganz anders bey ihnen ,
als z. Ex. ein Pfarrer , der ſich die ſchlauen Buben
etwas von dem Wohlgefallen des lieben Gottes an
der Keuſchheit , und den uͤbrigen chriſtlichen Tu-
genden vorheucheln laͤßt , wovon ſie kein Wort glau-
ben ; oder ein Junker , der mit Schloßeifer mit ihm
von der ſchuldigen Treue der Zehendknechte und
Gefaͤlleintreibern redet , und auch ſo dumm iſt zu
glauben , was ſie ihm daruͤber antworten ; welcher
lezte Glaubensfall aber freylich , und ganz natuͤrlich ,
ohne Vergleichung ſeltener iſt , als das erſte , weil
das Intereſſe dem Edelmann hierinn die Augen zu
viel oͤfnet , als daß er ſo ga r , wie der andere , im
Glauben verirren koͤnnte .
Ich ſollte es nicht noch ſagen muͤſſen , ſolche
gemeine Pfarrer- und Edelmanns-Arten , Bauern-
geiſt zu ſammeln , ſind nichts nuͤtz . — Was dabey
herauskommt , iſt der wirklichen Wahrheit ſo ganz
entgegen und ungleich , als wenn man des Apothe-
kers Wurzeln und Kraͤuter blos in die Hand neh-
men , und den Geiſt davon mit derſelben heraus-
druͤcken wollte — was er herausbringt , iſt Koth-
ſaft und Waſſertropfen — zwar wird freylich gar
viel ſolcher Kothſaft , und ſolche Waſſertropfen , als
aͤchter Bauerngeiſt in hundert Apotheken verkauft ,
und die Guttern ( Flaſchen ) davon alle Michaelis
und Oſtern hoch aufgefuͤllt , wie zu leſen im Meß-
katalogus unter dem Titul : „ Buͤcher fuͤrs Volk . „
Der Lieutenant ſah dem ſchlauſten Buben un-
ter den Bauern in die Seele , und konnte ihm
aufs Wort zeigen , daß er ihn durch und durch
ſehe , und vollkommen wiſſe , was er dabey denke ;
damit brachte er , ſo bald er wollte , von ihnen her-
aus , wofuͤr ſie ſonſt kein Maul haben , und was ſie
unter ſich ſelber meiſtens einander auch nicht mit
Worten , ſondern nur mit Laͤcheln , mit Nicken ,
M 2
mit Kopfſchuͤtteln , Maulverziehen , Augenverziehen ,
Naſenruͤmpfen , und dergleichen Zeichen , mit denen
ſie ſaͤmtlich gar wohl verſehen ſind , zu verſtehen
geben .
Auch brachte er ſeine Bonnaler Bauern dahin ,
daß ſie ihre wahre Meynung gar nicht mehr vor
ihm verbargen , und z. Ex. uͤber das Stehlen , vor
dem Junker und dem Pfarrer gerade herausſagten ,
das Volk ſtehle allenthalben , wo man ihns nicht
mit vieler Muͤhe , Arbeit und Sorgfalt dahinbrin-
ge , daß es nicht mehr ſtehle .
§. 43.
Volksbegriffe uͤber das Stehlen .
S ie ſagten gerade heraus , das Stehlen ſtecke in
dem Menſchen , und das Nichtſtehlen muͤſſe man
ihn lehren ; aber an den meiſten Orten koͤnne man
nicht einmal das , und an vielen Orten wolle man
es nicht .
Allenthalben , wo keine Ordnung ſey ; allent-
halben , wo der Landes Fleiß nicht feſt gegruͤndet ;
allenthalben , wo Zuͤgelloſigkeit und Liederlichkeit
im Schwang geht , da ſtihlt das Volk . — Wie-
der , wo es unterdruͤckt wird , und keinen Schutz
findet — wieder , wo es nicht lernt zum Geld
Sorge tragen — wieder , wo die gemeine Landes-
ehr zertreten , und am meiſten , wo der Prozeßteu-
fel eingeriſſen , und einer den andern leicht um das
Seine bringt . — An allen dieſen Orten macht ſich
das Volck ſo wenig daraus zu ſtehlen , als es ſich
etwas daraus macht Brod zu eſſen .
Es iſt zwar freylich nicht , daß es ſich das ſel-
ber geſtehe ; es waͤre wohl gut , man koͤnnte ſich
dann darnach richten , und mit ihm darnach um-
gehen — aber ſie haben ihren Katechiſmus im
Kopf , und glauben im Allgemeinen ganz gut , das
Stehlen ſey nicht recht — aber in jedem beſondern
Fall , wo ſie den Anlas haben , finden ſie denn alle-
mal , dießmal und dießmal ſey nicht ſo viel daran
gelegen , und haben fuͤr einen jeden ſolchen Fall
immer einen ganzen Karren voll Entſchuldigungen ,
die ihnen genug thun , im Kopf und Herzen parat
da ſind , als dieſe : „ Er hat mir auch geſtohlen , oder
wenn er koͤnnte , wuͤrde er mir noch mehr ſtehlen “
— „ Es iſt mehr als geſtohlen , wie er ſein Gut
zuſammen gebracht “ — „ Was mag ihm der Bet-
tel ſchaden ! “ — „ Er verſpielt mehr auf einer
Karten “ — „ Wenn ich ein gutes Maͤdchen waͤr ,
er gaͤb' mirs vergebens . “ Item : „ Er iſt ein ver-
fluchter Bub , daß ſeines gleichen nicht iſt — es iſt
Suͤnde was man ihm thut “ — „ Er kommt doch
um ſeine Sachen , nehme ich ſie ihm nicht , ſo
nimmt ſie ihm ein anderer . “ — Wieder : „ Ich
M 3
hab es doch auch ſo noͤthig — ſo wenig macht
dem lieben Gott nicht viel — ich bin ſonſt doch
auch ſo geplagt — ich habe izt juſt auch muͤſſen da-
zukommen , wie wenn es Gottes Wille geweſen . “ —
Dergleichen Worte ſind ihnen unter beruͤhrten
Umſtaͤnden gelaͤufiger als das Vater Unſer ; und ſie
erlauben ſich allenthalben wo ſie ſo verflucht natuͤrlich
denken , das Stehlen — dennoch gegen Niemand
lieber als gegen die Obrigkeit — Sie nimmt auch ,
wo Sie kann und mag — haben ſie unter dieſen
Umſtaͤnden im Augenblicke gegen die Obrigkeit im
Munde . — Und auch gegen Fremde macht ſich
das Volk unendlich minder aus dem Stehlen —
„ waͤren ſie geblieben , wo ſie daheim ſind “ — ſa-
gen die Ehrlichſten ; — „ was haben ſie uns noch
enger zu machen — wir ſind ſonſt genug eingeſperrt
— wenn ihnen Zaͤune und Gaͤrten niedergeriſſen
worden , ſo iſt ihnen nur recht geſchehen . “ — Anmerkung . Staune nicht Leſer ! an die-
ſer Stelle . Ich werfe keine boͤſe Gedanken
ins Volk : der Bauer denkt das alles ohne mein
Buch ; er denkt noch mehr als dieſes mit einer
Einſeitigkeit , Lebhaftigkeit , und mit einer dun-
keln Stille , gegen deren Gift ich kein beſſers
Mittel kenne , als offen gegen ihn zu handeln ,
und ihm zu zeigen , daß man weißt was er
denkt ; aber daß man mehr weißt , und nichts
ſucht , als ihn durch die Wahrheit , ſo wie er
Sie erzaͤhlten die ſonderbarſten Umſtaͤnde von
den Dieben , und wie leicht Unordnung , und Druck
und Mangel , etwas rechtes gelernt zu haben , zum
Stehlen bringe , und wie oft die kleinſten Umſtaͤnde
daruͤber den Ausſchlag geben . — Unter anderm das
Wort eines Gehenkten , der unter der Leiter zu ſei-
nem Vater ſagte : „ Wenn du mich gemacht haͤtteſt
mein Wamms zu Nacht ordentlich an den Nagel auf-
zuhenken , ſo wuͤrde man mich izt nicht aufhenken —
Und eines andern — der durch ein unvorſichtiges
Wort in einen Prozeß verflochten , und hinten nach
auch zum Stehlen gekommen , geſagt hat : — „ Es
macht mir nichts zu ſterben , wenn izt nur auch
jemand die henkte , die mir Haus und Habe ge-
ſtohlen , aber es henkt ſie Niemand , ſie ſitzen beym
Blutgerichte „ — und es war ſo . —
Die Bauern machten einen Unterſchied zwi-
ſchen dem geſezmaͤßigen und dem galgenmaͤßigen
Stehlen ; und behaupteten , wo das erſte leicht ſey ,
und man in geſezlicher Form und Ordnung die Leute
um das Ihrige bringen koͤnne , ſey dem andern
nicht zu ſteuern , und es gehe gewoͤhnlich ſo , daß
ſie denkt , weiter zu bringen , als er ohne un-
ſere Hilfe nicht kommen konnte . Das ſuche ich
Leſer ! und alſo fuͤrchte dich nicht , wenn ich
meine Bauern in alleweg , und auch von der
Obrigkeit reden laſſe , wie ſie denken . ꝛc .
M 4
wenn der Vater in einer Haushaltung beym Ge-
ſezmaͤßigen bleibe , der Sohn denn ſo viel als ge-
wis zum Galgenmaͤßigen dieſes Handwerks herab-
ſinke . Auch das ſagten die Bauern , wo man im-
mer die Menſchen nicht dahinbringe , daß ſie um
ihrer ſelbſt willen nicht ſtehlen , ſo werde man in
Ewigkeit mit ihnen nicht dahin kommen , daß ſie
weder um Gottes willen , noch um anderer Leute
willen , darinn aufhoͤren . —
Sie ſagten , das Bauernvolk achte fremde Leu-
te , und jedermann der ſie nichts angehe , ſo viel als
nichts — und ſezten hinzu , ſie wuͤßten es nicht wie
es die Herren darinn haben ; aber einmal unter
den Bauern ſey es gewiß , daß ſie auf andere Leute
nur in ſo weit Achtung tragen , als es ihr Nutzen
iſt , es zu thun . —
Auch Mangel geſunder Nahrung , ſagten ſie ,
mache das Volk gar oft ſtehlen ; und wenn ſie , be-
ſonders im Alter von 16 Jahren bis zum Auswach-
ſen , ſchlecht zu eſſen haben , ſo koͤnne man ſie mit
einem Pfnnd Kaͤſe , und einem Stuͤck Fleiſch hin-
bringen , wohin man wolle .
Auch die Langeweile , ſagten ſie , bringe viele
Menſchen zum Stehlen , an Ort und Stelle , wo
es beym Rechtthun gar nicht mehr luſtig ſey , und
man ob nichts Gutem und Unſchuldigem Freude
mehr haben koͤnne , da koͤnnen noch oft die beſten ,
und die ſo zu gut ſind , zu Hauſe Schaͤlke zu wer-
den , und die Ihrigen mit ihrer Langeweile zu
plagen , dahin , daß ſie Anlas ſuchen , wo es luſtig
geht , und unter gewiſſen Umſtaͤnden finden ſie die-
ſes , wenn ſie das Dorf hinauf- und hinabgehen
nirgends als im Wirthshaus und bey Schelmen . —
§. 44.
Volksphiloſophie uͤber den Geſchlechts-
trieb .
S ie behaupteten , es komme hierin gaͤnzlich auf
die Erziehung der Toͤchtern an , ſo bald ſie erzogen
werden , als ob ſie nichts in der Welt werden muͤß-
ten als ſchoͤne Jnngfern , ſo ſpringen ſie in dieſer
Abſicht mit offnen Fluͤgeln und Schaarenweis ih-
rem Elend entgegen , wie Huͤner , denen man Ha-
ber ſtreue , ihrem Fraß , und da ſey es dann gleich
viel , wenn man die halben Glukthiere den andern
vor den Augen bey ihren Fekken ( Fluͤgeln ) weg-
nimmt , wuͤrgt , und an den Boden wirft ; die
andern freſſen neben den todten Schweſtern fort ;
und wann man ihnen am Morgen wieder Gluk —
Gluk — ruft , ſo kommen ſie wieder , laſſen ſich
wieder fangen , wuͤrgen , und an Boden werfen
— ſo gehe es immer , und es ſey unmoͤglich den
Unordnungen des Geſchlechttriebs abzuhelfen , wenn
man nicht mache , daß die Toͤchtern mehr werden
als dergleichen Gluckthiere . Man muͤſſe ihnen ,
wenn man das wolle , von Jugend auf den Kopf
wohl mit der Wirthſchaft anfuͤllen , und es trach-
ten dahin zu bringen , daß ſie mit anhaltender Ar-
beit , Uebung im Ueberlegen , im Ausrechnen , und
in allen Arten von haͤuslichen Aufmerkſamkeiten
verbinden — und zugleich einen Ehreifer in ſie
hineinbringe , daß keine in keiner Art von Weiber-
arbeit , und in keinem Stuͤck der Haushaltungs-
kunſt die Hinterſte ſeyn wolle ; und es ſey in dieſer
Abſicht gar viel daran gelegen , daß ſie bey ihrer
Landtracht bleiben , und ſich nicht eine jede vor der
andern mit ihrer Decke mehr unterſcheiden koͤnne
als mit ihrer Arbeit , und mit ihrem Verdienſt ;
man ſollte alles thun , diejenigen zum Geſpoͤtt zu
machen , die eine beſondere Hoffart ( Pracht ) treiben ,
und damit zeigen , daß ſie mehr als die andern noͤthig
haben ſich feil zu bieten . Einer meynte , man ſollte
Lieder uͤber ſie machen , und ihnen darinn ſagen ,
daß die Juden es mit alten bauchſtoͤßigen , faulen
und hirnmuͤthigen Roſſen juſt auch ſo machen , und
ſie mit Baͤndern am Hals und Kopf ſo ſonderlich
und wunderlich ausſtafirt auf den Markt bringen ,
wie kein recht und gerechtes Roß dahin komme —
aber ein geſcheider Haͤndler gehe zu einem ſo ge-
zeichneten Judenthier nicht einmal hinzu — es
kaufe ſie Niemand , als etwa ein dummer Herr
und Burger aus einer Stadt . —
So meynte der Bauer in Bonnal , ſollte man
ſolchen Toͤchtern ein Lied machen ; wann es izt nur
jemand thun wuͤrde .
Hingegen ſollte man ihnen Anlaß geben zeigen
zu koͤnnen , wie weit es eine jede in aller Weiber
Arbeit gebracht , daß ſie Ehre und Aufmunterung
davon haͤtten , wenn ſie in etwas dergleichen weiter
waͤren als die andern .
Auf dieſe Art , meynten ſie , waͤre es moͤglich ,
wenn man wollte den Unordnungen des Geſchlecht-
triebs Einhalt zu thun ; es muͤßten dann , meynten
ſie , die Aeltern auch nicht mehr wie izt erſchrecken ,
wenn ein Sohn ans Heurathen denkt , und fuͤrch-
ten , er falle etwan auf eine , daß es beſſer waͤre ,
das Hagelwetter oder der Viehpreſten gienge uͤber
ihren Hof . Sie ſagten , es ſey den Aeltern nicht
zu verdenken , wenn eine Tochter uͤbel ausfalle , ſo
ſey nichts mehr zu machen — es ſey nicht einmal
wie mit den Knaben , die doch auch noch manch-
mal , wenn ſie heurathen , umkehren , und etwas
rechtes werden , wenn ſie vorher noch ſo nichtsnuͤtz
geweſen ſeyen — bey den Toͤchtern ſey das nie zu
hoffen ; ſie ſterben lieber , und heulen ſich lieber die
Augen aus , als daß ſie im 24ten Jahre die Haͤnde
ein wenig ſtaͤrker brauchen , als ſie es im 14ten ge-
wohnt geweſen . — Auch ſollte man alles thun ,
daß die Dorfjugend unter ſich zuſammen hielte ,
und fremde Leute , die keine Heurathsabſichten haͤt-
ten , nicht leicht mit einer Tochter aus einem Dorf
unter 4 Augen zur Red kommen koͤnnten — und
die Amtmanns-Soͤhne , Pfarrers-Soͤhne , Schrei-
ber , und dergleichen Leute , mit Ernſt und von
Obrigkeits wegen den Bauerstoͤchtern drey Schritt
vom Leib halten ; und es der Dorfjugend nicht
uͤbel nehmen , wann ſie zu Zeiten einen dergleichen
Herren im Brunnen abkuͤhlen wuͤrde .
Sie behaupteten , es gehe keiner und ſtehle den
Zehenden von einem Acker , mit Gefahr , dafuͤr ge-
henkt zu werden , wenn er machen koͤnne , daß der
Acker mit ſamt dem Zehnden von Rechtswegen ſein
werde ; und ſo ſey es auch mit den Toͤchtern , wenn
ſie nemlich das auch machen koͤnnen ; wenn ſie es
aber nicht koͤnnen , und nicht dazu erzogen werden ,
ſo ſtuͤrzen ſie ſich ja dann Schaarenweis uͤber die-
ſen Punkt in ein Elend , daß ihnen beſſer waͤre , ſie
wuͤrden auch gehenkt , ſie waͤren dannzumal doch
der Noth los , meynten die Bauern in Bonnal .
Ich laſſe ſie in ihrer rohen Sprache fort reden ,
ich habe es probiert ſie zu aͤndern , aber ich kann
ſie nicht beſſer machen ; ſie ſagten , wenn da gehol-
fen waͤre , ſo wuͤrden hundert und hundert Umſtaͤn-
de , uͤber die man izt großes Geſchrey mache , weg-
fallen wie nichts ; und behaupteten z. Ex. uͤber die
Liechtſtubeten Anmerkung . Eine Landesſitte , nach wel-
cher die Knaben am Samſtag- und Sonntag-
Nachts die Toͤchtern in ihrer Kammer beſuchen . , es ſey von Altem her ein naͤchtli-
ches Zuſammenkommen der Knaben und Toͤchtern
fuͤr ehrlich gehalten und fuͤr erlaubt angeſehen wor-
den , aber es habe allenthalben ſeine feſtgeſezte Re-
geln gehabt , ob welchen die Knaben und Toͤchtern
ſteifer gehalten , als ob keinem Geſez der Obrigkeit ;
an einigen Orten habe der Knab bey Monaten auf
der Leiter und vor dem Fenſter der Tochter bleiben
muͤſſen , und gewoͤhnlich habe ſie denſelben das Er-
ſtemal an einer Regennacht , oder wenn es gar kalt
geweſen , wie aus Mitleiden hineingelaſſen .
An andern Orten haben die Knaben die erſten
Fuͤnf- und Sechsmal in die Stuben kommen
muͤſſen , wo dann die Aeltern aufgeblieben , bis der
Knab fort , und das Haus beſchloſſen geweſen .
Wenn ſie denn nichts wider ihn gehabt , ſo haben
ſie in der 6ten 7ten Wochen die jungen Leute in
Gottes Namen allein beyeinander gelaſſen , und ih-
nen gewoͤhnlich mit den Worten , habet Gott vor
Augen , und thut nichts Boͤſes , eine gute Nacht ge-
wuͤnſcht .
So ſey alles Schritt fuͤr Schritt abgemeſſen
geweſen , wie eine Ehrentochter einen Knaben bey
Tag und bey Nacht nach und nach doͤrfe naͤher
kommen laſſen , und wie ſie ihn zugleich in der
Ordnung halten , und doch , wie ſie ſagten , nicht
aus dem Garn laſſen .
Und dann ſey es faſt eine unerhoͤrte Sache ge-
weſen eine Tochter zu verderben ; die Leute haben
noch nicht gewußt , daß es minder zu bedeuten habe ,
das aͤrmſte Kind im Land ungluͤcklich zu machen ,
als ab einem Pflug im Feld ein paar Pfund Eiſen ,
die daran ſeyen , abzureißen und heim zu tragen ;
im Gegentheil , es habe noch Leute gehabt , welche
die alten Lieder uͤber die Voͤgte , die man mit
Axen todt geſchlagen , weil ſie Weiber und Toͤch-
tern im Lande verfuͤhrt , in einem ſolchen Ton ge-
ſungen , daß ſich nicht ein jeder getraut haͤtte allent-
halben ins Bad zu ſitzen .
Es muͤſſe ſeyn , daß die alten Herrſchaften die
Seele mehr geachtet haben als wir , denn ſie habe
mehr Recht gehabt ; und man werde finden , daß
alles , was die Herrſchaften fuͤr viel und hoch ach-
ten , auch viel Recht im Land habe — izt habe ſie
an vielen Orten ſo viel als gar keines mehr , und
mit der Ehre ſey es das gleiche ; wenn die Herr-
ſchaften die Ehre der gemeinen Leute nicht fuͤr ſo
wichtig halten , als die Schnepf- und Rebhuͤner ,
ſo haben ſie auch kein Rebhuͤner- und Schnepfen-
recht im Lande , an vielen Orten habe ſie nicht
einmal Wachtelnrecht — und wo ſie das nicht habe ,
ſo gehe dann auch verloren , wie alles , was man
gar nichts achte , verloren gehe . —
Sie behaupteten , der Unzucht Unordnungen ,
vom Eheſchimpf ( Anmerkungen . ) Eheſchimpf iſt die
Beleidigung , auf mehr oder minder rechtliche
Art die Ehe zu verſprechen , und dann ſein
Wort nicht zu halten . an bis zum Kindermord , loͤſe
ſich nirgend als in dieſem Punkte auf , und vergli-
chen die Art und Weiſe , wie viele Herrſchaften mit
der Ehre im Lande umgehen , dem Feuer einer Lam-
pe , das alles Oel aus ihr herausziehe und eſſe ,
aber wenn es das Oel aufgezehrt habe , dann auch ſel-
ber erloͤſche ; und ſo meynten die Bauern , brennen
die Herrſchaften , die die gemeine Landesehre nicht
achten , ſich ſelber in ihren Ehrenampelen Ampele iſt die gemeinſte , ſchlechteſte Art
von Oellampen . auch
zu tod .
Sie konnten nicht genug erzaͤhlen , was fuͤr
ein Unterſchied in Ehrenſachen zwiſchen der itzigen
und alten Zeit geweſen , wann ein Knab einer Toch-
ter etwas Gefaͤhrliches und Beleidigendes zugemu-
thet habe , und ſie ſich nur ein Wort bey ihren Ge-
ſpielen davon habe verlauten laſſen , er ſey nicht
einer von den Beſten , man muͤſſe ſich mit ihm ge-
wahren , ſo habe er koͤnnen ſpatzieren , und Jahr
und Tag wandern und ſuchen , ehe er wieder eine
gefunden , die ſich ſeiner etwas angenommen .
Ueberhaupt ſagten ſie , es komme die Leichtfer-
tigkeit nicht von den jungen Leuten , ſie komme von
den Alten , und von der Ehrloſigkeit im Lande her ;
die jungen Leute haben allenthalben eine Freude
daran , auf ihren guten Namen Acht zu haben , wo
ſie auch nur ein wenig dazu aufgeweckt und aufge-
muntert werden , ſo machen ſie ſich eine Ehre dar-
aus , gute Farb zu haben , ſtark zu ſeyn , an der
Oſtern ohne Ermel in die Kirche zu gehen , beym
Tanz , Schneiden und Maͤhen munter und aufge-
weckt zu ſeyn , und nichts an ſich kommen zu
laſſen , das ihnen Schand machen koͤnnte .
Sie behaupteten auch , die Nachtfreyheiten der
Jugend haben die Leichtfertigkeit der Alten und
Verehlichten , die das Land ehrlos mache , verhuͤ-
tet , aber ſie ſeyen auch meiſtens um deßwillen ver-
boten worden .
Zu Kuͤllau ſey das in die Augen gefallen ; man
habe gerad 8 Tag hernach den Knaben verboten ,
ſich am Samſtag und Sonntag zu Nacht auf den
Gaſſen betreten zu laſſen , nachdem ſie einem nacht-
wandelnden verehlichten Geſpenſt , das ihren Toͤch-
tern
tern nachgezogen , die Peruͤque abgenommen , und
ſie dem Harniſchmann auf dem Brunnen bey der
Kirche aufgeſezt . Izt haben freylich die Peruͤquen-
Geſpenſter in Kuͤllau ſicherer des Nachts zu wan-
deln , aber man behauptet es fuͤr gewiß , es ge-
ſchehe unter den Knaben und Toͤchtern daſelbſt izt
gar viel mehr Boͤſes als vorher .
Auch das behaupteten ſie , man koͤnne in die-
ſer Sache nicht ganz allein auf die Verhuͤtung des
fruͤhzeitigen Beyſchlafs acht haben , ſondern man
muͤſſe vielmehr auch auf die Verhuͤtung der ungluͤck-
lichen Ehen bedacht ſeyn ; und zu dieſem Endzweck
ſeyen die Nachtfreyheiten , mit der ganzen alten
Ordnung verbunden , eine Sache geweſen , die ihre
recht gute Seite gehabt habe . Wann der Menſch
das Alter und das Recht habe eine Frau zu ſuchen ,
ſo muß man in Gottes Namen ihn eine ſuchen
laſſen ; und es ſey , ſezten ſie hinzu , einem nicht
zuzumuthen , ſeine Katze im Sack zu kaufen , wie
man ſich bey ihnen ausdruͤckt . Anmerkung . Dieſe Worte werden Leſer
einer Art verfeinerten ſittlichen Gefuͤhls ſtoßen
— Volkskenner werden ſie nicht ſtoßen . Wer
mit den Gradationen des ſittlichen Gefuͤhls
bekannt iſt , der weiß , daß die Sprache des
feinſten Gefuͤhls in den Mund zu nehmen , und
den rohern Ton des Mittlern zu verlaͤugnen ,
N
So deutlich kamen die Bauern mit ihrer Mey-
nung da hinaus , daß man gegen dieſen Fehler nicht
beſſer wirken koͤnne , als daß man die Kinder wohl
und mit Sorgfalt zu dem erziehe und bilde , was
ſie in ihrem Stand und in ihrem Platz in der Welt
ſeyn muͤſſen , und dem Leichtſinn , der Zuͤgelloſigkeit
und Gedankenloſigkeit ihrer Begierden von Jugend
auf entgegen arbeite , um ſie zu bedaͤchtlichen ,
ſorgfaͤltigen , den morgenden Tag , das Alter und
die Nachkommenſchaft feſt im Aug haltenden Men-
ſchen zu machen , auf die man in jedem Geſchaͤfte
des Lebens , alſo auch in dieſem ein gutes Ver-
trauen haben koͤnne .
Wie weit ſich dieſes Vertrauen unter den Alten
gegen die Kinder erſtreckt , zeige ſich , ſagten ſie ,
auch hierdurch , daß die Bauern ſogar auf den Hoͤ-
ehe man die Staͤrke einer hoͤhern innern See-
lenerhebung in ihrer ganzen Reinheit beſizt ,
zu nichts als zur Verſtellung fuͤhrt , und den
rohern Arbeitsmenſchen den Geradſinn und die
beſchraͤnkte aber ſichere Kraft ſeiner eigentlichen
Berufs- und Standsſittlichkeit verlieren macht ,
ohne ihm etwas beſſers dafuͤr zu geben ; wer
das weiß , der wird mir die Katz im Sack ver-
ziehen . Es ſind Bauernreden , die mit der
Katz im Sack gar nicht die gleichen Vorſtellun-
gen verbinden , als die gemeine Leſer-Welt ,
die aber auch , ehe ſie uͤber die Bauernſprache
urtheilt , ſie zu erſt verſtehen lernen ſollte . —
Adieu . —
fen , wo es doch unſicher ſey , um deßwillen , wenn
ſie Toͤchtern gehabt , nicht ſcharfe Hunde gehalten ,
und dennoch ſie des Samſtag- und Sonntag-Nachts
an die Ketten gelegt , damit ſich die Knaben nicht
ſcheuen zu ihren Haͤuſern hinzuzukommen , und daß
das ihren Toͤchtern nicht an einer Heurath ſchade .
Mit einem Wort , man habe faſt ohne Sor-
gen trauen doͤrfen . Etwan gar fromme Leute ha-
ben an einer Samſtags- und Sonntags-Nacht noch
ein Vater Unſer deſto mehr fuͤr ihre Kinder gebe-
tet , daß ihnen der liebe Gott ſeinen guten Geiſt
nicht entziehe , und ſie mit ſeinem Segen nicht ver-
laſſen woͤlle ; es ſey aber auch damals in einem
Ehrenhaus ſo viel als nie ein Ungluͤck begegnet ;
aber wohl hernach , da wo der Pflug im Feld nicht
mehr ſicher geweſen , wo Altes und Junges zu le-
ben angefangen wie die Heiden im Wald , da wo
man ſich aus dem Eidſchwoͤren nicht vielmehr ge-
macht , und Leute beym Nachtmahl haben zudienen
doͤrfen , die als die Schlimmſten hieruͤber im Land
verſchreyt geweſen , da ſeyen freylich auch die Toͤch-
tern in ſonſt braven Haͤuſern in ihren Kammern
nicht mehr ſicher geweſen .
Mit einem Wort , ſagten ſie , und dieſes war
das lezte , man habe die Hauptſachen , worauf es in
dieſem Stuͤck ankomme , izt wie aus den Augen
verloren , und mache Kindereyen daruͤber , die nicht
N 2
anderſt ſeyen , als wenn einer , anſtatt ſich das
Geſicht zu waſchen , ein Tuch uͤber den Spiegel
herabhaͤngen wollte .
Es ſey vor Altem Niemandem in den Sinn
gekommen , daß es den Toͤchtern an Ehren zuwider
ſey , wenn ſie zu Dutzenden mit einander in See
gehen zu baden ; und eben ſo habe man nichts da-
von gewußt , daß die Muͤtter , wenn ſie ſaͤugen , in
ihrer Wohnſtube ihre Bruſt vor ihren eigenen Kin-
dern verbergen , und daß dieſes der Leichtfertigkeit
vorbiegen ſolle ; im Gegentheil , man habe juſt um-
gekehrt geglaubt , Unſchuld pflanze Unſchuld , und
die halb erwachſenen Knaben ſeyen neben den Muͤt-
tern geſtanden , und mit dem Bruͤderli oder Schwe-
ſterli freundlich geweſen , wenns an ihren Bruͤſten
gelegen , und die Knaben ſeyen dardurch bewahrt
worden , daß ſie nicht ſo fruͤhe in das giftige Stau-
nen gefallen , welches die Wolluſt mehr reize , als
alles andere ; ſo ſey es damals geweſen , izt ſey
es anderſt .
So kamen die Bauern in Bonnal , in Abſicht
auf alle Verbrechen , auf die Meynung des Lieute-
nants hinaus ; und ſagten auch uͤber Mord und
Aufruhr ; Bauern , die erzogen werden , daß ſie ihre
Aecker und Matten , Gaͤrten und Buͤndten wohl
beſorgen , einander freundlich gruͤßen , im taͤglichen
Leben nicht in die Rede fallen , den alten Leuten
aus dem Weg gehen , und dabey doch die Augen
im Kopf haben , daß ihnen nichts unrechts geſchehe ;
ſolche Bauern , werden nicht leicht weder Moͤrder
noch Aufruͤhrer ; wohl aber werden ſie es in aller
Welt gar leicht , wenn ſie nicht zu Bauern ge-
macht , und zu ihrem Beruf gezogen werden , ſon-
dern wie die Wilden aufwachſen , und wie die Wil-
den ihre Natur ungebaͤndigt mit ſich herumtragen .
§ . 45.
Wenn ihr nicht werdet wie eines dieſer
Kleinen , ſo werdet ihr nicht eingehen
in das Reich der Himmeln .
S o brauchte der wieder Geneſende ſeine Abende :
Alles wollte ihn izt wieder ſehen . Es war dem
Volk in Bonnal izt wieder Niemand ſo lieb als er .
Wer zum Mareili kam , ſagte , Gottlob ! daß er
wieder lebt — und zur Renoldin , es iſt auf der
Welt Niemand wie er ! der liebe Gott hat ihn uns
wieder gegeben — und jedermann wuͤnſchte Gluͤck !
— Die Weiber neigten ſich vor dem Lieutenant ,
und die Maͤnner zogen vor ihm den Hut ab —
und es hatte nichts zu bedeuten , daß der Pfarrer
die Wochenpredigt nicht hielt ; ſie fanden izt ſelber ,
es nuͤtze nicht alles , ſo viel Geſchwaͤzwerk immer
N 3
und immer — und der Untervogt dachte izt wieder
im Ernſt darauf , ein gemeiner Mann zu werden
wie er vorher war — ſo wars izt — vor 8 Tagen
wars anderſt . —
Der Karl plagte den Papa mit ſeinen Buben
von Bonnal , und bat ihn , du muſt mir ſie auch
kommen laſſen , ſie muͤſſen auch ſehen , daß du wie-
der geſund biſt . — So mache ſie eben kommen ,
aber nicht allein deine Buben , alle Kinder aus der
Schule miteinander , ſagte ihm endlich der Jun-
ker — und die Geißen auch mit bringen , erwie-
derte Karl — ja die Geißen auch mit bringen , ſag-
te der Junker .
Er ſaͤumte ſich nicht ; er fragte , durfte , und
gieng noch dieſen Abend nach Bonnal , ladete ſeine
Buben auf Morn ein ; aber es machte vielen Angſt .
Sie hatten nicht ſo gar zu den Geißen Sorge ge-
tragen ; ihrer viele hatten an beyden Seiten weit
hinauf Kothzotteln , ſie ſchnitten ſie ihnen izt mit
Scheeren ab , fuͤhrten ſie an Bach , und waſchten
ſie da — es kam eine ganze Heerd mit einander . —
Morndeß gieng der Karl ihnen , ſo bald er ſie ſah ,
entgegen , und ſprang , da ſie die Geißen auf dem
Vorreyn an der Zaͤunung anbanden , von einer zur
andern , da ſah er , daß ihrer viele an den Huͤften
weit umher das Haar abgeſchnitten hatten . — Ja ,
ich weiß wohl , was das iſt ! die haben Kothzotteln
gehabt , und ihr habt ſie ihnen erſt heut oder geſtern
abgeſchnitten — und die auch — und die auch —
ſagte er , und ſprang von einer zur andern , und
wo ers ſah , da ſagte er — auch dieſe . — Ja ,
aber ſags doch auch dem Papa nicht , ( baten die
Knaben , es war ihnen ſo angſt , ) wir haben doch
auch ſo einen ſchlechten Stall , und koͤnnen ſie nicht
trocken legen ; und dergleichen ſagten ſie viel , nah-
men ihn bey der Hand , und beym Rock , und baten
immer , ſags doch auch dem Papa nicht , ſags doch
auch dem Papa nicht ! —
Karl . Jaͤ — meynet ihr , er ſehe es nicht
von ſich ſelbſt ? —
Die Kinder . Nein , er ſiehts gewiß nicht ,
wenn du ihms nicht ſagſt .
Karl . Ihr wiſſet es nicht recht . —
Die Kinder . Nein doch ! — ich bitte , bit-
te , ſag ihm doch du nichts . —
Karl . Ich will ſchweigen , aber ich haͤtte
doch geglaubt , die Geißen waͤren euch lieber als
ſo ! —
Ihrer viele hatten aus Hoffart die Muͤttern
heut nicht einmal ausmelken laſſen , daß man
meyne , ſie geben viel Milch ; auch das merkte
Karl , und ſagte , die ſind heut nicht gemolken
worden .
N 4
Daruͤber lachten die Kinder . Er aber ſagte ,
es iſt doch dumm , es thut ihnen weh , und ihr fah-
ret ja nicht damit zu Markt .
Dann fuͤhrte er ſie zum Papa , gieng der Lezte
hinter allen die Treppe hinauf , und der Lezte in die
Stube hinein ; es mußten ihm alle vorgehen , und
er that die Thuͤr zu , und ſchlich ſich dann hinter
den andern an der Wand und um den Ofen herum
zum Papa und der Mamma hervor .
Der gute Junker war noch ſchwach ; er ſah
in ſeinem Krankenſtuhl noch ſo eingefallen und blaß
aus , daß alle Kinder erſchracken als ſie ihn ſahen .
Er konnte noch nicht recht laut reden ; aber er nahm
eines nach dem andern zu ſich zu , fragte ihns auf
den Heller aus , was es izt mehr verdiene als vor
7 Wochen ? da er es das Leztemal in der Schule
geſehen . —
Das Herz klopfte den guten Kindern ; wenn
eines etwan einen halben Kreuzer minder verdienet
als ein anderes von ſeinem Alter , oder eines das juͤn-
ger war , ſo war ihm ſo angſt , daß es faſt nicht recht
reden und vorbringen konnte , warum es bis izt
nicht beſſer gegangen , und wie ſie ſich aber izt ge-
wiß antreiben , und nicht mehr die Hinterſten blei-
ben wollen . Aber denn die andern , ſo etwas
mehr verdienet , ihr haͤttet ſie ſehen ſollen , wie das
Eine ein breites Maul und ſchmale Backen bekom-
men , ein anderes mit den Fuͤßen nicht mehr konnte
ſtill ſtehen , bis er ihm rufte — wieder ein anders
Feuerzuͤndend roth worden — noch ein anders mit
den Augen geſperbert — und wie eins , das ſich
hat zwingen wollen nicht zu lachen , doch hat muͤſſen
lachen , und vor Freuden kein verſtaͤndliches Wort
hat reden koͤnnen . —
Er mußte auch lachen , und ſagte ihm , du biſt
nicht witzig ; ich weiß wohl , ſagte das Kind ; aber
ſeine Arbeit war die braͤvſte , und Thereſe ſagte ihm ,
es ſolle ſie ihr am Sonntag bringen .
Dann fragte er ſie alle insgeſamt , wie es auf
der Weyd mit dem Huͤten und ihrem Verſprechen
gehe ? Eines ſah das andere an , und keines redete .
Warum ſagt ihr nichts ? fragte der Junker .
Sie ſchwiegen noch izt , und ein jedes ſah , ob nicht
ein anders reden wollte . — Einsmals ſagte eines
zur kleinern Rickenbergerin , ( der Schweſter derjeni-
gen , die wir kennen ) du kannſt am beſten erzaͤhlen
wie es zugegangen , du haſt uns gar manchmal er-
weckt , wenn wir zu lang im Schatten haben liegen
und ſchlafen wollen .
So — ſagte der Junker — und nahm das
Rickenbergerli , das nahe an ihm ſtund , bey
der Hand , und Thereſe zog es zu ſich zu , faſt auf
den Schoos .
Es hat im Anfang nicht recht wollen gehen ,
aber izt geht es einmal beſſer , ſagte es da . —
Junker . Warum hats nicht wollen gehen ?
Kind . Darum , wir ſind uns , ſo lang wir
huͤten , gewohnt geweſen , wenn es warm worden ,
unter den Baͤumen zu liegen , und zu ſchlafen , und
die Geißen laufen zu laſſen ; izt , wenns Nachmit-
tag worden , und heiß geweſen , ſind wir allemal
ſchlaͤfrig worden , und wenn wir haben ſtricken
wollen , ſo ſind uns die Augen faſt zugefallen , man
muß gar fruͤh aufſtehen , wenn man zur Weyde
fahrt .
Junker . Wie habt ihr es denn gemacht ,
daß es beſſer worden ?
Kind . Wir haben miteinander abgeredt ,
wir wollen es uns nach und nach abgewoͤhnen ; zu
erſt haben wir eine Stunde lang geſchlafen , dann
aber einander geweckt , wenn die Stunde vorbey
geweſen ; darnach faſt eine Stunde , dann eine hal-
be Stunde , dann nur eine Viertelſtunde geſchlafen .
Wir haben Waſſer genommen , und die Augen und
den Kopf kalt gemacht , daß wir munter bleiben ,
und ſo iſt es beſſer gekommen ; und weil du krank
geweſen , iſt uns kein Sinn mehr ans Schlafen ge-
kommen ; wir haben wahrlich da auch zu Nacht
nicht koͤnnen ſchlafen , und izt gehts beſſer , und
es giebt alle Wochen mehr Arbeit auf der Weyd . —
Junker . Das iſt ein Punkt , aber weißeſt
du die andern auch noch ?
Kind . Ja — mit dem Wuͤſtreden , und mit
dem Schlagen , und Stein nachwerfen den Geißen .
Junker . Ja , wie gehts mit dieſen ?
Kind . Gut — ſeit dem der Herr Lieutenant
die Kinder ſo ordentlich macht das Haar ſtrehlen ,
Haͤnd und Geſicht waſchen , und in allem , bis auf
die Treppe hinunter zu gehen , eine Ordnung hat ,
daß keines an den andern nur anſtoßen darf , ſo
ſind die rauheſten Buben nicht mehr ſo wild , und
alle Kinder gewoͤhnen ſich in der Schule Sorge zu
haben , Niemanden nichts zu Leid zu thun ; und
denn haben wir darinn auch mit einander abge-
redt , wir wollen zweymal einander ein wuͤſtes
Wort ſchenken , aber dann das Drittemal muͤſſe ei-
ner angegeben ſeyn .
Junker . Hat das geholfen ?
Kind . Ja . —
Junker . Es freut mich . —
Kind . Und dann hat das auch wieder ge-
holfen , daß du krank worden , es haͤtte in dieſer
Zeit gewiß keines dem andern etwas nachgerufen .
Junker . Weiß doch nicht , wenn ein Ka-
minfeger oder ein Schneider bey der Weyd vorbey
gegangen waͤr — !
Kind . Nein gewiß nicht . — Die andern
waͤren alle zuſammen geſtanden , und haͤtten einen
geſchlagen und weggejagt , wenn er das gethan haͤtte .
Junker . Nu , ich will es glauben ; aber
wie gehts mit dem Freveln ? Es iſt izt bald Herbſt —
Kind . O ! — mit dem gehts gar gut —
wenn du wuͤßteſt —
Junker . Was , wenn ich wuͤßte ?
Kind . Daß wir Aepfel , Birren und Erd-
aͤpfel zu braten bekommen , ſo viel wir wollen ;
gelt , du wuͤrdeſt dann nicht meynen , wir freveln
noch — ? —
Junker . Aber wer giebt euch das ?
Kind . Alle Leute , die Land und Baͤume
haben , die an die Weyd ſtoßen . —
Junker . Wie iſt das izt gekommen ?
Kind . Da ſie das Leztemal die Haͤg ( Zaͤu-
ne ) ausgebeſſert , ſind eine ganze Menge Maͤnner
da geweſen , haben uns zuerſt ausgelacht , und ge-
fragt , ob wir ihnen izt im Herbſt auch das Halbe
ſtehlen wollen , wie das letzte Jahr ? Wir haben
auch gelacht , und geſagt , es ſey eben ſchlimm ,
wir doͤrfen izt nicht mehr ; da hat der alte Renold
geſagt , es koͤnne nicht ſo ſeyn , der Tag ſey lang ,
und die jungen Leute moͤgen eſſen , man koͤnne ſie
nicht laſſen hungern auf der Weyd , wir ſollen nur
brav huͤten , wenn ſie das Obſt ableſen , und die
Erdaͤpfel austhun , ſo wollen ſie uns von allem
auch geben ; und wir haben ſchon viel bekommen ,
und bekommen noch mehr , viel mehr als wir nie
geſtohlen haͤtten . —
So , ſo ! ſagte der Junker , ſo denke ich wohl ,
frevelt ihr nicht mehr ; aber der Renold muß doch
ein guter Kindermann ſeyn , nicht wuhr ?
Kind . Das denk ich ; er hat immer , wo er
ſteht und geht , Angſter ( Pfenning ) und Rappen im
Sack , und wenn ihm ein Kind heiſchet , ſo giebt
er ihm , und daheim große Stuͤck Brod ; und er
kann noch eine halbe Stund bey ſo einem Kind ,
das ihm bettelt , ſtehen , und mit ihm reden .
Dann erzaͤhlten ſie ihm , wie ſie geglaubt ha-
ben , er ſterbe , und wie ſie mit dem Herr Lieute-
nant , dem Herr Pfarrer , alle Tage in der Kirche
fuͤr Ihn gebetet ; und daß einmal ein fremder Herr
in die Kirche gekommen , der auch mit ihnen fuͤr
Ihn gebetet , er ſey ſo freundlich geweſen , habe
ihnen allen die Hand gegeben , und ſey Morndeß
den ganzen Tag bey ihnen in der Schule geweſen .
Beym Abendeſſen , im alten Ritterſaal , konn-
ten ſie ſich nicht ſatt ſehen an den Figuren an der
Wand . Der Karl erklaͤrte ihnen luſtig der Zwing-
herren Ordnung , die da abgemahlt iſt , und ſie
buchſtabirten das Teufelsblut , lachten uͤber das
Reiten des dicken Junkers , und machten ſaure Au-
gen uͤber den Bauer auf dem Hirſchen .
Der Junker ſezte den Heirli auf die Lehne ſei-
nes Seſſels , ſo , daß er ihn wie auf dem Arm
hatte ; der gute Heirli ſtreichelte ihn wieder an Ba-
cken , und ſagte ihm , Gelt , du ſtirbſt izt auch nicht
mehr ? Bald darauf — du ſieheſt aus , wie ein
Großvater — und dann — kannſt izt auch nicht
mehr gehen ? — Der Junker ſtund ihm zu ge-
fallen auf , gieng die Stuben auf und ab , und ſag-
te ihm , ſieh' , wenn man krank geweſen , ſo mag
man nicht gleich wieder ſpringen wie im Garten .
Aber es wird wohl wieder kommen — daß du wie-
der ſpringen kannſt wie im Garten ? ſagte das
Kind . —
So redte er mit vielen ; und ſie erzaͤhlten ihm
auch von dem Freudenfeſt , welches man in Bon-
nal halten wollte , wenn er das Erſtemal wieder zu
ihnen in die Kirche kommen werde . Des Huͤbel
Rudis Kind ſagte , ſein Vater wolle an dieſem
Tage , und an keinem andern , Hochzeit halten .
Er gab dem Kind zur Antwort , ſag deinem Va-
ter nur , er muͤſſe nicht mehr lang warten , uͤber
8 Tag komm ich in die Kirche .
Dann gieng er noch unter die Thuͤre , auch
ihre Geißen zu ſehen , die ſie da vorbey fuͤhrten
zum Brunnen ; aber ihrer viele liefen mit ihren
Thieren ſo geſchwind vorbey , als wenn ſie jemand
jagte . Der Karl lachte allemal , wenn einer ſo
geſchwind mit ſeiner Geiß vorbey ſtrich ; und ſie ,
wenn ſie vorbey waren , lachten auch gegen ihm ,
und nickten ihm mit dem Kopf und mit den Au-
gen , ihm zu danken , daß er dem Papa nichts ge-
ſagt ; aber da ſie fort waren , konnte er nicht mehr
ſchweigen , und ſagte zum Papa , haſt izt nichts
gemerkt von den Geißen ? Meynſt , es ſey alles
gut in der Ordnung geweſen ? — Der Junker
hatte nichts gemerkt , und der Rollenberger wußte
auch nicht , was er meynte ; ſie riethen allerhand ,
er aber ſagte ihnen allemal , es iſt nicht das , es
iſt etwas ganz anders . Zulezt ſagte er , es waren
doch auch 25 Geißen , die es alle hatten ; aber ſie
konntens doch nicht errathen , bis er ihnen ſagte ,
daß die Haare wegen den Kothzotteln abgeſchoren
worden ſeyen . —
§ . 46.
Der Kopf und das Herz hat mit den
Menſchen gleich ſein Spiel , wenn
man nicht beyden wohl auf den Ei-
ſen iſt .
E inen andern Abend waren die zwey Bruͤder bey
ihm , die vor wenigen Wochen in den Dorfgruben
noch von ihm glaubten , er ſey ihnen wegen ihren
Religionsmeynungen nicht guͤnſtig . Aber der Lin-
denberger hatte ſie ſeither ganz von ihrer Abſoͤn-
derungsfrommkeit zum gottesfuͤrchtigen Rechtthun
des Lieutenants und zur Ueberzeugung hinuͤber ge-
bracht , es ſey beſſer , man mache ein ganzes Dorf
brav , als ein paar Leute in einem Winkel ; ſie
waren beyde herzgut , und auch da , wo ſie noch
ihrer Sekte blind anhiengen , lag treues , edles und
reines Beſtreben nach wahrer menſchlicher Wahr-
heit und Weisheit in ihrer Neigung fuͤr die Nebel-
huͤlle ihrer Bruderſchaftsmeynungen ; alſo ruhet der
ſtille Glanz des Monds im Schatten der Erde ,
aber der die Himmel waͤlzet , laͤßt den Schatten
der Erde nicht ewig uͤber dem Glanz des guten
Mondes , der Schatten der Erde geht voruͤber ,
und der Mond leuchtet ſein Licht . — Der Junker
hatte erſt nach ſeiner Krankheit vernommen , daß
ſie der Bruderſchaft oͤffentlich abgeſagt , und ſich
deutlich erklaͤrt , ſie muͤſſen Gewiſſens halber zu
denen ſtehen , die dem ganzen Dorf helfen wollen ,
und koͤnnen ſich durch keine Meynungen einſchraͤn-
ken und hindern laſſen , dem Junker und dem
Schulmeiſter zu helfen , die gleiche Sorgfalt gegen
alle Gemeindsgenoſſen zu brauchen , die die Bru-
derſchaft nur gegen die Ihrigen brauche ; und ſie
finden es izt nicht mehr recht , ſich wie in einen
Garten einzuzaͤunen , und da freylich fuͤr die ein-
gezaͤunten Bluͤmchen wohl zu ſorgen , indeſſen aber
ganze
ganze Aecker und Matten , die einem auch zugehoͤ-
ren , darob zu verſaͤumen , und in Abgang kom-
men zu laſſen ; ein Bauer , der das thun wuͤrde ,
wuͤrde mit ſeinem Land uͤbel fahren , und ſie glau-
ben izt , es ſey mit den Menſchen das gleiche .
Sie druͤckten izt dem Junker die Hand ſo
traulich wie einſt den Bruͤdern , und ſagten ihm ,
es ſey nicht anderſt , als ob der liebe Gott ihnen
einen Vater wieder geſchenkt habe . — Ihm machte
es faſt bange , er wußte wie ſie an ihrer Bruͤder-
ſchaft hiengen , und antwortete ihnen , ich moͤchte
euch wohl gern ſeyn wie ein Vater , aber ich fuͤrchte
eher , ich habe euch Schaden gebracht als Nutzen ,
und das waͤre mir leid . Sie ſtaunten uͤber dieſe
Rede , und beyde fragten ihn , warum er doch das
ſage ? Der Jakob war etwas ſchuͤchtern , aber
der Chriſtoph ließ ſich daruͤber mit ihm in ein Ge-
ſpraͤch ein . —
Auf die Antwort des Junkers — „ euere
Bruͤderſchaft war euch wie Vater und Mutter , und
da ihr ſie um meinetwillen verlaſſen , ſo muß ich
natuͤrlich fuͤrchten , ich koͤnne euch das nicht ſeyn ,
und ihr findet das bey mir nicht , was ihr hofftet
bey ihr zu finden , und was euch bey ihr wohl
machte , ſo lang ihr an ſie glaubtet “ — antwor-
tete Chriſtoph , wenn wir unſere Bruͤderſchaft ver-
laſſen haͤtten , um bey euch eine andere zu finden ,
O
ſo koͤnnte es wirklich kommen wie ihr ſagt , aber
das iſt nicht unſer Fall . —
Junker . Was iſt denn euer Fall ?
Chriſtoph . Wir haben ſie verlaſſen , um
keine mehr zu haben , und gegen jedermann gleich
zu ſeyn , gegen Niemanden zu gut , und gegen Nie-
manden zu boͤs , und heut und morgen , und in
jedem Fall , ſo handeln zu doͤrfen , wie es uns ſelbſt
am beſten duͤnken wird .
Der Junker bat ſie darauf , ihm aufrichtig
ihre wahre Meynung uͤber die Bruͤderſchaft , die ſie
verlaſſen , zu ſagen . —
Sie antworteten ihm beyde , ſie glauben noch
izt , die Sache habe gar viel Gutes ; und muͤſſen
bekennen , dieſe Verbindung habe zu einer Zeit zu
ihnen Sorge getragen , und ſie in vielen Stuͤcken
eine vernuͤnftige und ſorgfaͤltige Leitung genießen
laſſen , ohne welche ſonſt ſo viel als das ganze
Dorf in der abſcheulichſten Unordnung gelebt , und
allgemein verwahrloſet worden waͤre . —
Aber eben das , ſezte Chriſtoph hinzu , macht
mich izt von ihnen abfallen , daß ich einſehe , man
koͤnne und muͤſſe fuͤr alle Leute ſo Sorge tragen , wie
die Bruͤder es fuͤr die Ihrige thun ; und man muͤſſe
ſich nicht durch Meynungen einſchraͤnken laſſen , es
nur an den wenigen , und nur an denen thun zu
wollen , die in allem Ja zu uns ſagen .
Der Junker laͤchelte , und Chriſtoph ſagte , der
Lindenberger hat Muͤhe mit uns genommen wie ein
Pfarrer , und nicht nachgelaſſen , bis wir es , wie
er , eingeſehen , daß alle geiſtliche Bruͤderſchaften
das Menſchliche ihrer Sachen dem lieben Gott an-
binden , und ſo dahin kommen , daß ſie auch das ,
was ſie Fehlerhaftes an ſich haben , fuͤr ein Heilig-
thum achten muͤſſen . Wir erkennen izt , daß den
andern Menſchen dadurch ein Unrecht geſchiehet ,
und ihr Gutes nicht anderſt als verunglimpfet , er-
niedriget , und gehindert werden muß , ſo viele
Fruͤchte zu tragen , als es tragen koͤnnte und muͤßte ,
wenn die Menſchen von allerley Bruͤderſchaftsmey-
nungen die Eitelkeit ablegen wuͤrden , zu glauben ,
mit ihren Meynungen dem lieben Gott wie in dem
Schoos zu ſitzen . Es kann nicht anderſt ſeyn ,
ſagte er , ſo bald man eine geiſtliche Bruͤderſchaft
hat , und ſich um Gottes , und um goͤttlich geheiße-
ner Meynungen und Woͤrter willen , von andern
Menſchen ſoͤndert , ſo wird einem die ganze Welt
wie Nichts gegen die Bruͤder und Schweſtern , die
von dieſer gnadenreichen Meynung ſind ; und in
dieſem Fall ſind auch die beſten Menſchen bey
aller ungeheuchelten Ehrlichkeit in Gefahr , ſo wohl
ob dieſen Meynungen , die ſie als das Band zwi-
ſchen Gottund ihnen anſehen , als ob den Menſchen ,
die ſie bekennen , blind zu werden , und uͤberhaupt
alles in der Welt nur nach dem Maaß zu ſchaͤtzen ,
O 2
in wie weit es auf dieſe Meynungen einen guten
oder ſchlimmen Einfluß hat ; und ſich dann ſogar
einzubilden , der liebe Gott mache es droben in ſei-
nem hohen Himmel juſt auch ſo , und waͤge das
ganze Menſchengeſchlecht auf dergleichen Meynun-
gen-Waag , die ſie in ihrem Dorf haben . Je
ſchwaͤcher dann die Menſchen ſeyen , je duͤmmer
werde dann dieſe Bruͤderſchafts-Einbildung ; aber
auch die Beſten bringe es gegen alles Gute , was von
Menſchen , die ſich außer ihrem Bruͤderſchafts-Gna-
denſtand befinden , herkomme , dahin , daß ſie daſ-
ſelbe , wie ſie ſagen , der Leitung Gottes anheim-
ſtellen , aber ſelber mit keinem Finger beruͤhren ,
indeſſen ſie das , was von ihren Leuten herkommt ,
unter dem Beyſtand Gottes , gar wohl und ſorg-
faͤltig beſorgen ; dann gehe es freylich gar oft beſſer
bey ihren Gnadenwerken , die in der Ordnung be-
ſorgt werden , als bey den Weltkinder-Arbeiten ,
die etwas außer dem Gnadenſtand unvernuͤnftig an-
gegriffen , und unſinnig verwahrloſet .
So natuͤrlich das ſey , ſo verblenden ſich die
Bruͤder doch immer darinn , und behaupten allemal
in dieſem Fall — Gott im Himmel ſelber mache
alſo allen Tand der Heiden vor den Augen ſeines
auserwaͤhlten Volks zu ſchanden .
Daraus entſteht , daß alle ſolche Bruͤderſchafts-
Menſchen unmoͤglich reinen und unbeſchraͤnkten
Antheil an allgemeinen obrigkeitlichen Volksanſtal-
ten nehmen koͤnnen , wenn ſelbige nicht , wie der
Lindenberger geſagt habe , auch in allen aͤußern
Theilen nach dem Kleid des Goͤzenbilds zugeſchnit-
ten , das ſie mit ſich im Kopf herumtragen .
Der Junker fragte ihn auf dieſes hin , warum
ſo wenige Menſchen von ſolchen Bruͤderſchaften da-
hingebracht werden koͤnnen , dieſes alſo einzuſe-
hen ? —
Davon , erwiederte Chriſtoph , iſt die Haupt-
urſach ſicher dieſe , daß man ihnen auf der andern
Seite auch Unrecht thut . —
Junker . Worinn thut man ihnen haupt-
ſaͤchlich Unrecht ? —
Chriſtoph . Man erkennt das wahre Gute ,
das ſie haben , nicht ; man verſteht ſie nicht , und wirft
eine Verachtung auf ſie , die ſie nicht verdienen .
Junker . Er ſoll doch hieruͤber ausfuͤhrlicher
ſagen , was wahr ſey .
Chriſtoph . Sie ſeyen unter dem gemei-
nen Volk die Menſchlichſten , die Liebreichſten , die
Gutmuͤthigſten ; es ſey Rath und Troſt bey ihnen
zu finden , wie ſonſt faſt bey Niemand ; auch ſeyen
ſie gegen Ruchloſigkeit und Gewaltthaͤtigkeit , die das
andere gemeine Volk in den Doͤrfern ſo oft faſt un-
ter die Thiere herabſezt , unter ihren Leuten voͤllig
Meiſter , und das ſey doch ein Segen im Land , da-
O 3
vor danke ihnen Niemand , es frage ſie Niemand ,
wie ſie es machen , wie ſie mit ihren Leuten und mit
ihren Kindern dahin kommen , wo die andern Bauern
doch nicht ſind , und wo man von einem Pfarrer ,
der ſein Dorf dahinbringen wuͤrde , in der ganzen
Welt Ruͤhmens und Weſens machen wuͤrde , das
ſey eines ; das andere ſey , man ſage ihnen in den
Tag hinein , ſie verderben mit ihren Meynungen
die Leute , und zeige ihnen nicht wie , und gebe
ihnen kein Exempel , wie man das Volk beſſer fuͤh-
ren koͤnne als ſie . — Dann ſage man ihnen , ſie
ſeyen dumm und einfaͤltig ; und ſie ſehen doch , daß
ſie bey den Leuten mehr ausrichten und mehr Gu-
tes ſtiften , und in ihren Haushaltungen meiſtens
gluͤcklicher ſeyen , als die ſo ſagen , ſie ſeyen dumm ;
und ſeyen ſich gewohnt , Vernunft und Verſtand
nach dem , was man damit ausrichte , zu meſſen
und zu ſchaͤtzen ; ſie heißen in ihrer Sprache das
etwas ausrichten Segen , und das nichts
ausrichten Unſegen ; und ſo lang ſie den Se-
gen auf ihrer Seite haben , ſo glauben ſie auch
nicht , daß ſie die Dummen in der Welt ſeyen , es
mag es ihnen ſagen wer da will .
Dann wirft man ihnen vor , ſie ſeyen hart-
naͤckig , und laſſen ſich nicht berichten , und die ,
ſo es ihnen am lauteſten vorwerfen , ſind , auf das
Gelindeſte davon zu reden , im gleichen Spital
krank , und nehmen noch viel weniger von ihnen
das Gute an , das ſie ſo ausgezeichnet haben ; aufs
Hoͤchſte koͤnne man ſagen , es heiße ein Eſel den
andern Langohr . —
Wahr ſey , ſie binden ihren Verſtand wie an
eine Kette an , und laſſen ihn keinen Schritt weiter
ſpatzieren , als ſie gern wollen , daß er gehe . Aber
dann ſey es auch wahr , ſo angebunden als ſie ihn
halten , ſo brauchen ſie ihn , und das wirklich mehr
in der Ordnung und ſorgfaͤltiger , und kommen
darinn gewoͤhnlich ſichtbar weiter , als die andern
Dorfleute , die ihn nicht ſo anbinden ; auch ſey ge-
wiß , daß viele Leute , die ihnen das vorwerfen , ſie
haben ihren Verſtand ſo an der Kette , gar viel
weniger koͤnnten an die Ketten legen , wenn ſie die
Luſt dazu auch einmal anwandeln wuͤrde , den ih-
rigen auch ſo anzubinden . — Ueberall , ſagte er ,
ſind ihre Gegner ſelten die Leute , die ihnen Luſt ma-
chen koͤnnten , ihren Verſtand nicht angebunden zu
halten , und es iſt gar nicht , daß ſie mit ihnen um-
gehen , ſie den Schaden dieſes Anbindens empfin-
den zu machen , und etwan mit ihnen einzutreten ,
und abzumeſſen , wie weit man ohne Gefahr , ſeine
Kraft in den naͤchſten und nothwendigſten Sachen
wohl anzuwenden und zu gebrauchen , zu ſchwaͤ-
chen , ihn weniger anbinden und freyer laufen laſ-
ſen koͤnnte . — Er ſagte , es duͤnke ihn doch ,
man mache den Verſtand wie zu einem Modekleid ,
und ein jeder Narr in der Welt wolle izt ſo ein
O 4
Verſtandsmaͤntelchen mit ſich herumtragen , es moͤ-
ge dann fuͤr Tuch daran ſeyn , was es wolle , und
es reiße unter den gemeinen Leuten eine Peſt ein ,
die er die Verſtandspeſt heißen moͤchte . Der Herr
Lieutenant habe zwar ihm das nicht wollen gelten
laſſen , und behauptet , es ſey nur ein Anmaßungs-
fieber , aber er halte es fuͤr eine wahre Peſt , und
muͤſſe ſagen , juſt die Leute , die mit dieſer Peſt an-
geſteckt ſind , ſeyen die Allerunbilligſten gegen ihre
Bruͤderſchaft .
Der Junker bat ihn , er ſolle ſich uͤber die Ver-
ſtandspeſt deutlicher erklaͤren , was er meyne ? —
Er ſagte , er meyne uͤberhaupt , wenn der
Menſch etwas Gutes , das an ihm iſt , wie eine
Eli-Mutter ein Kind , in das ſie vernarret iſt , zu hoch
hinauf , und alles andere Gute und Brauchbare
wie ein Stiefkind Himmelweit uͤber das Herzens-
ſchaͤzchen hinabſezt , ſo richte ein ſolcher Menſch
das Gute , das an ihm iſt , wie eine ſolche Eli-
Mutter ihr Kind und ihr Stiefkind miteinander
zu Grund , und werde ſchlecht , und ein halber
Menſch .
So gehe es , wenn der Menſch auf dieſe Art
alles aus dem Verſtand mache , und wieder , wenn
er alles auf das Herz baue ; im erſten Fall habe
er die Verſtandspeſt , und im andern die Herzens-
peſt — in beyden Faͤllen mache er die einte ver-
nachlaͤßigte Haͤlfte von ſich ſelber ausſterben , und
ſtecke mit ihrem Tod auch diejenige an , mit der er
es alſo gehalten , als wenn ſie allein leben muͤßte .
Dann ſagte er , es ſey zwiſchen den Menſchen ,
die von der Verſtandspeſt , und denen , die von der
Herzenspeſt angeſteckt ſind , wie zwiſchen dem Saa-
men des Weibs , und dem Saamen der Schlange ,
eine ewige Feindſchaft , und des in die Ferſeſte-
chen- und des Kopfzertreten- Wollens unter die-
ſen ohnmaͤchtigen Kranken nie kein Ende — und je
hoͤher die Krankheit ſteige , je groͤßer werde die
Wuth einander ſo ſtechen und treten zu wollen .
Izt verſtund ihn der Junker , und fand die
Geſchichte neuerer Streitigkeiten darinn beſchrieben .
Er hatte ſchon viel von der Herzenspeſt gehoͤrt ,
aber das Wort Verſtandspeſt war ihm neuer , und
er bat den Bauern , er ſolle doch fortfahren und
ihm die Leute beſchreiben , die an der Verſtands-
peſt krank liegen .
Der Chriſtoph fuhr fort , und ſagte , es liegen
alle Leute daran krank , die es mit der Liebe zur
Wahrheit haben , wie der Killer ſelig mit dem
Rechnen , welcher den Bauern im Wirthshaus gar
leicht hat ausrechnen koͤnnen , wie viel Minuten ein
jeder alt ſey , oder gar , wie viel Tropfen Waſſer
in einer Stunde aus einer Brunnenroͤhre laufen ,
aber es dann nicht geachtet hatte , wenn ihm der
Wirth fuͤr 3 Schoppen Wein , die er trank , das
Geld von vieren gefodert .
Auch die ſeyen daran krank , ſagte er , die mit
allem , was ſie wiſſen , oder meynen zu wiſſen , ein
Weſen machen , wie wenn es ganze Berge waͤren ,
die ſie mit ſich herumtragen , und zu einem Viertel
Korn Saͤcke machen laſſen , wie wenn ſie einen
Kirchthurm darein einpacken ſollten , und Waͤgen ,
mit denen man halbe Berge koͤnnte wegfuͤhren .
Er ſagte , es gebe hier und dort Pfarrer , die der-
gleichen Verſtandsſaͤcke und Verſtandswaͤgen mit
ſich aufs Dorf bringen , und die , wenn ſie alle
Wahrheit und alles Gute in kleinen Koͤrnern auf
dem Boden zerſtreut finden , und aufleſen ſollten ,
keinen Ruͤcken und keine Haͤnde dazu haben , und
es lieber die Spatzen auffreſſen laſſen , und dann
ihre großen Waͤgen , damit ſie ſolche doch nicht
vergebens aufs Dorf gebracht , zu Spatzierwaͤgen
machen — die großen Saͤcke brauchen ſie dann zu
Kutſchen-Kuͤſſen fuͤr ſich und ihre Frauen . —
Auch die Herren Pfarrer , ſagte er , haben
dieſe Peſt , deren Wahrheit nur blitze und wetter-
leuchte . — Das Volk fuͤrchte das Donnern , das
darauf folge , und die Menſchen ſeyen ein Unſegen
im Lande , die Freude daran haben , mit der Wahr-
heit einzuſchlagen wie mit Stralſtreichen , die die
Eichen zerſplittern , und den Athem der Lebenden
ausloͤſchen .
Auch die , ſagte er , liegen an dieſer Krank-
heit , deren Wahrheit den Eisgebirgen gleiche , die
zwar Himmel hoch ſich gegen die Sonne aufthuͤr-
men , aber von ihr nicht aufthauen — ein Regen-
tropfen im Thal ſey mehr werth , als ein ganzes
Meer ſolcher Wahrheit unter dem Eis und in un-
zugaͤnglichen Kluͤften .
So viel ſagte er von der Verſtandspeſt . —
Als er damit fertig war , fragte ihn der Jun-
ker noch : Aber wer hat denn die Herzenspeſt ? —
Meine alten Bruͤder und Schweſtern , erwie-
derte der Mann — ſezte aber bald hinzu — den-
noch iſt es ſchade , daß man in der Welt nicht an-
derſt mit ihnen umgeht , und das Gute nicht er
kennt , das ſie an ſich haben .
So lang es ſo iſt , werden ſie ſich immer aus-
ſchlieſſend fuͤr das Salz der Erde achten , das ſeine
Naͤße noch nicht verloren — und bis man ihnen ,
wie der Herr Lieutenant , durch eine auffallend
beſſere Menſchenfuͤhrung zeiget , daß es noch beſſere
Salzquellen gebe , als die , ſo aus dem Berg ihrer
unnatuͤrlich umzaͤunten Frommkeit herausfließen ,
ſo iſt es ihnen nicht zu verargen , daß ſie ſo lang
immerhin ſich ſelber , und ihre gebenedeyte Mey-
nungen fuͤr das beſte Salz der Erde achten .
Er verglich zulezt das Gluͤck , das dieſe Leute in
ihrer Beſchraͤnktheit beſitzen , dem Genuß einer hel-
len , ſtillen , und warmen Sternennacht , bey wel-
cher dem Menſchen ſo innig wohl ſeyn kann , daß
er wie hingeriſſen wird zu denken , es koͤnne nichts
ſchoͤners und nichts groͤßers auf der Welt ſeyn ,
als eine ſolche Sternennacht ; aber wenn die Sonne
dann aufgeht in ihrer Pracht , und der Menſch der
Erde den Segen ihres waͤrmenden Lichts , und die
Sicherheit ihrer hellen Tages-Erleuchtung genießt ,
da denkt er nicht mehr , daß die Sternennacht , und
das truͤgliche Mondlicht , das ſchoͤnſte und beſte ſey ,
das er auf der Erde genießen koͤnne . —
§. 47.
Wer bloß gut iſt , muß nicht regieren ,
und niemals und Niemands Vogt ſeyn
wollen .
W er nicht zu ihm kam , war der Vogt Meyer ;
aber er machte ihn kommen , und fragte ihn , ob
er nichts von den Unordnungen wiſſe , die waͤhrend
ſeiner Krankheit begegnet ?
Er antwortete ihm , er habe wohl davon reden
gehoͤrt , aber Beſtimmtes wiſſe er nichts .
Arner . Warum er nicht beſſer nachgefragt ?
Vogt . Er habe nicht daran gedacht — und
es habe ihms Niemand befohlen .
Junker . Ob die Unordnungen ſelber nicht
Befehls genug geweſen ſeyen ?
Vogt . Das wohl , er habe auch ſo gefragt ,
aber nichts vernommen . —
Arner ſchuͤttelte den Kopf , und ſagte ihm , du
biſt froh , wenn du nichts weißt ; und es iſt nichts
anders , als was ich dir ſchon geſagt , du biſt zu die-
ſem Dienſt nicht brauchbar .
Vogt . So gebet mir meine Entlaſſung . —
Junker . Da haſt du ſie — und geh izt . —
Er ſaͤumte nicht lange , nahm den Thuͤrenan-
gel in die Hand , und vor der Thuͤr den Stecken ,
und gieng mit leichtem Herzen die Treppe hinun-
ter . Als er heim kam , ſagte ihm ſeine Frau , da
ſieheſt izt , daß ich recht habe , wenn ich zu dir
ſage , du ſeyeſt gar zu nichts nuͤtz . — Und im
Dorf ſagte izt ein jedes , der Hummel ſey doch noch
ein anderer Mann geweſen zum Vogt als er . —
Und Leute von ſeinem Alter erzaͤhlten , wenn ihn der
Junker ſo , wie ſie , von Jugend her gekennt haͤtte ,
ſo haͤtte er ihn gewiß nicht zum Vogt gemacht ; wenn
ſie als Buben unter einander Haͤndel gehabt , ſo
ſey das immer ſein Wort geweſen , „ thut mir doch
nichts , ich will euch auch nichts thun ; “ und es
ſey unter ihnen zum Spruͤchwort worden , gaͤlt , du
haſts auch wie der Chriſtopheli , „ thu mir nichts ,
ich will dir auch nichts thun . “
Als ſeine Schweſter , die Meyerin , es vernom-
men , gieng ſie auf der Stelle zu ihm , traf ihn
allein an , und wuͤnſchte ihm Gluͤck , daß er ſich
von der zweyten Marterfrau , mit der er ſich ohne
Noth verheurathet , ſo gluͤcklich habe ſcheiden laſſen
koͤnnen . Aber als die Nachricht in das Dorf kam ,
der Baumwollen-Meyer ſey Vogt , waren zehen
Stimmen gegen eine , er ſey der einzige , der fuͤr
den Junker , ſo wie er einen brauche , recht ſey ;
und viele Leute ſagten , die Armen haben izt einen
Vater , die Unordentlichen einen Vogt , und die ſo
Gewalt brauchen wollen , einen Meiſter . —
Ihr Herren ! die ihr Untervoͤgte macht und
abſezt wie nichts , mit einem einzigen Wort ; wenn
euch etwas daran gelegen , daß ſie recht ausfallen ,
ſo nehmet dieſes zum Zeichen , wenn das Volk von
euerm Mann alſo redt , ſo kann er recht ausfallen ;
aber auch dann iſts noch noͤthig , daß ihr zu ihm
Sorge traget . Die Reichen waren freylich nicht
zufrieden , daß von einem ſolchen Lumpenſtammen
ein Vogt geworden ; aber ſie ſagten es doch nicht
zu laut , und er erklaͤrte ſich beſtimmt , er habe den
Dienſt um der Armen willen angenommen , die
Reichen haben ihren Vogt in der Kiſte , aber die
Armen haben einen noͤthig . Und das Mareili
ſprang faſt vor Freuden , daß ſein Bruder izt alſo
des guten Junkers Diener worden , und machte
ſich Tag und Nacht den Kopf voll , wie es izt gewiß
in allen Ecken im Dorf gehen muͤſſe , wie es der
Junker wolle .
Ihns und den ganzen Weiberbund machte
der Junker auch einen Abend zu ihm kommen —
und die Weiber beredten ihren Weibel , den alten
Renold , er ſolle mitkommen — er wollte nicht —
aber ſie verſprachen ihm , ſie wollten es verantwor-
ten — wenns ſo iſt , ſo will ich kommen , ſagte
der Alte , und es freute den Junker gar — er redte
die halbe Zeit nur mit ihm , und ließ ihn erzaͤh-
len , wie vor Altem in allen Stuͤcken eine Ordnung
geweſen , die im Grund derjenigen vollends gleich
ſey , die er izt einfuͤhre .
Der gute Alte ſagte ihm , eine Woche freue ihn
jezt mehr zu leben , als vorher ein ganzes Jahr . —
Der Junker erwiederte ihm , wills Gott werde er erſt
dann recht Freude haben , wenn die angefangenen
Sachen auch einmal in ihrem Gleis ſeyen , und
mehr Feſtigkeit haben . — Zu den Weibern ſagte
er : wenn er alles geglaubt haͤtte , ſo haͤtte er doch
das nicht geglaubt , daß ſie die Bauern haͤtten da-
hinbringen koͤnnen , Geld dafuͤr zu verſprechen , um
den Schulmeiſter behalten zu koͤnnen . — Das
Mareili ſagte ihm daruͤber , man thut den Bauern
unrecht , wenn man glaubt , ſie gaͤben nicht gern
Geld aus fuͤr ihre Kinder , ſie thun es freylich nie ,
bis ſie ſehen und erfahren , daß es etwas nuͤzt .
Aber meynſt du , ſagte der Junker , wenn man
machen wuͤrde , daß ſie erfahren koͤnnten , und die
Probe in ihren Haͤnden haͤtten , daß man ihre
Kinder weiter bringen koͤnnte , als man ſie nicht
bringt , meynſt du denn , ſie wuͤrden an vielen Or-
ten auch ſelber gerne etwas dazu beytragen , die
Leute , die man hierzu noͤthig haͤtte , zu bezahlen ?
An allen Orten , und ganz gewiß wuͤrden ſie
es dann gerne thun , ſagte das Mareili , und alle
Weiber , auch der alte Renold beſtaͤtigte das . Er
ſezte hinzu , man muͤßte ihnen nur ſo einen Mann
zwey oder drey Monat ohne ihre Koͤſten auf die
Probe geben , dann wuͤrden ſie ihn gewiß nehmen ,
und wenn man es foderte , die Probkoͤſten noch darzu
bezahlen . Dieſe Bemerkung war dem Junker und
dem Lieutenant ſehr wichtig ; ſie widerlegt das un-
richtige Geſchrey , daß die Beſſerung der Landſchu-
len unerſchwingliche Geldſummen erfodere , es fehlt
weit mehr an Anſtelligkeit und Sachkenntniß .
Und
Und an Leuten — ſagte der Pfarrer von Bon-
nal . —
Nein , erwiederte der Lieutenant , wenn man
Anſtelligkeit und richtige Grundſaͤtze daruͤber hat , ſo
kann man faſt ohne Muͤhe Leute hierzu bilden , wie
man ſie gebraucht , dafuͤr will ich ſtehen !
Sie wurden bald einig , wenn man annehme ,
das Volk wuͤrde gern helfen , dergleichen Leute zu
bezahlen , und auch zugleich , daß eine jede gute
Schule auf Arbeit muͤſſe gegruͤndet ſeyn , und hier-
mit , ſo ſie recht eingerichtet , in ſich ſelber einen Ver-
dienſt finde , ſo falle die Sorge von großen Geld-
ausgaben , welche die Verbeſſerung der Schulen
nach ſich ziehen wuͤrde , von ſelbſt weg . Der Lieu-
tenant ſagte wieder , wenn man ſie ſchlecht macht ,
und halb , ſo werden ſie koſten ; und wenn man ſie
recht macht , und ganz , ſo werden ſie eintragen .
Dann redte der Junker noch mit der Meyerin
uͤber die Entlaſſung des Vogts . Sie ſagte ihm ,
er koͤnne izt auch wieder zu einem Menſchen wer-
den . — Und die Renoldin fragte ihn , wer ihm ihn
auch gerathen ? Der Herr Pfarrer , antwortete er .
— Und ſie — das glaube ſie — er habe immer
auch bey den Leuten zu viel daraus gemacht , wenn
Sie mir gut geweſen . — Sie ſezte hinzu , der Herr
Lieutenant haͤtte ihn auch gewiß nicht gerathen —
Ich glaubs auch nicht , ſagte der Junker , dankt e
P
ihnen dann fuͤr ihren Bund , und ſagte ihnen , ſie
ſollen zu ihrem guten alten Weibel recht Sorge
tragen , und ihm nicht zu viel Muͤhe aufladen .
Er ſoll izt bleiben der Weiberbund , ſagte The-
reſe , ich will es mit euch halten , wir wollen dem
Junker helfen zu ſeinem Ziel zu kommen .
§. 48.
Arners Feſt .
B ey Sonnenaufgang laͤuteten alle Glocken . Alle
Kinder waren mit Blumen geſchmuͤckt ; das ganze
Dorf , Altes und Junges , gieng ihm den Berg hin-
auf entgegen . Des Rudis Hochzeitleute voraus ,
und in der Mitte der Gemeinde der gute Pfarrer ;
ſangen den Berg hinauf der Sonne entgegen frohe
Lieder ; aber als ſie von Ferne das Geraſſel ſeiner
Kutſche hoͤrten , da toͤnte ihr Lied nicht mehr .
Er kommt — Er kommt — rief das Volk ,
und hundert Stimmen jauchzten ihm zu . Sie ver-
doppelten die Schritte , liefen ihm , wie Kinder dem
Vater , den ſie lange nicht geſehen , entgegen . Er
hoͤrte ihr Jauchzen von Ferne , da er noch tief hinter
den Tannen ſie noch lange nicht ſah ; aber ſo bald
er ſie hoͤrte , ſtieg er aus ſeinem Wagen , und gieng
ſeinem geliebten Volk von Bonnal mit all den Sei-
nen zu Fuß entgegen . Er ſah izt den Aufgang der
Sonne nicht , nicht den hellen Himmel und das
glaͤnzende Thal , und die ſchlaͤngelnde Ita , die zu
ſeinen Fuͤßen lag ; er eilte zu ſeinem froͤlichen Volk ,
miſchte ſich in ihr Gedraͤnge , und hoͤrte mit Va-
terluſt ihr Jauchzen und ihr Rufen — Er lebe ! —
Er lebe ! — das durch Buch und Tannen hinab
ins Thal toͤnte . Innige Freude erhob ſein Herz .
Es war kein Kind , und kein Menſch , dem er nicht ,
und dem Thereſe nicht ihre Hand bot . — Er hatte
den Hut ab , ſo lang er ſie gruͤßte , und ſagte mit
einem ſtillen hohen Ernſt — Er wuͤnſche fuͤr ſie zu
leben ! — das Volk erwiederte ihm , ſie wuͤßtens ,
und der Tag ſeiner Wiedergeneſung ſey ihnen der
freudigſte ihres Lebens — dann ſtellt ſich das Volk
wieder in Ordnung , die Hochzeitleute voraus —
Er nahm den Huͤbel-Rudi bey der Hand — The-
reſe die Meyerin , und ſeine Kinder die Kinder des
armen Manns , fuͤhrten ſie alſo den Berg hinab
bis in die Kirche ; das Volk ſang , jauchzte , der
Geiger ſpielte auf bis unter die Thuͤre , und die jun-
gen Leute giengen , wie wenn ſie tanzten , bis in die
Stuͤhle . —
Da ſtund der Pfarrer neben dem Taufſtein an
den Ort hin , an dem er neun Abende nach einan-
der mit ſeinen Kindern auf den Knien , und mit
Thraͤnen , Gott fuͤr das Leben des Junkers gebe-
P 2
tet . Der große Blumenſtrauß , den er auf ſeinem
Kleid hatte , war mit dem Perlenband , das ihm
Thereſe geſchenkt , umwunden ; ſtille Freude in ſei-
nem Auge , und eine Thraͤne , leicht und duͤnn wie
ein Morgennebel in heißen Tagen , zeugte von der
Erhebung ſeines Herzens . Er ſtand eine Weile ſtill ,
dann hob er die Hand auf zum Zeichen des Schwei-
gens — eine Stille erfolgte , und das Volk und
die Kinder , die nahe an ihm ſtunden , richteten die
Augen auf ihn , dann ſagte er die einzigen Worte —
Laſſet uns Gott danken , daß er uns unſern
Vater Arner wieder geſchenkt ! — ſah dann hinab
zu ſeinen Kindern — und ſagte — ihr habet mit
mir an dieſer Stelle viele Thraͤnen vergoſſen ; freuet
euch izt , daß Gott das Gebet euerer guten Herzen
erhoͤrt hat — kommt , laſſet uns ihm danken —
da bog er ſich nieder und kniete — die Kinder
knieten mit ihm , und in einem Augenblick lag die
ganze Gemeinde , und auch Thereſe , und ſeine Kin-
der , und der General , vor ſeinen Auger auf den
Knien — Er ſtand allein noch — ſah die ganze
Gemeinde als niedergebogen Gott fuͤr ſein Leben
danken .
Wer kann den Anblick beſchreiben , und die
Erhebung des Manns ( Arners ) , der in dieſem Au-
genblick an ſeine Pflicht dachte , dieſem Volk , das
vor ihm kniete , auf Kind und Kindeskinder hinun-
ter ſein Gluͤck zu beveſtnen . Es ſchwellte ſeine
Bruſt ; er wandte ſein Angeſicht weg , fiel auch auf
ſeine Knie , weinte eine Weile auf den Knien , dan-
kete dann Gott fuͤr ſeine Rettung , und fuͤr ſeinen
Stand , und fuͤr den Lieutenant , fuͤr den Pfarrer ,
und fuͤr ſein Volk , und bat ihn um ſeinen Segen
zu ſeinem aufrichtigen Vorhaben , dieſe ihm von ſei-
ner Vaterhand anvertrauten Menſchen dem Zufall
des blinden Schickſals zu entreißen , und durch fe-
ſte , ihrer Natur , und ihren Umſtaͤnden angemeſſene
Geſeze , ſo viel als moͤglich , auf dieſer Welt gluͤck-
lich zu machen .
Faſt eine Viertelſtunde lag das Volk auf ſeinen
Knien ; dann ſtund der Pfarrer , und mit ihm die
Gemeinde auf , aber der Junker war todtblaß ,
that einen Schritt hervor , bog ſich gegen die Ge-
meinde , aber er konnte izt nicht reden . — Eine
Weile war wieder alles ſtill — der Pfarrer gab da
wieder ein Zeichen — und die Gemeinde ſang das
Lied „ Herr Gott ! wir loben dich ꝛc . —
Der Lieutenant hatte zehen Mann mit Wald-
horn , Trompeten und Baßgeigen beſtellt ; und das
Freudengeſang an Arners Feſt toͤnte in der Kirche
ſo , wie in dem Thal von Bonnal noch kein Freu-
dengeſang ertoͤnte .
Da es vollendet war , fuͤhreten Arner und The-
reſe die Meyerin und den Huͤbel-Rudi zum Altar . —
P 3
So eine Hochzeit hat von uns keiner , dachten
alle Juͤnglinge des Dorfs ; und die Maͤdchen , die
ſonſt bey allen Hochzeiten fluͤſtern , waren ſtill , da
der Pfarrer ſie ſegnete . — Dann laͤuteten wieder
alle Glocken ; der Junker fuͤhrte die Braut , und
Thereſe gieng mit dem Huͤbel-Rudi aus der Kirche
ins Pfarrhaus , und die Waldhorn und Trompe-
ten machten mit den Stimmen des Volks und den
laͤutenden Glocken ein frohes Getuͤmmel .
Er gab der Gemeinde einen Freuden-Trunk fuͤr
das Feſt , das ſie ihm feyerten ; rund um , faſt um
die halbe Matten des Pfarrhauſes ſtunden Stuͤhle
und Tiſche , Wein , und Brod , und Kaͤs , warme
und kalte Milch , Wuͤrſt und Kuchen fuͤr Junge und
Alte genug auf den Tiſchen . — Mitten im runden
Kreis der Gemeinde ſaßen die Hochzeitgaͤſte und das
ganze Schloß , und das Pfarrhaus , an einem Tiſch ;
ſie hatten ein maͤßiges Mahl , nur wenig mehr als
die ganze Gemeinde — aber in der Mitte des Eſ-
ſens brachte die Magd aus dem Pfarrhaus den
Hochzeitleuten ihre Geſchenke , aus dem Schloß und
aus dem Pfarrhaus — es war gar viel ſchoͤnes und
gar viel nuͤzliches , doch war unter allem das ſchoͤn-
ſte , was ihnen der Lieutenant ſchenkte .
Hinter hellem Waſſer-reinem Glas , in einer
goldenen Rahm , wie ein großer Spiegel , ſchenk-
te er ihnen die lezten Worte der Großmutter :
mit ſilbernen Buchſtaben auf ſchwarzem Boden ge-
ſchrieben .
Oben in den Segensworten umſchlang ein
dunkelgruͤner Kranz einen Bienenkorb , der daſtund
wie lebendig ; neben den Worten hinab hiengen
Palmen von blaͤſſerm Gruͤn , die unten wieder dunk-
ler mit Oelzweig verbunden einen Todtenkopf um-
wanden , und dieſen umgaben dann ringsherum
goldene Stralen wie die ſchoͤnſte Glorie der Heiligen .
— Oben an den ſilbernen Worten waren die er-
ſten „ Denk an mich , Rudi , es wird dir noch wohl
gehen “ ! — groͤßer als die andern geſchrieben , und
mit goldenen Buchſtaben ; und unten am Kranz
des Rudis und der Meyerin Namen , und der Tag
ihrer Hochzeit an Arners Feſt , auch ſo groß und
auch ſo mit goldenen Buchſtaben , und unter ih-
rem Namen noch zwey Herzen , die ſich in den Stra-
len des Todtenkopfs verloren . — Das ganze Dorf ,
Junge und Alte , laſen die ſilbernen und goldenen
Worte — Bauer und Baͤuerinnen ſagten , es habe
mancher Haus und Hof , die nicht werth ſeyen , was
dieſes Stuͤck . Der Rudi ließ Thraͤnen darob fallen ,
und ſeine Kinder wollten nicht eſſen , und nur der
Großmutter Worte leſen . Die Braut nahm eines
nach dem andern auf ihren Schoos , und ließ ſie
leſen und buchſtabieren .
Nach dem Eſſen tanzte das Volk , und Arner
und Thereſe , ſelber der General und die Frau Pfar-
P 4
rerin tanzten mit den geliebten froͤlichen Leuten .
Die aͤltern Maͤnner und Weiber blieben bey ihren
Tiſchen , und der Lieutenant , der mit dem lahmen
Beine auch nicht tanzen konnte , ſo gern er wollte ,
ſtund auch bey ihnen . —
§. 49.
Hochzeit-Wahrheiten fuͤr Bettlerleute
und fuͤr Geſezgeber .
U nd weil er ſo in ihrer Mitte ſtand , kam dem alten
grauen Renold in den Sinn , er verdiene auch ihren
Dank , und er freue ihn an dieſem Tag am meiſten .
Er ſtund auf , und ſagte zu ihm —
Er wiſſe , daß er allen Aeltern , die da ſeyen ,
aus dem Herzen rede , wenn er ihm izt fuͤr ihre
Kinder danke und ihm ſage , ſie erkennen es , daß
er ſich ihrer annehme , wie ſich vielleicht kein Menſch
in der Welt armer Dorfkinder annehme . Maͤn-
ner und Weiber ſtunden eins nach dem andern auf ,
dankten ihm auch wie der Alte . Es freute ihn
herzlich ; aber er nahm dabey Anlaß ihnen izt etwas
zu ſagen , was er ihnen ſchon lange gern geſagt
haͤtte : er that aber eine Weile nicht dergleichen ,
redte mit ihnen von ihren Kindern , erzaͤhlte ihnen
allerhand Gutes von ihnen , aber ließ doch nach
und nach eins nach dem andern merken , wie er ei-
nem jeden in der Schule anſpuͤhre , wie ſie bey
Haus mit ihnen umgehen , und als er ſie ſo traulich
hatte , und ernſthaft wie er wollte , trank er noch
auf ihre Geſundheit und die Geſundheit ihrer Kin-
der , und ſagte dann — wenn er einmal izt nicht
glaubte , es moͤchte ihnen Muͤhe machen , ſo wuͤrde
er ihnen gern noch etwas ſagen ; ſie erwiederten
ihm , er ſolle doch ſagen , was er wolle , ſie ſehen ,
wie er es meyne , und ſagen ja auch , was ſie wol-
len ; er fragte noch einmal , ob ſie es gewiß nicht
zoͤrnen wollen ? — Und ſagte dann —
„ Es iſt mir immer , wie wenn vielen von Euch
nicht ganz recht Ernſt ſeyn koͤnnte , weder mit der
Freude wegen dem Junker , noch mit dem Dank
gegen mich . “ Die Leute begriffen nicht , was er
meynte , ſtaunten , ſahen einander an ; endlich frag-
ten ihn etliche , warum er doch auch das ſage ? Er
antwortete ihnen , „ Ihr muͤßt mir verzeihen , aber
ich will es euch den geraden Weg ſagen ; es ſind
gar zu viel Leute unter euch , die in dieſem oder je-
nem Stuͤck noch immer gern in der Unordnung leb-
ten , und dieſe alle koͤnnen im Grund ihres Herzens
keine wahre Freude , und keinen wahren Dank ge-
gen jemand haben , der ſie und ihre Kinder aus
aller Unordnung herauszutreiben , und alle Unge-
ſchicklichkeit , Unanſtelligkeit und Verwirrung , die
im Dorf iſt , aufzudecken , und an den Tag zu brin-
gen ſucht . “
Dieſe Erklaͤrung machte ſie betroffen , ſie fien-
gen ihn an zu verſtehen , und er fuhr fort —
„ Weil ich nun einmal angefangen , will ich mich
nun voͤllig erklaͤren ; es iſt gewiß , daß zum Exempel
eine Frau , die ſich von Jugend auf der Unordnung
und der Unachtſamkeit gewohnt iſt , ihre Kinder
nicht beſorgt , vieles in der Haushaltung zu Grund
gehen , und wie Miſt durch einander und in einan-
der liegen laͤßt ; und wiederum , daß ein Mann ,
der in ſeinen Sachen es eben ſo hat , keine Freud
und Dank gegen jemand in ſeinem Herzen haben
koͤnne , welcher ihn in die Ordnung bringen will .
Es iſt gar zu vieles zu tief in ſeinem Innerſten ein-
gewurzelt , das er ſchwer hat abzulegen ; und ich
glaube faſt , ein ſolcher Mann und eine ſolche Frau
wuͤrden leichter dahin zu bringen ſeyn , mit dem
Jaunervolk in die Haͤuſer einzubrechen , und mit
den Zigeunern und Bettlern im Wald bey geſtohle-
nen und gebettelten Braten und Kuchen um ein Hei-
denfeuer herum zu tanzen , als aufrichtige Freude
daran zu haben , wenn man ſie wollte in eine Ord-
nung bringen wie recht iſt , daß ſie nichts Unor-
dentliches mehr verbergen und bemaͤnteln koͤnnen . “
Aber die Maͤnner und Weiber meynten doch
nicht , daß ſie Leute ſeyen , welche man mit Hei-
den- und Zigeunervolk vergleichen ſollte , und ſagten
noch einmal , es ſeyen gewiß blutwenige Leute un-
ter ihnen , denen es nicht Ernſt ſey mit ihm und
dem Junker . Er antwortete ihnen , „ Er habe ſie
nicht mit Zigeuner- und Heidenvolk verglichen , ſon-
dern nur ihre Ordnung ; ſo koͤnnte er die groͤſten
Herren mit dergleichen Volk vergleichen wie ſie ; es
ſey nur davon die Rede , ob die eingewurzelte Un-
ordnung das Gemuͤth des Menſchen nicht von der
Liebe und Dank gegen Leute ablenke , die gern rechte
Ordnung haͤtten . “
Sie gaben das wohl zu , aber meynten dabey ,
auch das treffe ſie nicht einmal ſtark ; er ſagte ih-
nen aber darauf , ihr zwinget mich , daß ichs euch
doch ſagen muß ; erinnert euch , was fuͤr Sachen
in euerm Dorf geſchehen , und was fuͤr Reden ge-
floſſen ſind , da man bey euch meynte , der Junker
komme nicht mehr auf . Die Worte „ ſtrenge Her-
ren werden nie alt “ ; wieder , „ es ſcheint doch
nicht Gotts Wille , daß alles nach ſeinem Kopf ge-
he “ ; wieder , „ es wird einmal viel anderſt wer-
den , wenn er die Augen zuthut . “ — Erinnert
euch nur deſſen , und ſaget mir , ob ihr ſelber glau-
bet , das alles haͤtte ſo vorfallen und geredt werden
koͤnnen , wie es geſchehen und geredt worden iſt ,
wenn nicht hundert und hundert dergleichen ver-
ſteckte Jauner- und Zigeuner-Geluͤſte der Grund
dazu geweſen .
Izt kamen ſie nicht mehr fort in ihrem men-
ſchenfreundlichen ſich ſelber Weißwaſchen . Ihrer
etliche ſagten , ſie muͤſſen izt ſchweigen , ſie ſehen ſel-
ber , daß etwas daran wahr ſey , wie er es izt ſage ;
er erwiederte ihnen , er habe es nie anderſt geſagt .
Und da Arner bey der tanzenden Jugend ſah ,
wie ernſtlich ihre Aeltern mit dem Lieutenant re-
deten , ſtund er zu ihnen , und fragte ſie , was ſie
ſo Ernſthaftes haben ?
Der Lieutenant gab ihm mit einem Wort ,
aber freundlich ſchauend gegen das Volk , einen
Wink , was es antreffe .
Das Geſpraͤch wendete ſich liebreich und mit
kurzem dahin , daß der Junker ſagte , es werde ſich
bald zeigen , ob er ihnen wirklich lieb ſey ? Er muͤſſe
ihnen ſelber einen Anlaß dazu machen . Maͤnner
und Weiber fragten ihn dringend , worinn doch ?
Und er erwiederte , ich kann euere Haushaltungen
und euer ganzes Weſen nicht in eine Ordnung brin-
gen , daß es auf Kind und Kindskinder in eine Ord-
nung gebracht iſt , wenn nicht ein jeder , der in ir-
gend einer Sache , ſey es im Ackerbau oder im
Hausweſen , etwas beſſer verſteht als die andern ,
mir darinn Hand bietet , die andern darinn auch
in eine beſſere Ordnung zu bringen . —
Es war keiner , der nicht hieruͤber Ja ſagte .
Aber es war ihm nicht genug , was ſie ihm ins
Allgemeine hinein verſprachen ; er fragte dann den
dicken Binzbauer , der den Namen hatte , er ver-
ſtehe den Kornbau am beſten , wie iſts , willt du
mir helfen , daß deine Nachbarn , die im Kornbau
ſo weit hinter dir ſind , darinn nach und nach auch
in die Ordnung kommen ? Dann fragte er das
gleiche den Lindenberger mit der Hacknaſe , der den
Namen hatte , er verſtehe den Wieſenbau am be-
ſten , und ſo mehrere , von denen man ſagte , ſie
verſtehen irgend ein Stuͤck der Wirthſchaft beſſer
als die andern . — Zum Baumwollen-Meyer ſagte
er , dich frage ich nicht , ob du mir an die Hand
gehen willſt , denn du weißt , und haſt mir es ſelber
geſagt , daß ein jeder im Grund nur ſich ſelber an
die Hand geht , wenn er mir an die Hand geht . —
Er fragte ſogar die alte Frau , die den Gartenbau
ſo wohl verſtund , ob ſie in ihren alten Tagen ſich
noch ſo viel Muͤhe nehmen wolle , der lieben Ju-
gend zu etwas mehr Gartenzeug , als zu dem Saͤu-
kraut , welches ſie in ihren Gaͤrten faſt allein pflan-
zen , zu verhelfen ? — Und es freute einen jeden ,
den er ſo auszeichnete ; ſie verſprachen ihm faſt alle
noch mehr als er forderte .
Das waͤre izt Eins , ſagte er da . Das An-
dere iſt , ein jeder , der irgend eine Sache von ſei-
nem Hausweſen und von ſeinem Landbau nicht ſo
gut verſteht als ein anderer , ſollte mir eben ver-
ſprechen , ſich darinn gutmuͤthig weiſen und rathen zu
laſſen ; aber er ließe es auch hierinn nicht beym bloßen
man ſollte , und ihr ſolltet , bewenden ; ſondern
wandte ſich auch dießfalls vor allen an ihrer etliche ,
die in einigen Hauptſtuͤcken ihrer Wirthſchaft kund-
barlich nicht in einer guten Ordnung waren , und
ſagte : Wie iſts ? Willt du dir in dieſem oder jenem
Stuck , in dem du nicht laͤugnen kannſt , daß du
es noch weiter treiben koͤnnteſt als du thuſt , rathen
und helfen laſſen ? Auch hierinn ſchien es , daß ſie
alle mit Freuden Ja ſagten . — Aber er war auch
ſo innig gut — zeigte ihnen dann noch zulezt ihre
tanzenden Kinder , und ſagte ihnen , wenn ihr es
nicht um meinetwillen , und nicht um euer ſelbſt
willen thun wolltet , ſo ſolltet ihr es um dieſer wil-
len thun . — Er ſezte hinzu — es wird mit ihren
Freuden bald aus ſeyn , wenn ihr nicht fuͤr ſie ſor-
get , und alle Luſtbarkeit ihres Lebens , die ihnen ſo
wohl thut , iſt an die Art und Weiſe , wie ihr euere
Geſchaͤfte machet , und wie ihr ſie auch dazu anzie-
het , gebunden ; fehlet ihr darinn , ſo erwahret das
alte Spruͤchwort an ihnen , „ Je freudiger , je trau-
riger “ , und ſie werden daruͤber Niemanden als euch
anklagen .
Das Volk war geruͤhrt ; aller Augen waren
auf ihn geheftet , und viele hielten ihre Haͤnde zu-
ſammen , wie wenn ſie beteten ; ihr Stillſchweigen
erhob ſein Herz : Er ſagte ihnen noch einmal , ich
kann mir nicht vorſtellen , daß ihr mich , und mit
mir euch ſelber , alſo betruͤgen wollet , mir hierinn
euer Wort nicht zu halten ; und fehlet ihr mir nicht ,
ſo kann ich euch verſprechen , mit der Hilfe Gottes
ſoll in kurzen Jahren nicht leicht mehr eines unter
euch ſeyn , das nicht mit Ruhe und Freude auf Kind
und Kindeskinder herab ſehen koͤnne . —
Mit dieſem verließ er die Aeltern , gieng noch
eine Weile zu den tanzenden Kindern , ſahe mit Luſt
ihre Freuden-Reihen , und dachte mit noch groͤße-
rer Luſt an ſeine Geſezgebung , mit der er zu der
Quelle dieſer Freuden Sorge tragen wolle , und laͤ-
chelte der Laſt entgegen , die ihm dieſe Vater-Freu-
de auflegen wuͤrde .
Und am Abend , um 4 Uhr , umringte ihn der
Kreis der tanzenden Jugend ; die Braut dankte ihm
im Namen der Hochzeitleute , und der Gemeinde ,
fuͤr ſeinen Freudentag , den er ihnen allen zum Freu-
dentag gemacht , und ein lautes Rufen des danken-
den Volks unterbrach die redende Braut . Er fuͤhrte
ſie dann noch aus dem Pfarrhaus heim in ihre
Huͤtte ; das ganze Dorf begleitete ihn dahin , dankte
ihm noch einmal , als er da in den Wagen ſaß
und fort fuhr .
§. 50.
Hummels Tod .
U nd der Rudi war kaum heim , ſo ſchlich er mit
einer Flaſchen Wein , und einer Blatten von allem
Guten , das ſie hatten , von ſeiner Braut und den
Hochzeitgaͤſten fort , trug alles unter ſeinem Rock ,
wie verborgen , zu dem alten Feind ſeines Lebens .
Der gute Mann konnte nicht anders , als er mußte
denken , der arme Tropf ſehe izt alle Freuden dieſes
Tags , hoͤre alle ihre Luſtbarkeit , und ihm ſey kein
froher Augenblick mehr beſchehrt auf dieſer Erde .
— Bewahr doch — ſagte er , da er dieſes dachte ,
der liebe Gott einen jeden Chriſtenmenſchen vor ei-
nem boͤſen Leben ! — und gieng dann fort . Der
Vogt war in einem erbaͤrmlichen Zuſtand . — Das
Abfaulen und Abdorren des Menſchen , an dem
nichts mehr Menſch iſt , iſt entſezlich ; ſchon lange
lebte in ihm nichts mehr , als was im Hund und
im Fuchs und im Wolf auch lebt ; wenn er ſchon
wollte , er hatte fuͤr kein Gutes kein Leben mehr in
ſeinen Sinnen ; und konnte , was menſchlich iſt , ſo
wenig mehr in ſich behalten , als ein durchloͤcher-
tes Geſchirr Waſſer , das man darein ſchuͤttet . Der
arme Tropf ſchrieb es dem Teufel zu ; als ob es
mehr brauche , als ein Leben wie das ſeine , einen
Menſchen
Menſchen in ſeinem Alter lebendig todt zu machen .
Aber es iſt ſo der Menſchen Art , ſie wollen noch
lieber vom Teufel ſchlecht ſeyn , als von ſich ſelber ;
und laſſen ſich gar oft leichter dahin bringen , aus
dummer Furcht vor dem Beelzebub in die Gichter zu
fallen , als auf ſich ſelber Acht zu geben .
Das war ſein Fall : Er bruͤllte in ſeiner Teu-
felsangſt gar oft wie ein Vieh , inſonderheit zu
Nacht , ſo daß ihm auch Niemand abwarten wollte ,
und der Rudi ein armes Bettelweib , das ihm ver-
wandt war , mit dem groͤſten Verſprechen kaum
dazu bewegen konnte ; er meynte nichts anders , als
der Teufel werde ihn holen wie den Doktor Fauſt ,
der das Pulver erfand ; und konnte ſich vorſtellen ,
er warte vor ſeiner Thuͤr auf den Glockenſchlag ,
wann es mit ihm aus ſey , wie etwa Waͤchter und
Harſchier einer Schelmenbande aufpaſſen , wenn
die Stunde verrathen iſt , in der ſie an einen Ort
hinkommen .
Dieſe Narrenſchrecken ſeiner unſinnigen Teu-
felsfurcht hinderten die zerruͤtteten Kraͤfte ſeines
Kopfs und Herzens noch mehr , daß nichts Gutes
und nichts Menſchliches darinn Platz fand , und
alles Bemuͤhen des guten Pfarrers , ſeine Sinne
wieder zu ſtaͤrken , umſonſt war .
Das war ſein Lebensende . — So dorret ein
Baum ab , der auf einer Brandſtaͤtte bis auf das
Q
Mark verſengt iſt — Umſonſt treibt ſeine Wurzel
noch einigen Saft in die todten Gefaͤße , er ſtocket in
allen Adern bis auch ſeine Wurzel erſtarret , und
es dann ganz mit ihm aus iſt . Sein zerruͤttetes
Leben ſtockete in allen Sinnen , und er konnte bey
Monaten nicht mehr einen beruhigenden menſchli-
chen Gedanken feſt halten .
Bis am Morgen dieſes Tags , da alle Glocken
laͤuteten , und er den Rudi an der Hand des Jun-
kers , und die Meyerin an der Hand der Thereſen ,
und die Kinder des armen Manns an der Hand der
Kinder aus dem Schloß , unten an ſeiner Gaß vor-
uͤber zur Kirchen gehen ſah , und das Getuͤmmel
des frohen Volks hoͤrte — da ward ihm in dieſem
Augenblick wie anderſt ums Herz , und wie , als ob
ihm Gott auch noch einen guten Gedanken zu ſeiner
lezten Erquickung in ſeine Seele gegoſſen — er
konnte izt denken — wann es zu ſeiner Zeit alſo
geweſen waͤr , ſo waͤr er auch nicht geworden , was
er geworden . —
So wirft eine Lampe noch vor ihrem Erloͤſchen
einen hellern Schimmer , und ſtirbt dann . —
Das Bettelweib , das ihm abwartete , ſagte , er
habe dieſe Worte mehr als zehnmal nach einander
wiederholet , und dabey Thraͤnen in den Augen ge-
habt , und ausgeſehen wie ein anderer Menſch . —
Auch das habe er ein paarmal geſagt , „ wann er
izt nur ſterben koͤnnte , weil ihm ſo ſey “ — und
noch einmal uͤber das andere — „ Mein Gott !
Mein Gott ! “ gerufen , das er ſonſt auch nicht gethan .
Aber eine Saite , die Jahre lang in einem
Winkel verroſtet , ſpringt entzwey , ſo bald du ſie
ſpannſt , und dieſer Gedanken toͤdete den Mann ; er
konnte nichts anders mehr als dieſen Gedanken den-
ken , ſtaunte eine Weile demſelben anhaltend nach ,
und da traf ihn der Schlag .
Das Bettelweib , das bey ihm war , freute
ſich , daß er an ſeinem Ende noch ſo zu guten Ge-
danken gekommen , und nahm das beſte Buch in
die Hand , betete ihm in ſeinen lezten Noͤthen das
Gebet eines armen Suͤnders vor , den man auf die
Richtſtatt fuͤhrt , und glaubte , es koͤnnte im gan-
zen Buch nichts finden , das ſich beſſer fuͤr ihn
ſchicke . Es wußte ſonſt nichts zu machen , weil
ſich ſeiner ſonſt Niemand nichts annahm als der
Rudi , und dieſer izt an ſeiner Hochzeit war . Aber
der gute Menſch zoͤrnete das , und ſagte ihm , es
ſey ein Unmenſch , daß es ihn habe ſo da liegen
laſſen koͤnnen . — Was willt doch ſagen — er-
wiederte das Weib — er iſt , ſo lang ich ihm ab-
warte , nie ſo ſchoͤn da gelegen — und eine Weile
darauf — man kann dem armen Tropfen izt nichts
mehr Gutes thun , als Gott fuͤr ihn bitten , daß
Q 2
er ihm ſeine Suͤnden verzeihe , und ihm eine ſelige
Aufloͤſung beſcheere ; und es haͤtte ihm nichts ge-
holfen , wenn ich dich auch heut mit ihm geplagt
haͤtte , du biſt ja dein Lebtag lang genug mit ihm
geplagt geweſen . —
In dieſem Augenblick ſah der Rudi , daß es
das arme Suͤndergebet auf dem Tiſch vor ſich
hatte , und ſagte ihm , das iſt erſchrecklich , was
denkſt auch ? — Haſt du es ihm laut vorgele-
ſen ? —
Ja freylich , ſagte das Weib .
Aber um Gotteswillen ! was denkſt auch ?
Wenn ers noch verſtanden , es hat ihm ja muͤſſen
faſt das Herz abdruͤcken .
Nichts wenigers , erwiederte das Menſch —
er hats gar wohl noch verſtanden , und mir im An-
fang noch mit dem Kopf dazu genickt — es ſey
recht . —
Der gute Rudi legte den armen Sterbenden
noch , ſo gut er konnte , zu recht , und ſeinen Kopf
hoͤher , ſprang dann heim , ſagte es ſeiner Braut ,
und bat die Hochzeitleute , ſie ſollen doch aufhoͤren
tanzen , und uͤberall nicht mehr laut thun , er fuͤrch-
te , wann ers noch hoͤre , ſo koͤnnte es ihm noch
weh thun , und das waͤr ihm leid .
Es war Niemand bis auf die kleinſten Kin-
der , der nicht fand , er habe recht , und ſie doͤrfen
ihn in ſeiner lezten Stunde nicht kraͤnken . — Die
Kinder baten den Rudi , weil ſie ſich izt nicht mehr
luſtig machen doͤrfen , um den goldenen und ſilber-
nen Bienenkorb der Großmutter , daß ſie auch et-
was zur Freude haben , da ſie doch muͤſſen ſtill
ſeyn . — Er gab ihn ihnen ; eilte dann mit ſeiner
Braut mit Tuͤchern und Bettzeug , und Eſſig , und
allem , was ſie im Hauſe hatten , und meynten ,
daß es ihm dienen koͤnnte , zu dem Sterbenden ,
und blieben an ihrer Hochzeit bey ihm bis zwiſchen
zwoͤlf und ein Uhr , da er dann verſchieden . —
Der Pfarrer blieb auch ſo lang , und druͤckte noch
beym Weggehen dem armen Todten die Augen zu
— und dann ihnen beyden die Haͤnde ſo warm
und fromm und prieſterlich , als heut am Morgen ,
da er ſie einſegnete .
Q 3
§. 51.
Arners Geſezgebung .
U nd nun eile ich zur Vollendung meines Werks ,
und bitte den Geiſt der Einfalt , der mich leitete ,
als ich meinen Volks-Geſang bey der Huͤtten der
armen Frauen , und im Tumult der großen Ver-
wirrung des verwahrloſeten Dorfs anhub , und
der mich auf meinem unbetretenen Pfad an der
Hand der Erfahrung fortfuͤhrte . — Geiſt der Ein-
falt , du mein Geiſt ! verlaß mich izt nicht , da ich
ermuͤdet mich meinem Ziele naͤhere , und meinen
Geſang mit der Hofnung vollende , Arners Ge-
ſezgebung ſetze die Moͤglichkeit einer die menſch-
liche Natur , auch in der Tiefe des Volks , befrie-
digenden Staatsweisheit und Staatsgerechtigkeit
außer Zweifel .
Ich ſaͤume mich nicht —
Das ſind die Einrichtungen , Geſe-
ze , Anſtalten und Vorſorgen , durch
welche Arner ſein Volk in Bon-
nal von den Fehlern eines ſich
ſelbſt uͤberlaſſenen Naturlebens zu
heilen , und ſie aus einem leichtſin-
nigen , gedankenloſen , traͤgen , un-
vorſichtigen , untreuen , verwege-
nen , mit einem Wort , verwahrlo-
ſeten Naturgeſindel , welches ſie
waren , zu bedaͤchtlichen , feſten ,
fuͤrſichtigen , treuen , frommen , in
ihrem Zutrauen ſowohl , als in ih-
rem Mistrauen ſicher gehenden , und
im Innern ihrer Haushaltungen
Gluͤck und Zufriedenheit findenden
und zu finden faͤhigen Menſchen zu
machen .
Er ließ zuerſt in einem jeden Fach des Land-
baus und der Hauswirthſchaft den Mann , von
dem er mit Zuverlaͤßigkeit erfahren , daß er in die-
ſem Fach vorzuͤgliche Kenntniſſe und Erfahrung
habe , zu ſich kommen , erinnerte ihn des Verſpre-
chens , welches ſie ihm alle am Abend ſeines Wie-
dergeneſungfeſts in Bonnal gethan , daß ihm nem-
lich jeder in dem , was er am beſten verſtehe , ſo
an die Hand gehen wolle , die andern in dieſem
Stuͤck , ſo viel ihm moͤglich , auch in eine beſſere
Ordnung zu bringen ; und ſagte ihm dann , er fin-
de , daß er dieſes oder jenes Stuͤck der Wirthſchaft
vorzuͤglich wohl kenne , er bitte ihn alſo hieruͤber
ſein Dorfrath zu ſeyn . —
Q 4
So machte er den , der den Kornbau am be-
ſten verſtund , zu ſeinem Dorfrath uͤber den Korn-
bau ; den , der den Wieſenbau am beſten behan-
delte , zu ſeinem Dorfrath uͤber den Wieſenbau —
der den Wald am beſten beſorgte , uͤber den Wald-
bau — der , ſo die Fruchtbaͤume am beſten be-
ſorgte , uͤber die Fruchtbaͤume ; und waͤhlte ſo fuͤr
alle kleine und groͤßere Theile der Wirthſchaft den
Mann , der ſich darinn als den beſterfahrnen aus-
zeichnete , hieruͤber zu ſeinem Dorfrath .
Dann gab er dieſen Maͤnnern , einem jeden
fuͤr ſein Fach , ein Dorfrathsbuch , darinn erſtlich
Auszuͤge aus den Schloß-Protokollen , ſo weit aus
denſelben das Fach , darinn einer Dorfrath war ,
Licht erhalten konnte ; z. Ex. im Kornbau , wie
viel die ganze Gemeinde dieſer Art Land beſitze , und
dann , wie viel ein jeder Bauer einzeln beſitze : wor-
uͤber in den Protokollen ſich nichts fand , z. Ex. uͤber
die Baumzucht , das mußten die Dorfraͤthe ſelber
aufzeichnen — und dann mußten ſie in ihren Faͤ-
chern allemal in Rubriken , die ihnen vorgezeichnet
waren , den Zuſtand aller Theilen dieſes Fachs , im
Großen und in ſeinen beſondern Stuͤcken , deutlich
und klar bemerken , z. Ex. in der Rubrik des Acker-
baus : 1 °. wie viel von dieſem Land gut , wie viel
ſchlecht , wie viel trocken , wie viel naſſes , wie viel
leimartig , wie viel ſandartig , wie viel gemiſcht u.
ſ. w. dann 2 ° , was fuͤr Hauptverbeſſerungen man
im Trockenen , im Naſſen , im Sandigen , im Leim-
artigen vornehmen koͤnnte und ſollte — ferner ,
wie weit dieſe Verbeſſerungen wirklich ſtatt haben ,
und wie weit ſie nicht ſtatt haben , und welches die
groͤßern und kleinern Hinderniſſe ſeyen , um deren-
willen ſie nicht allgemein ſtatt haben ; dieſe Rubri-
ken fuͤllten den erſten Theil dieſes Dorfraths-Buchs
aus .
Der zweyte Theil deſſelben enthielt wieder in
jedem Fach die umſtaͤndliche Soͤnderung des Gan-
zen in die beſondern Theile , die ein jeder in dieſem
Stuͤck beſaß oder verwaltete . Ein jeder Buͤrger
hatte in dieſem Theil ſeinen Plaz , oder ſeinen Hof ,
in welchem der Dorfrath die Rubriken des erſtern
Theils auf ihn beſonders anwenden , und z. Ex. im
Feldbau zeigen mußte , wie viel er ſandiges , oder
leimichtes Land beſitze , wie viel er davon wohl , und
wie viel er davon nicht wohl beſorge , und ſo wars
in allen Theilen der laͤndlichen Wirthſchaft ; ein je-
der Dorfrath , der fuͤr den Kleebau , der fuͤr die
Waͤſſerung , der fuͤr den Forſtbau , der fuͤr den
Obswachs , hatte alſo ſein doppeltes Buch mit allen
Rubriken , die er meiſtens nur mit kleinen Zeichen
ausfuͤllen mußte ; und der Lieutenant machte dann
dem Junker aus dieſen Dorfraths-Buͤchern ein
allgemeines Dorfwirthſchafts-Buch , darinn zuerſt
wieder im Allgemeinen von allen Theilen der Wirth-
ſchaft in Bonnal zuſammen gezogen war , was in
jedem beſondern Buch von dem Dorfrath bemerkt
und rubrizirt ward ; und dann zweytens , was in
demſelben von jedem beſondern Hauswirth uͤber
jeden Theil ſeiner Wirthſchaft in Verbindung mit
dem erſten Theil des Buchs bemerkt und rubrizirt
war . —
So erhielt Arner ein reales und vollſtaͤndiges
Grundbuch uͤber die allgemeine Dorfwirthſchaft in
Bonnal , und ein auf dieſes ſich beziehendes eben
ſo vollſtaͤndiges Rechenſchafts-Buch von dem Zu-
ſtande der Wirthſchaft eines jeden Bonnalers in
allen ihren Theilen , von den groͤſten Hauptſtuͤcken ,
die ſie beſaßen , bis auf das juͤngſte Schwein im
Stall und dem kleinſten neugeſezten Baum .
Er hatte dieſes nicht ſo bald , ſo verſammelte
er die Gemeinde wieder , erinnerte von neuem an
ihr Verſprechen , ſich in allem , wodurch er ſie fuͤr
ihre Kinder und Kindskinder in Ordnung bringen
koͤnne , rathen und helfen zu laſſen .
Und mit dieſem vorbereitet , machte er dann
einen Hausvater nach dem andern zum großen
Rechenſchaftsbuch ins Pfarrhaus kommen , und
zeigte ihnen ganz unerwartet und auf einmal den
wahren Zuſtand ihres ganzen Hausweſens , auf
ihrem Blatt , wie in einem Spiegel . — Er ließ
einen jeden neben ſich niederſitzen , und ſeine ganze
Rechnung da leſen , und dem , der nicht leſen konn-
te , las er ſie vor , vom Anfang bis zum Ende . —
Weit die meiſten hatten in ihrem Leben nie einen
Augenblick mit dem Eins mal Eins im Kopf ihr
Hausweſen in allen ſeinen Theilen uͤberſchlagen ,
und niemals , weder im Ganzen noch in ſeinen Thei-
len , eine heitere Einſicht darein gehabt , ſtunden
auch desnahen vor ihrem Spiegel wie vor einem
Wunder , und vor dem Junker wie Narren . —
Sie konnten gar nicht begreifen , wie ihre Sa-
chen alle ſo deutlich und klar auf dieſes Papier ge-
kommen — und wie das , woran ſie ſelber nie ge-
dacht , hier bemerkt , und das , was ſie ſelber nicht
gezaͤhlt , hier gerechnet ſeyn koͤnnte ; was ſie laͤngſt
vergeſſen , das war hier wie neu wieder da ; was
ſie vernachlaͤſſiget , das fanden ſie da bemerkt ; was
ſie fuͤr nichts geachtet , das ſtund doch da , wie wenns
gar nicht wenig waͤre ; und er fragte ſie dann uͤber
einen jeden Punkt ihrer Rechnung , iſts ihm nicht
ſo ? Iſts ihm nicht ſo ? Und druͤckte die meiſten ge-
waltig mit dieſem Wort , ſo daß es alle duͤnkte , es
wolle kein Ende haben , dieſes : Iſt ihm nicht ſo ? —
Doch ſagten ſie ihm alle faſt in allen Stuͤcken
Ja , aber freylich oft mit einer unbeſchreiblichen
Verlegenheit .
Hingegen ſagten gar viele , und die Verſtaͤn-
digſten alle von ſich ſelber , wo ſie eine Abſchrift
von dieſem Blatt haͤtten , es koͤnnte ihnen gar viel
dienen ; er gab ſie allen , und viele konnten das
Blatt auf dem Heimweg , und auch daheim , nicht
aus den Haͤnden laſſen , bis ſie ſich genug darinn
erſehen . Der Niggel Spiz ſagte einem ganzen
Haufen von ihnen , da er ſie ſo mit ihrem Papier
in der Hand vor dem Pfarrhaus ſpatzieren ſah —
So hat noch kein Pfarrer ſeine Gemeinde aus einer
Predigt oder aus einer Kinderlehre heimgeſchickt !
— Einer gab ihm zur Antwort — ja dieſe fangen
nicht beym Leib an fuͤr den Menſchen zu ſorgen —
Es geht darum , ſagte der Niggel , denke ich , ihnen
mit der Seelſorge ſo gut , weil ſie ſie allein trei-
ben .
Ihrer viele kamen nicht ſo bald unter ihr Dach ,
ſo giengen ſie mit Schaufeln und Karſt , oder einem
andern Inſtrument auf der Achſel , oder unter den
Armen , wieder zur Thuͤre hinaus , um dieſes oder
jenes geſchwind in die Ordnung zu machen , woruͤ-
ber ſie am ſtaͤrkſten durch ihren Spiegel beſchaͤmt
worden waren .
So giengs am erſten Tag , und der Junker
trug Sorge , daß ihnen der Spiegel alle Jahr wie-
der neu werde .
Alle Fronfaſten mußte ein jeder Dorfrath ſein
Buch erneuern , und in allen Rubriken anzeigen ,
ob in denſelben einige groͤßere oder kleinere Veraͤn-
derungen vorgefallen ? Hieraus erneuerte dann der
Lieutenant eben ſo in allen ſeinen Theilen ſein großes
Dorfwirthſchafts-Buch . Aus dieſem ließ der Jun-
ker dann alljaͤhrlich einem jeden Haushaͤlter ſeinen
Wirthſchafts-Spiegel in allen ſeinen Theilen wieder
erneuern , und ließ ihn auf die gleiche Art wieder
uͤber eine jede Abaͤnderung Antwort geben , ob ſie
richtig ſey oder nicht ? —
Aber auch das war ihm noch nicht genug . Er
ſah die Kopfs-Einſchraͤnkung ſeiner meiſtens nur ein-
ſeitig gebildeten Dorfraͤthen , und erkannte , daß
Leute , die in einem beſondern und einzelnen Theil der
Wirthſchaft vorzuͤgliche Erfahrungen haben , in ei-
nem gewiſſen Alter oft beſtimmt dadurch gehindert
werden , ſo wohl mit Unpartheylichkeit , als mit
genugſamer Geduld anderer , in ihrem Fach min-
der erfahrnen Leuten ſo an die Hand zu gehen , daß
ihnen wirklich an die Hand gegangen iſt — und
eben ſo , daß ihre einſeitigen Erfahrungen und Kennt-
niſſe ſie meiſtens auch dahinbringen , aus ihrem
Fach alles , oder einmal viel mehr , zu machen , als
es im Ganzen und mit allem uͤbrigen verbunden
wirklich iſt . — Es begegnet ihnen auch nicht ſel-
ten , daß ſie meynen , ſie verſtehen alles , wie ſie eins
verſtehen — eben ſo , wie ſie auch oft durch ihr
Alter und abnehmende Kraͤfte gehindert werden ,
auf die Art , wie es ſeyn ſollte , einem ganzen
Dorf in ihrem Fach an die Hand zu gehen , und
etwan , wo es noͤthig , die Handgriffe ſelber zu
zeigen .
Dieſem allem , und noch mehrerm , half Ar-
ner dadurch ab , daß er dieſen Dorfraͤthen fuͤr jede
Gaſſe noch zwey juͤngere , noch lernbegierige , aber
doch ſchon in allen Theilen der Wirthſchaft eigene
Erfahrung beſitzende Maͤnner zugab , die er mit
Zuthun der aͤltern Dorfraͤthe fuͤr ſie waͤhlte , und
die dann im engern Kreis ihrer Gaß ihren Nach-
barn in allen Theilen ihrer Wirthſchaft allemal
nach der Wegweiſung des Dorfraths , in deſſen Fach
ein jeder Gegenſtand einſchlug , an die Hand gehen
mußten .
Dieſe blos wie zu ihrer Erleichterung vorge-
nommene Einrichtung ſchmeichelte den aͤltern Dorf-
raͤthen um ſo mehr , da ſie auf dieſe Art die ver-
ſtaͤndigſten , ordentlichſten und fleißigſten juͤngern
Hauswirthe auf eine Art wie zu ſich in die Schule
gewieſen , und ſich untergeordnet ſahen — auf der
andern Seite aber , da dieſe juͤngere Maͤnner bey
einem jeden dieſer Dorfraͤthen nur in demjenigen
Fach Rath ſuchen mußten , das er wirklich ver-
ſtund , und nur in ſo weit , als ſie denſelben fuͤr die
Wirthſchaft der Leuten ſeiner Gaß wirklich brauch-
ten , ſo machte ihnen das auch nicht viel Muͤhe ,
und ſie wurden hingegen durch den Rath und die
vielſeitigen Erfahrungen dieſer Maͤnner , die ſie in
allen Faͤchern dennoch oft und nothwendig brau-
chen mußten , auf eine ſehr natuͤrliche , einfache ,
und ſichere Art gefuͤhrt und geleitet , die Gegenſtaͤn-
de der Wirthſchaft in ihrem Zuſammenhang anzuſe-
hen , ohne die feſte und genaue Aufmerkſamkeit auf
jede einzelne Theile derſelben zu ſchwaͤchen ; und
genoſſen auf dieſe Art im eigentlichſten Verſtande ,
und in einem ſehr ausgedehnten Sinn , den Geiſt
und das Weſentliche der beſtmoͤglichſten Landwirth-
ſchafts-Schule fuͤr ihr Dorf .
Dieſen zehn Maͤnnern uͤbergab Arner aus dem
allgemeinen Dorfwirthſchafts-Buch die Abſchriften
der ſo geheißenen Wirthſchafts-Spiegel , die ein
jeder Bauer von Bonnal darinn hatte ; nemlich je
zwey und zweyen allemal diejenigen Spiegel , die
die Hauswirthe der Gaſſe , die ihnen angewieſen
war , betrafen , aber ſie mußten dann dieſelbe noch
groͤßer machen , und weiter ausdehnen , als es den
alten Dorfraͤthen in ihrem Buch uͤber alle Bonna-
ler , wenn ſchon einem jeden nur in einem einzigen
Fach , nicht moͤglich geweſen waͤre ; dieſe konnten
es hingegen leichter , weil ſie dieſe Buͤcher nur uͤber
die Buͤrger ihrer Gaſſe fuͤhrten , und allemal ihrer
zwey zu den Buͤchern uͤber die Hauswirthe einer
Gaſſe waͤren . — Aber freylich mußten ſie dann
dieſe Buͤcher allgemein und uͤber alle Theile der
Wirthſchaft ihrer Leute vollſtaͤndig fuͤhren , und in
jedem Buch von einem Hauswirth alle Rubriken
beſtimmt ausfuͤllen , wie ſie ihnen vorgezeichnet uͤber-
geben worden ; z. Ex. in der Rubrik Akerbau
bey einem jeden bemerken :
„ So viel im voͤlligen Abtrag .
" So viel im mittlern Abtrag .
" So viel im ſchlechten Abtrag . “ —
Dann mußten ſie auch dieſe Unterſcheidungen
in allen Faͤchern der Wirthſchaft an ihrem Ort
richtig ausfuͤllen , bis auf die kleinſten Theile der-
ſelben , alſo daß auch nicht das kleinſte Baͤumchen
ohne die beſtimmteſte Beurtheilung , ob ſeine Be-
ſorgung gut , mittelmaͤßig , oder ſchlecht ſey , ge-
laſſen wurde ; und uͤber jeden einzelnen Mann muß-
ten ſie eben ſo bemerken , ob er verſtaͤndig und er-
fahren , und in welchen Stuͤcken ſeiner Wirthſchaft
ſich das zeige , und aus welchen man das Gegen-
theil ſchließen ſollte . —
Dann hatte auch ſeine Frau , und ein jedes
ſeiner Kinder , ſeinen Plaz in dieſem Buch ; und
von einem jeden ward umſtaͤndlich nach allen wich-
tigen Geſichtspunkten , die ſeinethalben zu bemerken
waren , aufgezeichnet , wie es mit ihm ſtehe , was
es taͤglich arbeite , wori n n es ſich im Guten oder
im Boͤſen auszeichne , was ſein Vater aus ihm
machen wolle , und ob daſſelbe ſich fuͤr ihns und
ſeine Umſtaͤnde beym Leben und Sterben ſeiner
Aeltern ſchicke ? — Und endlich , ob in einer jeden
Haus-
Haushaltung kein freſſender Krebs , und nichts ge-
faͤhrliches um den Weg ſey , das fruͤh oder ſpaͤt
dieſe Haushaltung in Unordnung bringen , und den
Weg zu ihrem Verderben anbahnen koͤnnte . —
Und die Buͤcher der zehen Maͤnner waren vom
Lieutenant ſo eingerichtet , daß ſie in weit den mei-
ſten Stuͤcken nur kleine Zeichen und Zahlen einzu-
tragen hatten ; und auch uͤber dieſe hatte Arner wie-
der ein allgemeines Buch , daraus er am Ende des
Jahrs im Augenblick einem jeden Bonnaler ſeine
Rechnung ausziehen , ſie in allen ihren Theilen ,
und in jedem beſonders , an die Rechnung deſſelben
vom vorigen Jahr anſchließen , und ſich alſo bis
auf die kleinſten Unterſcheidungen , wie weit ſich
ſein Zuſtand beſſere oder ſchlimmere , in allen
Stuͤcken leicht bemerken konnte ; wie z. Ex. in der
Rubrik des Ackerbaus — Der Jakob Meyer hatte
gut beſorgte Aecker 1785,5 Juchart — 1786,8 ;
alſo 1786 3 Juchart mehr gut beſorgte . — Mit-
telbeſorgte 1785,6 Juchart — 1786,10 ; alſo
mittelbeſorgte Aecker 1786,4 mehr als 1785 . Schlecht
beſorgte 1785,10 — 1786,3 ; alſo ſchlecht be-
ſorgte Jucharten minder als 1785 , 7 . —
So deutlich und leicht fiel ein jeder Unterſchied
in allen Theilen eines vergangenen und gegenwaͤrti-
gen Jahrzuſtands auf , und Arner ließ daruͤber ein
unveraͤnderliches Geſez verfertigen , und daſſelbe zu
R
den von ihm beſtaͤtigten Gerechtſamen und Frey-
heiten des Dorfs in ihre Gemeindlade hineinlegen ,
und in ihr Dorfbuch eintragen , daß alljaͤhrlich in
der Weihnachtswoche Gemeind gehalten werden
muͤſſe , und in derſelben zur Aufmunterung des
Fleißes und aller guten Ordnung , in Gegenwart
des Junkers und des Pfarrers , und der Gemeinde ,
einem jeden zu Lob und Ehren , aus dieſer Rech-
nung oͤffentlich muͤſſe vorgeleſen werden , was in
derſelben ihm Lob und Ehre bringen koͤnne .
Hingegen ward durch ein eben ſo beſtimmtes
Geſez , und eben ſo feyerlich , zum Wohl und Nutzen
der Gemeinde , und zur Sicherheit der guten Be-
ſorgung alles Ihrigen , auf Kind und Kindskinder
hinunter befohlen , und der Befehl als von der gan-
zen Gemeinde , und als zu ihrer Sicherheit und zur
Hinterlag ihres langdauernden Wohlſtands , allge-
mein angenommen , und eben ſo in ihre Gemeind-
lade verwahret , und in ihrem Dorfbuch eingetra-
gen , daß ein jeder , der irgend ein Stuͤck ſeiner
Wirthſchaft ſchlechter beſorgt als im vorigen Jahr ,
dem Junker und dem Dorfrath ſagen muͤſſe , wa-
rum und wie das gekommen ? — Das erſtemal in
aller Freundlichkeit — und ohne daß man ihm daruͤ-
ber Vorwuͤrfe machen doͤrfe , warnen ; — dennoch
aber muͤſſen die Dorfraͤthe und die Aufſeher ſeiner
Gaſſe , aber ohne ihn dazu zu ziehen , zuſammen
treten , genau zu unterſuchen , wie weit ſeine Ent-
ſchuldigungen wahr und begruͤndt geweſen oder
nicht , und uͤberhaupt was etwan die beſten Mittel
ſeyn moͤchten , in der Stille und Freundlichkeit einen
guten Einfluß auf ihn und ſeine Haushaltung zu
haben . — So dann aber der Mann das zweyte
Jahr in dieſem Stuͤck , oder in andern eben ſo wich-
tigen , gleich als ein ſchlechter und nachlaͤßiger
Haushalter zum Vorſchein kam , ſo mußte er dann
mit ſeiner ganzen Haushaltung vor dem Junker und
dem Dorfrathe erſcheinen , und in ihrer aller Ge-
genwart ſich erklaͤren , welches die Gruͤnde der fort-
dauernden Vernachlaͤßigung dieſes oder jenes Stuͤcks
ſeiner Wirthſchaft ſeyen ? —
Aber dann war es ſchon ernſthafter . — Die
Dorfraͤthe und die Aufſeher ſeiner Gaſſe mußten
ſich einen Tag vorher verſammeln , die Gruͤnde , die
er ihnen das vorige Jahr angegeben , von neuem uͤber-
legen , und ſich als auf eine ſehr ernſthafte und fuͤr
das Dorf ſehr wichtige Sache gefaßt machen , ſich
von ihm in keinem Wort blenden zu laſſen , und
von ihm keine leere unguͤltige Entſchuldigung als
guͤltig anzunehmen , ſondern ihm vielmehr ein jedes
falſches , heuchleriſches , unrichtiges Wort , mit der
groͤſten Kraft , die ihnen moͤglich , im Mund umzu-
kehren , und eben ſo ſeiner Frau und ſeinen Kin-
dern , um ſie ſaͤmtlich in dem Grad zu beſchaͤmen ,
als ſie es wagen wollten , mit Luͤgen und Blend-
werken durchzuſchluͤpfen . — Die Dorfraͤthe muß-
R 2
ten , als auf die wichtigſte Sache gefaßt ſeyn , ihm
gegen alles unrichtige Geſchwaͤz genau und beſtimmt
zu zeigen , wie ſie die Sache haͤtten angreifen ſollen ,
und warum es , wenn ſie es alſo gemacht haͤtten ,
ihnen darinn nicht hinter ſich , ſondern fuͤr ſich ge-
gangen waͤre .
Der Junker war bey allen dieſen Real-
Examen , die im Dorf den Namen der Schweiß-
baͤder bekamen , gegenwaͤrtig , und ließ es nie-
mals ermangeln , den Dorfraͤthen und Aufſehern zu
zeigen , wie wichtig es ſey , gegen das Blendwerk
von Haushaltern , die anfangen ſchlecht zu werden ,
druͤckend zu Werk zu gehen .
Die Leute konnten das nicht ausſtehen , Jahr
fuͤr Jahr ſo behandelt zu werden , und es waren
immer auch in den ſchlechteſten Haushaltungen ,
die , dieſes auszuweichen , dann im Haus daran
trieben , daß es beſſer gehe .
Hingegen wurden die , welche in einem Stuͤck
der Wirthſchaft verhaͤltnismaͤßig gegen andere ihres
gleichen mehr geleiſtet , vor der ganzen Gemeinde
aufgefodert , ſich zu erklaͤren , wie , und wodurch ſie
in dieſem Stuͤck weiter gekommen ?
So trieb er alles Gute in ſeinem Dorf , wie
ein Gaͤrtner , der alle Tage und alle Stunden mit
ſeiner Arbeit und mit ſeinem Dung hinter ſeinen
Blumen und hinter ſeinem Kohl her iſt , ſie vor den
Winden ſchuͤzt , vor der Kaͤlte deckt , vor Troͤckne
und Naͤſſe ſicher ſtellt , ihren Boden fett und rein
haͤlt , und jedes Unkraut fruͤhe daraus reißt . Auch
ließ er ſie nicht ins Wilde aufſchießen , und keinen
Menſchen uͤber Nichts ins Blinde hinein Meiſter ,
nicht einmal uͤber ſeine Geſundheit — die Aufſeher
mußten ihm genaue Rechenſchaft geben , ob die
Haushaltungen in ihren Gaſſen , und die einzelnen
Perſonen derſelben geſund ſeyen , oder nicht . Der
Dorfrath , nebſt den Aufſehern , hatten zu unterſu-
chen , woher der Mangel der Geſundheit , der ſich
ſo wohl bey ganzen Haushaltungen als einzelnen
Perſonen zeigte , entſpringe , und wie ihm abzuhel-
fen ſeyn moͤchte ?
Er wußte aber auch , daß der Menſch nichts
gern umſonſt thue , und er hingegen ſo gern um
allerley Lohn arbeitet ; er hatte desnahen einen Jahr-
tag , und nannte denſelben den Tag der Beſten ,
an welchem er die Dorfraͤthe und Aufſeher , die in
dieſem Jahr eine auf irgend eine Art zerruͤttete
Haushaltung wieder in Ordnung gebracht , auf ein
Mittageſſen zu ſich ins Schloß kommen ließ , und
einem jeden derſelben eine ehrenvolle , aber nicht
koſtbare Belohnung gab , die ihnen Thereſe aus-
theilte ; aber vorher mußte ein jeder auch erzaͤhlen ,
wie er das gemacht , und wie er in dieſer Haushal-
tung einem jeden , vom Hausvater an bis zum
kleinſten Kind , habe zu Leib kommen , und ſie da-
R 2
hin bringen koͤnnen , daß ſie ſich geaͤndert , auch
worinn es bey einem jeden am ſchwerſten gehal-
ten ?
Der Erzaͤhler ſaß dann oben am Tiſch , der
Pfarrer , Junker , und der ganze Dorfrath um ihn
her ; und der erſte ſchrieb alles deutlich und be-
ſtimmt in ein Wegweiſungs- und Berathungs-Buch
fuͤr die Dorfraͤthe und die Aufſeher auf .
Vornen an dieſem Buch ſtunden nach der Zeit-
ordnung die Namen der Rechtſchaffenen , von denen
eine ſolche ſchoͤne That in demſelben aufgezeichnet
war , mit großen Buchſtaben vom Lieutenant ſchoͤn
geſchrieben ; und neben ihnen war die Zahl der
Seite bemerkt , auf welcher ihre That aufgeſchrie-
ben war .
Nach dem Thereſe dieſe Ordnung ganz einge-
ſehen , ſagte ſie in ihrer Freude daruͤber zum Lieu-
tenant , es ſeyen eine ganze Menge Sachen im
Hausweſen , woruͤber ihre Maͤnner-Buͤcher in Ewig-
keit nie genug thun wuͤrden , und ſchlug vor , fuͤr
die 5 Hauptgaſſen noch 5 Weiber auszuſuchen ,
die auf eben dieſe Art dem Junker und dem Dorf-
rathe durch Weiber-Buͤcher , die ihnen hierzu einge-
richtet werden muͤßten , uͤber diejenigen Sachen Re-
chenſchaft geben ſollten , von denen man zum Voraus
wiſſe , daß ſie in ſolchen Maͤnner-Buͤchern nicht ge-
nugſam aufgeheitert werden koͤnnen , und zu denen
man , wenn ſie auch in den Buͤchern vollends in
Ordnung kommen wuͤrden , am Ende doch Weiber
noͤthig habe , ſie im Dorfe in Ordnung zu bringen ,
wenn ſie nicht darinn ſeyen ; z. Ex. ob in ihrer Gaſſe
die Kindbetterinnen verſorget ? Ob man mit den
ſaͤugenden und kleinen Kindern in allen Theilen ſo
umgehe , daß ſie dabey geſund ſeyn und truͤhen ( zu-
nehmen ) koͤnnen ? Wie es mit der Reinlichkeit in
jedem Haus , im Geraͤth , an den Kleidern und an
den Leuten ſelber ausſehe ? Wie es mit dem kleinen
und großen Weibereigenthum , dem Hausvorrath ,
und der Ordnung mit demſelben , in allen Stuͤcken
ſtehe ? Ob er beſorgt und unterhalten werde ? Ob
und wie die Muͤtter ſich auf das Aufwachſen ihrer
Kinder , und auf ihr kuͤnftiges Ausſteuern allent-
halben , wie es brav und in ihren Haushaltungen
nothwendig iſt , zu rechter Zeit vorbereiten ? und
ſo weiter —
Man war bald einig , das ſey gut ; und der
Junker verſammelte ſogleich ſeinen Weiberbund ,
und theilte die 5 Gaſſen unter ſie ab ; aber dem
Mareili war eine einzige Gaſſe zu eng , es ſagte , es
ſey in allen daheim , und wolle keine allein , und
verſprach den andern in allem an die Hand zu ge-
hen , und das war dieſen auch gar recht ; ſie wuß-
ten , daß jedermann an ihns gewoͤhnt , und daß es
ſchon , ſo lange es Baumwollen ausgiebt , den Leu-
ten immer in den Ohren gelegen , ſie ſollten in ih-
R 4
ren Haushaltungen nicht ſeyn , wie ſie ſeyen ; und
auch , daß die Leute ihns auf eine Art ſcheuen muͤß-
ten , wie keine andere , weil es ihre Ordnung , in-
ſonderheit der Armen ihre , vollkommen kannte :
den andern war dieſe Arbeit ſo viel als neu ; ſie
waren nichts weniger als ſo geſchwind in den Haus-
haltungen ihrer Gaſſe daheim , und ihrer Sache ſo
ſicher , machten auch im Anfang mit Nachfragen
und Rathen wie recht iſt , gar zahm , und dorften
aber auch manchmal ſo wenig mit der Sprache
heraus , daß ſie das Mareili auslachte . Die Re-
noldin allein war nicht in dieſem Fall ; da ſie reich
war , konnte ſie es nicht ſo leicht bey den Leuten
verſchuͤtten , und ſagte bey jedermann , ihrer Ge-
wohnheit nach , heraus , was ihr ins Maul kam ,
aber manchmal freylich auch , daß es weder gehauen
noch geſtochen war .
Das Weſentliche dieſes erſten Punkts der Ein-
richtungen , Geſezen und Anſtalten Arners , durch
welche er ſein Volk in Bonnal aus verwilderten
Naturmenſchen zu andern Leuten machte , als ſie
vorher waren , beſtund alſo darinn , daß er in den
dunkeln Lumpenwinkeln des Dorfs allenthalben das
helle Licht des Eins mal Eins anzuͤndete , und ſeine
Leute zwang , in den Sachen ihres Brodkorbs ihre
Augen zu gebrauchen , und auch vor ihren Mit-
dorfleuten diesfalls offen zu erſcheinen , daß weder
die erſten noch die lezten hierinn Gefahr liefen ,
weiß fuͤr ſchwarz anzuſehen ; kurz , daß er in ſeinem
Dorfe zwang , was der Koͤnig in Frankreich in ſei-
nem Reiche nicht erzwingen koͤnnen , wenns ihm
ſchon Necker angegeben , das Wohl des Volks nem-
lich auf die Offenheit ſeiner Rechnungen zu gruͤn-
den , und an nichts zu glauben , als was ſich zaͤh-
len , waͤgen , meſſen , und dadurch erproben laſſe .
Aber wie iſt es moͤglich geweſen , daß bey der
Menge der Raͤthe , Aufſehern und Weibern in die-
ſem Dorfe , nicht hundert Schwaͤzereyen und Unord-
nungen entſtanden , die alles Gute , das er erzwecket ,
zu Nichts gemacht ?
— Das war moͤglich —
1 ) Und vorzuͤglich , weil große kaufmaͤnniſche
Ordnung in dieſem Geſchaͤft war , und vom Groͤ-
ſten bis auf das Kleinſte hinunter allenthalben die
Sache ſelber , und das Eins mal Eins alſo Red
und Antwort , und Licht geben mußte , daß die
Rathsgalle , und das Weibermaul hier nicht dieje-
nige Spielung hatte , welche man ſonſt freylich
beyden in den ehrenden Staͤdten und Doͤrfern un-
ſers immer lieber ſchwazenden als rechnenden Nar-
renmunds allenthalben zu geſtatten , unordentlich
und ſchafskoͤpfig genug iſt .
2) Muß man nicht vergeſſen , der Geiſt des
Menſchen aͤndert , wo man wahrhaft gut mit ihm
umgeht , und dem Volk auffallend zeiget , daß man
durch ſeine Regierungs-Einmiſchung nicht zum
Schein und nur fuͤr ſich , ſondern im Ernſt und
wirklich fuͤr ihns , ſein Wohl ſucht , und Kinder
von Menſchen , die unter harten , dummen , ſie
nichts achtenden , ſie nicht verſtehenden Herren ſind ,
wie unbaͤndige Ochſen , und ſich mit keiner Liebe
zu paaren treiben laſſen , folgen wie Schaafe der
Stimme des Fuͤhrers , der ihnen ſeine Volksweis-
heit , Menſchenfreundlichkeit und Vaterſorgfalt er-
probt hat .
Und endlich hatte Arner
3 ) Alljaͤhrlich einen ſogenannten Sorgfaltstag
fuͤr den Dorfrath und die Aufſeher , der eigentlich
und beſtimmt den gewohnten Herren- und Raths-
Fehlern gewiedmet war . Dieſer Tag war ſo frey ,
daß an demſelben unter den Dorfraͤthen und Aufſe-
hern ein gewohntes Wort war , ſie wollen nicht ſo
dumm ſeyn , als Herren , die an ſo vielen Orten
lieber nichts mit dem Volk ausrichten , als ſich ſelbſt
uͤberwinden , ſo mit ihm umzugehen , wie man
mit ihm umgehen muß , wenn man etwas mit ihm
ausrichten will . —
Die dummen Herren — ſagten die Bauern ,
und Arner gabs ihnen ins Maul — die dummen
Herren denken nicht daran , daß ſie allenthalben
dergleichen Sorgfaltstage haben ſollten , ſie meynen
vielmehr , das Volk ſollte fuͤr ſie dergleichen Sorg-
falts- und Unterthanen-Tage halten , und darinn
auszirkeln , wie es mit ihren Herren umgehen ſoll-
te ; aber das ſey juſt , ſagten die Bauern , wie
wenn die Ochſen , Eſel und Schaafe , dergleichen
Thiertage halten ſollten , um ſich daran zu bera-
then , wie ſie mit ihren Herren , den Menſchen ,
umgehen ſollten . — Anmerkung . „ Die dummen Herren . “ Es
iſt auch dumm , daß du ihnen ſo ſagſt ! ſagt
mir eben meine liebe N... . Ich antwor-
tete ihr , die Bauern lieben es gar zu ſehr , ſo
von den Herren zu reden , und ein Volksbuch ,
das ihnen die Herren-Fehler in ihrer Sprache
nicht Preis geben wollte , wuͤrde die beſte Wuͤrze
mangeln , die die Bauern Laune , und ihr , ih-
nen eigener wirklicher Unterhaltungston hat —
darum liebe N. ... laß mich nur immer reden ,
und mach mich nicht ſorgen , du kommeſt etwa
auch auf die Gedanken , man koͤnne mit Holz-
ſchnitten , rothen Buchſtaben , und den uͤbri-
gen Kalender Zeichen , bey den Bauern eben
das ausrichten , was mit einer freyen , in die
eigentliche Richtung ihres Geiſtes eintretenden
Nachahmung ihrer eigenen Manier — Und
denn liebe N. ... laß doch einen jeden , der
etwas anders in dieſer Manier findt , ſie erſt
— — ſtudieren , und dann hernach mit mir
reden . —
Dieſer Sorgfaltstag war dem Arner ſehr wich-
tig ; er ſezte mit dem Lieutenant eine genaue , und
dieſen Raths- Meiſter- und Herren-Fehlern mit
Staͤrke zu Leib gehende Berathſchlagungs-Form
fuͤr dieſen Tag auf , und machte ſie zur unabaͤn-
derlichen Regel deſſelben ; ließ ſich auch durch nichts
abhalten , alljaͤhrlich an demſelben gegenwaͤrtig zu
ſeyn , und ſagte ſeinen Dorfraͤthen und Aufſehern
beſtimmt : wenn ich die Meiſter- Herren- und Raths-
Fehler bey euch einreißen laſſe , ſo ſetze ich den
ſchlimmſten Wurm in das Fundament meines Ge-
baͤudes , der mir alle Augenblicke den wichtigſten
Balken deſſelben , wo ich mich deſſen am wenigſten
verſehe , unterfreſſen kann . — Auch das Weiber-
maul , das , wo es etwas zu regieren hat , leicht
dahin koͤmmt , ſchlimmer noch an dem beſten Bal-
ken zu nagen als keine Herren-Fehler , kam wegen
den 5 Bundsfrauen an dieſem Tage in Betrach-
tung ; Arner und ſeine Dorfraͤthe uͤberlegten , wie
bey den Maͤnnern , ob ſich keine im geringſten einen
Ton anmaße , der bey den andern boͤſes Blut
koche . —
§. 52.
Arner faͤhrt fort mit ſeinen Grundſaͤtzen ,
an den Lieblingsfehler unſerer Zeit —
an die Traͤgheit , anzuſtoßen .
A uch ſeine Art , Streit und Prozeß im Dorf vor-
zubeugen , ruhete auf gleichen Grundſaͤtzen . Er
fand , daß die Bauern immer in dem Grad mit
einander leicht in Streit kommen , als ſie unor-
dentlich und nachlaͤßig ſind , es auch an genugſa-
mer Aufmerkſamkeit auf die Sicherheit und Nuz-
nießung ihrer Recht amen und ihres Eigenthums
ermangeln laſſen , und urtheilte alſo : Die wahren
Mittel , Streit und Prozeß bey ihnen vorzubiegen ,
beſtehen in ſorgfaͤltigen Bemuͤhungen , ſie in Abſicht
auf ihre Rechtſamen und Eigenthum behutſamer
und ſorgfaͤltiger zu machen , und dahin zu bringen ,
daß ſie ſich hieruͤber gegen Niemand bloß geben ,
und die Titel , Kennzeichen , Merkmale , und Be-
weisthuͤmer derſelben immer , und gegen jedermann
in der beſten Ordnung zu halten , fuͤr eine ihrer er-
ſten Lebens-Angelegenheiten achten .
Er ließ desnahen auch zu dieſem Endzweck die
Hausvaͤter von Bonnal zuſammen kommen , zeigte
ihnen einen ganzen Abend vom Schlag 1 Uhr bis
nach 6 Uhr , mit dem Pfarrer und dem Lieutenant
drey gleiche Modell von der Einrichtung , Form und
Ordnung eines realen Haus- Rechnungs- und Ei-
genthums-Buchs fuͤr einen Bauern , und nachdem
ſie es alle , und ein jeder recht lang in den Haͤnden
gehabt , und es ſich aller Weitlaͤufigkeit nach von
den drey Herren , auch vom Lindenberger und vom
Untervogt , und andern , die es zuerſt begriffen ,
erklaͤren laſſen , und izt ſaͤmtlich und einmuͤthig ein-
geſtunden , ein ſolches Haus- Rechnungs- und Ei-
genthums-Buch wuͤrde die meiſten Streitigkeiten in
den Doͤrfern ſo viel als moͤglich machen , und koͤnn-
te nicht anderſt , als beynahe in allen Faͤllen , faſt
im Augenblick Licht ſchaffen , wer recht habe , er-
kannte er zur Stund , ſie muͤſſen alle ein ſolches
Buch haben und fuͤhren . —
Sie wandten ihm zwar ein , um deßwillen daß
ſie erkennen , es waͤre gut , daß ſie ein ſolches Buch
haͤtten , koͤnnten ſie es noch nicht fuͤhren , und wenn
er drey oder vier finde , die es koͤnnen , ſo werde er
alle bey einander haben . Er antwortete ihnen ,
daruͤber wolle er Rath ſchaffen , aber es muͤſſe ſeyn ;
und wiederholte ihnen nochmals , daß in einem ſol-
chen Buch nicht blos ihr taͤgliches Einnehmen und
Ausgeben , ſondern auch ihr ſaͤmtliches Eigenthum ,
bis auf den geringſten Hausrath , muͤſſe aufgezeich-
net , und bey einem jeden Stuͤck Land die Anſtoͤßer ,
die Marchen , die Breite , die Laͤnge , die Haͤge ,
( die Zaͤune ) die Waſſerfurchen , kurz , eine voll-
ſtaͤndige Beſchreibung mit allen Rechten und Be-
ſchwerden muͤſſe angezeigt werden ; und daß , wer
immer ein Recht auf des andern Gut beſizt , dem-
ſelben die Richtigkeit dieſes Rechts , und wie weit
daßelbe gehe , beſcheinen laſſen , und in ſeinem
Hausbuch anerkennen muͤſſe . Auf gleiche Weiſe
muͤßten alle Marchen , Unterſcheidungszeichen , und
die Breite und Laͤnge eines Stuͤck Lands von den
Anſtoͤßern , mit Zuzug des Gaſſenaufſehers und
noch eines Zeugen , gegenſeitig in dieſen Hausbuͤ-
chern unterſchrieben werden . —
Aber wie geſagt , er meynte nichts weniger ,
als daß dieſe Einrichtungen blos durch ſeinen Be-
fehl richtig werden ; er hielt vielmehr dieſen Befehl
fuͤr eine wahre Nebenſache , von der Arbeit und
Muͤhe , die er erfodere , bis er koͤnne ausgefuͤhrt
werden .
Und gab ſeinen Bonnalern erſtlich Jahr und
Tag Zeit , ſich mit dieſer neuen Ordnung bekannt
zu machen . —
Zweytens , ließ er ſie dieſes ganze Jahr durch ,
alle Donnſtag und Sonntag Abends von 4 Uhr
bis zu dem Nachteſſen , durch den Lieutenant , in
der Kunſt dieſe Buͤcher in allen ihren Theilen recht
zu fuͤhren , und ſich auf dem Land und in dem
Haus in allen Stuͤcken ſo einzurichten , wie es die
Fuͤhrung dieſer Buͤcher erfordere , foͤrmlich und ſorg-
faͤltig unterrichten . Der Untervogt und Lindenber-
ger , denen dieſe Einrichtung wichtig war , gaben
ſich alle Muͤhe , dem Lieutenant hierinn zu helfen ;
es war dem Untervogt ſo angelegen , daß er laut
ſagte , es ſey ihm fuͤr ſeine 9 Kinder lieber , daß
dieſe Einrichtung zu Stande gekommen , als wenn
man ihm das Buͤrgerrecht in einer Stadt ſchenken
wuͤrde , die kein hoͤlzernes Haus haͤtte .
Drittens , machte der Lieutenant den Unter-
richt uͤber die Einrichtungen dieſes Hausbuchs zu
einem Haupttheile ſeines Schulunterrichts , darinn
er alle Kinder , beſonders diejenigen , deren Aeltern
weder ſchreiben noch leſen konnten , unterrichtete .
Viertens , brachte er vor Ende des Lehrjahrs
15 junge Maͤnner dahin , daß ſie verſprachen , es
uͤber ſich zu nehmen , denjenigen Buͤrgern , die
dieſe Einrichtungen nicht mehr lernen koͤnnen , wenn
ihnen damit gedient ſey , ihre Buͤcher einzurichten ,
und zu fuͤhren . Sie fanden ſelber , ſo wenig als
die meiſten Bauern zu rechnen und auszugeben
haben , brauche es in der Woche ein paar Stun-
den , ſo ſey das in der Ordnung .
Fuͤnftens , erlaubte der Junker denjenigen ,
die es weder ſelber lernen , noch einem von dieſen
jungen Maͤnnern anvertrauen wollten , jemand ,
den
den ſie ſelber wuͤnſchten , auszuſuchen , der ſie ih-
nen fuͤhren ſoll , und ſo gar ſie durch ihre unter-
wieſenen Kinder , wann ſelbige das 15te Jahr uͤber-
lebt , einrichten und fuͤhren zu laſſen , mit der ein-
zigen Bedingniß , daß ſie woͤchentlich alle Samſtag
vor Sonnenuntergang alles , was ihr Sohn , oder
ihre Tochter , die Woche uͤber in das Buch einge-
ſchrieben , als richtig und der Wahrheit gemaͤß
eigenhaͤndig unterſchreiben mußten . — Im Fall
ſie aber weder Geſchriebenes leſen , noch ſich ſelber
unterſchreiben koͤnnten , ſo mußten ſie ihren Gaſſen-
Aufſeher erbitten , ſolches woͤchentlich , und eben-
falls am Samſtag Abends vor Sonnenuntergang
zu thun , und ſich dann allemal von dieſem Punkt
fuͤr Punkt vorleſen laſſen , was ihre Kinder einge-
tragen haben , und von jedem Punkt beſonders ſich
erklaͤren , daß er der Wahrheit gemaͤß vollkommen
lauter , genugſam , und deutlich ſey .
Hingegen war dann ſechstens ein jeder , der
ſein Haus nicht auf irgend eine oben beſchriebene
Art in Ordnung bringen wollte , als ein unberathe-
licher , unordentlicher , unzuverlaͤßiger und unſich-
rer Menſch , der ſich der Rechten der buͤrgerlichen
Geſellſchaft , weil er nicht in ihre Ordnung hinein
wolle , ſelber begebe , und fuͤr halb wild geachtet
werden muͤſſe , ohne weiters fuͤr unfaͤhig erklaͤrt ,
uͤber ſein ererbtes Gut frey zu ſchalten und zu wal-
ten . —
S
Denn ſo wie Arner die unbegraͤnzte Freyheit
der Menſchen uͤber ihr ſelbſt erworbenes Gut fuͤr
einen billigen Lohn ihrer buͤrgerlichen Tugend und
ihres Verdienſts anſah , ſo hielt er hingegen die
unbeſchraͤnkte Freyheit mit ererbtem Gut zu han-
deln , dem erſten Endzweck der buͤrgerlichen Ver-
bindung , der Gruͤndung und Feſthaltung eines all-
gemeinen Familien-Wohlſtands , der , ſo viel moͤg-
lich , auf Kind und Kindskinder hinunter ſollte ver-
ſichert werden , entgegen ſtreitend ; und behauptete ,
die Kinder der gemeinen Leute haben auch bey
Lebzeiten ihrer Aeltern ein reales Recht auf die Er-
haltung ihrer noch ſo kleinen Stamm- und Erbguͤ-
ter , und dieſes Recht gruͤnde ſich auf die gleichen
richtigen Grundſaͤtze , nach welchen die groͤßern Fa-
milien ihre Hauptbeſitzungen unveraͤußerlich ma-
chen ; und der Staat habe in Abſicht auf das ge-
meine Volk die wichtigſten Pflichten , die Erhaltung
des Erbeigenthums , in der Hand der zeitlichen Nuz-
nießern derſelben , zur Sicherheit ihrer Erbfolger
beſtens zu verwahren . Nach dieſen Grundſaͤtzen
nahm er ſolchen Halbwilden , die in der Verwal-
tung ihres Eigenthums in keine buͤrgerliche Ord-
nung hinein wollten , das Recht ihrer Verwaltung
— und band —
Siebentens , die Freyheit ſeiner Bonnaler an
ihre Hausordnung , an ihr Worthalten , und be-
fahl in dieſem Geſichtspunkt , daß eine jede Schuld ,
die innert 8 Tagen von dem Schuldner nicht be-
zahlt werde , von ihm in dem Hausbuch des Glaͤu-
bigers muͤſſe anerkennt , und zugleich der Tag be-
merkt werden , wenn ſie ſolle bezahlt werden , und
ſo dieſes auf den beſtimmten Tag nicht erfolge , ſo
muͤſſe die Unterſchrift innert zweymal 24 Stunden
erneuert , und gleichfalls wieder der Bezahlungstag
beſtimmt werden ; wann dann aber derſelbe zum
Zweytenmal fehle , ſo ſtehe es nicht mehr am
Glaͤubiger , die Schuld blos zu erneuern , es muͤſſe
das doppelte Verſaͤumnis des Manns dem Aufſe-
her der Gaſſe , und dieſer dem Dorfrathe anzeigen ,
welcher ihn ſogleich unter ſeine beſondere Aufſicht
zu nehmen , und ſo ſich Unordnung und Verwir-
rung in ſeinen Sachen zeige , dieſelben ihm in ein
heiters Licht zu ſetzen habe , dabey aber ſeine Frey-
heit im geringſten nicht antaſten doͤrfe , wann es
ſich nicht finde , daß ein Drittel ſeines ererbten
Guts durchgebracht ; in welchem Fall ſie ohne wei-
ters den Verwandten des Manns die obrigkeitliche
Anzeige zu thun haben , daß ſie fuͤr die nicht wei-
tergehende Abſchwaͤchung des Erbguts dieſes Manns
ſtehen muͤſſen . Er behauptete , die Aufrechthaltung
der gemeinen Familie , die dem Staat ſo wichtig
ſey , als diejenige der Großen , koͤnne ohne Sorg-
falt des Staats fuͤr Hausordnung , fuͤr Treu und
Glauben , und Wort halten , unter dem niedern
Volk nicht erzielet werden ; und ſagte , die Nacht-
S 2
kappen-Gerechtigkeit , die in ihrer Sorgfalt dem
gemeinen Mann im Land den Genuß der Verdien-
ſten ſeiner Vordern auf Kind und Kindskind hin-
unter ſicher zu ſtellen , nicht weiter geht , als zu
trachten , daß ihm nicht leicht etwas geſtohlen wer-
de ; und hingegen jedem Hausvater , der ſeinen
Kindern den Verdienſt ſeiner Vordern zu Grund
richtet , unter dem Titel des heiligen Eigenthums-
recht , Thuͤr und Thor dazu aufthut , eine ſolche
Nachtkappen-Gerechtigkeit laſſe die erſten Quellen
des buͤrgerlichen Wohlſtands zum bodenloſen Sumpf
werden , und mache anbey den armen Leuten , die
mit Lebensgefahr uͤber dieſen Sumpf wandeln
muͤſſen , dann am Ende deſſelben das Anerbieten ,
ihnen dann die Schuhe zu putzen , die ihnen in die-
ſem Moraſt kothig geworden , wo ſie ſich nemlich
an der Zollſtaͤtte dafuͤr anmelden , und die Schuh-
putzergebuͤhr bezahlen , oder verbuͤrgen .
Er behauptete , es ſey ein abſcheulicher , und
den erſten Endzwecken der buͤrgerlichen Verbindung
geradezu widerſtreitender , und alle wahre Segens-
kraͤfte der geſellſchaftlichen Bande zerſtoͤrender
Grundſatz , die Regierung und Richterſtuͤhle ſeyen
nicht ſchuldig , einem jeden Narren zu huͤten , der
zu dem Seinigen nicht Sorge trage , und es gern
einem andern uͤberlaſſen moͤge , weil es dem Staat
gleichguͤltig ſey , ob der Hans oder Heiri im Land
reich ſey .
Dieſes Geſchwaͤz mit dem Hans und dem Heiri
waͤre wahr , wenn es dem Staat gleich ſeyn koͤnn-
te , ob viel oder wenig zerruͤttete Haushaltungen
im Lande ſeyen , und ob das gemeine Eigenthum
in ſtiller , regelmaͤßiger Ordnung zu Jahrhunderten
von Vater auf Sohn und auf Kindeskinder herab-
gebracht werde , oder ob es zwiſchen den Truͤm-
mern ruinirter Haushaltungen , in den wunderlich-
ſten Spruͤngen im Lande herum tanze , und in ei-
nem ewigen Wechſel von Narren zu Schurken hin-
uͤbergehe .
Er kannte des Landes Ungluͤck dieſes Ueber-
gangs des Eigenthums von Narren zu Schurken ,
und die Gewalt , welche die Fahrlaͤßigkeit , Leicht-
ſinnigkeit , und Unordnung der gemeinen Dorfein-
wohnern den lezten in die Hand geben , entweder
geradezu ohne Schwertſtreich ſie um das Ihrige zu
bringen , oder ſie in Streit und Prozeß zu verwi-
ckeln , durch welche ſie in Form und Ordnung des
heiligen Rechts , das im roͤmiſchen Reich , und
rund um an ſeinen Graͤnzen ſtatt hat , darum ge-
bracht werden , daß er es fuͤr ſeine wichtigſte An-
gelegenheit achtete , ſein gutes Dorf vor dieſer Ge-
fahr ſicher zu ſtellen .
Achtens : Er erlaubte desnahen keinem Wirth ,
keinem Muͤller , keinem Kraͤmer , keinem Schmied ,
keinem Baumwollenhaͤndler , kurz , Niemandem ,
S 3
der woͤchentlichen und oͤffentlichen Verkehr mit den
Leuten im Dorf hatte , irgend eine Anfoderung an
jemand uͤber 14 Tage in ſeinem Buch haben , ohne
mit dem Schuldner zu Boden zu rechnen , und ſich
die Richtigkeit der Anfoderung von ihm unterſchrei-
ben zu laſſen .
Er kannte den Blutſauger-Kunſtgriff , mit klei-
nen Anfoderungen zu warten , und die Rechnun-
gen mit armen Leuten haͤngen zu laſſen , der in den
Doͤrfern ſo gemein iſt . — Der Schuldner wartet
aus Mismuth und Scham gern , ſo lang er das
Geld nicht hat , und der andere aus Schelmerey ,
um ſich der Fahrlaͤßigkeit , Unordnung , falſche
Scham und Muthloſigkeit des Schuldners zu nutz
zu machen , mit doppelter Kreide mit ihm zu rech-
nen ; dieſes Landuͤbel , das in allen Gegenden , wo
das Volk unordentlich und unwirthſchaftlich iſt ,
faſt keine Graͤnzen hat , fuͤhrt freylich in Zehenma-
len , wo dem Armen Unrecht geſchiehet , ihn kaum
einmal in Streit und Prozeß ; aber es ſezt ihn da-
vor Neunmal in die Lage , daß er ſich den Hals
zuſchnuͤren laſſen muß , ohne einen Laut geben zu
doͤrfen , womit freylich dann aller Streit und Pro-
zeß ein Ende hat .
Aber Arner wollte auch die lezte Spur einer
ſolchen Donnersbuben-Gewalt Anmerkung . Verzeihe Leſer ! ſolche Na- die unter ſeinem
Großvater eine ſolche Verheerung in ſeinem Lande
angerichtet , ausloͤſchen . Er richtete darum im
hoͤchſten Grade ſeine Aufmerkſamkeit auf die kleinen
laufenden Rechnungen ſeiner Dorfleute , um es ih-
nen unmoͤglich zu machen , Baͤren anzubinden , und
Jahr und Tag nicht daran zu ſinnen , wie groß ſie
ein Maul haben . Er befahl alſo bey Verluſt der
Schuld , dieſe 14taͤgigen Abrechnungen , auch der
geringſten Kleinigkeiten , nebſt beſtimmter Eintra-
gung der Zahlungszeit , deren doppelte Nichthal-
tung auf oben beſchriebene Weiſe an die Aufſeher ,
und von dieſen an den Dorfvogt gelangen mußte .
— Endlich ließ er —
Neuntens , alljaͤhrlich einen jeden Hausvater ,
in Gegenwart ſeiner Frauen , ſeiner erwachſenen
Kinder , ſeiner naͤchſten Anverwandten , und des
Aufſehers ſeiner Gaſſe , antworten , ob er in allem
mit jedermann richtig und gichtig , und die Kenn-
zeichen , Titel , Unterſcheidungen und Marchen von
allem , was er beſitze , allenthalben in einer Ord-
men in einem Volksbuch , wann es einmal ins
Dorf kommt , und von Armen geleſen wird ,
ſchrecken Frevler mehr ab , als oft die beſtge-
meynten hochobrigkeitlichen Verordnungen ;
alſo verzeih mir den Donnersbub , den ich im
taͤglichen Leben immer brauche , wenn ich mit
dem Volk von ſolchen Burſchen rede .
S 4
nung ſeyen , daß er beym Leben und Sterben mit
Niemand gefahre , weder wenig noch viel in Streit
zu kommen ? Frau , Kind , Verwandte , Nachbarn
und Aufſeher mußten dem Junker beſtaͤtigen , und
dafuͤr anloben , daß ihnen nichts bekannt , das die
Ausſage des Manns in irgend einem Theile zwei-
felhaft und unzuverlaͤßig mache .
Eben ſo mußten die Dorfraͤthe ihm alljaͤhrlich
in der Woche vor Oſtern umſtaͤndlich , und ein je-
der nach einer von dem Lieutenant , auf eine ſei-
nem beſondern Fach angemeſſene und daßelbe in
allen ſeinen Theilen erſchoͤpfende Form , puͤnktliche
Antwort geben , ob ſie wenig oder viel Unſicherheit
und Gefehrden in ihrem Fach uͤberhaupt , oder in
einzelnen Theilen davon ſpuͤren ? Und wieder , muß-
ten die Aufſeher an dieſem Tage , nach einer eben
ſo genau ihrer Lage und Beſtimmung anpaſſenden
Form , Antwort geben , ob ſie in den Abtheilungen
ihrer Gaſſen bey irgend jemand Urſach haben zu
vermuthen , daß er in dieſem oder jenem Stuͤck
fruͤh oder ſpaͤt in Streit oder Unordnung gelangen
koͤnne ? —
Endlich mußten bey Todesfaͤllen die Aufſeher
von der Gaſſe des Verſtorbenen , ehe der Todte
begraben worden , die ſaͤmtlichen Erben in Gegen-
wart zweyer Dorfraͤthen , der Frau und der er-
wachſenen Kinder der Erben , im Namen des Jun-
kers und von des Dorfraths wegen vermahnen ,
bey ihrer Theilung nichts zu verſaͤumen , was kuͤnf-
tigen Streit und Misverſtand vorbiegen koͤnne , und
in allen Sachen , die ihnen nicht glaslauter ſchie-
nen , ſich Raths zu erholen .
Und nach der Theilung , deren Vollendung ſie
zur Stund dem Aufſeher ihrer Gaſſe anzeigen muͤſ-
ſen , wieder alſo verſammelt , mußten ſie anloben ,
daß dieſes geſchehen ; und waren ferner verbunden ,
innert einem Vierteljahr die ganze Theilung in
allen Stuͤcken nach einer ihnen vorgeſchriebenen
Regel in eine vollkommene feſte Ordnung und Si-
cherheit zu bringen . Dieſe Regel ſezte mit um-
ſtaͤndlicher Beſtimmtheit feſt , was in Abſicht auf
alle Theile des laͤndlichen Eigenthums , Aecker ,
Matten , Haͤuſer , Guͤlten , und Rechten , wie
Brunnenrecht , Wegrecht , Marchen , u. ſ. w. fuͤr
Aufmerkſamkeit und Sorgfaltsſchritte zu vollkom-
men beruhigender Sicherſtellung aller dieſer Titeln
nothwendig ſey , und wann das Vierteljahr ver-
floſſen , ſo mußten ſaͤmtliche Erben zu Handen des
Junkers bey offener Gerichtsſtelle antworten , ob
und wie ſie dieſe Sicherheits-Regeln in guter Ord-
nung und in allen Theilen allerſeits gegen einan-
der genommen ? Und wo die geringſte Fahrlaͤßig-
keit , Leichtſinn , und Unordnung hervor ſchien , da
mußten ſie auf der Stelle zwey Dorfraͤthe erwaͤh-
len , die ſie anhalten und berathen mußten , in die-
ſem Geſchaͤft alſo zu Werk zu gehen , wie wann ſie
Morgen Feinde mit einander wuͤrden , und in La-
gen kommen koͤnnten , wo eine aͤngſtliche Vorſich-
tigkeit gegen einander ihnen unumgaͤnglich noth-
wendig werden koͤnnte .
So bog er den Dorfſtreitigkeiten uͤber das Ei-
genthum vor , und glaubte , auch ihre Haͤndel uͤber
Ehrenſachen kommen von der gleichen Quelle her ,
wie ihre Streitigkeiten uͤber das Eigenthum , nem-
lich von ihrer Unordnung . Er behauptete , die
Bauern haben ſicher auch in dem Grad weniger
Ehrenſtreit , als ſie zu ſorgfaͤltigen und ordentlichen
Haushaͤltern gemacht werden ; desnahen fand er ,
er habe durch die oben beruͤhrte Bildung ſeines
Volks , zu ſorgfaͤltiger Aufmerkſamkeit auf ſein Ei-
genthum und ſeine wahre Rechte , auch den Nar-
reneinbildungen falſcher Ehrenanmaßungen , die
ſonſt freylich auch in jeder Kohlenhuͤtte die groͤſten
Verwirrungen anrichten koͤnnen , ihren giftigſten
Stachel benommen .
§. 53.
Arners Prozeßform fuͤr ſein niederes Ge-
richt in Bonnal , darinn auf Bauern-
geiſt , Bauernordnung , und Art , und
Dorfbeduͤrfniſſe , in Verbindung mit
den Hauptendzwecken der Dorfregie-
rung , Ruͤckſicht genommen wird .
W ann dann alles dieſes nichts half , und alle
dieſe , ſo in ſtiller , einfacher Bewegung laufenden
Triebraͤder der guten Ordnung , dennoch nicht im
Stand waren , in einem beſondern Fall das An-
ſpinnen eines Streits , oder einer Rechtsſache , zu
verhuͤten , ſo gieng denn Arner in dieſem Fall alſo
zu Werk , daß er vor allem aus einen jeden , der
glaubte , er habe das Recht , ſeinen Nachbar entwe-
der rechtlich anzugreifen , oder ihm das abzuſchla-
gen , was jener an ihm ſuchte , vollkommen wohl
erkalten , und zu ſich ſelber kommen ließ , ehe er
ihm erlaubte , gegen ihn ins Recht zu ſtehen , um
auf dieſe Art der gegenſeitigen Anfangs Wildboͤcke-
rey , die faſt immer das erſte und gefaͤhrlichſte Gift
aller Rechtshaͤndeln wird , vorzubiegen ; zu dieſem
Ende ließ er Niemanden eine Rechtshandlung an-
fangen , der nicht vorher zweymal , und beydemal
am Morgen vor 8 Uhr , unter 4 Augen mit ſeinem
Gegner uͤber ſeine Anforderung geredt . — Das
Erſtemal mußte dieſes im Haus des Beklagten ,
oder wo dieſer gut fand , den Klaͤger empfangen zu
wollen , das Anderemal aber im Pfarrhaus geſche-
hen ; aber der Pfarrer mußte ſie bey dieſer Hand-
lung bey einander vollends allein laſſen , und durfte
erſt hernach , wann ſie zu ihm kamen , ihm anzuzei-
gen , daß ſie ſich nicht haben vereinigen koͤnnen ,
mit kurzen Worten , ohne im geringſten in ihren
Handel einzutreten , ihnen die Wichtigkeit der Ge-
muͤthsruhe und Kaltbluͤtigkeit in ihrer Lage vor-
ſtellen — und ſo auch dieſes ihre freundliche Verei-
nigung nicht bewerkſtelligte , ſo mußten ſie ſich 8
Tage hernach noch einmal im Pfarrhaus , aber izt
in Gegenwart ihrer beyderſeitigen Gaſſenaufſeher ,
eines Dorfraths und des Hrn. Pfarrers ſelber , noch
einmal uͤber ihre Angelegenheit gegen einander er-
klaͤren , und bey allen dieſen Vorerklaͤrungen mußte
alles , was gegenſeitig von beyden Theilen geredet ,
anerbotten , und verhandelt worden , fuͤr beyde
Theile als im Rechten unſtatthaft , unverbindend ,
und ungefaͤhrlich angeſehen werden , damit in die-
ſen Vorerklaͤrungen weder die Gutmuͤthigkeit noch
die Heftigkeit eines von beyden Theilen ihm ver-
faͤnglich werden koͤnne .
Erſt nach allem dieſem dorfte der Klaͤger ſeine
Klage rechtlich machen , und ſelbige bey dem Un-
tervogt in das Klag- und Streitbuch des Gerichts
eintragen laſſen ; hierauf erfolgte die obrigkeitliche
Weiſung zur Beſitzung der rechtlichen Freundlich-
keit , mit welcher alle Rechtshandlungen anheben
mußten . — Im Gefolg dieſer mußte der Klaͤger
am Tag , an welchem er ſeine Klage in das Streit
und Rechtsbuch des Untervogts eingetragen , dem
Beklagten die rechtliche Freundlichkeit durch den
Weibel auf einen der drey naͤchſten Tage , welchen
auszuwaͤhlen bey dem Beklagten ſtund , anſagen ,
mit Befehl , laut Geſetzes , zwey ſechszigjaͤhrige
Freundlichkeits-Maͤnner zu erwaͤhlen , und ſie auf
abgeredten Tag und Stund zu ſich kommen zu
laſſen . —
Ein gleiches mußte er den Aeltern , Schwieger-
Aeltern , der Frau , und den Bruͤdern des Beklag-
ten anzeigen , mit obrigkeitlichem Befehl , dieſer
rechtlichen Freundlichkeits-Handlung beyzuwohnen ,
um wo moͤglich , ſie in ihrer Streitſache mit Frie-
den von einander zu bringen .
Und auch auf ſeiner Seite mußte er ſeine Ael-
tern , Schwiegeraͤltern , ſeine Frau , und ſeine Bruͤ-
der zu dieſer rechtlichen Freundlichkeit zu ziehen ,
laut obrigkeitlicher Ordnung ſie foͤrmlich dazu citie-
ren zu laſſen ; auch mußte der Beklagte den aller-
ſeits citierten Leuten ebenfalls den Zutritt zu dieſer
rechtlichen Handlung in ſeinem Haus geſtatten .
Der Ort der Zuſammenkunft war geſezlich bey
ihm , und der Klaͤger war in allweg gehalten , den
erſten Schritt zu dieſer Freundlichkeit zu thun ,
deren Form folgende war —
Zu erſt , ehe der Klaͤger mit ſeinen Verwand-
ten und Beyſtaͤndern in das Haus des Beklagten
hineintrat , kam der juͤngere von den ſechszigjaͤhri-
gen Maͤnnern , die dem Klaͤger beyſtunden , zu ſe-
hen , ob man auf der Seite des Beklagten ſich in
der Ordnung anſchicke , den Klaͤger auf eine ehren-
veſte Art zu empfangen , und anzuhoͤren , ob dieje-
nige Perſonen , die obrigkeitlich citiert , da ſeyen ,
ob ſich alles geſezt , und kurz , alles in der Ordnung
ſey , welche von Rechtswegen bey jeder ſolchen Hand-
lung vorgeſchrieben iſt . — Wenn er das ſo fand ,
ſo dankte er dem Beklagten , daß er ſeinen Klaͤger
als einen Ehrenmann nach Landesbrauch und Ord-
nung friedlich und liebreich empfangen wolle . —
Dann erſt trat der Klaͤger mit ſeinen Verwandten
und Beyſtaͤndern hinein , und er und alle mußten
dem Beklagten und allen ſeinen Leuten , einem nach
dem andern , ohne weiter ein Wort reden zu doͤr-
fen , die Hand bieten , und ſie freundlich gruͤßen ;
dann wann ſie ſich geſezt , mußte der Schreiber des
Gerichts , eine vom Lieutenant aufgeſezte Erlaͤute-
rung , wohin alle Rechtshaͤndel den Menſchen , ſo
wohl in Abſicht auf den Zuſtand ſeines Gemuͤths ,
als aber ſeines wahren Hausgluͤcks nothwendig hin-
fuͤhren , vorleſen ; waͤhrend der Zeit berichtete der
Weibel den Pfarrer , daß alles zur Freundlichkeit
bey einander , dann mußte auch er des Amts hal-
ber erſcheinen ; uͤberbrachte , wenn er kam , in der ,
einen Hand das Kreuz Jeſu , in der andern einen
Todtenkopf , ſtund ſo in die Mitte der Stuben hin-
ein , und ſtellte , wann der Schreiber mit ſeiner Er-
klaͤrung , wohin die Prozeſſe fuͤhren , fertig war ,
das Kreuz Jeſu Chriſti und den Todtenkopf mitten
auf den Tiſch , um welchen die Partheyen herum
ſaſſen , ſagte dann die einzigen Wort — „ laſſet
uns bedenken , daß wir Chriſten ſind , und an eine
Auferſtehung der Todten glauben “ — ! — Und
einen Augenblick darauf — „ Gottes heiliger Geiſt
bewahre euch alle vor aller Ungerechtigkeit , und vor
aller Liebloſigkeit “ ! — Mit dem bog er ſich nie-
der gegen das Kreuz Jeſu Chriſti , wandte ſein
Angeſicht weg , und gieng aus der Verſammlung
der Streitenden . Dann gab der Schreiber das
Kreuz Chriſti und den Todtenkopf dem Klaͤger in
ſeine Hand , der dann aufſtehen , laut und vernem-
lich ſagen mußte : „ Ich habe ernſtlich bedacht ,
daß wir Chriſten ſind , die an eine Auferſtehung
der Todten glauben , und daß aller Streit der Men-
ſchen ihre Tage verkuͤrzet “ ! — Nach dieſem that
der Beklagte das gleiche , und redete die gleichen
Worte . — Dann mußte der Klaͤger abtreten , und
der aͤltere ſeiner zwey ſechszigjaͤrigen Beyſtehern trug
ſeine Klage in gemaͤßigten , und die Ehre des Be-
klagten auf alle moͤgliche Art ſchonenden Ausdruͤ-
cken vor , fragte dann vor allem aus , ob ſie ihn
deutlich verſtanden ? worauf der Aeltere der Bey-
ſteher des Beklagten die Klage puͤnktlich wiederho-
len , und ihm ſagen mußte , ſie wollen izt ihrerſeits
den Beklagten daruͤber vernehmen , und dann in
einer oder zwey Stunden ſehen , wie es etwan moͤg-
lich , im Frieden von einander zu kommen ! Dann
traten die Verwandten und die Beyſtaͤnder des Klaͤ-
gers ab ; der Beklagte blieb ſo lang bey ſeinen Leu-
ten allein , und konnte in dieſer Zeit mit ihnen
uͤberlegen , was er dem Klaͤger antworten , und
Friedens halber etwan anerbieten wolle ? Dann ,
wann die verabredeten Stunden voruͤber , kam die
Gegenparthie wieder , ſezte ſich an ihren Plaz , und
der Aeltere von den ſechszigjaͤrigen Maͤnnern , auf
Seiten des Beklagten , trug dann in eben ſo ge-
maͤßigten Ausdruͤcken , und ebenfalls die Ehre des
Klaͤgers auf alle moͤgliche Weiſe ſchonend , die Ant-
wort des Beklagten vor , und bot darauf in ſeinem
Namen den Anweſenden einen Friedenstrunk an ;
dann trank ein jeder ein Glas Wein , zu erſt auf
das Wohlſeyn des Beklagten , dann auf dasjenige
des Klaͤgers ; und nun wurden erſt entweder Schieds-
richter erwaͤhlt , welche die Sache nach ihrem Gut-
duͤnken , und ſo , wie ſie es fuͤr beyde Theile am
Billigſten finden , ausmachen ſollten ; oder , wenn
man
man ſich wegen der Wahl der Schiedsrichter nicht
vergleichen konnte , ſo wurden gegenſeitig oͤffentli-
che Vergleichs-Vorſchlaͤge gegen einander gethan ,
und diejenige Parthey , welche einen ſogethanen
Vorſchlag von der Hand wieß , mußte die Gruͤnde ,
warum ſie dieſes thue , und zugleich ihr leztes
Wort , wie weit ſie ſich den Forderungen und Er-
wartungen des Gegners naͤhern wolle , ſchriftlich
abfaſſen laſſen .
So ſtellte Arner im Anfang der Prozeſſen , wo
die Gemuͤther noch nicht erhitzet , die Unwahrheiten
noch nicht erhaͤrtet , das Geſchaͤft noch nicht ver-
wirrt , und in dem Zeitpunkt , welcher die friedli-
che Auseinanderſetzung der Sache am leichteſten
machte , dem Streitgeiſt ſeiner Bonnaler , den Zwang
ehrenveſter Sitten , die aͤußere Form einer ſteifen
abgemeſſenen Bedaͤchtlichkeit , und hauptſaͤchlich
diejenige religioſe Feyerlichkeit entgegen , welcher
ſich die gewohnte Gerechtigkeit ſonſt bedient , dem
Miſt aller Abſcheulichkeiten verjaͤhrter Troͤlerver-
drehungen zu einer Zeit ein Ende zu machen , wo
beyde Partheyn meiſtens Jahre lang in einer Lage
waren , daß ſie beyderſeits ſo lang kein heiligs Va-
ter Unſer mehr haben beten koͤnnen ; aber Arner
wollte keine Gerechtigkeit , die durch die eigentliche
Natur ihrer beſtimmten Rechtsform den Gemuͤths-
zuſtand der Streitenden nothwendig verwildern ,
und dann erſt , wann ſie die Menſchen ſo weit ge-
T
bracht , daß weder Feyerlichkeit , noch Religion ,
diesfalls mehr einen reinen , beruhigenden Eindruck
auf ſie haben kann , feyerlich und ernſthaft zu wer-
den beginnt . — Er glaubte , man koͤnne nicht zu
viel thun , ſtreitende Bauern lange genug von dem
Schwertſtreich der geſezlichen Rechtsgerechtigkeit
entfernt zu halten , um ſie durch die fuͤr die Bauern
ſicher beſſere Wege ihres auf den gegenwaͤrtigen
Streitfall hingelenkten eigenen Billigkeitsgefuͤhl aus
einander zu bringen .
Aber bey dem allem war es nichts weniger ,
als daß er dadurch den ſchwachen , gutmuͤthigen
Beklagten den Klauen des anmaßlichen und frechen
Klaͤgers Preis gab .
Die Steifigkeit , und der langſame , ſchwer-
faͤllige Gang ſeiner Freundlichkeits-Manier , iſt dem
gierigen , frechen , unordentlichen , gewaltſamen
und ungeduldigen Troͤler gar nicht Heu fuͤr ſeinen
Eſel . Wenn man dem Troͤler das Schwert der
harten Gerechtigkeit aus den Haͤnden windet , ſo
verliehrt er ſeine Kraft darob wie Samſon ob der
Freundlichkeit der Jungfrau , die ihn geſchoren .
Das war eins . — Zweytens wurde ein jeder
der zweymal als Angreifer gegen jemand vor dem
Rechten im Ungrund erfunden worden , in ſeinen
Rechten auf 5 Jahr dahin ſtill geſtellt , daß er ſo
lang in keinem Fall ſein Recht gegen jemand an-
derſt , als durch einen ihm obrigkeitlich gegebenen
biedern , beſcheidenen , und nie vor keinem Recht
verfaͤllten Ehrenmann fuͤhren doͤrfte . —
Drittens wurden alle diejenigen , die ſich den
Einrichtungen Arners , in Abſicht auf Hausbuͤcher
und Hausordnung , nicht unterzogen , eben ſo we-
nig fuͤr Rechtsfaͤhig erkannt , und mußten wie die
erſten , wenn ſie an jemand etwas zu ſuchen hat-
ten , ſelbiges durch einen ihnen zugeordneten ordent-
lichen Haushalter verrichten .
Auf dieſe Art war die Troͤler-Race und die
blinden Zaͤnker , die in ihrer Unordnung nicht wiſſen
was ihnen gehoͤrt , und was ſie ſchuldig , bey aller
Gutmuͤthigkeit dieſes friedlichen Rechtgangs gut
am Seil gehalten ; auch zeigte die Erfahrung , daß
in dem Grad , als Arners Ordnung ſich in Bon-
nal feſt gruͤndete , ſich auch die Menſchen minder-
ten , die ſich in irgend einer Sache rechtlich zu
belangen ſuchten . Man ſcheute den ſtillen , kalten
Ernſt dieſes Rechtsgangs , den auch kein Stral des
gemeinen Troͤlerfeuers erwaͤrmte , und es ließ es faſt
Niemand bis zum Todtenkopf kommen ; je ſchlim-
mer einer war , deſto ſchneller war er auf dieſem
Weg muͤde . —
Leſer ! dieſes Muͤdwerden iſt die beſte Lobrede
des Wegs ; er dauerte fort . —
T2
Und wer im Anfang ermuͤdete , ſah in Zukunft
nichts beſſers voraus . Die Prozeßform wurde in
dem Grade , als die Partheyen es weiter kommen
ließen , immer druͤckender und beſchaͤmender , und
fuͤhrte ſie in ein Meer von Unannehmlichkeiten ,
in dem ſie ſicher in dem Grad oft und viel baden
mußten , als ſie unſauber erfunden worden .
Wenn die rechtliche Freundlichkeit ſie nicht zum
Ziel brachte , ſo mußte der Dorfrath , ehe die Par-
theyen weiter ſchreiten durften , unterſuchen , ob die
Urſache des Streits nicht von ihm , oder von den
Gaſſenaufſehern , oder von den Partheyen ſelber ,
haͤtte koͤnnen vorgebogen werden ; und es mußte
protokollirt werden , wenn es ſich fand , daß der
Streit ſich durch Verſaͤumnis dieſes oder jenes Vor-
beugungsmittel , oder durch die Fahrlaͤßigkeit dieſer
oder jener Perſonen ſich entſponnen ; und dieſen
ward dann von Seiten des Junkers ſein Misfallen
bezeuget , und ihnen angezeiget , man habe um ih-
res Fehlers willen ein beſonderes Recht , von ihnen
zu erwarten , daß ſie ſich die Beylegung dieſer Sa-
che , als ihre eigene , auf die ernſthafteſte Art laſſen
angelegen ſeyn .
Endlich war der Fortgang des Rechtshandels
fuͤr den Betruͤger voller Schlingen , und das Oeffent-
liche aller Handlungen , das Intereſſe ſo vieler Men-
ſchen dagegen , machten die gewoͤhnlichen Kruͤm-
mungen des gemeinen Rechtsgangs in dieſem Dorf
unmoͤglich .
Wer im Rechtslauf ſich einer Unwahrheit
ſchuldig gemacht , der durfte nicht anderſt als mit
und neben einem Harſchier vor Gericht erſchei-
nen .
Zweytens , man laͤutete an einem Rechtstage ,
an welchem eine ſolche Hartnaͤckigkeits-Sache ob-
waltete , in Bonnal die Sturmglocke .
Drittens , mußte der Pfarrer fuͤr ſolche Strei-
tende in der Kirche beten , gerade hinter dem Ge-
bet fuͤr Kranke und Angefochtene .
Viertens , mußte er , wann ein Feſt einfiel ,
ihnen anzeigen laſſen , man habe vor Altem Leute ,
die im oͤffentlichen Streit miteinander gelebt , nicht
zum Nachtmahl gelaſſen , izt aber koͤnnen ſie kom-
men , wenn ſie ſich nicht ſchaͤmen .
Es war aber nicht dem Pfarrer uͤberlaſſen ,
ob er es ihnen wolle ſagen laſſen oder nicht , ſon-
dern gehoͤrte ganz beſtimmt zur geſezlich anbefohle-
nen Prozeßform , durch welche Arner , in Verbin-
dung ſeiner Vorbeugungs-Mitteln dagegen , allem
gerichtlichen Streit in Bonnal ſo viel als den Gar-
aus machte . Die Muͤhe , welche ſolche , dem Ruin
des Hausgluͤckes und der Seelenruh vorbiegende
T 3
Verhuͤtungsmittel den Dorfſtreitigkeiten , und die-
ſem Endzweck angemeſſene Prozeßformen bey den
niedern Gerichten erheiſchen , wird in dem Grad
nicht groß und nicht laͤſtig , als die Vorbiegungs-
mittel und Prozeßformen gut ſind und anſchlagen .
Aber es waͤre mir freylich unbegreiflich , warum
die Menſchen die Muͤhe bey Feuer- und Waſſers-
noth zu helfen ſo gering , und hingegen die Arbeit ,
dieſer Noth vorzubiegen , ſo groß achten , wenn ich
nicht wuͤßte , daß das einzige Mittel , ſchlecht erzo-
gene Menſchen aus ihrer Traͤgheit aufzuwecken nur
dasjenige iſt , was auch die Wilden im Wald dar-
aus aufweckt — die gegenwaͤrtige Noth . — Dar-
um aber iſt Arners Prozeßform fuͤr das Ganze der
guten buͤrgerlichen Bildung um ſo viel mehr werth ,
in dem ſie eigentlich der Quelle des Uebels , dem
Sinn des wilden und verwilderten Menſchen entge-
gen ſtehend , den weſentlichen Grundſaͤtzen einer
Geſezgebung genug that , die der Gedankenloſigkeit ,
dem Leichtſinn , der Traͤgheit , der Unwiſſenheit ,
Unuͤberlegtheit , Unordnung , Gewaltthaͤtigkeit und
Verwegenheit eines uͤber ein halbes Jahrhundert
ſich ſelbſt uͤberlaſſenen Volkes , und der ganzen Ge-
walt eingewurzelter Naturgewohnheiten im Dorf
mit Erfolg entgegen wirken , und ſeine Bonnaler
zu ganz andern Leuten machen ſollte , als der
Menſch von Natur nicht iſt , und ſie unter der
Verwahrloſung ſeines Großvaters nicht werden
konnten .
So umfaſſend der Endzweck dieſer Geſezge-
bung war , ſo that er ihm ein Genuͤgen ; er be-
ſchraͤnkte den Hang zum freyen , wilden , unver-
dienten Lebensgenuß von allen Seiten ; band die
Befriedigung ihrer Naturtrieben in allen ihren
Theilen an den Zwang des buͤrgerlichen Verdienſts ,
und an die Regelmaͤßigkeit der geſellſchaftlichen Ord-
nung :
Der Trieb zum Eigenthum —
Der Geſchlechtstrieb —
Die Liebe zur Freude —
Der Hang der Ruhe — und
derjenige zur Ehre . —
Mit einem Wort , alle Grundtriebe unſerer
Natur wurden von ihm alle in dieſe Schranken ge-
lenkt , und darinn befriedigt .
T 4
§ . 54.
Seine Geſezgebung wider den Diebſtahl .
N icht wenn du in ſeinem Moraſt wuͤhleſt , ſon-
dern wenn du ſeine Waſſer tiefer legſt , und ihnen
einen ſichern Ablauf giebſt , trockneſt du einen
Sumpf auf .
Arner machte den Arbeits-Fleiß in Bonnal
eben ſo leicht als angenehm und befriedigend . Das
Dorf hatte nicht mehr und rechnete nicht mehr blos
von der Hand ins Maul ; auch der Arme hatte izt
Vorrath und Eigenthum , und darum war ihnen
allen Ordnung und Sicherheit wichtig ; ein jeder ,
und auch der Aermſte ſah , daß er ſeine Kinder mit
Sitzen und Spinnen weiter bringe als mit Strol-
chenmuth und Raͤuberordnung .
Die erſte Quelle des Diebſtahls , des Gewalts
der Reichen , die in der Unordnung des unwirth-
ſchaftlichen Volks , den Frevel zu ihrem Morgen-
brod , und den Diebſtahl zu ihrem Abendeſſen mach-
ten , war gehoben ; die Leute hatten weniger Grund
und weniger Anlas zu ſtehlen ; und viele , die es
ehedem ſelber gethan , ſagten nunmehr , es muͤßte
izt einer ein Narr ſeyn , wenn er es thun wuͤrde .
Arner ließ Niemanden am Nothwendigen Mangel
leiden , und Niemanden durch unvorgeſehene Be-
duͤrfniſſe in Verwirrung kommen .
Die Einſicht , die er in alle Theile der Dorf-
haushaltung hatte , und die Ordnung und das
Licht , das er in ihre Verwaltung hineinbrachte ,
ſezte ihn in den Stand , ſo vieles leiſten zu koͤnnen .
Er gab bey uͤberhandnehmendem Holzmangel ih-
nen die Freyheit , in ſeinen Waldungen die alten Stoͤcke
auszugraben ; ſchafte ihnen große ſtarke Ausſtockungs-
Inſtrumente an ; und damit ſie der Aermſte wie der
Reiche genieße , mußten ſie die Vorgeſezten der Reihe
nach den Haushaltungen zu dieſem Gebrauch zuſtel-
len . Eben ſo mußten die Gaſſenaufſeher von Haus zu
Haus unterſuchen , ob die Feuerſtaͤtte zu Erſparung
des Holzes gut eingerichtet ; ob die Mauern , Waͤn-
de , Tielen ihrer Stuben die Waͤrme halten ? Den
Vermoͤglichen , die etwas hieran mangeln ließen ,
ſchlug er das Gnadenholz ab , den Unvermoͤglichen
half er zur Nothdurft ſelbſt darzu ; aber dann ahn-
dete er den Holzfrevel in dem Grade ſtreng , als
es dem wahren Beduͤrfnis des Volks hierin ein Ge-
nuͤgen geſchah , und uͤberhaupt den Reiz zum Raͤu-
berleben minderte . Er ſtrafte den Holzfrevel wie
Diebſtahl , und das naͤchtliche Rauben deſſelben ;
das Umhauen junger Staͤmme mit kleinen Saͤgen ,
das Umbinden der dickern mit Seilern , den Ton
des Schlagens zu hemmen , und das Wachtſtehen
an den Graͤnzen des Walds , waͤhrend des Fre-
vels , wie Einbruch und Feldraub .
Je weiter die Vernachlaͤßigung einer Sache
eine Haushaltung fuͤhren konnte , deſtomehr Sorg-
falt wandte er darauf , alle Jahr alle Haͤuſer un-
terſuchen zu laſſen , ob und wie weit ſie baufaͤllig
ſeyen , und einem jeden Eigenthuͤmer durch ſeinen
Baumeiſter Bericht abzuſtatten , wie weit er ohne
Gefahr groͤßern Schadens mit einer jeden Ausbeſſe-
rung noch warten koͤnne oder nicht , was fuͤr und
wie viel Baumaterialien er dazu brauche , und wie
er ſie mit den wenigſten Koͤſten und am kommlich-
ſten zur Hand bringen koͤnne . Er that das gleiche
mit ihrenSchwellen , Waſſerruͤnzen u. ſ. w. um in
allen Theilen ihrer Wirthſchaft mit Sorgfalt zu
verhuͤten , daß ſie nicht von unerwarteten groͤßern
Ausgaben ſchnell uͤberfallen wuͤrden .
Das machte einen Unterſchied ; die Leute baue-
ten zur rechten Zeit , und ums halbe wohlfeiler und
beſſer ; und er wußte bey ſeiner guten Ordnung
von einem jeden , der etwas verwahrloſete , oder zu
Grund gehen ließ , wie wenn er an ſeiner Thuͤr zu
wohnte , und ließ es nie zu weit kommen .
So bog er durch die Kraft einer Ordnungs-
vollen und dadurch wahrhaft weiſen Verwaltung
aller Verwirrung ihrer aͤußern Umſtaͤnden , die ſie
zu Dieben machen koͤnnte , vor ; aber er wußte da-
bey , daß auch dieſes nichts helfen wuͤrde , wenn ſie
nicht von fruͤher Jugend auf zu einem ordentlichen
buͤrgerlichen Beruf , und zu einem ſichern Erwerb
ihres Brods wohl angezogen wuͤrden .
Er ſtellte desnahen nicht einem jeden Narren-
vater und einer jeden Narrenmutter frey , ob ſie
aus ihren Kindern Etwas oder Nichts machen
wollen , und ſagte gerade zu : er wiſſe nicht , was
eine Obrigkeit im Land nuͤtze , wenn alles Lumpen-
volk das Recht habe , ſeine Kinder ſo aufwachſen
zu laſſen , und ſo zu verwahrloſen , daß ſie zu kei-
ner Art buͤrgerlichen Berufs und Brods-Erwerbs
recht tuͤchtig , nicht anderſt koͤnnen , als ihre Na-
turbeduͤrfniſſe auſſert dem Gleis der buͤrgerlichen
Ordnung befriedigen zu ſuchen , und alſo ſo viel
als nothwendig ein Lumpen- und Schelmenvolk
abgeben muͤſſen . Er wollte es nicht ſo ; er ließ
ſich von allen Hausvaͤtern , ſo bald ihre Kinder 7
Jahr erreicht haben , Antwort geben , was ſie aus
ihnen machen wollen ; und der Dorfrath mußte
jaͤhrlich Erlaͤuterung geben , wie die Erziehung ei-
nes jeden Kindes dem Endzwecke , den ſeine Aeltern
mit ihm haben , entſpreche oder nicht ? Das Licht
und die Heiterkeit , die er in die Hausumſtaͤnde ſei-
ner Bonnaler hineingebracht , hinderte dann den
Diebſtahl mit Kraft . Es ſah izt ein jeder in allen
Theilen richtiger ein , was ſeine Umſtaͤnde erleiden
moͤgen , und was ſie nicht erleiden moͤgen . Und
die unvernuͤnftige Hoffart der Armen , ſich in Klei-
dung , Eſſen und Trinken den Reichen gleich zu
ſtellen , nahm ſichtbar ab ; man ſchaͤmte ſich das
zu ſcheinen , was jedermann wußte , das man es
nicht war ; man ward darob ausgelacht ; denn die
Kinder machten in der Schule ſich nichts daraus ,
dem erſten beſten , das alſo Hoffart ſpiegelte , zu
ſagen : du haͤtteſt dein Geld leicht an etwas beſſers
anwenden koͤnnen , als an dergleichen Narrenzeug ;
und er hatte im Dorf unter allen Leuten das
Spruͤchwort aufbringen koͤnnen : Seine Kinder wohl
ſetzen , ſey die beſte Hoffart .
So griff er der Quelle des Diebſtahls , der
Unordnung , der Rechnungsloſigkeit und Liederlich-
keit von allen Seiten ans Herz .
Wer ſeine Wirthſchaft nicht wohl verwaltete
— wer keinen taͤglichen Verdienſt hatte , und ſich
einrichtete , daß man ihm vorrechnen konnte , daß
er mehr ausgebe , als er einnahm ; wer ſich in
Haͤndel miſchte , die ihn nichts angiengen , wer
fremden Leuten Unterſchlauf gab , wer bey ver-
ſchloſſenen Thuͤren ſpielte , kurz , wer ſich durch er-
wieſene Handlungen verdaͤchtig und gefaͤhrlich er-
zeigte , der ward auch von Obrigkeits wegen fuͤr
gefaͤhrlich und verdaͤchtig geachtet ; und wenn er
auf gedoppelte Warnung in ſeinem Fehler fortfuhr ,
dem Dorfrath zu beſonderm Aufſehen empfohlen ,
und dann dorfte der Harſchier bey Tag und bey
Nacht zu jeder Stund in ſeinem Haus erſcheinen ,
und bey ihm ausſuchen was er wollte .
Auch nahm der Junker allem fremden Geſin-
del , das unter der alten Dorfregierung als abge-
dankte Schloß-Schuhputzer , Kammerdiener , Kam-
mermaͤgde , Peruͤquenmacher und dergleichen , mit
dem ganzen Gefolg von Toͤchtern , Maͤgden , in
ſeinen Doͤrfern eingeniſtet , die Bewilligung , ſich in
der Herrſchaft aufzuhalten ; gab ihnen ſaͤmtlich ei-
nen Laufpaß bis auf die naͤchſte Stadt , und den
Doͤrfern auf der Stelle einen Freyheitsbrief und das
Recht , zu ewigen Zeiten nicht ſchuldig zu ſeyn , ei-
nem Herrſchaftsherrn eine fremde Manns- oder
Weibsperſon wider ihren Willen abzunehmen , und
auf ihren Doͤrfern ſitzen zu laſſen
Auch die Lumpenwaͤchter , mit den rothen Na-
ſen und roſtigen Spießen , hob er auf ; ſezte aber
an den Graͤnzen der Herrſchaft allenthalben Huͤt-
ten , bey denen er Tag und Nacht fuͤnf bis ſechs
Maͤnnern abwechſelnd Arbeit gab , mit Kohlen
brennen , Holzſagen und ſpalten , die dann zugleich
Wachtdienſt thun mußten . Eben ſo mußten die
Schloßwachten mit ihren alten rothen Roͤcken ihm
ab den Augen . Er konnte Menſchen , die an Leib
und Seel ſo unnatuͤrlich verlaͤhmet waren , wie dieſe
Ueberreſte von verfauleten Muͤßiggaͤngern , nicht
vor Augen leiden ; er ſorgte aber fuͤr ihr Maul , ſo
lang ſie noch herumkriechen wuͤrden ; ſie dankten
ihm unterthaͤnig , und waren nicht mehr Waͤch-
ter . —
Unter dieſen Vorſorgen konnte es nicht anderſt
ſeyn , das Staͤhlen mußte abnehmen , und der Jun-
ker machte den Abſcheu dagegen , ſo wie gegen alle
Arten von Liederlichkeit und Unbrauchbarkeit auf
alle Weiſe rege ; und ein Kind , das in der Schule
nur einen Apfel , oder ein Mund voll Brod einem
andern genommen , oder auf der Weyd nur eine
Erdapfelſtaude ausgeriſſen , entgieng einer oͤffentli-
chen Auslacherſtrafe nicht . Bey dem kleinſten
Diebſtahl kam das ganze Dorf in Bewegung ; die
Gaſſenaufſeher kamen zuſammen , die geringſten
verdaͤchtigen Umſtaͤnde mußten verantwortet , die
Moͤglichkeit , der Sache auf die Spur zu kommen ,
von allen Seiten erforſcht , und alle Sorgfaltsan-
ſtalten fuͤr die oͤffentliche Sicherheit von neuem ge-
pruͤft und in Thaͤtigkeit geſezt werden ; und wenn
ein Diebſtahl entdeckt war , ſo war geſezlich befoh-
len , daß das Dorfgericht keinen Umſtand unerforſcht
laſſe , wie die Perſon zu dieſer landsgefaͤhrlichen
Gewohnheit gekommen , welche in dem Fall betre-
ten worden , wie weit ihre Erziehung daran
Schuld , und wie lang ſie den Fehler getrieben ,
wie ſie jede einzelne That vor den Aufſehern , vor
den Hausleuten , und Nachbarn habe verbergen
koͤnnen , wer den eint oder andern Fehler mehr
oder minder nothwendig haͤtte merken ſollen , und
nicht gemerkt ? Ferner , in wie weit die Liederlich-
keit und Unordnung des Beſtohlnen , oder ſeiner
Hausleute , Gelegenheit zum Diebſtahl gegeben ?
Eben ſo , wie weit er verfuͤhrt , und durch die oder
dieſe Umſtaͤnde zu den Fehlern , die ihn uͤberhaupt
zum Diebe gemacht , oder au chzu der beſondern
Diebshandlung verleitet worden ? Dieſem allem
ward mit druͤckender Umſtaͤndlichkeit geſezlich von
Gerichts wegen nachgeforſcht .
Und wenn es ſich fand , daß einer den Dieb-
ſtahl nothwendig haͤtte merken ſollen , und ihn nur
durch ſeine Liederlichkeit , Nachlaͤßigkeit , und Un-
aufmerkſamkeit nicht gemerkt , ſo ward er vor
offenem Gericht ermahnet , in Zukunft ſeine fuͤnf
Sinnen zur oͤffentlichen Sicherheit alſo zu brau-
chen , wie er wuͤnſchen werde , daß ſeine Mitbuͤr-
ger ſelbige zu der ſeinigen brauchen .
Fand ſich , daß einer den Diebſtahl durch wirk-
liche Fehler von einem unordentlichen , liederlichen
Leben moͤglich gemacht , ſo ward er vor offenem
Gericht , als Miturſaͤcher des Diebſtahls , verur-
theilt , einen Theil der Schande mit dem Gefange-
nen zu theilen , ihm in ſeiner Gefangenſchaft abzu-
warten , und ſo ihm auch einen Theil ſeiner Leiden
zu erleichtern , wie er ihm einen Theil ſeines Diebs-
und Schelmen-Lebens erleichtert .
Fand ſich aber gar , daß einen ſolchen beſtimmte
Verfuͤhrungs-Handlungen zu einem Dieben gebil-
det , und ihn einer zu gottloſen , ehrvergeſſenen Hand-
lungen , entweder in ſeinen Dienſt misbraucht ,
oder ihn um Geld dazu gedungen , oder ihm mit
Wiſſen Vorſchub dazu gethan , ſo ward der geſezlich
verurtheilt , fuͤr die Gefahr , welcher die menſchli-
che Geſellſchaft von einem ſolchen notoriſch ver-
fuͤhrten Menſchen ausgeſezt iſt , zu haften , und
nach Maßgebung der Umſtaͤnde der Obrigkeit zu
helfen , daß er verſorgt , und die Geſellſchaft vor
ihm ſicher geſtellt werde .
Ueberhaupt aber beſtimmte er die Strafe des
Diebſtahls nichts weniger , als nach dem Geldwerth
des Geſtohlenen , der meiſtens zufaͤllig iſt ; ſondern
hauptſaͤchlich nach dem Grad des Lumpen- und
Tagdieben-Lebens , deſſen der Dieb ſchuldig erfun-
den worden .
Es iſt nicht ſowohl der Raub eines elenden
Stuͤck Geldes , als das Austreten aus dem Gleis
der buͤrgerlichen Ordnung , was den Menſchen ei-
gentlich entehrt ; darum brauchte er weder Strick
noch
noch Schwert gegen ſein Volk nach der Schatzung
der Pfennigen , ſondern ſuchte es vielmehr auch bey
der Beſtrafung des Diebſtahls auffallend zu ma-
chen , daß nicht die einzelne Handlung des Dieben ,
ſondern ein ungewerbſames , Verdienſt- Ordnung-
Regelmaͤßigkeit- und Ehrloſes Leben der eigentliche
Grund des Rechts ſey , Vermoͤge deſſen ein Menſch
aus der buͤrgerlichen Geſellſchaft ausgeſtoßen , oder
darinn angebunden werden muß .
Desnahen auch die kleinen Anfaͤnge des Dieb-
ſtahls der Geſellſchaft eben ſo wichtig ſind , als die ſpaͤ-
tern groͤßern Ausbruͤche derſelben ; und Arner hielt
die Geſetze , die gegen die Anfaͤnge dieſes Laſters
ſchwach , und gegen die ſpaͤtern Ausbruͤche deſſel-
ben hart , ſo wie diejenige , die die Strafe des Feh-
lers blos von dem zufaͤlligen Geldwerth des Ge-
ſtohlenen abhaͤngig machen , fuͤr widerſprechend
mit allen Regeln einer wahren Menſchenfuͤhrung ,
und ſagte , eines Bauern Frau ſchaͤmt ſich , ein
Kind , das uͤber 7 Jahr alt iſt , vor den Leuten we-
gen ſeiner Ungezogenheit abzuſtrafen , ſie fuͤhlt , daß
ſeine Ungezogenheit auf ſie zuruͤck faͤllt ; aber die
erſte Tochter des Himmels , die Geſezgebung , ſchaͤmt
ſich nicht , tauſend buͤrgerliche Abſcheulichkeiten
oͤffentlich zu beſtrafen , wovon keine einzige moͤglich
waͤr , wenn die Herren Voͤgte dieſer Himmelstoͤch-
ter , und ihre nachgeſezten Verwalter , den Detail
der Volksordnung ſo gut beſorgten , als eine brave
U
Bauersfrau den Detail ihres Hauſes beſorgen
muß , wenn ſie nicht Schande davon haben will .
Es iſt eine Schande , man laͤßt alles Unkraut
wachſen , bis es erſtarket ; dann wuͤhlet man mit
der oͤffentlichen Gerechtigkeit unter dem verheerten
Volk wie die wilde Saͤu im Korn , und meynt
noch , mit dieſer Schnoͤrren-Arbeit die hoͤchſte Weis-
heit der buͤrgerlichen Geſezgebung erreicht zu ha-
ben . Man laͤßt es an allem , was zur Erzielung
einer wahren buͤrgerlichen Ordnung in der Tiefe
des Volks nothwendig waͤre , ermangeln , und
wundert ſich dann , warum man mit keinen Galeen
und Zuchthaͤuſern ſo wenig als mit dem alten Gal-
gen dahin komme , wohin , ſo lang die Welt ſteht ,
keine Obrigkeit ohne gute und allgemeine Einrich-
tungen fuͤr die Bildung des Volks niemals gekom-
men iſt , und niemals kommen wird . Anmerkung . — Wer verzeiht es dem
Menſchen nicht , wenn er im Gefuͤhl der Ver-
wahrloſung ſeines Geſchlechts die Sprache der
Verzweiflung redt ? — ſagte ich , da die Sti-
ckelbergerin und der Pfarrer dieſe Sprache re-
deten , als ſie fuͤr das Leben Arners keine Hof-
nung mehr hatten ; und izt — muß ich dich
fragen , Leſer ! willt du mir es nicht verzeihen ,
wenn ich die oͤffentliche Gerechtigkeit , die es
an allem , was zur Erzielung einer wahren
buͤrgerlichen Bildung in der Tiefe des Volks
Aber ich fahre fort . — Die Menſchen moͤ-
gen ſich ſelber ſchaͤnden , mein Buch ſoll keine
Schmaͤhſchrift auf ſie ſeyn , ſo ſchwer es iſt , keine
uͤber ſie zu ſchreiben .
§ . 55.
Seine Geſezgebung wider den Geſchlechts-
trieb .
B eydes , Scham und Vernunft , ſind Folgen des
Eigenthums , und des auf demſelben ruhenden Vor-
ſchritts der Ausbildung unſerer Natur . Der
Menſch , in ſeinem wilden Zuſtand eben ſowohl als
in ſeiner buͤrgerlichen Verwilderung , zeiget kaum
leichte Spuren dieſer in ihm liegenden Vorzuͤgen
ſeiner Natur .
Nicht das , was der Menſch weißt , macht ihn
vernuͤnftig ; es iſts ſein feſter , kalter Fels im Kopf ,
ſeine Uebung im Zaͤhlen , Waͤgen , Meſſen , For-
ſchen , und die Richtung ſeines Geiſtes nicht zu re-
nothwendig iſt , ermangeln laͤßt , im Unmuth
meiner Erfahrung , mit dem Wuͤhlen der Wild-
ſau vergleiche , und ihre Arbeit und ihr Maul-
waſchen — Schnorren-Arbeit heiße ? — Ich
hoffe , du verzeiheſt Leſer ! —
U 2
den , nicht zu urtheilen , vielweniger zu handeln ,
bis er erwogen , ermeſſen , erforſcht , und berech-
net , das iſts , was ihn unter ſeinen Mitmenſchen
vernuͤnftig darſtellt .
Eben ſo beſteht eine wahre Scham in ſeiner
Sorgfalt in dem , was er redt , urtheilt , handelt ,
und leidet , darauf zu achten , daß es nicht unuͤber-
legt , unbedacht , und unerwogen ſcheine .
Beydes , Vernunft und Scham , finden als
Kinder des Eigenthums ihre erſte , beſte und rein-
ſte Nahrung an der Bruſt ihrer Mutter ; und ſo
wohl der Uebergang von den Fehlern des Naturle-
bens , als die Verhuͤtung der Verwilderung des
Menſchen in der Geſellſchaft , iſt im Allgemeinen
durch nichts ſicherer zu erzielen , als durch eine weiſe
Bildung deſſelben zur guten Beſorgung ſeines Ei-
genthums , in dem er durch nichts beſſer , als durch
Einlenkung ſeiner Kraͤften auf dieſen Punkt , zu
derjenigen Bedaͤchtlichkeit , Vorſicht , Ueberlegung
und Ordnung gebracht werden kann , ohne welche
weder wahre Vernunft , noch wahre Scham , im
buͤrgerlichen Leben Plaz haben kann .
Desnahen ruhen die Regeln einer weiſen Ge-
ſezgebung fuͤr die Erhaltung und Bildung der wah-
ren Schamhaftigkeit auf den gleichen Grundſaͤtzen ,
auf denen auch diejenigen gegen den Diebſtahl ru-
hen . Auch ſchlug Arner vollends den gleichen Weg
ein , gegen die Fehler des Geſchlechtstriebs zu wir-
ken , welchen er mit ſo vielem Erfolg gegen die
Fehler des Diebſtahls gebraucht ; und die allge-
meine Bildung der Aufmerkſamkeit auf alle Arten
der Tagsarbeit , feſte Uebung in allen Theilen des
Fleißes und der Ordnung , ſorgfaͤltige Achtſamkeit
auf das Urtheil ſeiner Mitmenſchen in allen Stuͤ-
cken der taͤglichen Thaͤtigkeit , das waren die erſten
Fundamente ſeiner Keuſchheits-Geſezgebung .
So geliebt und beſorgt das Kind in der Wie-
ge war , ſo mußte es ſich dennoch an feſte Regel-
maͤßigkeit in ſeiner Beſorgung gewoͤhnen , und in
den erſten Tagen ſeines Daſeyns lernen , ſich uͤber-
winden und ſchweigen , bis nach der harten buͤr-
gerlichen unbiegſamen Zeitrechnung ihm die Stun-
de fuͤr eine jede Sache in ihrer Ordnung anruͤckt .
Und da es aus der Wiege in die Schule kam ,
ſo warteten ſeiner auch da die gleichen Bande des
buͤrgerlichen Zwanges , ohne welche die gute Be-
ſorgung des Eigenthums , worauf die innern Kraͤfte
der buͤrgerlichen Einrichtungen ruhen , unmoͤglich
iſt ; es war in derſelben in einer taͤglichen Uebung
fuͤr ſeine Ehre aufmerkſam zu ſeyn ; es ward fuͤr
jede Unordnung , fuͤr jede Nachlaͤßigkeit beſchaͤmt :
unter der Hand des Lieutenants erroͤtheten die Kin-
der ob jedem kleinen Flecken Dinten , der ihnen auf
U 3
die Schrift fiel ; es waren darunter , die , weil ſie
unordentliche Muͤtter hatten , am Samſtag die
halbe Nacht durch auf waren , zu waſchen und zu
flicken , daß ſie am Montag mit Ehren wieder in
die Schule gehen doͤrfen ; und es haͤtte ſich keines
unterſtanden ihm zu ſagen , es koͤnne etwas , wenn
es noch ein Woͤrtchen daran gefehlt , oder ihm ei-
nen Buchſtaben in der Schrift als recht vorzuwei-
ſen , zu dem es nicht alle Sorgfalt getragen , ihn
recht zu machen ; ſie waren daran gewoͤhnt , das
Langweilige wie das Kurzweilige , mit der Feder
wie mit der Nadel , zehen- und zwanzigmal zu pro-
bieren , bis es recht war . —
Die Schande , ſeinen Feyerabend nicht zu ha-
ben , die Nothwendigkeit , das Verſaͤumte vor dem
Schlafengehen nachzumachen , die Ehre , in jedem
anbefohlnen und vertrauten Geſchaͤft ſich keinen Feh-
ler , keine Ungeſchicklichkeit vorwerfen zu laſſen ,
die Aufmerkſamkeit in allem , bis auf Kleidung und
Geraͤth , Tadel-frey zu erſcheinen , mit einem Wort ,
das Weſentliche der wahren Berufsbildung und
Hausweisheit , legte den Grund der Kraͤfte der
Schamhaftigkeit , auf welche Arner ſeine Geſezge-
bung gegen die Verwirrungen des Geſchlechtstriebs ,
vom Liebaͤugeln hinauf bis zum Kindermord gruͤn-
dete , in dem er der Gewaltſamkeit dieſes Triebs
durch Uebung in Bedaͤchtlichkeit und Ordnung ent-
gegen arbeitete , ehe er da war — kam er dann ,
ſo fand er ſein Haus buͤrgerlich gewiſcht und ge-
ziert ; und der Herr des Hauſes hatte Kraͤfte , den
boͤſen Geiſt an die reinliche Ordnung , die einmal
in ſeinem Haus Uebung war , zu gewoͤhnen , und
ihn allfaͤllig , wenn er poltern wollte , an die Ket-
ten zu legen .
So wenig , als gegen den Diebſtahl , wuͤhlete
er blos im Sumpf ; er legte ſeine Waſſer tiefer ,
und gab ihnen ſichern Ablauf . Er erneuerte wieder
die alten Dorfſitten , die der Unſchuld und dem ſpaͤ-
ten Reifen der Kinder ſo nuͤzlich waren .
Thereſe redete mit den beſcheidenſten Frauen ,
wie ſchaͤdlich die neumodiſchen Geheimnismache-
reyen , und das Verbergen des Saugens in der
Wohnſtube der Kinder ſey , und wie viel unſchul-
diger ſie aufwachſen , wenn die Muͤtter hieruͤber
ohne Scheu ihre Pflicht thun ; auch brachte ſie es
dahin , daß eben dieſe Muͤtter , mit einem ganzen
Kreis erwachſener Toͤchter des Dorfs , die Ehren-
feſtigkeits-Regeln verabredeten , nach welchen eine
brave Tochter den Knaben , der ſie in Ehren ſucht ,
Schritt fuͤr Schritt naͤher kommen laſſen doͤrfte —
wie den neueingeriſſenen Frechheiten mit Wein und
Geſchenken auf einmal , durch eine allgemeine Ab-
rede , abzuhelfen ſey . — Die Toͤchter lachten , und
den Knaben ward es ganz recht , daß einmal eine
Ordnung in ihr Weiberſuchen hinein komme ; ſie fan-
U 4
den ſelber , die wilde Schweinordnung , die ſo oft
Tod und Mordſchlag veranlaſſet , mache ſie zu ehr-
loſen Leuten . Und durch dieſe Abrede veranlaſſet ,
verbanden ſich die jungen Leute auf beyden Seiten
zu einem Ehrenſtand , und wurden , indem ſich die
Gefuͤhle ihres Alters von Muth und Ehre unter
dieſen Umſtaͤnden in ihnen immer mehr entwickeln
mußten , ſich ſelber , in Abſicht auf den Geſchlechts-
trieb , die beſten Waͤchter unter einander .
So leicht Arner ihnen im Gleis der buͤrgerli-
chen Ordnung die Ehe machte , ſo feſt band er ſie
an dieſelbe . Von Jugend auf erlernten ſie die Be-
griffe , ſie muͤſſen die Ehe verdienen wie ihr Brod .
Im Schulbuch ihrer Kindheit lernten ſie ſchon ,
was eine Haushaltung koſte , und was ſie in ge-
ſunden und kranken Tagen fuͤr ein großes Maul
habe ? Aber nicht minder , wie ein jeder Menſch
von ſeinem ſiebenden Jahr an zu dieſen nothwen-
digen Ausgaben ſich vorbereiten , und wie viel er
bis in ſein zwanzigſtes Jahr dazu erſparen und
beyſeits legen koͤnne , wenn er es recht anſtelle .
Schon im vierten Jahr ſpielten die Maͤdchen in
Bonnal mit ihren Puppen , und ſpaͤter mit ihren
kleinern Geſchwiſterten auf der Gaſſe und in der
Stube die Hausmuͤtter , und der Knaben erſtes
Spiel war der Hausvater , der ſeinen Buben ſag-
te , wie er ein rechter Bub ſeyn muͤſſe , und ein
rechter Mann werden koͤnne ! Wenn ein Kind 7
Jahr alt war , fiengen alle Ehrenmuͤtter ſchon an ,
ihm an ſeinem Ausſteuerzeug vorzuarbeiten , und
im vierzehenden Jahr zeigten ſie es ihnen das Er-
ſtemal auf eine feyerliche Art , gewoͤhnlich am Abend
eines heiligen Feſts , und zugleich die Rechnung ,
was ſie ſelber in ihrem Leben vorgeſpart . Der
Pfarrer mußte an einem ſolchen Tage ſelber da
ſeyn , und redete dann mit dem Kind in Gegenwart
ſeiner Aeltern , uͤber die Nothwendigkeit in dieſem
Alter , mit beſonderer Sorgfalt auf ſich ſelber acht
zu geben , bat dann Gott um ſeinen Segen zu die-
ſem Anfang eines ehrlichen braven Hausweſens ,
und uͤbergab dem Kind in dieſer Stunde ein kleines
Buch , das den Titel hatte , „ der abgemahlte
Chriſtenweg zu einem gluͤcklichen Eheſtand , und der
abgemahlte Jammer des wilden Heidenlebens . “
Das Buch war ein Erfahrungsbuch , darinnen
ihnen , nicht uͤbertrieben , aber deutlich vor Augen
gemahlt waren , die Freuden eines ordentlichen
Hauslebens , von den Jugend-Jahren an bis ins
hoͤchſte Alter , die fromme Sorgfalt , vom vierzehn-
den bis ins zwanzigſte Jahr nicht verfuͤhrt zu wer-
den , und das Gluͤck der Menſchen , im reifen Al-
ter durch das lange Thal des Lebens mit unbeſchol-
tenem Haupte einher zu gehen , und im Greiſenal-
ter im Angeſichte ſeiner Kindeskinder keines ſeiner
grauen Jahre mit Schande befleckt zu haben , und
am Rande des Grabs mit frohem Herzen auf die
Nachwelt zuruͤck ſehen zu doͤrfen , und keines ſeiner
von Gott vertrauten Kindern durch ſeine Thorheit
und ſeine Lebens-Fehler an Leib und Seel verderbt
und ungluͤcklich zu wiſſen — und dann im Ge-
gentheil das Bild , der vom vierzehnden bis ins
zwanzigſte Jahr verlohrenen Ehre und Scham einer
Bauerstochter und eines Bauerknaben mit ihren
Folgen auf Leib und Seel , auf Haus und Hof ,
auf Kind und Kindskinder , in allen Umſtaͤnden
des Wohlſtands und der Armuth , und in allen
Zeitpunkten des Lebens , vom zwanzigſten bis ins
ſiebenzigſte Jahr , eben ſo kanntlich abgemahlt .
Berechnet Leſer ! die Wirkung dieſes Buchs
— es war recht gemacht — nicht einzig — ihr
muͤßt es in Bonnal in Verbindung mit allem Uebri-
gen , was Arner fuͤr ſein Volk that , berechnen ,
und glaubet mir , ſeine Wirkung war groß ; es
war dem jungen Volk uͤber dieſen Punkt zufoderſt
im Maul , es muͤßte einer unglaublich unvernuͤnf-
tig ſeyn , ſo er ſich , wie die Sachen izt ſeyen , mit
dieſem Fehler in Gefahr begeben wuͤrde , das ganze
Gluͤck ſeines Lebens in die Schanz zu ſchlagen .
Das junge Volk in Bonnal war mit dem Ge-
ſchlechtstrieb gar nicht mehr vollends da zu Hauſe ,
wo das Jauner- und Bettlervolk , das die Schan-
de ſeines diesfaͤlligen Heidenlebens damit entſchul-
diget , ſie haben ſonſt nichts Gutes in der Welt . —
Ein jedes legte von Jugend auf ſich ſelber mit
ſeiner eigenen Handarbeit den Grundſtein zu einem
ehrenhaften , unabhangenden Leben ; ſie ſahen mit
jedem Jahr den kleinen Pfenning , mit dem ſie ih-
ren Sparhafen anfiengen , groͤßer werden , und das
Geld , das ihnen vom ſiebenden Jahr an manche
ſaure Stunde , und manche raſtloſe Nacht gekoſtet ,
war ihnen im zwanzigſten Jahr ſo wenig , als ihre
Ehre ſo leicht fuͤr eine Gaukelnacht feil ; ihre ge-
bildete Bedaͤchtlichkeit machte ſie auch hierinn rech-
nen , und laͤcheln , wenn jemand viel fuͤr wenig
von ihnen wollte . —
Arner hielt ihnen in dieſem Alter den Kopf
uͤber dieſen Punkt immer offen . Juͤnglinge und
Toͤchter des Dorfs kamen alle Vierteljahr zuſam-
men , und das einzige Geſez dieſes Ehr- und Freu-
dentags war dieſes , keinen Schandbuben und keine
Schandtochter unter ſich zu leiden . Sie machten
das ſo : ſie hatten ein Spiel , und jagten ſie fort ;
ſie verbanden einander die Augen , ſtanden in einen
Kreis , dann rief eins mit verſtellter Stimme —
Schandleute — Schandleute — ſind Schandleute
da ? Auf den Ruf antworteten die beyden Kreiſe ,
ein jeder beſonder , entweder , es ſind keine da —
oder es ſind da . — Wenn alle ſagten , es ſind
keine da , ſo nahmen die Verbundenen die Binde
vom Auge , und der Reihentanz gieng an : wenn
ſie aber riefen , es ſind da — ſo ſagte der Meiſter
vom Spiel , nennet ſie mit Namen ! dann nannte
wer wollte , mit verſtellter Stimme den Namen ;
und der Meiſter vom Spiel rief wieder , iſts wahr ?
ſaget alle , iſts wahr ? — Wenn dann es rings um
toͤnte , Ja , ja ! ſo mußte der genannte fliehen , da
war keine Gnade — wenns aber laut ertoͤnte ,
Nein , nein ! und der Haufen rings um ſagte , Klaͤ-
ger du luͤgſt ! ſo durfte der Genannte bleiben , und
machte zur Schadloshaltung den erſten Tanz . —
So wirkte Arner mit den Spielen des Volks , wie
mit dem Ernſt ſeiner Vorſorge . Die Aufſeher je-
der Gaſſe mußten bey der geringſten Spur eines
unehrenveſten abwechſelnden Einzugs von jungen
Leuten im Haus einer erwachſenen Perſon , ihrer
Verwandſchaft die Unordnung und Unehrenveſtig-
keit ihrer Auffuͤhrung anzeigen , und ſie von Obrig-
keits wegen auffordern , Sorge zu tragen , daß ſie
keine Unehre erleben .
Er kam auf alle Weiſe der Gedankenloſigkeit
und dem Leichtſinn des Geſchlechts in dieſem Punkte
vor , und reizte ihre Aufmerkſamkeit auf Ehre und
Schande dadurch , daß er beydes ihnen lebhaft und
oft vor Augen ſtellte .
Das erſte Kind einer jeden Ehe hatte ſeine
Ehrentaufe mit vielen Ceremonien — der ganze
Haufen von Juͤnglingen und Toͤchtern umringten
den Taufſtein in ihren Ehrenkleidern ; aber ſie zaͤhl-
ten richtig die Tage ſeit der Hochzeit , und es dorf-
ten nicht gar viele , ich weiß nicht recht wie viel ,
fehlen , ſo kamen ſie nicht : auch die alten Rechte
der Kraͤnzchen wurden wieder erneuert .
Hingegen beſtimmte er dem unehlichen Bey-
ſchlaf keine Strafe . — Er war Volksſchande —
Wer iſt klug , und will mehr aus ihm machen ? Ar-
ner wollte es nicht , aber er hemmte auch den Aus-
druck des Volkgefuͤhls uͤber ſeine Schande nicht .
Die Knaben des Dorfs durften einer Schandtoch-
ter vier Wochen nach der Kindbett einen Zigeuner-
Tanz tanzen ; ſie bauten ihr vor dem Haus eine
Heidenhuͤtte von Tannaͤſten , und Stroh darinn
und Mies zu einem Lager wohl fuͤr ihrer drey oder
vier ; wenn ſie hinein wollten , ſpielten ſie mit ihrer
Zigeunertrommel dreymal nach einander um die
Huͤtte herum einen Heidentanz , und die unordent-
liche Kindsmutter mußte dieſe Huͤtte ſechs Wochen
drey Tage vor ihrer Thuͤr dulden , ſonſt durften
die Knaben ihr eine neue bauen , und wieder trom-
meln und tanzen ; aber das war nicht ſo faſt ſie zu
ſtrafen , als vielmehr die andern zu warnen , daß
keine eine Mutter werde — wie eine Naͤrrin —
oder wie eine Heidentochter .
Glaubet mir , es iſt keine Buß an Geld oder
Leib , die das wirkt , was dieſer Tanz . — Der
liebſte Bub , der bey einer Bonnalerin zu muth-
willig war , bekam zur Antwort , was willt du ? —
mag keinen Heidentanz . — Es behagte vielen Maͤn-
nern und vielen Knaben nicht ganz , daß dieſes
Spruͤchwort den Toͤchtern in Bonnal ſo gar ins
Maul gewachſen . —
§ . 56.
Der Einfluß ſeiner Geſezgebung auf die
Liebe zur Freude , und den Hang zur
Ruhe und zur Ehre .
S o band er jeden Grundtrieb unſerer Natur an
den Zwang des buͤrgerlichen Verdienſts , und an die
Regelmaͤßigkeit der buͤrgerlichen Ordnung . —
So ihre Freuden . — Die Abendſpiele der
Kinder hiengen feſt mit dem recht zugebrachten Tag ,
und mit dem vollendeten Feyerabend zuſammen .
Als die erſte Lehre ihrer Kindheit , praͤgte ih-
nen der Lieutenant die Wahrheit ein , daß nur ver-
diente Freuden wahre Freuden , und hingegen alle
Freuden in den Tag hineingenoſſen , zur Zigeuner-
Ordnung gehoͤren , die ſich fuͤr das Wald- und
Bruder-Leben , aber nicht fuͤr ein braves Haus
in einem ehrlichen Dorf ſchicken .
Es hatten alle Staͤnde , und alle Alter im
Dorf ihren Freudentag . Die Juͤnglinge und Toͤch-
tern hatten , wie ihr wißt , viere im Jahr . — Er
trug zu dieſem Alter beſonders Sorge , und glaubte ,
man koͤnne ihm faſt nicht genug Freude machen .
Er ließ ſie in dieſer Zeit auch in der Religion un-
terrichten , that ſonſt was er konnte , die Kraͤfte ih-
res Geiſts und ihres Leibs in dieſem Zeitpunkt in
reger Thaͤtigkeit zu erhalten .
Alle andere Staͤnde hatten im Jahr einen ſolchen
Freudentag . Die Kinder mußten von den Aeltern und
Schulmeiſtern Zeugniſſe aufweiſen , daß ſie den Freu-
dentag das Jahr uͤber verdienet , ſonſt wurden ſie aus-
geſchloſſen von der Luſt des Tages , und durften
nicht mit den andern ins Schloß kommen , um mit
ihrem ihnen ſo lieben Junker Vater vom fruͤhen
Morgen bis am ſpaͤten Abend Freude zu haben .
Das einzige Geſez dieſes Tags fuͤr alle Staͤnde
war , ihn vernuͤnftig anzufangen . Sie ſaßen in
ihren Kreiſen , unterredeten ſich von den Freuden
ihres Stands und ihres Alters , wie ſie alle , oder
doch ihrer viele , mehr dergleichen haben koͤnnten :
was ihnen dieſe Freuden verbittere , und wie ſie
demſelben abhelfen koͤnnen ; und nahmen dann jaͤhr-
lich einen guten Vorſaz , in dieſem oder jenem
Stuͤck fuͤr die Freuden ihres Lebens vernuͤnftige
Sorge zu tragen .
An einem ſolchen Tage erkannten die jungen
Leute die alte Bauerntracht wieder zu ihrer Hoffarts-
tracht zu machen .
Ein andermal erkannten ſie , den Witwen im
Dorf in der Erndte ihre Aecker zu ſchneiden .
Wieder ein andermal ihren Großvaͤtern , und
jedem grauen Mann , und jeder grauen Frau , meh-
rere Kennzeichen der Ehrerbietung zu geben , als
bisher die Uebung war , und ſie niemals mehr in
der Kirche beym Herausgehen ſo ins Gedraͤng kom-
men zu laſſen , ſondern alle mit einander , wie eine
Mauer , ſtill ſtehen zu bleiben , b i s die ſchwanken-
den Greiſe , und die zitternde Großmuͤtter , außert
der Thuͤre heraus ſeyen .
Es iſt nicht zu ſagen , wie ſehr das die Alten
gefreuet hat .
Eben ſo bog er ihren Hang zur Ruhe ins
Joch der gleichen Ordnung ; reizte von allen Seiten
den Fleiß ; trat der Traͤgheit mit aller Kraft ſeines
Fußtritts auf den Nacken . Die Freuden der Ruhe
wurden durch ſeine Geſezgebung Lohn der Arbeit ,
Folgen der Ordnung , und Genuß von Erholung
nach muͤhſam angeſtrengten Kraͤften . Das Kind
fand ſie nicht , bis es ſein Tagwerk vollendet ; und
Maͤnner und Weiber , die das Werk ihres Lebens
in irgend einem Stuͤck nachlaͤßig thaten , verfolgte
das
das Treiben der alles jagenden Rechnung ; und die
Schande , die auf jede Nachlaͤßigkeit unerbittlich
wartete , brachte den Hang zur Ruhe in denjenigen
Schranken , in die er in der buͤrgerlichen Geſell-
ſchaft hinein muß ; aber dennoch befriedigte er auch
dieſen Trieb unſerer Natur .
Wer Ruhe verdiente , fand ſie ſicher , und
konnte ſie ungeſtoͤrt und ohne Kraͤnkung genießen .
Die Regelmaͤßigkeit ſeiner Verwaltung ent-
fernte die Unruh der haͤuslichen Verwirrung , und
die ſchweren Leiden des Unrechts , der Lohn des
Verdienſts , war jedem Arbeiter gewiß ; und bey
der immer ſteigenden Anſtelligkeit des Dorfs , war
die Muͤhe der guten Beſorgung der Laſt nicht mehr
zu vergleichen , unter welcher die Menſchen in der
alten Zeit und in der Verwirrung ihrer gedanken-
loſen Notharbeit erliegen , und an Leib und Seel
verwildert und verlahmet . Er lenkte den Hang zur
Ruh zum Ziel , ſicherte ihn am feſteſten am Ende
der Laufbahn ; und machte ſeine Bonnaler ſelber
dahin ſtreben , in ihren alten Tagen des friedlichen
Genuſſes ihrer ungeſtoͤrten Erquickung , nach dem
wohl vollbrachten Werk ihres Lebens gewiß zu ſeyn .
So ſchuf er auch dieſen Hang der Natur ,
der im wilden und unverwilderten Leben , die Quelle
der Traͤgheit und die Erſchlappung der menſchlichen
X
Kraͤften , zu einem edeln Trieb ſeiner Thaͤtigkeit
und der Anſtrengung derſelben um .
Nicht weniger befriedigte er den Hang zur
Ehre auch beym armen Mann , der unter dem
zerriſſenen Strohdach in Lumpen gehuͤllt lebt . Er
iſt ein Menſch ; und jeder Trieb der Natur , welchen
du ihm befriedigeſt , macht ihn vollkommner —
und jeder Trieb ſeiner Natur , den du ihm nicht
befriedigſt , laͤßt ihn unvollkommner — und —
Geſezgeber ! was du ihm nicht giebſt , das haſt du
nicht von ihm . — Merk dir das — und rechne
— nicht fuͤr ihn — rechne nur fuͤr dich , und du
wirſt ihm geben , ſo viel du kannſt , damit du ihn ſo
vollkommen brauchen koͤnneſt , als du ihn machen
kannſt .
Arner mangelte ſeinem Volk auch in dieſem
Stuͤck nicht . Er reizte die Ehrliebe des Niedrig-
ſten wie des Oberſten , und band ſie eben ſo feſt ,
als die uͤbrigen Grundtriebe , an das buͤrgerliche
Verdienſt .
Auf die einfachſte Art genoß ein jeder durch die
offene Rechnungen ſeiner Wirthſchaftsbuͤcher Lob ,
Ehre , und Unterſcheidung in allen Stuͤcken , be-
ſtimmt nach dem Maße ſeines Verdienſts . — Nicht
blos ſeine Wirthſchaft allein , die gute Erziehung
ſeiner Kinder , der untadelhafte Frieden mit ſeinen
Nachbarn , die großmuͤthige Sorgfalt fuͤr Arme ,
Kranke , Leidende , kurz , jede gute That , brachte
dem Mann , der ſie that , Lob und Ehre ; denn
Arner hatte eine Ordnung , daß ihm keine derſel-
ben entgieng .
Und er ließ keine unbelohnt .
Der ſchoͤnſte Lohn , den er einem gab , war
vielleicht der , den der Lienhart erhielt . — Der
gute Menſch wagte ſein Leben fuͤr den Friedrich ,
ſeinen Mauergeſellen — als dieſer von einem wan-
kenden Geruͤſt glitſchte , und mit dem halben Leib
ſchon unter das Geruͤſt herab hieng , und ſchwebte ,
ſprang der Lienhart auf die wankenden Balken , bog
ſich zwiſchen weichenden Hoͤlzern hinab gegen den
ſchwebenden Mann , klemmte ſich an ihn an , und
hielt ihn mit wundgequetſchten Arm feſt , bis eine
angeſtellte Leiter ſie beyde rettete .
Er war verwundet , und konnte 4 Wochen nicht
arbeiten . Als er in der fuͤnften zur Kirche kam , waren
drey neue Stuͤhle im Chor gerade dem Junker
zu ; in der Mitte von allen ſtunden mit großen
Buchſtaben die Worte , „ dieſe Stuͤhle ſind fuͤr Maͤn-
ner , die ihr Leben fuͤr ihren Naͤchſten gewagt “ ! —
Und als es verlaͤutet , und der Pfarrer und
alles ſchon in der Kirche war , winkte der Junker
dem Vorſinger , daß er noch nicht ſinge ; dann gieng
der Untervogt aus ſeinem Stuhl die Kirche hinun-
X 2
ter zu dem Lienhart , der in dem hinterſten Stuhle
ſaß , nahm ihm mit ſich an der Hand durch alle
Leute hindurch herfuͤr zum Junker ins Chor —
der Junker ſtund auf , zeigte ihm ſeinen Plaz , und
dann kam ( der Junker hatte es ihm im Geheim be-
fohlen ) auch der Friedrich hervor , und dankte ihm
vor dem ganzen Volk , daß er ihm ſein Leben ge-
rettet .
Selber die Ehre der Todten bey ihrem Grab
war an ihre Verſtienſte gebunden ; mit der einfach-
ſten Wahrheit ließ er noch uͤber ihren Sarg , im
Kreis der Ihrigen , aus ſeinen Buͤchern vorleſen ,
wie viel Kinder ſie erzogen , was ſie aus ihnen ge-
macht , wie ſie in ihren Umſtaͤnden vorwaͤrts ge-
ruͤckt , wie ſie ihr vaͤterliches Erbgut verbeſſert , wie
ſie ihren Kindern Vortheile hinterlaſſen , die ſie in
dieſer Welt nicht genoſſen , und uͤberall , was ſie
fuͤr vorzuͤglich gute Handlungen gethan .
Durch dieſe Feſtknuͤpfung der Ehre an das
Verdienſt , war , indem er den Trieb der Ehre ſei-
nes Volks genugſam befriediget , dennoch auch die
Anmaßungsſucht des verdienſtloſen Stolzes , und
die tropfkoͤpfige Bauern-Einbildung auf das Ab-
ſtammen von Vaͤtern und Großvaͤtern , die viel
Ochſen im Stall , und viel Schulden im Buch ,
uͤberdas noch Maͤntel und Eide am Halſe und am
Ruͤcken tragen , gehemmt , und bekam oft und viel
toͤdtliche Beaͤngſtigungen durch die Vorzuͤge des
wirklichen Verdienſts .
Das iſt der Inbegrif der Geſezgebung Arners ,
durch welche er ſein Volk in Bonnal von Verwil-
derung eines ungezaͤhmten Lebens , und von den
Verirrungen der Grundtrieben der menſchlichen
Natur zu heilen geſucht , um ſie auf der Bahn ei-
ner guten buͤrgerlichen Bildung durch weiſe Be-
ſorgung des Ihrigen zu gluͤckſeligen Menſchen zu
machen , als ſie ohne die Vorſorge ſeiner Geſezge-
bung nicht haͤtten werden koͤnnen .
§. 57.
Religion .
U nd nun ſteige ich zu dir empor , Dienerin
Gottes und der Menſchen ! das Werk ſeiner Geſez-
gebung in deinem Heiligthum zu vollenden .
Wie ein Morgennebel dem Sonnenſtral weicht ,
wenn er vom unbewoͤlkten windſtillen Himmel auf
ihn herabfaͤllt , ſo weicht der wilde Schwarm der
truͤben Trieben unſerer unerleuchteten Natur dem
Stral deines Heiligthums , wann du vom unbe-
woͤlkten windſtillen Himmel auf ihn herabfaͤllſt . —
Geliebte Gottes ! ſeitdem die Erde gegruͤn-
det , und der Menſch auf derſelben ſein nichtiges
X 3
Werk treibt , warſt du die erſte Siegerin der wil-
den Trieben des ungebaͤndigten Geſchlechts . —
Herrſcherinn der Erden ! auf hundert tauſend
Altaͤren opfert die Menſchheit , ſeit dem ſie lebt ,
Dir ihr Opfer ; dann ſeit dem ſie lebt , befriedigt
der Glaube an Gott das Innerſte ihrer Natur ,
und alle Geſchlechter der Erden ſtammeln kniefaͤllig
vor Dir ihre Bitten und ihren Dank ; ſie vereh-
ren jeden Schatten des Bilds deines Gottes , und
beten jeden Fußſtapfen ſeiner Wege ſelbſt im truͤg-
lichſten Koth an .
Der Fels im Meer bricht die Wellen des
Sturms , ſie ſtroͤmen in hohen Wogen raufend ge-
gen ihn an , reißen an ihm Mitten entzwey — und
wirbeln ſchaͤumend in ihrem Tode um ſeine uner-
ſchuͤtternde Kraft — ſo zerreißeſt Du das Raſen
der Macht ; und wie ein Feuerſtrom , der unter
dem Berge gluͤhet , erſchuͤtterſt Du den unermeßli-
chen Boden des Reichthums , wie einen Haufen
nichtigen Staubs .
Herrſcherin uͤber den Sinn des Volks ! Du
bezwingſt den Herrſcher der deiner nichts will .
Unter den Truͤmmern der Erde , und unter
den Wellen des Meers , lobet der Menſch ſeinen
Schoͤpfer ; er erhebt ſich uͤber den Troz ſeiner Na-
tur ; und unter dem Fußtritt der Geſchoͤpfen , und
in der Aufloͤſung ſeines Staubs , nennet er Gott
ſeinen Retter , und lebt im Augenblick ſeiner Zer-
nichtung jenſeits des Grabs .
O geheiligte Gottes ! Du zeigeſt dem Gewal-
tigen in ſeinem Sklaven das Kind des Ewigen . —
Du zwingſt den Tirannen ſein Auge wegzuwen-
den vom Blut ſeines Knechts . — Du machſt ſein
Eingeweide zittern vor dem Recht des Armen und
vor den Thraͤnen des Waiſlins .
Du ſetzeſt der Wuth der Menſchen und ihrem
Unſinn ein Ziel .
Du ſegneſt ihre Miriaden in der Furcht Got-
tes durch die Bande des Friedens , und durch dei-
nen ſanften heiligen Geiſt .
Du erhebeſt den Menſchen uͤber das Unrecht ,
und machſt deine Anbeter die Hartherzigkeit der
Thoren mit Seelengroͤße ertragen .
Du giebſt dem Menſchen Weisheit in ſeinem
Thun , und erhebſt ihn uͤber das Werk ſeiner Haͤn-
den . Du ſtilleſt das Wallen des Bluts und das
Schlagen des bruſtzerſprengenden Herzens .
Du zeigeſt deinem Anbeter in der Nothwendig-
keit — Gott — im druͤckenden Leiden die Liebe
des Vaters ! Du beruhigeſt den Sinn des Er-
ſchlagenen in ſeinem Blut . —
X 4
Dnrch dich vollendet der Geſezgeber ſein uner-
meßliches Werk .
Wie ein gebaͤndigter Loͤwe an der Hand des
Fuͤhrers ſicher einher geht — ſo geht der Menſch
an der Hand deiner Anbetung mit reinem Herzen
einher , als waͤr er nicht der Sohn der Freyheit
und der Koͤnig des Raubs .
Warum ſollte ich ihn nicht ſo nennen bey der
Unermeßlichkeit der Anſprachen ſeiner Natur , beym
unausloͤſchlichen Gewalt ſeiner Trieben fuͤr Freyheit
und Raub ? —
Geheiligte Gottes ! ohne Dich baͤndiget kein
Geſezgeber den Sohn der Freyheit und den Koͤnig
des Raubs . —
In den Banden der Macht wird der Loͤwe zur
Schlange , die jeder Feſſel entſchluͤpft ; er windet
ſich unter dem Boden der Thuͤrmen und durch
der Mauern vermooſete Ritzen hindurch , und bleibt
in ihren Banden , heiligeſt Du ſie nicht , was er
vorher war — der Sohn der Freyheit , und der
Koͤnig des Raubs , aber mit giftigerer Zunge . —
Im Innerſten des Menſchen tobet ein ewiger
Aufruhr gegen Nothwendigkeit und Pflicht — aber
die Kraft deiner Anbetung beruhiget das Toben des
ewigen Aufruhrs ; und , verbunden mit weiſer Bil-
dung des Staats , kommt der Menſch an deiner
Hand dahin , daß er ſeyn will , was er ſeyn muß . —
Er erhebt ſich in deiner Liebe , daß er ſich opfert ,
und im Ueberwinden ſeiner tobenden Trieben ſeine
Vollkommenheit findet .
Allmaͤchtige ! darum vollendet kein Geſezgeber
ſein Werk ohne Dich ; und darum ſteigt Arner em-
por , und naͤhert ſich deinem Altar .
Er kommt zu Dir , geheiligte Gottes ! aber
nicht wie deine Gewaltige und deine Streiter , an-
gethan mit dem Harniſch ſeiner Meynungen — er
kommt zu Dir wie ein Armer , und bringt in der
ſtillen Stunde ſeines demuͤthigen Dienſts ein heiliges
Opfer , das Bild der Ordnung und der Ewigkeit .
Nimm es gnaͤdig auf , Dienerin Gottes ! und
lehre die Menſchen immer mehr Zeit und Ewigkeit
in Eins verbinden , und Gott und dem Staat auf
gleichen Altaͤren dienen .
Arner ſah die Uebereinſtimmung der Endzwe-
cken einer wahrhaft weiſen Geſezgebung mit den
Endzwecken einer wahrhaft weiſen Religion — und
die innere Gleichheit der Mittel , unſer Geſchlecht
durch eine gute buͤrgerliche Bildung zu veredeln ,
mit den Mitteln , daſſelbe durch den Dienſt des
Allerhoͤchſten zu vervollkommen . —
§. 58.
Aberglauben und Abgoͤtterey .
A ber er kannte auch den Geiſt der Pfafheit Anmerkung . Muß ich hier widerrufen ?
Verzeihet ! ich werde bald muͤde . Ao. 1520-
30 machte man wenige Komplimente mit dem
Aberglauben und die ihn beguͤnſtigenden See-
lenſtimmung , und ihn naͤhrenden Form des
Gottesdienſts . Der Misbrauch der buͤrgerli-
chen Gewalt heißt in der Volksſprache Tiran-
ney , und die Naͤherung der Seelenſtimmung
zu dieſem Misbrauch tiranniſcher Sinn . —
Aber in der Volksſprache iſt kein Ausdruck , den
Misbrauch der kirchlichen Gewalt , und die
Naͤherung der Seelenſtimmung zu dieſem Mis-
brauch zu bezeichnen . — Merk dirs Volk ! du
haſt kein Wort in deiner Sprache , den Unwillen
gegen die Bande der Seelen und die Knecht-
ſchaft des Geiſtes auszudruͤcken , wie du deinen
Unwillen gegen den Misbrauch der buͤrgerli-
chen Gewalt ausdruͤckſt — und nimm , wenn
du kein beſſers weißeſt , die Woͤrter Pfafheit
und Pfaffenſinn in deine Sprache auf , wie du
die Worte Tiranney und Tirannen Sinn darin
aufgenommen — dieß iſt meine Entſchuldi-
gung . — Fodert ihr mehr Schonung als Fuͤr-
ſten — ſo redet ! Gott braucht keine Scho- —
und namenloſe Dienerin des Aberglaubens ; er
achtete dich nicht als waͤreſt du Gott — !
Er leckte den Staub nicht von deinen Fuͤßen ,
Knecht aller Knechten ! Er ſah wem du dienſt . —
Truͤgerin ! ſo lang die Welt ſteht , misbrauchſt
du den Glauben an Gott , die Menſchen zu der
Thorheit und zu dem Sinn eines abgoͤttiſchen
Sinns zu lenken . —
Du fuͤlleſt ihre Gedanken mit Bildern von
Gott ; und du machſt das Spintiſiren deiner heißen
Stunden zu Offenbarungen des Allmaͤchtigen .
Du loͤſeſt den Guͤrtel auf der die Erde verbin-
det — er iſt Liebe Gottes — und du bindeſt deine
Haufen mit den Stricken deiner Meynungen . —
Du ſetzeſt den Menſchen mit dem Schlangen-
gerippe verfaͤnglicher Worte , im Namen Gottes ,
das Schwert an die Kehle ; und trittſt mit deinem
Buchſtabendienſt die Menſchen in Staub , die an-
ders denken als du . —
Du ſchleichſt den Fuͤrſten nach , um deſto beſſer
Gott alſo zu ehren ; du brauchſt die Schwaͤche der
Koͤnige , und die Heucheley der Hoͤfen , deinem
Glauben aufzuhelfen .
nung , und ihr — doͤrfet nicht mehr fodern ,
als mit der buͤrgerlichen Sicherheit der Men-
ſchen beſtehen kann — Prieſter des Gottes-
dienſts — ! —
Du bringſt der ewigen Weisheit die Dumm-
heit der Gewaltigen , und des Ewigen Liebe die
boͤſen Gewiſſen der Maͤchtigen zum Opfer .
Du nimmſt den Menſchen in der Stunde ih-
rer Anbetung gefangen . —
Du entmanneſt die Soͤhne des Staats , und
machſt den Prieſter zum Koͤnig . —
Seit dem die Welt ſteht , haſt du die Erde
erſchuͤttert . —
Seit dem die Welt ſteht , haſt du den Koͤnigen
Ketten gegeben wider den Menſchen , und den
Menſchen Schwerter wider die Koͤnige . —
Wie in ſtillen Meeren ein ſicheres Schif an
unſichtbaren Felſen ſcheitert , ſo ſcheitert die Menſch-
heit an unſichtbaren Klippen . —
Wie in den Eingeweiden der Bergen und Huͤ-
geln erkalteter Aſchen ein Feuerſtrom lebet und gluͤ-
het , ſo lebet und gluͤhet Unreine ! in der Nacht dei-
nes unergruͤndlichen Dienſts das Feuer der wilden
Natur . —
An den Ketten des Aberglaubens ſtirbt nicht der
Leidenſchaften Gewalt — und der Sohn der Frey-
heit , und der Koͤnig des Raubs , wird an den Al-
taͤren der Dummheit nicht reines Herzens — und
der Laſtern inneres Raſen hebt keine geheimnisrei-
che Weihe . —
Der Pfafheit gebundener Sinn naͤhret das
Laſter — und des Goͤzendienſts ſinnenbehagliche
Feyer iſt wie Minnengeſang jedem Naturtrieb . —
Truͤgerin ! du fragſt das Waiſlin , kennſt du
meinen Gott ? Und den Unterdruͤckten , kannſt
du meinen Glauben auswendig ?
Auch deine Liebe iſt an deinen Goͤzen gebun-
den . Du zerreißeſt die Bande des Friedens ob ei-
nem einzigen Wort . —
Du bindeſt die Sicherheit und den Wohlſtand
des Staats , wie das Allmoſen des Bettlers , mit
Gefaͤhrde an deiner Meynungen Dienſt . —
Du verunglimpfeſt außer ihm alle Quellen der
Weisheit , und des haͤuslichen und buͤrgerlichen
Wohls , und nenneſt deinen Glauben den allein ſe-
ligmachenden . —
Heuchlerin ! du ſagſt , du verdammeſt nicht !
was ſollen denn die andern , wenn nicht ſelig machen ?
Wann du redſt , ſo haſt du Vorbehalt in dei-
ner Seele ( Reſervatio mentalis . )
Du weheſt die Fahne des Mords , als waͤren
ſie Fahnen der Liebe .
Kennerin des Elends — ! du rufeſt die Ver-
wahrloſeten zu deinem truglichen Troſt — du lo-
beſt ſie in ihrer Noth , und rufſt ſie mit der Stimme
der armen verwaiſeten Kuͤchlein unter deine eiſer-
ne Fluͤgel ; und wann der Moͤrder Weih uͤber ih-
rem Haupt fliegt , folgen ſie in der Angſt gern und
kopflos deiner Simme , und werden erdruͤckt . —
Der Sohn der Freyheit , und der Koͤnig des
Raubs , iſt dein Getreuer ; und du nutzeſt die Ver-
wirrung des Staats , und die Schulden der Großen ,
und den Bettel der Armen zu deinem Dienſt . —
Selbſt der fromme Sinn der Tugend wird dein
Knecht . Wem du den Kopf nimmſt , der dienet
dir ; wenn du dem verwahrloſeten Volk , das wie
ein Rohr vom Wind getrieben wird , und wie ein
Schifbruͤchiger , der nach jeder Staude langt , deine
Hand darſtreckſt , ſo haſt du es gefangen . —
Du biſt den Menſchen kaum ein wenig minder
worden als Gott ; und dein Dienſt geht den Voͤl-
kern der Erde uͤber den Dienſt des Allerhoͤchſten . —
Du ſchwingſt dich , Giftige ! dem Geſezgeber
an den Buſen — und giebſt ihm den Tod , wenn
du fuͤhlſt , daß ſein Innerſtes nicht fuͤr dich , und
der Sitz in ſeinem Schoos dir nicht ſicher ſeyn
ſollte . —
Das haſt du immer gethan ! —
§. 59.
Wodurch Arner das Volk vor dem Aber-
glauben bewahrt .
A rner kannte dieſen Sinn der Pfafheit — und
ſoͤnderte den Endzweck der Kopfsbildung von dem
Endzweck des Religions-Unterrichts . —
Er fand , der lezte ſey nun einmal lang ge-
nug zu dem misbraucht worden , wozu er nicht
taugt .
Er trennte die Gottsgelehrtheit vom Volks-
Unterricht , in ſo fern er Kopfuͤbung und buͤrgerli-
che Geiſtesbildung ſeyn ſoll , und wollte ſein gutes
Volk durch den Katechismuskram , uͤber die Lehr-
ſaͤtze der ſchwierigſten aller Wiſſenſchaften , nicht
zum Dienſt der Pfafheit ſo dumm und anmaßlich
machen , als alle Voͤlker der Erde , vom Strande
des Indus bis zu den beyden Polen , zum Dienſt
der Pfafheit anmaßlich und dumm werden muͤſſen ,
wenn man die Grundlage ihrer Kopfbildung und
Geiſtesrichtung durch die Erklaͤrung ihrer Religions-
lehre erzielen will . —
Alles Wiſſentſchaftliche in der Religion iſt
menſchlich , und eine eigentliche Kunſtſache . Ken-
ner ſind Richter — und es iſt Gefaͤhrde und Ver-
ſuch zum Aufruhr , wider die Rechte der Wahr-
heit , das Wiſſentſchaftliche in der Religion vor das
Volk zu bringen , und vor ihm , als waͤr es der
Richter , daruͤber zu plaidiren ; ſo gut als es Ti-
ranney iſt , das Urtheil uͤber dieſes Wiſſentſchaftli-
che in der Religion der buͤrgerlichen Macht zu un-
terwerfen .
Der Dienſt des Allerhoͤchſten iſt von wiſſen-
ſchaftlichen Meynungen uͤber Religionsſachen un-
abhangend ; und das Volk ſoll vom Altar weg
nicht behelliget werden mit irgend einer Streitigkeit
der Prieſter .
Laͤßt man es zu — ſo giebt man den Kopf
des Volks in die Hand des Prieſters — und ver-
zeihet mir ihr Fuͤrſten ! aber ich glaube , wer den
Kopf des Volks in ſeiner Hand hat , der iſt auch
ſeines Kopfgelds ſicher wenn er will ; die Sache
hat nicht kleinen Reiz aus ihren Wirkungen zu
ſchließen .
Menſchheit ! auf allen Blaͤttern ruft die Ge-
ſchichte , du toͤdteſt eher die Thiere der Erde , und
vertilgeſt eher die Fiſche im Meer , als die Macht
der Prieſter und den Sinn ihrer Pfafheit , wenn du
das Wiſſentſchaftliche ihres Religions-Unterrichts
zur Grundlegung der Kopfbildung des Volks machſt .
Die Kopfbildung des Volks iſt die Sache ſei-
ner haͤuslichen und buͤrgerlichen Sicherheit , und
alſo
alſo Staatsſache — und als ſolche muß ſie noth-
wendig unabhangend vom Religions-Unterricht er-
zielt , und in dieſem Geſichtspunkt mit Feſtigkeit
von demſelben getrennt werden .
Noch einmal : der Glaube an Gott , und die
Lehre ſeines Dienſts , iſt nicht zur Vernunftlehre be-
ſtimmt , und nicht dazu gut .
Der Glaube an Gott , und die Lehre von ſei-
nem Dienſt , iſt fuͤr das Volk nicht die Sache ſeines
Kopfs , ſondern ſeines Herzens . — Gemuͤthsruhe
im Dunkel ſeiner Nacht — Ergebenheit in den
Willen Gottes im Thal von Thraͤnen , und ein kind-
liches Aufſehen auf den Herzogen und Vollender
des Lebens — das iſt die Beſtimmung des Glau-
bens , aber nicht Kopfuͤbung fuͤrs Volk .
Die ganze Bibel , von Anfang des erſten Buch
Moſes bis zur Offenbarung Johannes — und bis
zum „ Heilig , heilig , heilig iſt das Lamm , das
geſchlachtet iſt “ , iſt nicht zur Kopfuͤbung des Volks
beſtimmt , und taugt nicht dazu . Anmerkung . Ich rede beſtimmt vom
Volk . Der Gelehrte mag in der Bibel freylich
Stof zur Kopfuͤbung finden , ich wende nichts
dawider ein .
— Mag es Maulchriſten emvoͤren — ich
achte es nicht — dieſes Geſchlecht empoͤrt alles , was
V
kalt und was warm iſt . — Darum hat aber auch
der , ſo die ſieben Leuchter hat , den Engel ſeiner
großen Gemeinde aus ſeinem Munde ausgeſpeyt ,
und ihn hingeworfen zu zertreten , fuͤr jedermann ,
der vorbey geht — was ſoll mir alſo ſein Aerger ? —
Der Aberglaube findet in den Umſtaͤnden der
Zeit unermeßliche Nahrung . — Die Seelenſtim-
mung der Menſchen wird taͤglich mehr ſchwankend
und traͤumend . — Das Fundament eines vernuͤnf-
tigen Gottesdienſts — die Vernunft des Volks —
und eine feſte , ruhige , biedere , gleichmuͤthige und
bedaͤchtliche Geiſtes-Richtung , ſchwindet vor un-
ſern Augen . —
Seys Zufall oder Hinderliſt — ich weiß es
nicht , und unterſuche es nicht — aber wahr iſts —
die Seelenſtimmung der Menſchheit neigt ſich zu
der Schwaͤche des Aberglaubens .
Der Misbrauch der Bibel und der Glaubens-
lehre , zu dem , wozu beydes nicht taugt , wird
lebhafter als er je war .
Die Hinlenkung der Volksſtimmung zu Be-
guͤnſtigung eines uͤberwiegenden Einfluſſes der Kraͤf-
ten der Einbildung gegen die Kraͤfte des Verſtan-
des —
— Die allgemeine Reizung des poetiſchen
Sinns , und auf dieſen poetiſchen Sinn gebaute
Kopffuͤllung der Menſchen mit bildreichen Reli-
gionslehren , und die Hinlenkung ihres Geiſtes , ſol-
che Meynungen als Vorſchritt in wiſſenſchaftlicher
Erleuchtung — und als Gegenſtand ihres Nachden-
kens , ihrer Unterſuchung und ihres Forſchens im
Kopf herum zu tragen —
Das alles — wenn es ſchon freylich nicht den
geraden Weg zu aberglaͤubiſchen kirchlichen Lehrſaͤ-
tzen fuͤhrt — fuͤhrt dennoch ſicher zu einer Seelen-
ſtimmung , die das Innere der Abgoͤtterey und des
Aberglaubens beguͤnſtigt , und das Volk einem je-
den Religionsverfuͤhrer in die Haͤnde ſpielt , der im
Stand iſt , daſſelbe zu einem ſchwaͤrmeriſchen Glau-
ben an ſeine Lehre , und zu einer fantaſtiſchen An-
haͤnglichkeit an ſeine Perſon zu verleiten . —
Noch einmal : ich weiß nicht , ob es wahr iſt ,
was man ſagt , daß dem Volk wirklich planmaͤßige
und gefaͤhrdvolle Glaubensſchlingen gelegt werden :
aber das weiß ich , daß eine Seelenſtimmung be-
guͤnſtigt wird , die es , wenn ihm ſolche Schlingen
gelegt wuͤrden , ſchaarenweis darein zu ſpringen ,
ſicher verleiten wuͤrde . —
Das weiß ich . — Aber ich verarge es denen
nicht einmal , die es thun , und die wenigſten wiſſen
was ſie thun , und tagloͤhnen meiſtens am Werk
der Frommkeit mit ehrlichem Sinn , ohne weder
V 2
zu ahnden , noch zu verſtehen , wohin die Seelen-
ſtimmung , welche die Art und Weiſe ihrer Glau-
bensform beym Volk hervorbringen , daſſelbe fuͤh-
ren koͤnnte . —
Das Geheimnis der Abgoͤtterey ſizt auf einem
heiligen Dreyfuß , und mitten , in dem es den Men-
ſchen fuͤr alles , was es ihm entreißt , ſtockblind
macht , giebt es ihm Luchsaugen fuͤr das was er
ſehen muß , um anhaͤnglich zu bleiben , und ſchließt
ſich immer von allen Seiten an viel Auffallendes ,
dem Menſchenſinn und dem Volksgefuͤhl Auffallen-
des , Wahres und Gutes an — und es liegt in
unſerer Natur , die verwahrloſete und leidende , ſo
wie die traͤumende Menſchheit , wirft ſich ſo lange
in die Arme der gegen die Leidenden immer Theil
nehmend , gegen die Verwahrloſeten immer ſorg-
faͤltig erſcheinenden Abgoͤtterey , ſo lang ihr nicht
entgegen geſezt wird , was mehr Realitaͤt hat , als
eine zwar ſo geheißene vernuͤnftige Religionslehre ,
die aber nichts weiter leiſtet , als daß ſie mit gro-
ßem Gepraͤnge eine mehrere Richtigkeit in den Aus-
druͤcken uͤber Glaubens-Meynungen , die das Volk
richtig oder unrichtig gleich nicht verſteht , zum We-
ſen der gottesdienſtlichen Verehrung macht , und in-
deſſen durch das ſchwerfaͤllige Schleppen des Heer-
wagens dieſer Worterklaͤrungen den Prieſtern dieſes
neuen Dienſts , Zeit , Aufmerkſamkeit und See-
lenſtimmung raubt , den weſentlichen Pflichten des
wahren Gottesdienſts mit Erfolg obzuliegen , der
Verwahrloſung der Menſchen vorzukommen , die
Qualen der Leiden abzulenken , und den Traͤumer-
ſinn ihres Lebens durch weiſen Einfluß auf ihr buͤr-
gerliches Leben zu entkraͤften . —
So lang es ſo iſt , und das Volk beym ſchwaͤr-
riſchen , unerleuchteten Prieſter fuͤr ſich mehr findet ,
als bey dem , der ihm beweiſen kann , daß der an-
dere ſchwaͤrmt , ſo bleibt das Volk natuͤrlich auf der
Seiten des leztern . — Auch laſſen die Prieſter des
Aberglaubens die guten Maͤnner , die nach Weis-
heit fragen , mit ſichtbarer Verachtung reden , was
ſie nur wollen , und bleiben indeſſen Meiſter des
Volks , und derer , die ſie zu ihrem Volk machen . —
So iſt es — die Maͤnner , die nach Weisheit
fragen , verſtehen ſich nicht das Volk zu fuͤhren ,
und ihren Reformationsgeiſt anſteckend zu machen ,
wie der Aberglaube , und das iſt ein großer Fehler . —
1520 war es nicht ſo ; der Reformationsgeiſt
war damals anſteckender als der Aberglaube , weil
er wohlthaͤtiger war als dieſer , und die einzelnen
Menſchen im Lande auffallend an Leib und Seele
weiter brachte , als ſie unter der Moͤnchs-Huth
nicht kommen konnten .
Der damalige Reformationsgeiſt belebte die
Kraͤfte des Verſtands , er erhoͤhete das Streben nach
V 3
leiblicher und geiſtlicher Sicherheit , Unabhaͤngigkeit
und Freyheit ; er pflanzte eine allgemeine Aufmerk-
ſamkeit der Menſchen auf ſich ſelber , eine allge-
meine Sorgfalt derſelben fuͤr die Ihrigen und
das Ihrige ; er verband den Sinn der Liebe
mit thaͤtigem Beſtreben nach den Mitteln wirklich
helfen zu koͤnnen , und ward ſo die Quelle einer
Induſtrie , die , verbunden mit dem Sinn der
Frommkeit dieſer Zeit , eine Sparſamkeit und
Hausordnung hervorbrachte , deren Folgen die buͤr-
gerliche Verfaſſung Europens weſentlicher aͤnderte ,
als die Meynungen der Reformatoren den Kirchen-
zuſtand dieſes Welttheils veraͤnderte . —
Ich bin weitlaͤuftiger als gewohnt , weil in die-
ſem Geſichtspunkt die aͤchten Mittel gegen die Hin-
derniſſe des Vorſchritts , die der wahren Erleuchtung
und Veredlung des Menſchengeſchlechts in den Weg
gelegt werden , auffallen .
Es iſt Beduͤrfnis der Zeit , daß der aͤchte Geiſt
einer wahrhaft weiſen und gefaͤhrdloſen Fuͤhrung
des Volks tief und mit Sorgfalt erforſcht —
Daß der Kopf des Menſchen nicht hindange-
ſezt —
Daß der Trieb der Selbſterhaltung , mit Kennt-
niß von Mitteln , und mit Uebung von Fertigkeiten
gepaaret werden , die den Menſchrn in der Ord-
nung des buͤrgerlichen Lebens ſicher ſtellen und be-
ruhigen —
Daß den Quellen ihrer erſten Naturfehler ,
namentlich ihres Leichtſinns , ihrer Gedankenloſig-
keit , und allen Folgen ſeines unordentlichen und
ungebildeten Zuſtands vielſeitig und mit Weisheit
und Kraft entgegen gearbeitet werde —
Daß in Abſicht auf die Bildung des Menſchen ,
auf ihren Kopf , auf ihre Haͤnde und Fuͤße , und
nicht auf ihr Herz abgeſtellt werde —
Daß der Wohlſtand der buͤrgerlichen Haͤuſer
nicht an ihren Glauben , noch weniger an die nich-
tigen Menſchenwerke ſeiner aͤußern Huͤlle gebunden ,
und dadurch vom Prieſter abhaͤnglich werde —
Daß die Geiſtes-Richtung des Volks , und ſeine
innerſte Stimmung bedaͤchtlich , kaltbluͤtig , vor-
ſichtig , und auf einen merklichen Grad mistrauiſch
gemacht werde .
Daß alle Arten von Traͤumerſtimmung , in-
ſonderheit die Lebhaftigkeit des Miſchmaſch-Gefuͤhls
von Elend und Gluͤckſeligkeit , in welchen die Men-
ſchen in einer Stunde bis zur Erhabenheit dichte-
riſch und bis zum Schrecken gichteriſch erſcheinen ,
durch den Ton und die Sitten der Zeit Hinderniſſe
in ihrer Anſteckung finden . —
Y 4
Mit einem Wort , daß die Bildung und Erhe-
bung aller wahren Kraͤften unſerer Natur beguͤn-
ſtigt , und ihre Abſchwaͤchung , ſo wie ihre Verwil-
derung , verhuͤtet werde . —
Arner ſuchte dieſem Beduͤrfnis der Zeit Genuͤ-
gen zu thun , indem er die buͤrgerliche Fuͤhrung
und die Kopfsbildung ſeiner Bonnaler ganz von
ihrem Glaubens-Unterricht ſoͤnderte ; dem erſten
ganz unabhangend vom lezten , durch die Kraft
ſeiner Geſezgebung , ein Genuͤgen leiſtete . —
§. 60 .
Ein Wort uͤber das Beduͤrfnis des Got-
tesdienſts zur wahren Volksaufklaͤ-
rung .
A ber ſo wie er der Schwaͤrmerey , und dem ſich
unter das Joch der Abgoͤtterey ſchmiegenden Aber-
glauben entgegen arbeitete , ſo kannte er auch die
Unvollkommenheit und Ungenuͤgſamkeit einer blos
buͤrgerlichen Bildung .
Er wußte und ſagte , keine geſezgeberiſche Weis-
heit hebt die Quelle des ewigen Elends der Erde
ganz auf , und die beſte buͤrgerliche Stimmung iſt
nicht genug , den Sinn des Menſchen zu derjenigen
Veredlung zu erheben , deren er bedarf , um real
beruhiget zu ſeyn . — Das bloße Anbinden deſſel-
ben an die Nothbeduͤrfniſſe der Erde erdruͤckt ſein
Herz . Im Schweiß ſeines Angeſichts , und im Ge-
wuͤhl ſeines Staubs , erhebt er ſich nicht uͤber ſich
ſelbſt , noch weit weniger uͤber das Unrecht , und
im Werk ſeiner Haͤnden vergraben , ſtirbt er als
ein Tagloͤhner des Koths . —
Arner fuͤhlte das Beduͤrfnis , die Veredlung
des ſchwachen , traͤgen , und ſo leicht ſinkenden ,
und ſo gern an der Erde klebenden Menſchen durch
den Dienſt des Allerhoͤchſten zu erzielen , zu vollen-
den — verſaͤumte desnahen nicht , mitten , in dem
er alles that , den Geiſt der Abgoͤtterey , und eines
gefaͤhrdvollen Einfluſſes der Geiſtlichkeit auf die
Kopfsbildung des Volks und ſeine buͤrgerliche Si-
cherheit und Rechte zu hindern , eben ſo ſorgfaͤltig
ſein geliebtes Volk durch den Segensgenuß der rei-
nen Anbetung Gottes , durch rege Dankbarkeit ge-
gen ſeinen erhabenen Sohn , durch Treu und kind-
liches Beſtreben nach den Gaben ſeines ſanften rei-
nen heiligen Geiſtes , zu derjenigen Vollkommen-
heit zu erheben , deren die Menſchheit faͤhig , wenn
ſie in Verbindung einer feſten , weiſen , buͤrgerli-
chen Bildung noch die Segensſtimmung edler , rei-
ner und ungefaͤlſchter Anbetung Gottes genie-
ßet . —
So machte er die Religionslehre zum Schluß-
ſtein des Werks ſeiner Geſezgebung , die er auf das
Fundament der feſten und vollendeten Mauern ei-
ner weiſen buͤrgerlichen Bildung gebauet . Er hatte
aber auch den Pfarrer dazu , ſein Werk alſo zu be-
ſchließen . —
Bonnal ſah dieſen Edeln , in der Mitternacht-
ſtunde am Todbette der Menſchen — vor Aufgang
der Sonnen auf den Wegen zu den zerſtreuten fer-
nen Berghuͤtten ſeines Dorfs — in der Mittag-
ſtunde bey der hungernden Witwe — am Abend
im Kreis der Kinder des Dorfs — in jeder Stun-
de des Tags am Ort , wo ihn ſeine Pflicht hinrief ,
und der leiſeſte Wunſch eines Menſchen in ſeinem
Dorf war ihm Ruf ſeiner Pflicht , ſo bald er ihn
ahndete . — Und auf dieſem Gottesdienſt ſeines
Lebens ruhete und gruͤndete ſich der Dienſt ſeiner
oͤffentlichen Lehre , die meiſtens in einfachen , aber
Seel erhebenden Lobpreiſungen und Dankſagungen
fuͤr die Wohlthaten Gottes beſtunde , und durch
ihre , das Innere unſerer Natur erhebende und
veredlende Wirkung , das Beduͤrfnis nach Wort-
erklaͤrungen und großen Reden uͤber Pflicht und
Meynungen bey ſeinen Bonnalern immer mehr
verminderte . Er dachte und ſagte hieruͤber die
Worte Chriſti : „ Wenn dein Auge heiter iſt , ſo iſt
auch dein ganzer Leib heiter “ , und redete wenig
mit dem Volk , und redete viel lieber und viel mehr
mit einem jeden allein ; und that er es , ſo that er
es nichts weniger als ununterbrochen , ſondern
wandte ſich mitten in ſeinen einfachen Volksreden
bald an dieſen , bald an jenen , trat mit ihm auf
die natuͤrlichſte Art ins Geſpraͤch ein , wie ein Haus-
vater , wann er mit ſeinen Hausgenoſſen redet . —
Er ſtellte Maͤnner auf , die in Feld oder Vieh Un-
gluͤck gehabt — Mutter , deren Kinder , und Kin-
der , deren Muͤtter geſtorben — Mit einem Wort ,
er nuͤzte die Vorfaͤlle der Zeit , und die Umſtaͤnde ,
die Eindruck auf einzelne Menſchen in der Gemeinde
gemacht . Dieſe Eindruͤcke zu berichtigen , zu ver-
edeln und gemein zu machen , Weisheit , Gottes-
furcht , und Gottes Ergebenheit , durch die Kraft
derſelben in ſeinem Volk immer mehr auszu-
breiten .
Er meynte nichts weniger , als daß es etwas
Feyerliches und Großes ſey , auf der Kanzel allein
zu reden ; es duͤnkte ihn vielmehr , es ſey unnatuͤr-
lich , und zeige vielweniger Verſtand , als wenn man
im Stand ſey , das , ſo man ſagt , dem Volk ſo an-
zubringen , daß es im Augenblick ſelber ins Geſpraͤch
eintrete , und dem Lehrer Schritt fuͤr Schritt in
dem , was er mit ihm redt , Fuß halten kann .
Er glaubte , das ſey das Siegel und Zeichen der
wahren Kraͤften eines Volkslehrers , und das aͤchte
Fundament aller wahre Volkserbauung . —
Nachmittag war ſein Gottesdienſt gaͤnzlich
Nichts , als eine Unterredung mit dem Volk . Er
ſtund im Kreis ſeiner Dorfkinder , denen dieſe Volks-
Unterredungen zu ihrem Religions-Unterricht die-
nen mußten . Die ganze Gemeinde war in ſechs
und zwanzig Abtheilungen abgetheilt ; alle Ge-
meindsgenoſſen mußten jaͤhrlich zweymal nach der
Ordnung dieſer Abtheilungen , vom aͤlteſten Greiſen
an bis zun ſiebenjaͤhrigen Kindern , zum Altar her-
fuͤr ; er redete dann mit ihnen im Kreis dieſer Dorf-
kinder , nach der Form eines von ihm und dem
Lieutenant aufgeſezten natuͤrlichen Volks- und
Dorfs-Unterricht , von Gott , den Pflichten und den
Umſtaͤnden des Lebens . Er trat izt in die Umſtaͤn-
de der Leuten , die er genau kannte , hinein ; machte
Alte und Junge jede nuͤtzliche Erfahrung , die ſie
in ihrem Kreis gemacht , erzaͤhlen , ließ dann die
andern mit ihnen ins Geſpraͤch eintreten , wie auch
ſie an ihrem Plaz die Erfahrungen benutzen , oder
wie auch ſie in ihren Kreiſen aͤhnliche Erfahrungen
gemacht haben . —
Es war ihm nichts zu klein . Ein Kind , das
gegen eine Geiß , die ihns geſtoßen , vernuͤnftig oder
unvernuͤnftig gehandelt , war eben ſo gut , als eins ,
das das ſchoͤnſte Loblied auf Gott auswendig ge-
lernt , ein Gegenſtand ſeines Religions-Unterrichts ,
und mußte ſo gut von ſeiner Geiß und ſeiner Auffuͤh-
rung gegen ſie mit ihm reden , als eines , das ſei-
nem kranken Großvater abwartete , und von ſeiner
Krankheit mit ihm reden mußte .
So band er durch die Art ſeines Religions-
Unterrichts jede Weisheit des Lebens an die Kraft
ſeiner gottesdienſtlichen Lehre , und zeigte von allen
Seiten den Zuſammenhang des Einfluſſes einer
durch gute Staats-Einrichtungen den Menſchen
verſicherten Hausweisheit , auf die Realitaͤt ſeiner
Gottesfurcht und ſeiner Menſchenliebe . Auch dankte
er in ſeiner Kirche oͤffentlich Gott fuͤr die Einrich-
tungen , Geſeze und Anſtalten Arners , durch wel-
che ſie auf eine ihrer Natur ſo angemeſſene Art ,
zur wahren Erkenntnis ihrer ſelbſt , zu realer , wirk-
ſamer und thaͤtiger Liebe ihres Naͤchſten , und zu
einer ungeheuchelten Anbetung Gottes erhebt und
tuͤchtig gemacht werden .
§ . 61.
Seine Feſtform ruhet eben ſo auf Bauern-
geiſt und Bauernordnung , als ſie die
Endzwecke eines weiſen Geſezgebers ,
und diejenige eines frommen Religions-
Lehrers vereinigt , und auf die eigent-
liche Individual-Lage derjenigen Men-
ſchen gebauet iſt , welche das Feſt feyern .
S o wie dieſer gute Pfarrer in ſeinem taͤglichen
Thun , und in der ſtuͤndlichen Erfuͤllung ſeines
Stands- und Berufspflichten , dem Leichtſinn und
der Gedankenloſigkeit , als den erſten Quellen ihrer
Fehler und Schwaͤchen , und den erſten Hinder-
niſſen ihrer wahren Veredlung , durch den Geiſt
und die Kraft ſeiner gottesdienſtlichen Fuͤhrung ent-
gegen arbeite , ſo that er dieſes beſonders an den
heiligen Feſten .
Am ſtillen Abend , vor der Feyer eines heiligen
Tages , verſammelte ſich das Volk ſeiner Gemeinde
vor den Kirchen auf dem Kirchhof , ein jedes bey
der Ruheſtaͤtte der Seinigen ; dann kam auch er ,
kniete auf das Grab ſeines Vorfahrs , und ſagte
zum Volk : „ Erinnert euch derer , die vor euch ge-
lebt , und hoͤret die Worte der Wahrheit , die ſie
mit euch geredt haben aus ihren Graͤbern ! “ —
Dann laͤuteten alle Glocken ; das Volk und der Pfar-
rer blieben eine Viertelſtunde auf den Graͤbern ih-
rer Vordern in ihrer Andacht ; dann gieng die Ge-
meinde in die Kirche ; alle Aeltern fuͤhrten ihre
Kinder zu ihm hin , zum Altar . Nachdem der
ganze Kreis der Kinder um ihn her geſtellt war ,
ſagte er in Mitten dieſer Kinder zu der Gemeinde :
„ Erinnert euch derer , die nach euch kommen wer-
den , und bittet Gott , daß ihr nichts an ihnen ver-
ſaͤumet “ ! dann bog er ſich nieder , betete im Kreis
der um ihn her knienden Kinder laut fuͤr die Nach-
welt des Dorfs , deren Fuͤhrung und Bildung der
liebe Gott in ihre Haͤnde gelegt ; die ganze Ge-
meinde kniete mit ihm , und betete ihm nach fuͤr
ihre Kinder , und wann er endete , ſo ſprach alles
Volk ihm nach das Wort Amen ; dann nahmen die
Aeltern ihre Kinder vom Altar weg an ihre Hand ,
fuͤhrten ſie bis außert die Kirchen , und ließen ſie
heimgehen ; ſie aber blieben noch in der Kirche ,
und der Pfarrer fieng dann die Pruͤfungsſtunde
dieſes Abends an .
Die Ordnung dieſer Pruͤfungsſtunde iſt dieſe :
Zu erſt betete der Pfarrer niedergebogen vor dem
Kreuz Jeſu Chriſti ſtill ; dann ſtund er auf , las
mit lauter Stimm : das iſt die Pruͤfung eines am
Feſte des Herrn ! ob er in der Liebe wandle vor
dem Herrn ſeinem Gott , und vor ſeinem Volk ? —
Mangelt jemand deines Raths ? — Kennſt du die
Ordnung deines Volks ? — Hanget die Jugend an
deinem Herzen ? — Biſt du der Alten Troſt ? —
und der Leidenden Heil ? Steheſt du in der Ver-
wirrung des Volks wie ein Fels ? — Und wer in
der Welt Schifbruch leidet , findet er bey dir Troſt ,
wenn ihn die Wellen der See an dein Ufer tragen ?
— Wandelſt du in der Kraft des Herrn deines
Gottes einher , und in ſeiner Liebe ? —
So las er ; — dann bog er ſich wieder tief
zur Erde , und ſagte : Herr ! ſey mir gnaͤdig in mei-
ner Schwachheit , denn ich bin ein Menſch , und
habe viel uͤber mich genommen , in deinem Namen
und vor deinem Volk — ! Dann las er fort ,
oͤffentlich vor der ganzen Gemeinde , die Pflichten
und den Beruf eines chriſtlichen Pfarrers , und das
Gemaͤhlde des Guten , das er durch ſeine Sorgfalt ,
Weisheit , Ordnung und Amtstreu im Dorf , und
zum Segen deſſelben , auf Kind und Kindskinder
hinab ſtiften und feſt gruͤnden koͤnne — dann auch
das Gemaͤhlde des großen Unſegens und Ungluͤcks ,
das einer durch Mangel von Sorgfalt , Ordnung ,
Einſichten und Amtstreue eben ſo , wie durch ein
ungoͤttliches , ſorg- und pflichtloſes Leben in einem
Dorf anrichten , und auf Kind und Kindskinder
hinunter fortpflanzen koͤnne . In dieſem Volksge-
maͤhlde uͤber die Pfarrer und ihren Dienſt , war
der
der erſte dargeſtellt als ein Diener Gottes , und ein
Vater des Volks , der andere hingegen als eine
voͤllige Ueberlaſt der Geſellſchaft , und als ein Mann ,
der ohne Ehre im Leib , auf Rechnung und Zehrung
der Religion , und auf Unkoſten des Staats , un-
verdientes Brod eſſe , und dafuͤr großen Schaden
ſtifte . Dieſes doppelte Bild des guten und des
ſchlechten Pfarrers , und das Gluͤck der wahren
Volksvorſorge unter dem erſten , und der Ver-
wahrloſung deſſelben unter dem andern , las er laut
vor allem Volk vor . —
Dann traten die Vorgeſezten vor den Altar ,
knieten nieder — dann las der Pfarrer —
Das iſt die Pruͤfung eines Vorgeſezten zur
Vorbereitung am Feſte des Herrn ! —
Iſt Ordnung und Licht in allem was dir uͤber-
geben worden ? — Beſorgſt du die Sachen des
Dorfs wie deine Eigene ? — Legt dich die Noth
der Witwen und der Mangel des Waiſleins un-
geſchlafen ? — Iſt keinem Unſchuldigen und Armen
Angſt , wann du um den Weg biſt ? — Und wann
du in die Haͤuſer des Dorfs hinein kommſt , fuͤrch-
tet das Weib des Armen , und ſein Kind nichts
Boͤſes von dir ? — Gehet es denen Kindern auf ,
deren Vogt du biſt ? — Und wann dein Haus und
deine Habe beſorgt wuͤrde , wie das und die Habe
Z
deiner Vogtanvertrauten , wuͤrdeſt du nicht ſagen ,
das Gott erbarm' ? — Und wuͤrde kein Waiſlein ,
deſſen Gut du unter den Haͤnden haſt , wenn es
alles wuͤßte was du thuſt , ſeufzen , das Gott er-
barm ? — Wann du Gutes willſt , und Gutes
thuſt , thuſt du es dem Armen wie deinem Kind ?
— Oder thuſt du es mit der Geiſel in der Hand ?
— Wuͤrgſt du dem Menſchen , dem du Brod
giebſt , das Herz ab ? — Kannſt du ſtandhaft ,
anhaltend , geduldig und nachſichtig helfen , wo
ohne Standhaftigkeit , Geduld und Nachſicht un-
moͤglich zu helfen iſt ? —
So las der Pfarrer ; und der Aelteſte der
Vorgeſezten antwortete ihm mit lauter Stimme
vor allem Volk : — Diener des Allerhoͤchſten ! wir
ſind ein ſchwaches Geſchlecht , und vergeßlos wie
unſere Vaͤter , die vor uns gelebt ; — aber werde
nicht muͤde , uns den Spiegel unſerer Pflichten
immer vor Augen zu halten , damit wir in der
Furcht Gottes bleiben , und unſere Pflichten je laͤn-
ger je weniger vergeſſen ! — Dann las der Pfar-
rer auch ihnen das Bild eines guten und eines
ſchlechten Dorfvorgeſezten oͤffentlich vor allem Volk
vor . — Das Bild war auf keiner Seite uͤbertrie-
ben ; aber es ſezte deutlich und vielſeitig ins Licht ,
wie ein guter Vorgeſezter auf Kind und Kindskin-
der hinunter Wohlſtand und Segen , der andere
hingegen Verwirrung und Ungluͤck veranlaſſen und
faſt nothwendig machen koͤnne . — Und alles , ſo
in ihrer Sprache , und ſo auf die Faͤlle ihrer taͤgli-
chen Erfahrung eingerichtet , daß ein jedes Kind
bey dem Vorleſen dieſer Bilder denken konnte ,
wenn der Vorgeſezte mit meinem Vater , oder mit
meiner Mutter , izt ſo und ſo handelt , ſo iſt es
juſt wie es da ſteht . —
Auf dieſe kamen die alten grauen Maͤnner
und Weiber — und der Pfarrer las —
Das iſt die Pruͤfung des grauen Alters fuͤr den
Feſttag des Herrn ! — Iſt dein Sinn deinem Al-
ter angemeſſen ? — Hangeſt du nicht mehr an der
Erde , als die Tage werth ſind , die du noch zu leben
haſt ? — Biſt du denen , die nach dir kommen ,
was du ihnen ſeyn ſollſt ? — Kannſt du den Berg ,
der hinter dir iſt , anſehen , als ob er dich nichts
mehr angehe ? — Kannſt du liegen laſſen , was
Niemand mehr von dir fodert , was andere izt beſſer
machen als du ? — Plageſt du Niemand mit dei-
ner Schwaͤche ? — Goͤnneſt du der Jugend die
Freuden ihrer Staͤrke ? — Haſt du keinen Saa-
men der Unruhe ausgeſaͤet , der hinter deinem Grab
keimen koͤnnte ? — Kannſt du aus den Erfahrun-
gen deines Lebens nicht mehr Nutzen ziehen fuͤr dich ,
die Deinigen , und fuͤr alle Menſchen ? — Nimmſt
du nichts mit dir unter den Boden , das jemand
nuͤtzen konnte , wenn du es ihm zeigteſt oder ſagteſt ?
Z 2
— Sollteſt du keiner Wahrheit Zeugniß geben , die
verdreht werden kann , wenn du nicht mehr da biſt ?
— Kannſt du nicht mehr thun als du thuſt , vor
deinem Ende ſicher zu werden , daß keines der Dei-
nigen dem andern Unrecht thun koͤnne ? — Sieheſt
du mit Ruhe uͤber das Grab ? Und werden deine
Enkel Gott loben , wenn ſie deinen Namen hoͤren
und von dir ſagen , er war wahrlich unſer Vater
— ſie war wahrlich unſere Mutter ? —
Dann antwortete einer der Alten —
Diener Gottes ! unſere Staͤrke iſt dahin , und
unſere Kraft iſt vergangen , wir ſind worden wie
die Blaͤtter eines Baums , die den Winter uͤber am
leeren Aſt hangen geblieben . — Sey der Stab
unſers Alters , Diener Gottes ! fuͤhre uns an deiner
Hand zu allem was wir noch thun koͤnnen , damit
keiner unſerer wenigen Tagen mehr verloren gehe
— es ſind ihrer genug verloren . —
Dann las er ihnen mit kurzen Worten das
Bild alter Leute vor , die in ihrer Schwaͤche noch
der Segen der Nachwelt , und bis ans Grab die
Freude der Ihrigen ſind . —
Aber das Bild der Fehlern und Schwaͤchen
des grauen Alters las er ihnen vor der Gemeinde
nicht vor . Er wußte daß der Menſch in der ſpaͤ-
ten Neige ſeiner Tage nicht mehr zu aͤndern iſt ,
und daß alten Leuten Vorwuͤrfe mehr , als
alle Laſt des Lebens wehe thun . Er kannte die
Pflicht , das heilige Alter nicht zu kraͤnken , und
wollte darum ihren Nachkommen und Hausgenoſſen
mit dem Bild ihrer Fehler nicht Anlas geben
ungeduldiger mit ihnen zu werden , und unfreund-
licher mit ihnen zu handeln . Hingegen das Bild
des Guten , das ſie noch in der Welt ausrichten ,
und die Umſtaͤnde und Anlaͤſſe , bey denen ſie ihre
Erfahrungen brauchen konnten , die Menſchen , die
hinter ihnen aufwachſen , auf diejenigen Sachen
aufmerkſam zu machen , die ihnen vorzuͤglich zum
Nutzen oder Schaden gereichen koͤnnten , und beſon-
ders , wie ſie hinter ihrem Grab Streit und Un-
ruh , Eifer und Neid , unter ihren Nachkommen
vorbiegen konnten . —
Das alles las er ihnen in liebreichen , ſorgfaͤl-
tigen , und ihr Alter ehrenden Ausdruͤcken vor ;
und erquickte ihr Herz mit der Liebe , mit der er ſich
ihnen anbot , an ihrer Statt alles zu thun , was
ihnen in ihrem Alter und in ihrer Schwaͤche zu
ſchwer fallen wuͤrde , wenn ſie es ihm nur ſagen ,
und machen , daß nichts verſaͤumt werde , und ſie
ruhig ihrem nahen Fortgang aus dieſer Erde ent-
gegen ſehen koͤnnen .
Die Alten knieten nicht vor dem Altar , ſie
ſaßen auf Baͤnken .
Z 3
Nach ihnen kamen die Hausvaͤter und Haus-
muͤtter , und er ſagte zu ihnen — ſeyd ihr wie ein
guter Baum , der da ſteht voll reifer Fruͤchten ? —
Dann las er : Das iſt die Pruͤfung eines Vaters
und einer Mutter , ob ſie in der Liebe wandeln vor
dem Herrn ihrem Gott — ! —
Wendeſt du die Kraͤfte deines Leibs und dei-
ner Seele an , daß es deinen Kindern in Zeit und
Ewigkeit wohl gehe ? — Weißeſt du , daß deine
Kinder das Ebenbild Gottes ihres Schoͤpfers in
ihrem Innerſten herumtragen ? Und heiligeſt du
ſie zu einem Tempel der Herrlichkeit Gottes die in
ihnen wohnet ? — Oder iſt deine Liebe zu ihnen
blos die Liebe des Thiers das ſeinen Jungen an-
hanget ? — Kenneſt du die Beduͤrfniſſe der Seele ,
und den Segen des Friedens , und die Ruhe des
Herzens ? — Biſt du eben ſo geſchaͤftig ihren See-
len Nahrung zu ſchaffen , und ihren Geiſt zu beklei-
den als ihren Leib ? — Weißeſt du , daß wenn du
ihre Seelen verſchmachten , und blos und unbe-
kleidet aufwachſen laͤßeſt , ſie verwildern , und wie
die Thiere der Felder werden , wie die wilden
Thiere , die man abthun und ausrotten muß von
der Erde , damit das Leben und das Eigenthum
des Menſchen vor ihnen ſicher ſey ? — Weißeſt du ,
daß deine Hausordnung das Meiſte dazu beytraͤgt ,
ihre Seelen gut zu bilden , und ſie vor allem Boͤſen
zu bewahren ? — Wacheſt du in dieſem Geſichts-
punkt d e ſto ſorgfaͤltiger uͤber alle Theile deines Hau-
ſes ? — Beteſt du mit ihnen ? — Weißeſt du ſie in
den Uberwindungen des Lebens auf Gott hin ?
daß ſie ruhig bleiben bey der Laſt des Lebens in
ihrem Herzen . — Thuſt du ihnen nichts , als
wahrhaft Gutes ? — Laͤßeſt du ſie an Leib und
Seele in nichts ſchwach und krumm werden ? —
Bringſt du den Segen deiner Aeltern zum ſichern
Zeichen deiner Liebe und Treu ungeſchwaͤcht auf
ſie herab ? — Gehet das Gut deiner Aeltern in
deiner Hand nicht fuͤr ſie verloren ? — Und werden
deine Kinder hinter dir nicht ſeufzen und klagen ,
mein Vater und meine Mutter haben mir Unrecht
gethan , und ich bin um der Fehler ihres Lebens
willen eender geworden , als keine Waiſe ? —
Ihm antwortete der erſte der Hausvaͤter : —
Auch wir ſind ein ſchwaches Geſchlecht , und die
Seele unſerer Kinder iſt oft und viel ſo wenig in
unſerer Hand , als ihr zeitliches Gluͤck ; dennoch
aber lehre uns unſere Kinder bewahren , wie unſern
Augapfel , Diener des Allerhoͤchſten ! —
Dann las er ihnen das Bild eines ſchlechten
und eines guten Hausvaters , und dasjenige einer
ſchlechten und einer guten Hausmutter vor , und
mahlte mit wahren und ſtarken Farben die Haupt-
ſachen einer guten Hausordnung , ſo wie die Haupt-
fehler einer ſchlechten Hausordnung und einer
Z 4
ſchlechten Kindererziehung deutlich ab , mit Dar-
ſtellung der vielerley Folgen , die beydes auf Aeltern
und Kinder bis auf das Todbett der erſten , und
auf die Nachkommenſchaft der andern habe , und
haben muͤſſe .
Nach ihnen kam die reife Jugend des Dorfs ;
feyerlicher noch als die andern wurden ſie von ih-
ren Aeltern und Großaͤltern herfuͤr zum Altar ge-
fuͤhrt ; und wann ſie knieten , ſtund der Kreis ihrer
Aeltern und Großaͤltern rings um ſie herum , und
falteten die Haͤnde vor der Gemeinde , dann ſagte
der Pfarrer —
Soͤhne der Vaͤter ! und Toͤchter der Muͤtter ,
die euch zum Altar Gottes bringen ! Was ſeyd ihr ?
— Was werdet ihr werden ? — Warum kom-
met ihr hieher ? —
Ein Augenblick darauf —
Du unſere Hofnung und unſer Stolz , bluͤ-
hende Jugend ! du biſt wie ein Garten in ſeiner
Pracht ; aber wiſſe , die Erde naͤhret ſich von den
Fruͤchten des Felds , nicht von der Zierde der Gaͤr-
ten , ruͤſte dich auf die Tage , wo du ohne Zierde
und ohne Schmuck das Werk deines Lebens wirſt
verrichten muͤſſen . Aber die Tage entſcheiden uͤber
die Frucht des Weinbergs und der Baͤume , und
der Gebrauch der Stunden deiner itzigen Zeit , ent-
ſcheidet uͤber den Werth deines Lebens . Im Som-
mer deines Lebens , und im Herbſt deiner Tage ,
wirſt du umſonſt dann Weisheit ſuchen , wann du
ſie izt nicht ſucheſt , vergebens die Kraͤfte wuͤnſchen ,
die du izt nicht uͤbeſt . Was du izt verlierſt , wirſt
du nie wieder finden ; und was du verſaͤumſt , wird
dir verſaͤumt ſeyn , bis an dein Grab . —
Dann las er ferners —
Das iſt deine Pruͤfung , bluͤhende Jugend !
ob du in der Liebe wandelſt vor dem Herrn dei-
nem Gott ?
Nimmſt du zu in allem Fleiß ? — In aller
Ordnung , in allen Kenntniſſen des Lebens , und in
allen Vorzuͤgen der Seele ? — Wachſeſt du auf
zum ſichern Troſt deiner Aeltern — Sind ihre
Bemuͤhungen an dir nicht verloren ? — Macht
deine Liebe , und dein Dank , ihnen ihr Leben
leicht ? — Und ſorgſt du fuͤr dich ſelber , wie ein
Menſch in deinem Alter , der mit Ehren zu grauen
Haaren kommen will , thun muß ? — Kenneſt du
die Beſtimmung und die Gefahren des Lebens , und
die Schreckensabgruͤnde der Wege in deinen Jah-
ren ? — Flieheſt du den Schein des Uebels , damit
dich das Uebel nicht ſelber ergreife ? — Kenneſt du
die Schwaͤchen deines Geſchlechts ? — Und laͤſſeſt
du dich warnen vor der Menge der Menſchen , die
ſich in Gefahr begeben , und vor deinen Augen dar-
inn umkommen ? — Kenneſt du den Schaz , den
du in dir ſelber herumtraͤgſt , die Tage deines Le-
bens zu ſchmuͤcken ? — Und die Stunde deines
Abſterbens zu erheitern ? —
Soͤhne und Toͤchter meines Volks ! ihr pruͤfet
euch vor dem Altar unſers Gottes , ob ihr in der
Liebe wandelt ? Ich aber frage euch , iſt keiner
unter euch der Moͤrder des andern ? — Denn wiſ-
ſet , wer einen Menſchen verderbt mit ſeiner Suͤn-
de , der iſt ein Moͤrder . — Du , unſere Hofnung
unſer Stolz ! bluͤhende Jugend ! niedergebuͤckt vor
dem Altar Gottes , an der Seiten deiner Aeltern
und vor der ganzen Gemeinde , muß ich dir ſagen ,
es ſind Soͤhne der Erden , die die Toͤchter des Lan-
des wie Raubvoͤgel die Unſchuld einer Taube wuͤr-
gen , und ſie dann liegen laſſen in ihrem Elend wie
ein Aas in dem Wald . Wiſſe , o du Hofnung un-
ſers Volks , und du unſer Stolz ! es ſind Toͤchter
auf Erden , die den Knaben Schlingen legen auf
Leben und Tod , und die Soͤhne des Lands mit
dem Gift ihrer Wuth toͤdten , und die Frucht ihres
Leibs erſticken , wie kein Vieh auf der Erde die
Frucht ſeines Leibs erſtickt .
Beuge dich nieder , Krone unſers Haupts !
vor dem Altar der Liebe , und frage dich ſelbſt , iſt
keiner des andern Moͤrder ? Und erkenne die Schwaͤ-
chen deines Geſchlechts , und die Gefahren deines
Alters — !
Dann antwortete ihm der aͤlteſte der Juͤng-
linge —
Es iſt wahr , wer immer ſeinen Nebenmen-
ſchen in der Suͤnde verdirbt , der iſt ſein Moͤrder ,
Diener des Allerhoͤchſten ! werde nicht muͤde , uns
ferner die Schwaͤchen unſers Geſchlechts , und die
Gefahren unſers Alters zu lehren ! —
Dann las er auch ihnen das Bild ihrer Ta-
gen , und das junge Volk hoͤrte kniend der Leiden-
ſchaften Gefahrem , und die Schreckensgeſchichte der
Wolluſt , vom Anfang der Schamhaftigkeit bis an
die Graͤnzen der Selbſtverheerung , und die Ab-
gruͤnde des Kindermords , und dann auch die Mit-
tel der Weisheit und Gottesfurcht , gegen dieſes
Verderben der Schwaͤche unſerer Natur . —
Nach dieſem wandte er ſich an ihre Aeltern ,
und ſagte : Nehmet von ihnen das heilige Verſpre-
chen , das keines das andere ungluͤcklich machen
wolle ! —
Dann giengen die Reihe der Soͤhne und die
Reihe der Toͤchter zu ihren Vaͤtern und Großvaͤ-
tern , die hinter ihnen ſtunden , verſprachen ihnen ,
ihre Haͤnde in die Haͤnde ihrer Aeltern gelegt , daß
ſie zu einander Sorge tragen , und einander nicht
ungluͤcklich machen wollen . —
Nach ihnen kamen die Witwen und Waiſen ;
dann ſtund die ganze Gemeinde auf , und der Pfar-
rer redete mit der Gemeinde , als mit den wahren
Aeltern und Pflegvaͤtern der Witwen und Waiſen ;
dann las er auch die Pruͤfung der Witwen und Wai-
ſen , und das Bild ihres Zuſtands . —
So endete ſich die Pruͤfungsſtunde des Volks
in Bonnal am Abend vor den heiligen Feſten . —
Den folgenden Tag , als am Feſte ſelber , wie-
derholte der Pfarrer faſt mit aͤhnlichen Worten einer
jeden Klaſſe ſeiner Pfarrkinder das Weſentliche die-
ſer Pruͤfung , in dem Augenblick vor dem Genuß
des Mahls der Liebe , und nach dieſer heiligen
Handlung ſagte er zum Volk —
Irret euch nicht ! — Die Liebe beſtehet nicht
in Einbildungen und Worten , ſondern in der Kraft
der Menſchen , die Laſt der Erden zu tragen , ihr
Elend zu mindern , und ihren Jammer zu heben . —
Der Gott der Liebe hat die Liebe an die Ord-
nung der Erde gebunden , und wer fuͤr das , was
er in der Welt ſeyn ſoll , nicht in der Ordnung iſt ,
der iſt auch fuͤr die Liebe Gottes und des Naͤchſten
in der Welt nicht in der Ordnung . Wer immer
nicht iſt , was er ſeyn ſoll , nicht kann , was ſeine
Pflicht iſt , und zu dem nicht taugt , was ihm ob-
liegt , dem mangelt die erſte Kraft der reinen Liebe
Gottes und des Naͤchſten . —
Sie iſt nicht ein Traum , und nicht wie das
Saͤuſeln des Windes , das ſanft in deinen Adern
ſchlaͤgt , und nicht wie das Wiegen eines Kinds ,
das unter dem Singen der taͤndelnden Amme ent-
ſchlaͤft .
Alle Liebe der Menſchen , die ohne Kraft und
ohne Wirkung iſt , iſt ſo viel als keine . Ohne Le-
bensweisheit , ohne Lebensſtaͤrke , ohne Ueberwin-
dungskraͤfte , ohne Hausordnung , ohne eine vor-
ſichtige , bedaͤchtliche , und die Grundfeſten des
menſchlichen Wohlſtands , feſthaltende Seelenſtim-
mung , iſt ſie nichts anders , als die gleiche thieri-
ſche Theilnehmung , die faſt ein jedes Thier beym
Leiden eines andern ſeiner Art zeiget ; aber dieſe
Art bloßer Thierliebe iſt im buͤrgerlichen Leben
Nichts und minder als Nichts werth , ſie iſt gaͤnz-
lich Verdienſt-leer und Wirkungs-los — Sie hilft
Niemanden , ſie bringt Niemanden in Ordnung ;
was ſie will , das kann ſie nicht : was ſie verſpricht ,
das haltet ſie nicht ; was ſie anfaͤngt , das gera-
thet ihr nicht — ſie macht den Hungrigen nicht
ſatt — ſie hat den Durſtigen nichts zu trinken —
ſie macht den Frierenden nicht warm — ſie laͤßt
den ſinkenden im Koth — kurz , ſie betruͤgt , ihre
Hofnungen ſind leerer Schein — ſie nimmt dem
Menſchen was er hat , und giebt ihm nichts wie-
der , und thut Niemanden darmit wohl . — Der
Menſch iſt nur in ſo weit wahrer wirkſamer Liebe
faͤhig , als er den Naturfehlern ſeines Geſchlechts
Meiſter , den Leichtſinn , die Gedankenloſigkeit , die
Traͤgheit , die Unwiſſenheit , die Unbedachtſamkeit ,
die Leichtglaubigkeit , den Starrſinn , die Tollkuͤhn-
heit und Gewaltthaͤtigkeit des wilden Naturlebens
beſiegen gelernt , und fuͤr ſeinen Beruf , und fuͤr
ſeine Umſtaͤnde zuverlaͤßig , arbeitſam , bedaͤchtlich ,
uͤberlegend , anſtellig gebildet , und als zu einem
eben ſo gutmuͤthigen als weiſen Betragen gegen
alle ſeine Nebenmenſchen geſchickt gemacht worden .
So eng band er die Grundſaͤtze ſeiner buͤrgerli-
chen Volksbildung an die Religionsbegriffe , und
an die Andachtshandlungen deſſelben ; hielt beſon-
ders dafuͤr , alle gottesdienſtliche Verſprechen muͤſſen
ſo viel als moͤglich ihre buͤrgerliche Kraft haben ,
und der Wortbruch gegen gottesdienſtliche Verſpre-
chen muͤſſe nothwendig auch buͤrgerlich entehren .
Er brachte darum eine ſolche Deutlichkeit , Be-
ſtimmtheit , Offenheit , und Feyerlichkeit in dieſel-
ben , und arbeitete mit eben der Sorgfalt , mit der
er im buͤrgerlichen Leben dem Leichtſinn , der Ge-
dankenloſigkeit , und der Wortbruͤchigen Untreu ent-
gegen arbeitete , eben ſo dieſen Fehlern in allen Re-
ligionshandlungen entgegen , indem er es fuͤr das
Fundament des reinen wahren Gottesdienſts achtete ,
daß der Menſch mit dem Werk ſeiner Andacht we-
der ſich ſelbſt betruͤge , noch dem lieben Gott ein
Blendwerk damit fuͤr die Augen machen wolle . Er
that das beſonders in Abſicht auf die ſo auffallend
und allgemein misbrauchte Verſprechen bey den
Taufhandlungen , und hob die alte Form , Gevat-
terleute zu erbitten , gaͤnzlich auf ; und verordnete
dagegen , daß ein jeder Vater den Perſonen , die er
zu Taufzeugen ſeines Kindes ſuche , ſeinen Wunſch
durch den Pfarrer des Orts muͤſſe anzeigen laſſen ;
welcher dann eine beſtimmte Antwort von denſelben
zu fodern habe , ob ſie ſich in der Lage befinden ,
und mit gutem freyem Willen bereit ſeyen , den
Wunſch des Vaters in ſeiner ganzen Ausdehnung
mit allem Ernſt , und mit Ruͤckſicht auf die Folgen ,
welche ein ſolches Verſprechen auf ſie haben koͤnn-
ten , zu entſprechen ? Die Angefragten waren voͤllig
frey , dieſe Bitte abzuſchlagen ; wenn ſie ſie aber
annahmen , ſo mußten ſie ihr Verſprechen bey dem
Pfarrer ſchriftlich niederlegen , der es nicht dem
Vater zuſtellte , ſondern zu Handen der Gemeinde ,
und zu ihrer allfaͤlligen Sicherheit aufbehielt . So
wie auf der andern Seite der Vater eben ſo be-
ſtimmt dem Pfarrer zu Handen der Gemeinde ſchrift-
lich geben mußte , daß er die erbetenen Taufzeugen
ſeines Kinds wirklich fuͤr faͤhig , geneigt , und im
Stand halte , ihm in Abſicht auf daſſelbe an die
Hand zu gehen , und daß er ſelbige um deßwillen
zu dieſem Endzweck fuͤr dieſen Chriſtendienſt ange-
ſprochen . — Wer Niemanden fand , der eine ſo
ernſthafte Verpflichtung fuͤr ſein Kind auf ſich neh-
men wollte , dem mußte die Gemeinde , das iſt , die
Kirche , die Pathenſtelle vertreten ; die Vorgeſezten
uͤbernahmen die Pflichten dieſer heiligen Verbind-
lichkeit , und bey Arners Ordnung mangelten ſie
nicht , dieſelbe zu erfuͤllen .
Auch die heuchleriſchen Taufzedel , in denen
Schaaren verlaſſener Wuͤrmchen von ihren Tauf-
zeugen dem lieben Heiland uͤbergeben werden , wie
der Joſeph von ſeinen Bruͤdern den Arabern , damit
er nicht umkomme , aber ihnen doch aus den Au-
gen — verbot er . Die Pfarrer , ſagte er , ſollen
Taufſcheine machen , und das ſey genug . — Der
Misbrauch dieſer Heuchlerzedel empoͤrte ihn aͤußerſt .
In der Zeit , da er hierinn dieſe Aenderung traf ,
ſagte er mehrmalen , wann er die Stube auf- und
abgieng , zu ſich ſelber , Gottesdienſt ! Gottesdienſt !
was machſt du aus den Menſchen ? wenn deine
Handlungen keine buͤrgerlichen Verbindlichkeiten ha-
ben , und blos auf den ſchwankenden Sinn einer
Gutmuͤthigkeit ruhen , die jeder Wind wehet , wo-
hin er will ! — Arner wollte es nicht ſo ; er bauete
den Gottesdienſt auf den Einfluß ſeiner geſezgebe-
riſchen Volksbildung , die den Geiſt ſeiner Bonnaler
in allen Sachen auf das Weſentliche derſelben auf-
merkſam , und fuͤr daſſelbe real betriebſam machten .
Daß das Kind in der Wiegen verſorget , daß
das Alter am Rande des Grabes beruhiget , daß
die
die Wange der Witwe , und das Auge der Waiſen
thraͤnenlos ſey , daß das Herz des Knechts nicht
verhaͤrtet , und die Unſchuld der Magd nicht ver-
ſchmaͤhet , und ein jedes im treuen Dienſt ſeines
Lebens Befriedigung finde , das war das Ziel ſei-
ner gottesdienſtlichen Lehre ; und er baute die Mit-
tel , zu dieſem Ziel zu gelangen , auf diejenige See-
lenſtimmung des Volks , welche zu aller Weisheit ,
zu allem Recht , und zu aller Ordnung des buͤrgerli-
chen Lebens die allervorzuglichſte iſt . —
§. 62.
Dahin zielte ich von Anfang — Und
wenn du Nein ſagſt Leſer ! ſo muſt
du zuruͤckgreifen , und zu vielen vor-
hergehenden Nein ſagen .
A uf dieſer Bahn , nemlich durch die Feſthaltung
der Grundſaͤtze ſeiner geſezgeberiſchen Volksbil-
dung , kam er dahin , den wahren und einzigen Weg
zu entdecken , auf welchem die hoͤhere Endzwecke
einer weiſen Staatsgeſezgebung zuerzielen , na-
mentlich —
Erſtlich : Die Vereinfachung der Abgaben des
Staats .
A a
Zweytens : Die Sicherſtellung des wirklichen
Genuſſes buͤrgerlicher Rechte fuͤr die niedere
Menſchheit .
Drittens : Die Befreyung des Volks von dem
Druck der Knechtſchaft , die auf dem Landei-
genthum ruhet .
Viertens : Die Sicherſtellung niedern Men-
ſchen vor den ruinirenden Folgen , welche die
Feuersbruͤnſte , Waſſerſchaͤden , Hagelwetter
und Viehvreſten auf ſie haben .
Fuͤnftens : Die Moͤglichkeit den Militairdienſt fuͤr
die Sitten , die Bevoͤlkerung und den Wohl-
ſtand des Volks minder ſchaͤdlich zu machen .
Sechstens : Die außerordentliche Staatsabgaben
ohne verheerenden Druck auf das niedere Volk
zu beſtreiten , und
Siebendens : Ueberhaupt einen merklichen allge-
meinen Vorſchritt in dem Wohlſtand und der
Bevoͤlkerung des Lands mit zuverlaͤßiger Si-
cherheit auf Kind und Kindeskinder herunter zu
bringen .
Achtens : Und endlich das Schwert der Gerech-
tigkeit in der Scheide wahrhaft menſchlicher
Grundſaͤtze halten , und die andern Menſchen
mit ſo gefaͤhrlicher Schaͤrfe nicht unſchuldig zu
verletzen .
In dieſem allem fand Arner in der einfachen
Aufmerkſamkeit auf die buͤrgerliche Bildung ſeines
Dorfs gebahnte Wege . —
Leſer ! es iſt kein Traum , die gute Bildung
des Volks zur Induſtrie iſt die einzige moͤgliche
Bahn zu allen dieſen Endzwecken . — Und Geſez-
geber ! Geſezmacher ! und Fuͤrſten ! wollt ihr dieſe
nicht , ſo findet ihr — keine — und kommt in kei-
nem einzigen von allen hoͤhern Endzwecken einer
weiſen Geſezgebung auf tauſend Schritte nicht , auch
nur zu einem Anſchein eines vernuͤnftigen Ziels —
doch ich rede ja nicht mit Fuͤrſten , und haͤtte wirk-
lich ohne dieſe Anmerkung fortfahren koͤnnen .
Es war nun Jahr und Tag verſtrichen ſeit
ſeiner Krankheit , die Raͤder ſeines Werks giengen
alle ihren ſtillen Gang fort , und alle Anſtoͤße wur-
den mit jedem Tag ſchwaͤcher .
Wo der Grund und Boden geruͤſtet , da wach-
ſen die Fruͤchte des Feldes , und die Pflanzen des
Gartens heben ſich von der Erde empor , wenn die
Hand des Gaͤrtners ihnen nie mangelt — ſie man-
gelte in Bonnal der kleinſten Pflanze ſo wenig als
dem erſten Baum des Gartens — die feſte und gute
Ordnung , die in allem war , hob den Geiſt des
Menſchen hoͤher empor , als er da empor ſteigen
kann , wo keine Ordnung iſt , und der Leiter , die
A a 2
man ihm zum Steigen darſtellt , nichts mangel t
als alle Sproſſen .
Der neue Vogt , der den Einfluß der immer
groͤßer werdenden Geldmenge , die in der Welt in
Umlauf gebracht wird , auf die gaͤnzliche Veraͤnde-
rung der Umſtaͤnde des Volks tief kannte , und ein-
ſah , wie alle Fundamente ſeiner buͤrgerlichen Si-
cherheit und ſeines haͤuslichen Gluͤcks von dieſer
Geldmaſſe , und von der mehr und mindern Sorg-
falt die der Menſch fuͤr denjenigen Antheil , der ihm
davon zukommt , hat , gaͤnzlich abhange — that
izt einen Schritt , der Arnern und den Lieutenant
ſelber in Erſtaunen ſezte .
Er trug nemlich der verſammelten Gemeinde
vor , es ſey moͤglich , durch Einrichtungen und Er-
ſparniſſen , die ihnen gar nicht ſchwer fallen wer-
den , innert 25 Jahren zu einem Kapital zu gelan-
gen , welches vollkommen genugſam ſey , die herr-
ſchaftlichen Gefaͤlle und die Abgaben , die ſamt
und ſonders auf ihrem Land , wie durch einen ewi-
gen Zins haften , von dieſem Kapital alſo zu be-
ſtreiten , daß ſie dannzumalen alle dieſe Gefaͤlle ſo
viel als getilget , und ihre Guͤter und Perſonen von
herrſchaftlichen Abgaben in ſo weit als befreyt anſe-
hen koͤnnten .
Er bewies ihnen zuerſt mit den Amtlichen-
Rechnungen , daß die ganze wirkliche Einnahme ,
welche die Herrſchaft von allen Gefaͤllen aus ihrem
Dorf ziehe , noch in keinem Jahr vollends auf die
Summe von 1200 Gulden gekommen ; daß folg-
lich , um der Herrſchaft zu allen Zeiten den Werth
ihrer Einnahme ſicher zu ſtellen , und auch noch
dem Werth , den die Verbeſſerung der Guͤter moͤg-
lich machen koͤnnte , gewachſen zu ſeyn , nicht mehr
als 40000 Gulden Kapital erfordert w e rde : dieſes
feſtgeſezt , bewies er dann mit der Kreide in der
Hand , und mit der großen Bauernzahl auf dem
Gemeindtiſch , um den ſich alles was rechnen konn-
te , und alles , was zur Sache auch ohne Rechnen
immer ein Wort redte , herumdraͤngte , daß wenn
ſie ſich entſchließen wollen —
1 ) Anderthalb Kreuzer von jeder Garbe , die
einer ſchneide , jaͤhrlich fuͤr den Steuerfond bei-
ſeits zu legen , und zu bezahlen .
2 ) Alle noch uͤbrige Weiden dem Hoͤchſtbieten-
den ſo lang zu gaͤnzlich freyer Benutzung zu uͤber-
laſſen .
3 ) Die vom Junker ausgetheilten Weiden , ſo
wohl die , ſo zu Buͤndten , als die ſo zu Matten
gelegt worden , fuͤr ſo viele Jahr mit dem halben
Zins ihres gegenwaͤrtigen Zinſes zu belegen , alſo
daß einer , deſſen Stuͤck Land 100 Gl. werth waͤr ,
ſo lang jaͤhrlich davon 2 Gl. an den Steuerfond
bezahlen muͤßte ; und endlich
A a 3
4 ) Die Einnahme und Beſorgung dieſer Gel-
der ohne alle Koͤſten , was Namens ſie auch ha-
ben wuͤrden , beſorgt werden muͤßte . —
So wolle er mit Haab und Gut davor ſtehen , die-
ſes Kapital muͤſſe innert 25 Jahren beyeinander
ſeyn . Dann bemerkte er noch , was er anbringe ,
ſage er nicht als Vogt , ſondern als Buͤrger , auch
nicht um des Junkers willen und zu ſeinem Dienſt ,
ſondern um der Gemeinde , und ihrer und ſeiner ei-
genen Nachkommenſchaft willen . Das freute die
Bauern beſonders ; und der Vogt ließ noch ein
paar Worte fallen , wie viel leichter es dann ihren
Kindern ſeyn werde , auf einen gruͤnen Zweig zu
kommen — und kam dann auch dem Einwurf vor ,
daß anderthalb Kreuzer viel gerechnet ſey auf eine
Garbe , indem er ihnen zeigte , daß ſie die Summe ,
die dieſe Schatzung einem jeden betrage , nicht ei-
gentlich nach dem Werth der Garben berechnen ,
ſondern vom Ganzen ihres Jahreinkommens abzie-
hen muͤßten — gieng dann mit ihnen in die Um-
ſtaͤnde ihrer Ausgaben und ihrer Einnahmen hin-
ein , und zeigte ihnen , immer mit der Kreide in
der Hand , voͤllig mit ihrer Bauernzahl und Ord-
nung , wie viel jaͤhrlich unnoͤthiger Weiſe von ih-
nen verbraucht werde , und wie viel ſie ohne Muͤhe
er ſparen koͤnnen , wenn ſie ſich darnach einrichteten .
Es kam Sonnen klar hinaus , daß ſie den Steuer-
fond , wie er geſagt , zuſammen bringen koͤnnen ,
wenn ſie nur wollten . Er brachte einen jeden Ein-
wurf in Anſchlag ; er blieb keinem einzigen ein
Wort ſchuldig ; war auch gegen den Duͤmmſten ,
der ihm widerſprach , geduldig ; und hatte ſo we-
nig , als vor 40 Jahren , da er noch bettelte , den
gewoͤhnlichen Vorgeſezten Ton , der immer alles ,
was die Bauern ſelber machen , und ſelber wollen
ſollten , verdirbt . Zulezt ſagte er , ich weiß , es
iſt keiner da , der nicht lieber ſeinen Kindern ſein
Land , Bodenzins , Zehnden- und Steuerfrey hin-
terlaſſen wollte , um doppelt ſo viel Gut als er be-
ſizt , und keiner , der nicht erkennt , es waͤre auf
die erſte Manier beſſer fuͤr ſie geſorgt , als auf die
lezte ; und dann auch , daß keiner da ſizt , der nicht
uͤberzeugt iſt , daß wir dieſe Summe zuſammen
bringen koͤnnen , wenn wir nur wollen . —
Wer die Bauern kennt , der weiß , daß ſie ſich
dafuͤr faſt haͤngen laſſen wuͤrden , ihr Land Zehn-
den- Bodenzins- und Steuerfrey zu bekommen .
Stelle dir alſo vor Leſer ! was dieſer Vortrag auf
ſie fuͤr einen Eindruck gemacht ! Ein Heide iſt nicht
ſo luͤſtern nach dem Raub , als ſie nach der Zehn-
den-Freyheit waren ; ſie ſtuͤzten ihre Backen , kraz-
ten im Haar , und thaten viel anders d a s zeigte ,
wie gern ſie moͤchten , aber auch , wie ſehr ſie nicht
trauten . Ihrer etliche ſagten ihm , du machſt uns
das Maul verflucht waͤſſerig — aber —
A a 4
Was aber ? ſagte der Vogt . — Und ſie —
Du weißſt wohl , der Teufel iſt ein Schelm ; wir
koͤnnen 25 Jahr zuſammen legen , und dann koͤnnte
einer das Geld an einem Regentag in ſeinen Sack
ſchieben , und weg tragen , wie wenn es ſein waͤr . —
Vogt . Dieſem muͤſſet ihr vorbiegen . —
Bauern . Koͤnnen wir das ? —
Vogt . Ja freylich . —
Bauern . Das iſt bald geſagt , aber nicht
bald bewieſen . —
Vogt . Ihr wißt doch , daß ein jeder Herr
ſein Geld ſicher anlegen kann , wenn er will . —
Bauern . Das wiſſen wir freylich . —
Vogt . Aber warum ſollten wir das gleiche
nicht auch koͤnnen ? —
Bauern . Weil wir Bauern ſind , und die
Herren mit unſerm Geld nicht ſo viele Komplimente
machen als mit Herrengeld ; und denn verſtehen
wir das auch nicht ſo wie ſie . —
Vogt . Ihr ſaget zwey Gruͤnde ; gebt izt
Achtung ; ich will euch auf beyde antworten : Erſt-
lich ſaget ihr , ihr verſtehet es nicht mit dem Geld
anlegen , das mag fuͤr euch wahr ſeyn , fuͤr mich iſt
es nicht wahr , ich verſtehe das Geld anlegen , und
kann euch dienen ; aber ich begehre gar nicht , daß
ihr mir trauet ; im Gegentheil , ich anerbiete euch
fuͤr jeden Heller , den ich euch anzulegen rathen
werde , kanzleyiſche Sicherheit auf mich ſelbſt , und
alles was ich beſitze , aber mit dieſem hoffe ich
dann , werde dieſer Einwurf gehoben ſeyn .
Dann ſaget ihr ferner , die Herrſchaften ma-
chen gar wenig Komplimente mit dem Bauerngeld ,
das iſt wahr ; aber ich muß euch doch ſagen , es iſt
auch hierinn nicht mehr wie vor alters , und es
wird alle Tage , auch fuͤr die groͤſten Herren immer
mehr eine kizliche Sache , Gewalt gegen anderer
Leuten ihr Geld zu gebrauchen ; aber wir muͤſſen
gleichwohl gegen die Herrſchaft hierinn ſo zu Werk
gehen , als wenn man das Schlimmſte von ihr
zu befuͤrchten haͤtte , und wann wir ſo etwas zu
Stand bringen wuͤrden , ſo muͤßten wir hoͤhern
Orts als nur be y Arner unſere Sicherheit ſuchen .
Bauern . Aber duͤrften wir ihm zeigen , daß
wir ihm nicht trauen ? —
Vogt . Ja freylich ! es duͤrfen Kaͤſehaͤndler
und Uhrenkraͤmer vom Koͤnig in Frankreich Sicher-
heit fodern , wann ſie ihm Geld liehen . — Man
macht in der ganzen Welt hieruͤber keine Kompli-
mente mehr mit einander , es iſt auch kein Koͤnig
der izt mehr fodert , daß man ihm blind traue .
Bauern . Alſo meyneſt du , wir koͤnnten das
Geld anbinden , daß es ſicher angebunden waͤre ? —
Der Vogt verſicherte ſie noch einmal , daß ſie
es gewiß koͤnnen , und daß er ihnen gut dafuͤr ſte-
hen wolle .
Wenns ſo iſt , ſagten die Bauern , ſo iſt es was
anders , und es laͤßt ſich der Sache nachſinnen —
Er redete noch eine Weile mit ihnen , zeigte
ihnen in allem , wie , wo , und wann ; ſagte ihnen
auch noch das , wer gar nichts ſezt , kann auch
nichts gewinnen ; ließ ſie dann heimgehen , und den
folgenden Tag , nach uͤbernaͤchtigen Rath , nahmen
ſie ſeinen Vorſchlag in allen Theilen an , beſchloſſen
mit dem neuen Jahr den erſten Beytrag an dieſen
Steuerfond zu leiſten , und dann in zwey oder drey
Jahren zu ſehen , wie es mit der Sicherheit fuͤr
dieſes Geld einzurichten . —
Wie geſagt , der Junker und der Lieutenant
erſtaunten uͤber dieſen Entſchluß . Man iſt den
Geſchaͤften nur Narren gegen die Donnersbauern ,
wenn ſie einmal einer Sache recht auf der Spur
ſind , ſagte der Lieutenant — und der Junker —
ich habe noch nichts geſehen , daß dieſem Entſchluß
aͤhnlich iſt — und machte eilends den Vogt ins
Schloß kommen .
Dieſer glaubte , ſein Schritt habe misfallen ,
aber ſein Entſchluß war genommen , will man das
nicht , ſo will ich nicht Vogt ſeyn . Er ſagte den
geraden Weg , entweder muß der Zuſtand des Volks
auf einen feſten Fuß geſezt werden , und es muß
Dorf , als Dorf , und im Großen ſo gut frey ge-
ſtellt werden , aus ſeinen guten Umſtaͤnden , ohne
Nachtheil und zum Nutzen der Herrſchaft fuͤr ſeine
Nachkommen , wahre und weſentliche Vortheile zu
ſuchen , als es einem jeden einzelnem Menſchen er-
laubt iſt , dieſes zu thun , oder es kommt nichts
heraus . Er murrete bey ſich ſelber , es waͤre ja ,
wenn man dieſes nicht erlauben wollte , vollends ,
wie wenn man einem ſagte , du darfſt in einem
Haus ſo viel ſchoͤne Zimmer machen als du willt ,
aber die 4 Hauptwaͤnde des Hauſes darfſt du nicht
in Stand ſtellen , daß ſie nicht zuſammen fallen .
Und er kam wie ein Jud , der auf dem Weg zu
einem Markt immer mit ſich ſelber rechnet , den
Kopf immer ſchuͤttelt , und das Maul nie ſtill haͤlt ,
— diesmal ins Schloß .
Arner bat ihn , ihm zu zeigen , wie es moͤg-
lich , daß das Dorf eine Summe von dieſer Groͤße
zuſammen bringen koͤnnte ! — Der Lieutenant ſezte
ſich neben den Vogt hin , rechnete Satz fuͤr Satz
nach was er angab — eine Viertelſtunde gieng
voruͤber , und der Ausſpruch ward : Die Sache
ſey moͤglich ! — Der Junker und der Lieutenant
ſtunden eine Weile erſtaunt bey der ſo lang mis-
kannten und ungenuzten erſten Quelle des menſch-
lichen Wohlſtands . —
Es war nun am Tag , ein Dorf , das mit ſei-
ner Landwirthſchaft eine gut geleitete Gewerbſam-
keit verbindet , und das , was es erſparen kann ,
ſo gut zu Rath zieht , als wohl regierte Staͤdte , und
gut gefuͤhrte buͤrgerliche Haͤuſer dieſes mit ihren
Erſparniſſen thun , kann ein Kapit a l anlegen , deſ-
ſen Zins ihm alle Laſten , die auf ſeinem Land lie-
gen , bezahlt . — Und ein Dorf , das dies kann ,
kann auch ohne Maaß mehr . — Der Vogt machte
kein Geheimnis daraus , und der Lieutenant und
der Junker ſahen es ein ; ein Dorf , das im Stand
iſt , auf den erſten Streich in 25 Jahren 40000
Gl. zuſammen zu bringen , iſt ſicher auch im
Stand , in den naͤchſtfolgenden Jahren auf 100000
Gl. zu kommen . — Es fiel auf , daß durch die-
ſen Plan —
Die Kraͤfte des Staats ohne Maaß erhoͤhet ,
die Simplifikation aller Staatsauflagen erzie-
let —
Die Rechte der Menſchheit dem niedern Volk
verſichert —
Eine dem Beduͤrfnis der Induſtrie und des
ſteigenden Wohlſtands angemeſſene Volkserzie-
hung allgemein erſtrit t en —
Die zufaͤllige Ungluͤcksfaͤlle einzelner Familien
von der Geſellſchaft erleichtert , oder verguͤtet —
Die Landes Bevoͤlkerung ohne Maaß und mit
Sicherheit erweitert —
Der Militaͤrdienſt durch den Ueberfluß von
Geld und Volk dem Land minder druͤckend ge-
macht ; außerordentliche Staatsausgaben ohne
die geringſte Volksbedruͤckung erhoben : mit
einem Wort , die hoͤhern Endzwecke einer wahr-
haft weiſern Staatsgeſezgebung erzielet wer-
den koͤnnen . —
Es fiel auf , daß der einzige moͤgliche Weg et-
was reales zur Veredlung der Menſchheit im Großen
beyzutragen , auf einer weiſen Bildung des Volks
zur Induſtrie ruhet ; und der Lieutenant ſagte am
Ende des Geſpraͤchs , es iſt wahr , Weisheit in Er-
werbung und Anwendung des Gelds , iſt das Fun-
dament des Menſchen , und aller Einfluß des Staats ,
der nicht auf dieſes Fundament gebaut iſt , richtet
zum wirklichen Wohl der menſchlichen Geſellſchaft
nichts ſolides und allgemeines aus . —
Der Schluß war kurz : Arner verſprach dem
Vogt eine Ehrenſaͤule , wenn er zu Stand bringe ,
worauf er angetragen ; und verſicherte ihn zu Han-
den des Dorfs , ihnen fuͤr jeden Heller ihrer Er-
ſparniſſen , die ſie zu dieſem Endzwecke zuſammen
legen werden , die hoͤchſtmoͤglichſte Sicherheit , die
irgend ein Kapital im Lande haben koͤnne , von
Seiten der Landsſtaͤnde zu ertheilen . —
Der Vogt erwiederte dem Junker , die Eh-
renſaͤule die er ſuche , ſey die Sicherheit , daß er
fuͤr ſeine Kinder und Kindeskinder nicht vergebens
gearbeitet , und ſie nicht in Lagen und Umſtaͤnde
kommen , in denen bis izt ſo viel als alle Dorfleute
ſeyen , daß ihr Zuſtand ganz unzuverlaͤßig , und alle
Augenblicke von einem jeden Wind abhange , der
uͤber ſie wehe ; dieſes aber koͤnne in der Welt nicht
anderſt kommen , bis alle Grundherren-Rechte nach
ihrem realen Geldwerth angeſchlagen , und den
Unterthanen der Weg gebahnet werde , zu ihrem
und der Grundherren beyderſeitigen Vortheil , und
zur Sicherſtellung und Feſtſetzung des Wohlſtand
des Volks auf Kinder und Kindskinder hinab , ihre
Schuldigkeiten durch vernuͤnftigen Gebrauch ihrer
Erſparniſſe , und durch Kapitalien , die ſie aus den-
ſelben zuſammen legen koͤnnen , zu entrichten . —
Wenn Arner ihm , und dem Dorf , zu dieſen helfe ,
ſo brauche er dann keines Steins zu ſeinem Ange-
denken , er hoffe , es werde dann ſonſt bleiben . —
Hingegen das Anerbieten , dem Dorf von Seiten
der Landsſtaͤnden Sicherheit fuͤr diejenigen Sum-
men , die ſie zu dieſem Endzwecke zuſammen legen
werden , zu verſchaffen , nehme er mit hoͤchſtem
Dank an , und bitte ihn ſo gar von Seiten des
Dorfs fuͤr dieſe Wohlthat , welche zur Ausfuͤhrung
dieſes Vorſchlags aͤußerſt wichtig ſey . —
§ . 63.
Er ſchaft den Galgen ab , bauet ein
Spital , und ſtellt den Henker zufrieden .
A rner erkannte die Wahrheit dieſes Syſtems , tra t
in alle Geſichtspunkte des Manns , der die Mittel
und Wege die Umſtaͤnde der niedern Menſchen ſolid
zu verbeſſern durch Erfahrung erkennen gelernt
hatte , ein . Er fand ſeine Begriffe voͤllig uͤberein-
ſtimmend mit der Richtung , welche der Zuſtand der
Welt durch den immer mehr ſteigenden Geldverkehr
der Menſchen in allen Klaſſen und Staͤnden ge-
nommen . — Die kleine Erfahrung , die ſie in ih-
rem Dorf hatten , beſtaͤtigte es ihnen auffallend ,
wie weit die Aufmerkſamkeit auf Erſparniſſe , ſo ſie
mit Hang und Ausſichten fuͤr Freyheit und verſicher-
ten Wohlſtand verbanden , auch den niedrigſten Men-
ſchen bringen und emporheben koͤnne .
Und der Einwurf , daß das Volk , das mit
Geld ſich von jeder Kette loskaufen koͤnnte , allen
Laſtern ſich ergeben , und man ſeiner nicht mehr
wuͤrde Meiſter werden ; dieſer Einwurf , der ſo viel
geſagt wird — ſo wenig Menſchenkenntniß zeigt —
und ſo wenig Erfahrung vorausſezt , wie eine ver-
nuͤnftige Stimmung zum Geld erſparen den Men-
ſchen bilde — ſchien ihnen , wie ers iſt , in Tag
hineingeredt . —
Ein Volk , das ſich durch Thaͤtigkeit in gute
Umſtaͤnde ſezt , und den Geſichtspunkt feſt hat , ſeine
Kinder und Kindskinder darinn zu erhalten , iſt an
der beſten Kette gegen alle Verbrechen , und vielleicht
an der einzig realen ; aber ſo es die Fruͤchte ſeiner
Thaͤtigkeit ohne Ausſicht auf wahre Verbeſſerung
ſeiner Umſtaͤnde , und ohne Ruͤckſicht auf die Nach-
kommenſchaft nur auffrißt , durchbringt , oder ſich
ſtehlen laͤßt , ſo iſt es juſt da , wo man es nicht im
Zaum halten , und mit keiner Gewalt dem Ausbruch
ſeiner Verbrechen , mehr als zum Schein , ſteuern
kann . — Die Erfahrung zeigte ihnen in ihrem klei-
nen Dorf , daß die Verbrechen in demſelben in dem
Maaß abnaͤhmen , als darinn die Leute ſparen ge-
lernt ; ſie wurden dadurch ſichtbar und allgemein
minder anſteckend — Und da Arner wußte , daß das
untruͤgliche Kennzeichen der Zeit und des Orts , wo
und wann die oͤffentliche Gerechtigkeit menſchlicher
werden koͤnne , dieſes ſey , wenn die Verbrechen
nicht mehr anſteckend ſind , ſo ſchafte er , ſo bald
er von der ſichtbaren Verminderung derſelben und
ihrer Anſteckung ſicher war , den Galgen ab , und
erklaͤrte feyerlich an der Gemeinde , ſo lange kein
Blutgericht in Bonnal mehr halten zu laſſen , als ſich
in der Gemeinde nicht 3 Menſchen faͤnden , die nach
der alten Art die Verbrechen zu behandeln , das Leben
verwirkt haͤtten . —
Es
Es war an eben der Gemeinde , an welcher er
den Entſchluß ihrer Erſparniſſe , zur Befreyung ihres
Lands anzuwenden , lobte , und ihnen noch einmal
Sicherheit von der Seite der Landsſtaͤnden ver-
ſprach . — Wo die Menſchen in eine Ordnung ge-
bracht , und in einer Ordnung gehalten werden ,
daß man nicht alle Augenblicke von ihnen fuͤrchten
muß , ſie jagen einander das Meſſer in den Leib ,
oder ſie zuͤnden einander die Haͤuſer an , da gehoͤren
die Verbrecher nicht mehr an den Galgen , ſondern
in den Spital , ſagte er an eben dieſer Gemeinde ,
und ſchenkte ihnen und ſeiner Herrſchaft ein altes
Jagdſchloß mit Wall und Mauer , darinn 15-20
Juchart Land eingeſchloſſen , zu einem ſolchen Spi-
tal fuͤr die Verbrecher . — Das Thor am Schloß
war von den Steinen des abgebrochenen Galgens
aufgefuͤhrt , und das Aeußerſte des Spitals ſo ſchauer-
lich und abſchreckend gemacht , als das Innere deſ-
ſelben ordentlich , regelmaͤßig und ſchonend , die ar-
men Leute in eine beſſere , vernuͤnftigere , und fuͤr
das buͤrgerliche Leben brauchbarere Seelenſtimmung
zu bringen , geſchickt , und mit aͤußerſter Sorgfalt ,
vieler Pſychologie , und noch mehrerer Volks-
kenntnis dazu angelegt war .
Aber er mußte noch mit dem Henker abſchaffen ,
daß er dieſes gethan habe . Am Tag darauf ſtund
er ihm vor der Thuͤr , brachte die unterthaͤnige
Vorſtellung ein , „ daß er einmal Henker ſey , und
B b
kein Brod habe , ſo der edelveſte Junker den Gal-
gen abſchaffe , und auch den Pranger nicht mehr
gebrauche , wie es die Zeit her geſchehen . “ —
Arner dachte wohl , er koͤnnte ihm ſagen , er
ſey noch jung und ſtark , und koͤnnte noch wohl et-
was andens lernen , als Menſchen haͤngen und aus-
peitſchen ; aber er wußte , was das in der Welt fuͤr
Schwierigkeiten habe , fand es wirklich billig , wenn
die Geſellſchaft jemanden in ihrem Dienſt zu etwas
mache , daß er faſt nichts mehr anders werden koͤn-
ne , ſo muͤſſe ſie ihn dann auch erhalten , wie er ſey .
Er fragte ihn , wie viel ihm ſein Dienſt eingetragen ,
da er noch nichts zu klagen gehabt ? Und auf ſeine
Antwort , bot er ihm das Doppelte an ; und im
Heimgehen wuͤnſchte dieſer herzlich , daß auf dieſe
Weiſe alle Galgen in der Welt abgiengen . —
Aber der Junker mußte noch mit mehrern Leu-
ten , als nur mit dem Henker , abſchaffen , die durch
die gute Ordnung Dienſt- und Brodlos wurden .
Ich mag ſie nicht nennen . —
Am Ort , wo der Galgen geſtanden , richtete
er eine Saͤule auf , mit der Ueberſchrift : „ Das
Hochgericht abgeſchaft durch gute Ordnung 1786 . “
Run ließ er auch die Urkunden ſeines Volkfeſts oͤf-
nen , und der Gemeinde vorleſen ; beſtimmte den
Mayen kuͤnftigen Jahrs zur erſten Feyer deſſelben ;
und mit dieſem Schritt hielt er ſein ganzes U nter -
nehmen , in Abſicht au f dieſes Dorf , in allen ſeinen
Theilen nun vollendet , oder damit ich mich richti-
ger ausdruͤcke , vollkommen angefangen . —
§. 64 .
Ein Bild der Welt — im Wirrwarr von
Irrthum und Trugſchluͤſſen .
I ndeſſen vernahmen ſie in Bonnal die ganze Zeit
nichts vom Herzog . Bylifsky ſchrieb zwar immer
an Arner , foderte forthin Nachrichten vom Fort-
gang der Sachen , billigte Schritt fuͤr Schritt was
ſie vornahmen , lobte und ermunterte in jedem Brief
den Lieutenant , aber vom Herzog nie keine Sylbe .
Arner fand es ſelber ſonderbar , und ſagte den ge-
raden Weg , es mache ihm Muͤhe . Der Lieutenant
hingegen widerſprach allemal , wenn davon die Rede
war , und behauptete , das aͤndere im Ganzen
nichts , und man koͤnne gleich auf ihn zaͤhlen wie
Gold , er habe ihm ſchon in Bonnal den Wink ge-
geben , daß es ſo kommen koͤnnte , da er beym
Pfarrhaus die Worte zu ihm geſagt , deren er ſich
noch gar wohl erinnere : „ Er ſolle vollends han-
deln , wie wenn er ihn nicht kennte , und wie wenn
er nicht in der Welt waͤre . “ —
B b 2
Er hatte Recht ; ſeitdem Bylifsky den Entſchluß
genommen , den Dickhals in ſeiner Arbeit , den Her-
zog uͤber das Bonnalerweſen erkalten zu machen ,
nicht zu ſtoͤren , bis es Zeit ſey , konnte er ihnen
auch nichts weiters ſagen , als er wirklich that .
Es war ein Meiſterſtuͤck der treuen Ehrlichkeit ,
und der ſichergehenden Unſchuld gegen den hoͤch-
ſten Flug des feinſten und ſchlaueſten Gegnermuths .
Er ließ Helidor vollkommen ſiegen . Der ganze
Hof ſang ſein Lied . Der Herzog ſelber ſagte : es ſey
mit dem Bonnalerweſen ein Traum , und nichts
anders ; und jedermann glaubte , Bylifsky laſſe es
gelten , und ſchaͤme ſich izt ſelber , daß er ſo viel
daraus gemacht . —
Niemand als der Dickhals ſah was wahr war ,
daß der Feind ſich nur zuruͤck gezogen , und daß er
ihn nichts weniger als geſchlagen , ſondern viel
mehr ganz ſicher noch einen Kampf mit ihm zu be-
ſtehen haben werde ; er fuͤhlte auch , daß die Sie-
gerſtellung , in der er zu ſtehen ſchien , nichts weni-
ger als vortheilhaft fuͤr den Angriff , der ihm bevor
ſtehen koͤnnte , ſey ; aber es war zu ſpaͤt ; der Ton
war gegeben , und er konnte izt nichts mehr ma-
chen , als die Umſtaͤnde abwarten , und Bylifsky
beobachten , welches langweilig und ſchwer war ,
weil dieſer nichts that — ( verſteht ſich in dieſem
Stuͤck ) — und es iſt Steintrager-Arbeit , paſſen
und lauren , wo ſich nichts regt ; und dazu machte
er Bylifsky mit ſeinem Lauren noch Vergnuͤgen :
das Bollaug konnte nicht anderſt , als ſich aufthun ,
wenn dieſer um den Weg war ; ſo ſehr ſein Meiſter
ſonſt ſein Geſicht und ſeine Falten in ſeiner Gewalt
hatte , und ſo gern er gegen jedermann that , als
ob er Niemanden achte , ſo konnte er es izt nicht
mehr gegen Bylifsky . —
Aber es war lange nicht ſo ; ſehr lange glaubte
er , er habe das Feld wirklich behauptet ; und der
Eindruck , den er mit dem Wort , „ die Welt iſt ein
Narrenhaus “ , mit ſeiner Terne und Quaterne , und
mit vielem anderm , dießfalls auf den Herzog ge-
macht , habe Bylifsky mit ſeiner Traͤumerprotek-
tion gaͤnzlich zum Schweigen gebracht . —
Der Herzog war ſo viel als ganz abgelenkt ; es
that ihm freylich manchmal noch weh , das ſchoͤne
Ding fuͤr Nichts zu achten , und ganz aus dem Kopf
zu ſchlagen ; aber Helidor wußte immer alle ſeine
Launen zufrieden zu ſtellen , und ihn vergeſſen zu ma-
chen , was er wollte , daß er vergeſſe . Bylifsky
that ſeine Geſchaͤfte , und ließ kein Wort mehr da-
von fallen . Ein einzigesmal ſagte der Herzog zu
ihm : Es iſt Schade , daß auch dieſes nichts iſt , und
es thut mir weh ; aber es iſt wahr , die Menſchen
ſind nicht in der Welt , die darinn ſeyn muͤßten ,
wenn man ſo etwas als eine Staatsſache ausfuͤh-
B b 3
ren wollte . Ihr Durchlaucht ! erwiederte Bylifs-
ky , der Menſch iſt ein ſehr gelehriges Thier
Anmerkung . Muß ich auch hier wieder-
holen ? Ich ſage nicht , der Menſch iſt ein Thier
— ich ſage nur , der Miniſter Bylifsky hat ge-
ſagt , der Menſch iſt ein gelehriges Thier . — , aber
man muß ihm alles zeigen , was er nicht kann , und
ihn zu allem anfuͤhren , was er ſeyn muß , und ſo iſt
es auch mit dieſem , man muß ihn dazu anfuͤhren . —
Ach Gott ! ſagte der Fuͤrſt , das iſt nicht moͤg-
lich , und brach das Geſpraͤch ab . Der ganze Hof
meynte , er habe alles aus dem Sinn geſchlagen ;
und Sylvia , die auch wieder da war , und ihren
Mezgerhund voͤllig wieder vergeſſen , ſtreckte den
Hals wieder wie vor und ehe , und wie ſie ihn wie-
der ſtreckte , wuchs in ihrem alten lahmen Seelchen
der einzige Muth , der darinn Plaz hatte , der Muth ,
ſich zu raͤchen ; ſie glaubte , es ſey izt die rechte Zeit ,
und erzaͤhlte die Bettlergeſchichte des verlo ff enen
Lieutenants , und den Brodmangel des armen
Manns , der zum Schulmeiſterhandwerk gezwun-
gen , wo ſie konnte und mochte ; und ſo , wie die
Karten lagen , gab es Herren und Damen recht viele ,
die das gern hoͤrten , und was ſie nur wußte , und
noch mehr dazu , erzaͤhlte ſie von dieſem Landſtrei-
cher , der ihren guten Vetter mit ſeinen Dorfkindern
bis in des Herzogs Stuben hieinbringen koͤnnen , wo
er izt noch hange , aber vielleicht nicht lange mehr
hangen werde , wenigſtens unter keinem Titel hin-
paſſe . Das iſt wohl wahr , ſagte einer , der den
Herzog recht gut kannte , und es nimmt mich Wun-
der , wenn er ihn nicht einmal verbrennt , oder zum
Fenſter hinaus wirft — und erzaͤhlte , wie er den
Bauernbuben die Haare abſchneide , wie er ſie ſchoͤn
ſchreiben und Feldmeſſen lehre , indeſſen der blinde
arme Vetter ſeimen eigenen Buben in der groͤßeſten
Unwiſſenheit aufwachſen , und zu einem Bauern-
toͤlpel werden laſſe , daß weit und breit wohl kein
groͤßerer herum laufe ; vergaß auch die ſchoͤne Frau
nicht , die dem Herr Lieutenant ſein Gluͤck gemacht ,
und ihm die ganze ſaubere Schulordnung einge-
richtet , und was das fuͤr ein Muſtermenſch ſey , und
wie es mit ſeinen Kindern umgehe , wenn etwa ei-
nem ein Wort entrinne , das dem Hrn. Lieutenant
und Kompagnie nicht anſtehe , wenn es ſchon wahr
ſey .
Das gab dem Muͤßiggaͤngervolk , das vom He-
lidor ſchon auf dieſen Ton geſtimmt war , Stof ,
daruͤber ſein Geſpoͤtt zu treiben ; und da ſie meyn-
ten , der Miniſter achte es nicht , und dem Liebling
ſey es Weihrauch , ſo thats jeder ; man ſpoͤttelte am
Spieltiſch , man laͤchelte an der Tafel , man bemit-
leidete in der Geſellſchaft , man hoͤnte laut unter
vier Augen ; die tiefſte Niedertraͤchtigkeit ruͤhmte die
Engelſeele des Junkers , der ſich zu ſolchen Narr-
B b 4
heiten verleiten laſſe . En Geiſtlicher ſagte , im
Himmel , im Himmel ! da ſehen wir den heiligen
Engeln dann gleich ; aber auf Erden , ſezte der
Prieſter hinzu , gehoͤrt der Bauer ins Koth , und die
Obrigkeit hat das Recht zu fiſchen und zu jagen .
Ein Philoſoph meynte , es koͤnnte nicht anderſt
ſeyn , es muͤßte kommen wie in der verkehrten Welt ,
wo der Eſel dem Herrn den Bart puzt — Baronen
und Grafen , wenn ſie luͤmpelen , muͤßten ſo Bauern
werden ; und Bauern , die ſchakkerten , koͤnnten
Baronen und Grafen werden , und man koͤnnte
dann keine Dienſt mehr finden .
Es iſt dumm , ſagte ein anderer , das iſt ja , wie
wenn das Menſchengeſchlecht in der Welt zu ſpinnen
und zu weben waͤre , es iſt viel zu edel dafuͤr . —
Juſt umgekehrt , ſagte ein anderer , wenn das
Menſchengeſchlecht edel waͤr , ſo koͤnnte man wohl ſo
etwas mit ihm probieren , aber Gott behuͤte uns vor
ſeinem Adel — die Quelle alles dieſes Narrenpro-
bierens iſt juſt , daß man das glaubt , und das natuͤr-
liche Verderben der Menſchen nicht erkennen will ;
aber man gehe nur aufs Dorf , ſetzte er hinzu , und pro-
biere , wer einem danke , wenn man ihm etwas Gu-
tes rathen will , ich habe es erfahren , ich habe auch
Projekte gemacht , und es gewiß gut gemeynt — aber
der Menſch iſt im Grund verderbt , und nimmt das
Gute nicht einmal an , wenn man ihm es noch ſo
deutlich ſagt , und ſo zu reden , umſonſt zeigen will .
Selig wer fuͤr ſich ſelber ſorgt , ſagte ein Rau-
cher , und bließ dem andern , der vor ihm zuſtund ,
den Knaſter ins Geſicht .
So war es izt . — Selbſt der Fuͤrſt hoͤrte hie
und da ein Wort von dieſem Unfug ; aber er zeigte ,
daß er keinen Gefallen daran habe , und wich es aus
mit jemand davon zu reden .
Es gab immer noch Augenblicke , da ihm das
Waſſer in die Augen kam , wenn er vor Arner und
ſeinen Kindern zuſtund , aber das war ihm auch
nicht recht . — Daß ich doch ſo ein Narr bin , und
mich immer mit meinen Traͤumen plagen muß , ſagte
er einmal , da ihm ſeine Augen ſo zur Unzeit daruͤ-
ber naß wurden , zu ſich ſelber , ſein Herz ſchlug ihm da
ers ſagte . — Er blieb noch einen Augenblick vor dem
Gemaͤhlde ſtehen , ſah es ſtarr an — ſagte dann wie-
der — Nein , es iſt doch nichts als Traum — ! —
Und einen Augenblick darauf — es betruͤgt und plagt
mich . — Mit dem Wort warf er einen Marmor ,
der auf ſeinen Papieren ihm an der Hand lag , ge-
gen das Gemaͤhlde hin , der gieng durch , machte
mitten durch Arners Kopf einen Riß — wie es ge-
woͤhnlich geht , wenn Fuͤrſten einem Menſchen im
Mißmuth das an Kopf ſchmeißen , was ſie in Haͤn-
den haben .
Aber der Herzog ſchaͤmte ſich , ſo bald Arner
das Loch im Kopf hatte , und nahm das Gemaͤhlde
mit eigener hohen Hand von der Wand herunter ,
that es hinter den Schluͤſſel , wo Niemand ſo leicht
hinkommt , und ſah es noch , ehe er die Thuͤr be-
ſchloß , mit einer Art von Wehmuth , die ihn wie-
der weinen machte , an ; ſagte dann zu ſich ſelber —
er hat doch das nicht verdient ! — Aber es war
nun einmal ſo ; es war von der grauen Wand hin-
unter , der Dickhals hieng wieder allein da wie
vorher , doch wußte kein Menſch wie es gekommen ,
und der Herzog ſagte auch dem Helidor nicht was
begegnet ; aber das Affenvolk von der Aufwart
glaubte es dennoch zu wiſſen , hielt es fuͤr ein un-
truͤgliches Zeichen der allerhoͤchſten Ungnade , und
dieſe Notables des Herzogthums , die in den Ge-
maͤchern des Fuͤrſten aus- und eingehen , trieben izt
die Unverſchaͤmtheit uͤber den Arner und ſein Weſen
zu reden aufs Aeußerſte , ſo , daß Helidor ſelber an-
fieng zu widerſprechen , wenn es zu bunt gieng ; es
machte ihm wirklich bang , ihr wiſſet warum , aber
er konnte izt nicht mehr helfen ; er hatte den Bach
anlaufen laſſen , und nun war es umſonſt , dem
Waſſer zu ſagen , wie weit er gern haͤtte , daß es
naß mache . —
Der arme General ſaß bey Hof wie auf Na-
deln . Er war gekommen , und meynte ſein Vetter
waͤr oben am Bret , und der Herzog werde ſicher
mit ihm von ihm reden — izt war es ſo , der Her-
zog hatte noch kein Wort mit ihm geſprochen . By-
lifsky wich ihn aus ; und der Hof ſpottete , wenn
von ihm die Rede war . Das einzige liebreiche und
billige Wort , das er uͤber den Vetter gehoͤrt , war
von Helidor ; auch ſchrieb er ihm in den erſten 8
Tagen folgenden Brief —
Armer Vetter !
„ Du biſt betrogen ! Der Miniſter , der dir aufs
Dorf hinaus ſo freundlich ſchreibt , thut hier , als
wenn du nicht in der Welt waͤreſt ; ich habe ihn ſo
vielmal geſehen , und noch kein einzigesmal gehoͤrt
nur deinen Namen ausſprechen : es ſcheint , deine
Sachen muͤſſen dem Herzog auf einer Seite vorge-
ſtellt worden ſeyn , daß ſie ihm mißfallen . Izt laͤßt
es Bylifsky gelten , und ſchweigt von allem : Auch
dein Gemaͤhlde iſt , wie ich es mir aber vorher ein-
gebildet , aus dem Kabinet fort , und Helidor
haͤngt wieder allein darinn . Meine Ehrlichkeit
fodert , daß ich dir das alles ſage , du haſt keinen
Menſchen hier , der ſich deiner annimmt ; und ſo iſt
doch zulezt alles wahr , was ich dir im Anfang ge-
ſagt , daß du dich umſonſt plageſt ; du wirſt es nicht
glauben , aber wenn jemand noch hier iſt , der es
gut mit dir meynt , ſo iſt es Helidor ; es moͤchte mir
das Herz zerſprengen , daß der andere izt ſo gegen
dich iſt , wie ich ihn izt erfahren . “ —
So ſchrieb der General , und meynte , daß
das , was er ſchrieb , ſo wahr als das Wort Got-
tes . — Er hatte ja alles mit ſeinen Augen geſehen ,
und mit ſeinen Ohren gehoͤrt , und es fehlte ihm
gar nichts , als die Urſachen und den Zuſammen-
hang davon . —
§. 65 .
Das Gewaͤſch uͤber Arners Weſen , das
in Tag hinein ſo laut toͤnte , wird denn
wohl enden .
D er Hof vernahm jeden Schritt , den Arner
weiters that . Aber die Nachricht von der Ab-
ſchaffung des Galgens , und vom Zuſammenlegen der
40000 Gulden , ſchien unglaublich ; man zog Nach-
richten ein ; die Sache beſtaͤtigte ſich ; der ganze Hof
ſtaunte ; und der Herzog ſagte auch bey dieſem Anlaß ,
der Traum iſt Himmel ſchoͤn ; aber je weiter er ihn
treibt , je deutlicher faͤllt es auf , daß die Ausfuͤh-
rung im Großen unmoͤglich . —
Man hats ja in B** und O** erfahren , daß es
mit dem Galgen nicht ſo angeht , ſagte das Hofvolk —
Aber es iſt doch erſtaunlich , daß es ihm angeht ,
ſagten einander einige Weiber — dennoch ſpottete
man izt mehr ſo ; man hielt das Weſen nunmehr
fuͤr eine Raritaͤt und fuͤr einen Guckkaſten , und es
wurden Partheyen abgeredt , auf den kuͤnftigen
Sommer das Weſen in Bonnal zu ſchauen , wie
man Partheyen abredt , den Gletſcher zu ſehen , und
vor kurzem auch den Micheli von Langnau . Dieſer
Gang der Dingen aber gefiel dem Helidor gar nicht ,
er fieng an daruͤber ſehr ernſthaft zu werden ; das
unabaͤnderliche Schweigen Bylifsky bey ſeiner eben
ſo ununterbrochenen Aufmerkſamkeit auf dieſen Ge-
genſtand laſtete ihn , wie ihn noch nichts laͤſtete ;
es ahndete ihn , was ihm bevor ſtund ; und er ver-
heelte es ſich nicht , es naͤhere ein Sturm , der ihm
ſeinen Sieg entreißen koͤnnte . Dieſer Menſch , ſagte
er zu ſich ſelber , zieht mich durch die Stille , mit
der er ſeinen Karren anhaltend fortſchleppt , in
Grund . Er wußte , daß Bylifsky ſeinen Brief-
wechſel mit Arnern beſtaͤndig unterhielt , und daß
er ſeit ein paar Monat alle Wochen zwey Abende
regelmaͤßig mit Endorf , der an der Spitze der Fi-
nanz , und Nelkron , der an der Spitze der Juſtiz
ſtund , ganz allein zubringe ; wußte , daß dieſe zwey
alte Diener des Herzogs , ſeit Anfang ſeiner Regie-
rung , allen Projekten deſſelben entgegen geweſen ,
und ohne Widerred , in Abſicht auf den Zuſtand
der Verwaltung des Lands und die Quellen ſeines
Wohlſtands entſcheidende und aͤußerſt ausgebreite-
te Kenntniſſe hatten . Dieſe beyden Maͤnner ſchwie-
gen izt uͤber Arners Thun , wie Bylifsky ; Heli-
dor kam nicht dazu , ihnen ein Wort zu entlocken ,
wie ſie daruͤber denken . Er fuͤhlte , daß das Wet-
ter von dieſer Seite gegen ihn anruͤcke , und war
aͤußerſt betroffen ; da er ſonſt mit ſeiner weiten Naſe
alles ſchnell roch , hatte er doch dieſes lange nicht
gerochen , und ließ es ſich vor wenigen Wochen
nicht von Ferne traͤumen , daß Bylifsky in dieſer
Sache mit dieſen Maͤnnern einſtimmig werden wuͤr-
de , aber es war nun ſo — ſie hatten es Monate
lang uͤberlegt , aber nunmehr ſich beſtimmt erklaͤrt ,
die ehemalige Projekte des Herzogs ſeyen alle dahin
aus gelaufen , man ſolle trauen und geben ;
von dieſem hingegen beſtehe das Weſentliche darinn ,
zu machen , daß man trauen muͤſſe , und vom
Geben ſey gar keine Rede . — Auch habe man bey
den andern Projekten immer alles Gute , das ſchon
da geweſen , wie nichts fortfliegen , und wie die
Goldmacher das Gold im Rauch aufgehen laſſen .
Arner hingegen ſuche mit der thaͤtigſten Sorgfalt
ein jedes auch noch ſo kleines Gute , das ſchon da
ſey , zu erhalten , zu nutz zu ziehen , und hoͤher zu
treiben ; auch paſſe er alles Alte ſeiner Manier an ,
und er uͤberfluͤgle dadurch dieſe Freßthiere wie ein
Adler eine Fledermaus . Sie erkannten ſelber , er
binde den Faden der Juſtiz und Finanz da wieder
an , wo bis izt alle Weisheit der Kabineter ſein Ab-
ſchneiden nicht hindern konnten , und wirke beſtimmt
auf diejenige Stellen , und nach denjenigen Ge-
ſichtspunkten , die theoretiſch ſchon laͤngſt allgemein
als die Hauptſtellen und Hauptgeſichtspunkte , auf
welche , und nach welchen man bey aller wahren
Menſchenfuͤhrung wirken ſoll , anerkannt ſeyen , in-
deſſen aber niemalen durch praktiſche Verſuche ,
mit richtiger Ueberſicht des Ganzen , alſo erprobet
worden , wie er es gethan . —
Sie geſtunden , die Finanz , wie ſie gegenwaͤr-
tig betrieben werde , halte ſich faſt vollends nur bey
der Ausbeute auf ; er hingegen ſteige bis in das
Innere des Bergs , und mache bey den Quellen der
Ausbeute Ordnung , wo faſt noch gar nie eine ge-
weſen .
Eben ſo bekannten ſie , der wahre Vortheil der
Landsgerechtigkeit hange ganz von dieſer Sorgfalt
fuͤr die Quellen der Finanz ab .
Nelkron ſagte deutſch , die Finanz des Staats
bleibt ein ewiger Meerſtrudel , der alles , was ſich
ihm naͤhert , in ſeinen Abgrund verſchlingt , und nie
nichts wieder giebt ; und die Gerechtigkeit iſt wie
die Peſt , die oͤffentlich toͤdtet , was ſie im Finſtern
anſteckt , ſo lange die Menſchen nicht zu dem ge-
macht werden , was ſie ſeyn ſollen , und die Lei-
tung , Fuͤhrung und Bildung der Menſchen nicht
einerſeits mit ihren Umſtaͤnden uͤberhaupt , ander-
ſeits mit den Beduͤrfniſſen der Finanz , und den
Foderungen der Gerechtigkeit in Harmonie gebracht
werden — und fand einſtimmig die gute Bildung
des Menſchen zur Induſtrie , das iſt , zur Hervor-
bringung und zu Rathhaltung des Hervorgebrach-
ten , oder zum Verdienſt und zur Sorgfalt fuͤr das
Erworbene , ſey das einzige wahre Mittel , zu die-
ſem Ziel zu gelangen , und dadurch auch der endli-
chen Erreichung der hoͤhern Endzwecken der Staats-
geſezgebung entgegen zu ruͤcken , und namentlich
die Vereinfachung der Finanzoperationen dahin
moͤglich zu machen , daß der Beytrag der einzeln
Menſchen zu den oͤffentlichen Abgaben zwiſchen den
Belaſteten in ein billiges Ebenmaaß gebracht , und
ihre Enthebung nicht weiter durch die volksbedruͤ-
ckenden Umſtaͤnde , mit denen ſie begleitet , der Quelle
aller Staatsreſource ohne Maaß mehr ſchade , als
der Betrag des Beytrags von Seiten der zerruͤtte-
ten niedern Staͤnden ihm werth ſein kann — an-
derſeits den Quellen der Verbrechen zu ſteuern , die
ſo ſichtbar und ſo allgemein von dem Mangel der
Bildung der Menſchen fuͤr die Befriedigung der in
der Welt immer wachſenden Staatsbeduͤrfniſſe her-
ruͤhren .
Sie machten keine Schwierigkeit mit Bylifsky
einzutreten , dem Herzog als eine Staatsangelegen-
heit vorzutragen , Arners Volksbildung in ihren
Grundſaͤtzen genau und mit dem Endzweck zu unter-
ſuchen , den Mitteln nachzuforſchen , ihre Ausfuͤhrung
allgemein zu machen .
Auch
Auch fanden ſie zum Vorans , dieſer ſo weit
gehende Vorſaz fodere keine andere Einmiſchung des
Staats , als erſtlich einen oͤffentlichen Lehrſtuhl
uͤber die Wiſſenſchaft der Volksfuͤhrung nach Arners
Grundſaͤtzen , um beſonders den jungen Adel auf
ſein großes Intereſſe in dieſer Sache aufmerkſam
zu machen : zweytens , die Errichtung einer Staats-
kommißion , die mit dem Weſentlichen dieſer
Grundſaͤtzen , ſo , wie mit den Lokalbeduͤrfniſſen
und Lagen der verſchiedenen Theilen des Reichs
bekannt , mit den einzelnen Perſonen , die mehr
oder weniger auf dies Syſtem zu arbeiten ſich ent-
ſchließen wuͤrden , in Verbindung treten muͤßte ,
um ſie mit ihrem Rath und ihren Einſichten zu un-
terſtuͤtzen , mit dem Erfolg ſowohl , als mit den
Schwierigkeiten aͤhnlicher Verſuchen bekannt zu
machen , und indeſſen ſelbſt genaue Tabellen von
dem allſeitigen Fortgang der Sache aufzunehmen ,
und ſich ſo des wahren Zuſtands eines jeden einzel-
nen Verſuchs in allen ſeinen Theilen zu verſichern
haͤtte , um die Mittel zur Hand zu bringen , den
allſeitigen Fortgang der Sache von Staatswegen
zu befoͤrdern , und das beſtimmte Maaß des Ein-
fluſſes dieſer verſchiedenen Verſuchen auf das Ganze
ſo richtig beurtheilen als leiten zu koͤnnen ; wobey
indeſſen Niemandem im Land zugemuthet wuͤrde ,
weder mittelbar , noch unmittelbar , mit dieſer
Staatskommißion in Verbindung zu treten , wenn
C c
er nicht wollte . — Das war ihr Plan . — Sie rech-
neten in demſelben gar nicht auf die Tugend der
Menſchen , ſondern blos auf ihre Gierigkeit ; aber
ſie wußten , daß ihre Tugend wie ein Propfreiß auf
dem wilden Stamm dieſer Gierigkeit kann gezwei-
get werden , und auf demſelben ſo feine Fruͤchte zu
tragen im Stande iſt , als ihre Natur jemals her-
vorgebracht hat . —
Nelkron ſagte , wenn die Ausfuͤhrung dieſer
Grundſaͤtze ſich durch nichts erproben wuͤrde , ſo fiel
ſie dadurch auf , daß die erſten Menſchenfreſſer dieſer
Erde , den Schaafpelz dieſer Grundſaͤtze anziehen
muͤßten , um dadurch zu ihrem Fraß zu gelangen ,
wie zu leſen in den Lobpreiſungen des Fleißes , der
Betriebſamkeit , und der haͤuslichen Gluͤckſeligkeit ,
als den erſten Stuͤtzen des Staats , in Kabinetsor-
dern und motivirten Befehlen beſtohlner Fuͤrſten an
ausgeſogene Voͤlker . —
Auch das fanden ſie , Arner waͤre nicht dahin
gekommen , den Galgen abzuſchaffen , und in einem
Dorf einen Steuerfond entſtehen zu ſehen , wenn er
auf dieſe beſtimmte Endzwecke hin gearbeitet haͤtte ;
ſondern ſey eigentlich dadurch dahin gekommen , weil
er nichts geſucht , als jeden einzeln Menſchen in ſei-
nem Dorf fuͤr ſich ſelber , und fuͤr das Seinige in
Ordnung zu bringen ; und die weitern allgemeinen
Geſichtspunkte ſeiner Dorfregierung nicht anderſt ,
und durch keine beſondere Anſtalten allein betrieben ;
ſondern ſie blos als Folgen ſeiner Aufmerkſamkeit
auf den Vorſchritt ſeiner Dorfleute in ihrer Pri-
vatweisheit , Privatordnung , Privatwohlſtand an-
geſehen , abgewartet , und benuzt .
Und dieſe Bemerkung ſchien ſie auf eine einfache
und ſichere Art zu dem Grundſatz zu fuͤhren , daß
die groͤßern Geſichtspunkte der Staatsweisheit bey
einem Volk auf eben dieſe Art muͤſſen erzielet wer-
den , und daß ihre Erreichung ebenfalls darauf ruhe ,
daß die Regierung in ihren groͤßern Kreiſen ihre
Aufmerkſamkeit und ihren Einfluß eben ſo dahin
lenke , daß ein jedes Glied der Geſellſchaft fuͤr ſich
ſelbſt , und fuͤr das Seinige , in eine gute Ordnung
gebracht und darinn erhalten werde ; und denn auch
das uͤbrige , nemlich die groͤßern Staatsendzwecke ,
als die Verbeſſerung der Finanz und Juſtiz , als na-
tuͤrliche Folgen des allgemeinen Vorſchritts der Men-
ſchen , in ſeinen verſicherten , und feſt auf haͤusliche
Weisheit und Ordnung gegruͤndeten Privatwohl-
ſtand anſehe , abwarte , und benutze .
Sie betrachteten in dieſem Geſichtspunkt einen
ganzen Abend den Einfluß der Reformations-Epoche
auf Europa , und erſtaunten ab der Bemerkung , wie
wenig es zur allgemeinen Erheiterung der Regierun-
gen , uͤber die aͤchten Grundſaͤtze , die Menſchheit
weiter zu bringen , beygetragen , daß alle Laͤnder ,
in denen durch die Reformation die Aufmerkſamkeit
C e 2
der einzeln Menſchen , auf ihre geiſtliche und zeitli-
che Wohlfart und Sicherheit allgemein rege gemacht
worden , einen ſo auffallenden Vorſprung gegen die
katholiſchen Laͤnder , in denen dieſe Aufmerkſamkeit
der einzeln Menſchen auf ihre Wohlfart und Sicher-
heit damals durch Nichts ſo l e bhaft rege gemacht
worden , genommen haben . —
Und wie es dann geht , ſie kamen in dieſem
Geſpraͤch auf das neue Maͤhrchen , daß Europa eine
Religions-Veraͤnderung zugeruͤſtet werde . —
Nelkron , der alte Feind der Pfaffen und ihres
Einfluſſes , behaupte die einzige Bemerkung von dem
auffalenden Unterſchied des Finanz-Zuſtands der re-
formirten und der katholiſchen Laͤnder , in dem
zwey Jahrhundert ſich beyderſeitige Lande , in Ab-
ſicht auf den Vorſchritt , in allen Kraͤften des Staats ,
und des Vorſchritts des Wohlſtands der Einwohner
noch izt befinden , muͤſſe ein jedes Kabinet von Eu-
ropa gegen den Gedanken einer ſolchen Seelenver-
einigung der Menſchen empoͤren . — Wenn je et-
was wahr iſt , ſezte er hinzu , ſo iſt es dieſes : die
Staͤrke des Staats ruhet darauf , daß ſeine Glieder
Raum und Spielkraft und Reiz finden , an Leib
und Seel fuͤr ſich ſelber zu ſorgen , und eine ſolche
Vereinigung wuͤrde dieſen Raum und dieſe Spiel-
kraft , und dieſen bildenden Reiz im Menſchen er-
ſchlaffen , wie weiche Betten die Glieder eines Kaͤm-
pfers — und mit Eifer ſezte er hinzu , Geſchichte
und Erfahrung beweiſen , daß die Kraͤfte des Men-
ſchen und ganzer Geſchlechter von Menſchen ſchwin-
den , wenn ſie dahin gebracht werden zu glauben ,
es ſorge jemand ohne ihr Zuthun an Leib und Seel
vor ſie , hieße er dann wie er wolle , Koͤnig oder
Prieſter . —
Es iſt dann noch ein Unterſchied , obs der Koͤ-
nig oder Prieſter gemeynt ſey ; es ſind dem Men-
ſchen fuͤr den Koͤnig ſeine fuͤnf Sinnen nicht halb ſo
feil als fuͤr den Prieſter , ſagte Bylifsky .
Da haben ſie recht , erwiederte Endorf , es iſt
als wenn er ſeiner Natur nach nicht anderſt koͤnnte ,
als fuͤr die Sache ſeiner gottesdienſtlichen Lehre
blind ſeyn ; er iſt es ſicher nicht den Zehenden ſo ſtark
und ſo gern fuͤr das Syſtem ſeines Koͤnigs in der
Verwaltung des Lands . — Aber uͤberall und in
allem , ſezte er hinzu , hoͤrt der Menſch auf die Oh-
ren zu ſpitzen , und die Augen offen zu halten , ſo
bald er ſich vereinigt und ſicher glaubt ; im Gegen-
theil macht ihn nichts ſo Augen und Ohren brau-
chen , und auf ſeiner Huth zu ſeyn , als das rege
Bewußtſeyn der Unſicherheit und Trennung ; und
wenn etwas auffallend wahr iſt , ſo iſt es dieſes :
das Aufgeben dieſes regegemachten Gefuͤhls der Un-
ſicherheit in Religionsſachen koͤnnte eine unabſeh-
bare ſchaͤdliche Wirkung zur Abſchwaͤchung der dem
Menſchengeſchlecht ſo allgemein und dringend noth-
wendigen Vorſichtigkeits- und Sorgfaltskraͤften her-
vorbringen .
C e 3
Das iſt richtig , erwiederte Bylifsky , es koͤnnte
unmoͤglich anders ſeyn , als der Glaube , es ſey mit
der Religion alles in Ordnung , mußte die Meſch-
heit nothwendig uͤber dieſen Punkt blind und ſorg-
los machen ; und eben ſo nothwendig mußten die
in ſeinem Innerſten beguͤnſtigte Schwaͤche und
Sorgloſigkeit ſich auf das Ganze ſeines Zuſtands
und ſeiner Stimmung ausbreiten — und doch waͤre
dieſer Glauben , es ſey dann mit der Religion alles
in Ordnung , das oͤffentliche Ziel einer ſolchen Ver-
einigung . —
Endorf aber meynte , die Welt ſey zu ſtark vor-
geſchritten , als daß ſie izt noch etwas von einer
Schlinge zu befahren haͤtte , die ihr von dieſer Seite
gelegt werden koͤnnte .
Aber Nelkron ſagte , der Menſch legt ſich mit
Leib und Seele ſo gern auf die faule Haut , und es
kommt darauf an , wie weit die Urheber eines ſol-
chen Vereinigungsplans einen mehr oder minder
klugen Gebrauch von dieſer Menſchenſchwaͤche , die
unſere Tage dennoch ſo ganz beſonders auszeichnen ,
machen wuͤrden . — Wenn ſie z. Ex. den erſten Be-
cher dieſes Seelenopiums Fuͤrſten austrinken ma-
chen wuͤrden , ſo bin ich ſicher , daß ganze Voͤlker
nach ihnen den Hepfen dieſes Schlaftranks hinun-
terſchlucken , wie einen Goͤttertrank . —
Der Grad unſerer Aufklaͤrung macht das un-
moͤglich , meynte Endorf .
Schweig doch mit deiner Aufklaͤrung , erwie-
derte Nelkron ; wenn ich das Wort hoͤre , ſo faͤllt
mir der Stadt-Rathsherr ein , der ob ſeinem Glau-
ben an dieſe Aufklaͤrung eine Wette mit einem
Schauſpieler verlor : er behauptete , ſeine ( nemlich
des Rathsherrn ſeine Stadt ) ſey zu aufgeklaͤrt , als
daß ſie ein ſchlechtes Theaterſtuͤck nicht auspfeifen
wuͤrde . Der Schauſpieler erwiederte , die duͤmmſte
Harliquinade muͤſſe der Stadt gut genug ſeyn , und
mehr gefallen , als alles , was ſie bisher geſehen . —
Der Herr Rathsherr ließ ſich in ſeiner Stadt
gegen den Fremden ſo weit hinab , daß er mit ihm
wettete , das ſey nicht moͤglich ; und dieſer , mit der
Zuverſicht eines Manns , der in ſeinem Leben ſchon
durch gar viele Thore hineingegangen , nahm des
Rathsherrn Wette an , ſpielte zwey Stuͤck , und die
gute Stadt klatſchte dem Narrenſtuͤck , und gaͤhnte
beym Guten — ſo viel iſt ſich auf ein ſolches Raths-
herren-Vertrauen auf die Aufklaͤrung ihrer Staͤdten
und Landen zu verlaſſen ! — Einen Augenblick dar-
auf ſagte er noch : die Geſchichte der großen Welt ,
oder vielmehr der großen Staͤdten , beweiſet nichts
auffallender , als daß dieſes Phantom unſerer Zeit ,
ſo einſeitig als ſein Vorſchritt gelaſſen wird , ſo ſon-
derbar als es ſich an falſche Begriffe von natuͤrlicher
Einheit ankettet , und bey dem ſichtbaren Mangel
daſſelbe auf den wahren Wohlſtand des Volks , auf
gute , haͤusliche Sitten , und buͤrgerliche Weisheit
C c 4
zu bauen , unter dieſen Umſtaͤnden leicht eine Wen-
dung nehmen kann , den Menſchen in eine ſeinem
wilden Zuſtand ſich naͤhernde Vervieherung ( abru-
tiſſement ) hinabzuſtuͤrzen , in welcher die religioſe
Schwaͤrmerey denn wirklich gegen dieſe Aufklaͤrung
wie ein Himmels Licht , das mitten im Rauch und
Dampf eines fuͤrchterlichen Erdbrands leuchtet , er-
ſcheinen koͤnnte . —
Gott bewahre uns vor beydem ! vor dem
Dampf des Erdbrands , und vor der Lufterſchei-
nung , die mitten im Erdbrand wie ein Himmels
Licht leuchtet , ſagte Endorf .
§. 66 .
Ein Schurkenverſuch , der aber mehr als
halb mislingt .
A ber was wuͤrden Sie thun , wenn auch Nel-
kron und Endorf anbringen wuͤrden , das Rari-
taͤten-Dorf in Bonnal verdiene die Aufmerkſamkeit
der Regierung ? — So ſagte der Liebling dieſer
Tagen zum Fuͤrſten , als dieſer unter Scherz und
Tand mit ihm das Schach zog .
Du willt mich das Spiel verlieren machen ,
mit dieſer dummen Frage , ſagte der Fuͤrſt . —
O ! ich will ihre Antwort gern erſt dann , wenn
Sie ihren Zug gethan haben , verſezte Helidor . —
Da ſteht er , ſagte der Fuͤrſt — that den Zug
— und wiederholte , eine duͤmmere Frage konnteſt
du nicht wohl erdenken . —
Helidor . Aber warum das Ihr Durchlaucht ?
Fuͤrſt . Es ſind im Land nicht zwey Maͤnner , vor
denen du ſicher ſeyn kannſt , daß ſie in ihrem Leben nie
in kein Projekt hineingehen werden , als dieſe . —
Helidor . Ich glaubte es auch ; aber doch
nimmt mich Wunder , was Ihr Durchlaucht thun
wuͤrden , wenn ſie Ihnen izt mit einem kaͤmen . —
Fuͤrſt . Genau das , was ich thun wuͤrde , wenn
der Mond auf die Erde herunter fiel — vorher Nie-
mandem kein Wort davon ſagen . —
Helidor . Sie halten es alſo fuͤr ganz unmoͤg-
lich ?
Fuͤrſt . Ganz ſicher — Schach dem Koͤnig —
Helidor . Zieht —
Fuͤrſt . Der war gut —
Helidor . Aber es iſt ſicher nicht unmoͤglich , daß
Nelkron und Endorf mit dem Bonnalerweſen , und
mit Projekten , die ſich darauf gruͤnden , einkom-
men werden .
Fuͤrſt . Haſt du deinen Kopf verloren , daß du
anfaͤngſt alſo zu traͤumen ? Sie haben in ihrem Le-
ben noch zu keinem Projekt Ja geſagt , und dadurch
in 20 Jahren den Ruhm behalten , ſich ſelber , und
mich hierinn nie betrogen zu haben ; und dieſen
werden ſie gewiß nicht verlieren wollen .
Helidor . Das alles weiß ich ; doch halte ich
es fuͤr mehr als wahrſcheinlich , ſie gehen mit By-
lifsky in Bonnaler-Projekte . —
Fuͤrſt . Dieſer redt ja ſelber kein Wort mehr
davon . —
Helidor . Das wird ſchon ſchon kommen ; er
ſchweigt genau , um dann deſto ſicherer mit Erfolg
davon zu reden . —
Der Fuͤrſt lehnt ſich hinter ſich — hoͤrt auf
zu ſpielen , ſagt , was iſt das ? Was ſetzeſt du mir
in Kopf ? Was weißeſt du ?
Helidor . Ihr Durchlaucht ! uͤber Jahr und
Tag laͤuft eine regelmaͤßige Korreſpondenz zwiſchen
ihm und Arner ; und bey der Menge ſeiner Geſchaͤf-
ten , bey der Vernachlaͤßigung aller ſeiner uͤbrigen
Korreſpondenz , ſendet er immer Briefe von ſichtba-
rer Weitlaͤufigkeit und Schwere dahin — empfaͤngt
noch gar viel groͤßere , und monatlich ganze Rollen
Papiere von dort her — Von allem dem ſehen we-
der Ihr Durchlaucht , noch kein Menſch am Hof ein
Wort ; hingegen kommen Nelkron und Endorf , ſeit
Monaten , alle Donſtag und Samſtag Abends zu-
ſammen , das weiß ich gewiß ; die Papiere von Ar-
ner liegen dannzumal auf dem Tiſch , und die vorige
Woche haben ſie alle drey eine Schrift unterzeich-
net , die mitten unter Arners Papieren da lag —
das iſt eins . — Denn iſt die Abſchaffung des Gal-
gens , und das Projekt mit dem Steuerfond , das
ſind beydes nicht Sachen , von denen man glauben
kann , ſie ſeyen ohne Ruͤckſicht auf groͤßere Geſichts-
punkte von dem guten Arner blos zum Nutzen und
Frommen ſeines Dorfs ausgeheckt worden . —
Er ſchwieg izt , und ſah den Eindruck , den es auf
den Herzog machte . — Dieſer ſaß ſtaunend da , ſtoß-
te ſeine Lippen vorwaͤrts , nahm ſie dann wieder zu-
ruͤck unter die Zaͤhne , ſagte dann — wenn du dich
nicht irreſt , ſo iſt das die ſonderbarſte Sache , die
mir in meinem Leben begegnet . —
Helidor . Ich irre mich gewiß nicht — und auf
alle Umſtaͤnde , die ich erzaͤhlt , koͤnnen Sie bauen . —
Fuͤrſt . Bey allem dem ſcheint mir die Sache
noch unglaublich —
Helidor . Sie iſt aber ſicher , und ſie werden Ih-
nen gewiß mit einem Menſchlichkeitsprojekt kommen .
Fuͤrſt . Ich will ſehen was es giebt . —
Helidor . Werden Sie ihnen Gehoͤr geben ? —
Fuͤrſt . ( Nach einigem Staunen ) — Das weiß
ich nicht . —
Helidor . Aber ich weiß es , Sie werden es
thun . —
Fuͤrſt . Traͤumeſt du noch einmal in einer
Stunde ?
Helidor . Nein — ich weiß es , Sie werden es
thun — die ganze Kraft ihres Lebens vermag nicht ,
Sie von ihrer Krankheit zu heilen ; und Sie werden
ſich mit der Lufterſcheinung ihrer Menſchlichkeitsi-
dee plagen laſſen bis ins Grab .
Fuͤrſt . Laß mich — izt plagſt mich du , und
nicht die Menſchlichkeitsidee . —
Helidor . Es iſt wahr — ich bin dem ſuͤßen
Traum entgegen . —
Fuͤrſt . Laß mich — auch wenn dieſe kommen ,
werde ich der Sache nicht geneigt ſeyn . —
Helidor . Aber anhoͤren werden Sie dieſelben ?
Fuͤrſt . Und denn — wenn ich ſie hoͤre ?
Helidor . Ihr geneigt werden ? —
Fuͤrſt . Das will ich nicht — ich bin aller Pro-
jekten zu ſehr muͤde , als daß ich nicht auf meiner
Huth ſeyn werde .
Helidor . Sie nicht anzuhoͤren , waͤr die beſte
Huth , und vielleicht die einzige , die Sie rettet .
Fuͤrſt . Das koͤnnte ich nicht —
Helidor . Warum das ? —
Fuͤrſt . Wenn dieſe drey einſtimmig ſind , ſo wuͤr-
de mir mein Kopf und mein Herz voll von dem was ſie
wollten , wenn ich auch kein Wort mit ihnen redte . —
Helidor . Das koͤnnte ſo kommen , wenn Sie
einmal eintreten wuͤrden , aber Sie muͤſſen den An-
faͤngen huͤten .
Fuͤrſt . Die Anfaͤnge davon liegen in mir ſelber —
Helidor . Bylifsky wird den Umſtand benutzen ?
Fuͤrſt . Das iſt moͤglich . —
Helidor . Sie ſollten ſie nicht hoͤren .
Fuͤrſt . Das kann ich nicht . —
Helidor . Soll ich machen , daß Sie es koͤn-
nen ? —
Fuͤrſt . Das kannſt du nicht . —
Helidor . Vielleicht — wenn wir izt nicht
mehr davon reden , kann ich doch etwas .
Fuͤrſt . Nein Helidor , das kann kein Menſch —
Du weißſt , ich ſezte alles darauf , vom Gedanken los
zu werden , es ſey den Menſchen zu helfen , es gieng
ein halbes Menſchenalter , ehe ich dieſer Plage in
meinem Innern los wurde . Was mich am meiſten
dahin brachte Ruhe zu finden , war mein Glaube an
Nelkron u n d Endorf , und die Erfahrung , daß ſie alle
meine Projekte mit Recht vor untauglich erklaͤrten .
— Auf ſie geſtuͤzt , nahm ich den Entſchluß , kein
Menſchlichkeitsprojekt mehr anzuhoͤren , bis ſie ein-
mal zu einem Ja ſagen — und izt , wenn ſie kom-
men und ſagen wuͤrden , Arners Projekt iſt gut ;
urtheile ſelber , ob du — ob jemand in der Welt
mich abhalten koͤnnte , ſie anzuhoͤren ? —
Helidor ſah , daß er ihn nicht weiters bringe —
lenkte ein , und ſagte , wir wollen dann mit einan-
der wieder ſehen , was es giebt . —
§. 67.
Arners Troſt — und ein Geſpraͤch , wel-
ches man doch wohl uͤberſchreiben duͤrf-
te : Siehe , welch ein Fuͤrſt !
I ndeſſen war Arner in der groͤſten Verlegenheit ,
was er endlich dem General antworten wollte , der
ihn mit einem Brief um den andern beſtuͤrmte ,
daß er doch einmal aufhoͤre , ſich dem Hof und der
ganzen Welt zum Geſpoͤtt zu machen , und was er
dergleichen Zeug mehr ſagte . — Thereſe lag ihm in
den Ohren , er muͤſſe ihm doch einmal antworten ;
und er ſaß eben an einem Brief , den er gerne fer-
tig gehabt , und nicht anfangen konnte , als er ploͤz-
lich aus dieſer Verlegenheit geriſſen wurde . — By-
lifsky , der anderthalb Jahr nichts mehr geſchrieben
hatte , woraus man Troſtgruͤnde fuͤr den guten al-
ten Onkle hernehmen koͤnnte , ſandte ihm izt juſt zu
rechter Zeit einen Brief , mit dem er ihn wieder
einmal ins Paradies ſetzen konnte . — Der Mini-
ſter meldete ihm nemlich , „ die Sachen ſeyen nun
einmal dahin reif , daß er ſich izt in der Lage ſehe ,
auch das Seinige thun zu koͤnnen , wie ſie das Ih-
rige bis izt redlich gethan haben ; er werde auch
innert den naͤchſten zweymal 24 Stunden dem Her-
zog es dahin antragen , ſeine Dorfeinrichtungen in
der Abſicht unterſuchen zu laſſen , wie es moͤglich
ſey , dieſelben moͤglich zu machen . Endorf und Nel-
kron ſeyen von der Moͤglichkeit der Ausfuͤhrung der
Sache uͤberzeugt wie er , und ſie werden ihn in allen
Theilen unterſtuͤtzen . — Auch zaͤhle er bey ſeinen
weitern Abſichten auf ſeinen Lieutenant und auf ſei-
nen Vogt , und werde wahrſcheinlich beyde mit der
Landskommißion , die er vorzuſchlagen gedenke , in
Verbindung bringen . “ — Wer war ſo froh als
Arner , daß er izt den Onkle wieder zufrieden ſtellen
konnte . — Er dachte beym Anfang des Briefs nicht
an das Herzogthum , ſo froh war er , daß er der
Noth ſeines Briefs los war ; und ſandte dem Ge-
neral , der izt aber auch nicht mehr bey Hof war ,
den Brief in eben der Stunde , in der er ihn bekam ,
im Original , mit der einzigen Bitte , izt noch nicht
zu viel der Sylvia davon zu ſagen .
Es war vielleicht um die gleiche Stunde , daß
Bylifsky dem Herzog um eine Privataudienz bat ,
die ihm Derſelbe in dem Augenblick gab , in wel-
chem er darum anfragen ließ . — Ahndend was er
wo llte , und bereitet auf ſeinen Vortrag , nahm er
ihn bey der Hand , ſezte ſich mit ihm an das Ka-
min unten an die leere Stelle , wo vor ein paar
Monaten noch Menzows Arner Bylifskys Herz er-
quickte . Der Herzog ſah ſein Auge mit Wehmuth
an dieſer Stelle vorbey blicken . — In dem Augen-
blick , in welchem er anfieng ihn an das Entzuͤcken
zu erinnern , das der erſte Eindruck von Arners
Bemuͤhungen auf ihn gehabt , erzaͤhlte er ihm dann
mit Beſtimmtheit und Kuͤrze den Gang dieſer Sa-
chen ſeit Jahre und Tagen , entwickelte ihm die
Natur der Mittel , die Arner gebraucht , zu ſeinem
Endzweck zu gelangen ; zeigte , worinn das Weſent-
liche ihrer Kraͤfte beſtehe , und wie ihre Ueberein-
ſtimmung mit den erſten Beduͤrfniſſen der menſchli-
chen Natur , den Erfolg den ſie gehabt , ſo viel als
nothwendig gemacht ; und legte dann in ununter-
brochenem Fortreden ihm ein richtiges Bild , vom
Zuſtand ſeines Volks , vor Augen ; zeigte mit Deut-
lichkeit den Unterſchied des Zuſtands aller ſeiner
Volkseinrichtungen im Großen gegen diejenige die-
ſes Dorfs im Kleinen ; und ſagte — die Millionen
der Staatseinkuͤnfte freſſen ſich in der Verwirrung
der Verwaltung ſelber auf — die Quelle der Mil-
lionen verſiegt im Sumpf des Schadens , den das
Volk von der Unordnung nimmt , in der es gelaſſen
wird ; und die Landesgerechtigkeit ſchlaͤgt bey all-
gemeiner Verwahrloſung deſſelben mit dem Weiber-
arm ihrer Blindheit auf Gerathewohl aufs Vol k zu
und kennet keine Mittelſtraße zwiſchen der Tiran-
ney-Gewalt der Ketten , und der noch groͤßern , der
Eidsverfaͤnglichkeiten , und der Rechtslangwierig-
keiten ; ſelber der anſcheinende allgemeine Wohlſtand
des Lands , und der ſteigende Verdienſt des Volks ,
und die wachſenden Summen der Finanzeinkuͤnfte ,
ſind
ſind ein truͤgender Tand , wenn der Quelle derſelben
nicht Vorſehung gethan , und der Wohlſtand der
Menſchen in den niedern Huͤtten dem Staat nicht
durch einen feſten Einfluß auf ihre allgemein gute ,
zweckmaͤßige , und zuverlaͤßige Bildung verſichert
wird . —
Sie wiſſen , unterbrach ihn der Fuͤrſt , Bylifs-
ky ! wie ſehr ich dieſes alles fuͤhle ; aber eben ſo ſehr
bin ich uͤberzeugt , daß es unmoͤglich iſt zu helfen . —
Bylifsky erwiederte , Ihr Durchlaucht erlau-
ben , ich widerſpreche nicht , daß ſchwer iſt zu helfen ,
auch daß der Endzweck zu tauſend Abwegen fuͤhrt ,
die oft ſchlimmer ſind als das Uebel ; aber dennoch
bin ich izt uͤberzeugt , daß ein Mittel da iſt , real zu
helfen , und zwar ein einziges —
Und dieſes waͤre ? — ſagte der Herzog .
Ein bedaͤchtlicher und mit abgemeſſenen Schrit-
ten eingelenkter Regierungs-Einfluß in die Bildung
des Volks zur Induſtrie . Von dieſer , ſonſt von
Nichts auf Erden , iſt zu erwarten , daß ſie es einſt
den Fuͤrſten moͤglich machen werde , die Finanzope-
rationen zu vereinfachen , das Druͤckende ihrer Laſt
zu heben , und die Jammergerechtigkeit des Landes ,
die in der Lage der Verwirrung in Ewigkeit unrecht
thun muß , in Ordnung zu bringen , daß wir , was
ihre zahlloſe Forderungen , mit denen ſie ohne alle
Seelenkunde das Menſchengeſchlecht wie einen Laim-
D d
ſchollen zu modeln beginnt , auseinander ſetzen —
ausmuſtern , was auszumuſtern iſt , und das Uebrige
der menſchlichen Natur angemeſſen darzuſtellen —
den Reiz der Umſtaͤnde , Sitten und Gewohnheiten
den Geſezen entgegen zu handeln , zu vermindern ,
und die Kraͤfte des Volks , ihnen gemaͤß zu handeln ,
zu erhoͤhen , und den innerſten Willen der Menſchen
ſelber mit denſelben uͤbereinſtimmend zu machen . —
Fuͤrſt . Wie ſie traͤumen Bylifsky ! — ſie brin-
gen mich ganz in meine Jugendjahre zuruͤck . —
Bylifsky . Ihr Durchlaucht ! ich habe diesmal
die heitere Erfahrung fuͤr mich , ohne dieſe wuͤrde
ich nicht ſo reden .
Fuͤrſt . Auch dieſe truͤgt , Bylifsky ! und oft
ſtaͤrker als ſonſt alles andere , wenn man ſich ihrer
vollkommenen Richtigkeit und Trugloſigkeit nicht
ganz verſichert . — Nicht wahr — ? Sie denken ,
wenn alle Doͤrfer waͤren wie Arners Bonnal , ſo waͤre
es denn , wie Sie ſagen , ſo , und ich bin mit ihnen
vollends einſtimmig ; aber die große Frage iſt , wie's
ſo machen ? —
Bylifsky . Und auf die Unterſuchung dieſer Fra-
ge iſt es , worauf ich bey Eu . Durchlaucht antrage . —
Fuͤrſt . Es wird nichts herauskommen , By-
lifsky ! — Die Welt iſt ein Narrenhaus . —
Bylifsky . Ihr Durchlaucht ! in dieſem Nar-
renhaus ſind einige Zimmer beſſer in Ordnung als
andere . —
Fuͤrſt . Das iſt wahr . —
Bylifsky . Es iſt ein himmelweiter Unterſchied
zwiſchen Menſchen die wohl verſorgt , und denen ,
die es nicht ſind . —
Fuͤrſt . Auch das iſt wahr — Aber es iſt ein Loos
in der Lotterie , unter Zehntauſenden iſt hie und da
eines ſo gluͤcklich , und wird wohl beſorgt . —
Bylifsky . Ihr Durchlaucht ! das iſt nicht voͤllig
ſo : es ſind unter dem Volk fuͤr das , was ſie ſeyn
ſollen , eine Menge Menſchen wohl in der Ordnung
— aber es koͤnnten es freylich unendlich mehrere
ſeyn , und eben dieſe Ueberzeugung iſt was mich
zwingt , Eur. Durchl. meine Wuͤnſche vorzutragen .
Fuͤrſt . Ich wollte wohl gern , ich koͤnnte mein
Volk in Ordnung bringen ; aber ſie wiſſen , wie ſehr
ich's erfahren , daß nichts zu machen iſt . — Sicht-
bare Wehmuth war bey dieſem Wort im Auge des
Fuͤrſten . —
Bylifsky ſchwieg eine Weile ; denn ſagte der
Fuͤrſt wieder — reden Sie nur fort ! —
Nein , Ihr Durchlaucht ! fuhr Bylifsky fort ,
die gute Ordnung unter den Menſchen iſt kein Loos
in der Lotterie , es ſtehet in der Hand des Staats ,
durch weiſen Einfluß auf ſeine Bildung ihn wohl zu
verſorgen , und den erſten Quellen ſeines Elends
mit Erfolg entgegen zu wirken . —
D d 2
Fuͤrſt . Was wird im Stande ſeyn , dem Greuel
aller Nothhandlungen der Gerechtigkeit , und dem
millionenfachen Druck der Finanzbeduͤrfniſſe abzu-
helfen ? Womit werdet ihr ſelber dem Triebrad der
Gewerbſamkeit , auf das ihr ſo baut , die alles ver-
giftende Geldwuth der Menſchen im Zaum halten ? —
Bylifsky . Mit einem feſten Einfluß der Re-
gierung auf eine unſerer Natur und den Umſtaͤnden
angemeſſene Stimmung und Bildung des Volks . —
Fuͤrſt . Iſt eine ſolche moͤglich — ?
Bylifsky . Das ſollte der Erfolg , den Arners
Verſuche gemacht , wenigſtens wahrſcheinlich ma-
chen . —
Fuͤrſt . Kann euch der Unterſchied zwiſchen der
Regierung eines ganzen Volks , und dem Partikular-
Einfluß , den ein Edelmann auf ſeinem Dorfe hat ,
entgehen ? —
Bylifsky . Mir nicht entgehen , wo er wirklich
iſt ; aber eben ſo wenig ſoll mir entgehen , daß das
Weſentliche der Mitteln , durch welche Arner auf
ſeinem Dorf dahingekommen iſt , wo er iſt , vollkom-
men ſo ſicher und Verhaͤltnismaͤßig fuͤr das Allge-
meine mit gleicher Kraft in der Hand Sr. Durch-
laucht liegt , als es fuͤr ſein Dorf in der Hand mei-
nes Freundes lag .
Fuͤrſt . Ich wollte , Sie koͤnnten mir dieſe
Meynung verbuͤrgen . —
Bylifsky . Wer wuͤrde Ihr Durchlaucht gut
genug ſeyn fuͤr dieſe Buͤrgſchaft ? —
Der Fuͤrſt verſtund ihn , und ſagte halblaͤchelnd
Niemand ! —
Bylifsky merkte aber noch nichts , und ſagte ,
ich daͤchte , wenn Ihnen Niemand fuͤr ein Menſch-
lichkeitsprojekt gut ſeyn duͤrfte , ſo wuͤrden es Nel-
kron und Endorf ſeyn . —
( Der Fuͤrſt ihn ſteif anſehend ) Es iſt alſo
wahr ! — Dann ſtaunte er einen Augenblick —
ſagte wieder : ich weiß es — ſchwieg dann wieder
— war in ſichtbarer Bewegung — und ſagte dann
— Nein — auch ſie ſollen mir das lezte Viertel
meines Lebens nicht zu Grund richten , wie mir
die drey uͤbrigen zu Grund gegangen .
Erſtaunt und erblaßt ſagte Bylifsky , Ihr
Durchlaucht ! wer ſollte das thun ? —
Fuͤrſt . Was wollet ihr denn ? Wollet ihr Geld ?
Bylifsky . Nein —
Fuͤrſt . Sonderbar , was wollet ihr dann ? —
Bylifsky . Von Seiten des Staats unterſu-
chen , wie weit die Grundſaͤtze Arners in ſeiner Volks-
fuͤhrung im Allgemeinen anwendbar ſind . —
Fuͤrſt . Und denn Weiters ? —
Bylifsky . Sicher nichts verſuchen , als was
mit Sicherheit zum Wohl des Landes kann ausge-
fuͤhrt werden . —
D d 3
Fuͤrſt . Thut was ihr wollt ; aber fordert nicht ,
daß ich glaube , bis ich ſehe .
Bylifsky . Alſo billigen Ihr Durchlaucht un-
ſern Vorſaz , die Sache zu pruͤfen ? —
Fuͤrſt . Ich werde ihn ſo gar fodern , nur mein
Glaube daran iſt was ich mir vorbehalte .
Bylifsky . Dieſes wird der Unterſuchung noch
dienlicher ſeyn . —
Fuͤrſt . Ich ſehe voraus , Bylifsky , die Unterſu-
chung wird zu einem Plan fuͤhren , der von uner-
meßlichem Umfang , aber auch von einer alles Ge-
wicht uͤberſteigenden Laſt ſeyn wird ; und muß auch
ſagen , es iſt mir nicht anderſt , als ihr wollet euch
gegen den Schutt eines zuſammenfallenden Berges
ſtemmen , um darunter begraben zu werden .
Bylifsky . Ihr Durchlaucht ! wir haben die
Sache gepruͤft , und ſehen keine andere Laſt , die
dadurch auf den Staat fallen kann , voraus , als
die Errichtung eines neuen Lehrſtuhls , um ihre
Edelleute mit den Grundſaͤtzen einer beſſern Volks-
fuͤhrung bekannt zu machen , und einer Landeskom-
mißion , um jedermann der Neigung zeigte , mehr
oder weniger von dieſen Grundſaͤtzen auszufuͤhren ,
mit Rath und Leitung an die Hand zu gehen .
Fuͤrſt . Sonderbar — ſehr ſonderbar —
braucht ihr kein Geld ? keine Gebaͤude ? keine An-
ſtalten ? Nichts dergleichen ? —
Bylifsky . Nichts dergleichen ; als einige Du-
tzend Rechnungsbuͤcher .
Fuͤrſt . Wozu die ? —
Bylifsky . Um alles was von den Leuten , die
mit dieſer Kommißion in Verbindung ſtehen wuͤr-
den , verſucht und gethan wuͤrde , ſo heiter und klar
vor Augen zu haben , als ein Kaufmann die Rech-
nungen und den Zuſtand aller deren , mit denen er
in Verbindung ſteht , vor Augen hat .
Fuͤrſt . So etwas hat mir doch Niemand vor-
geſchlagen .
Bylifsky . Es iſt aber das Fundament von
allem worinn man ſolid zu Werk gehen will ; es
ſollte nie jemand einem Fuͤrſten etwas vorſchlagen ,
ohne daſſelbe auf dieſes Fundament zu gruͤnden .
Der Fuͤrſt ſaß izt eine Weile in ſich ſelbſt ge-
kehrt , wie wenn Niemand bey ihm waͤre ; dann
ſagte er , Bylifsky ! der Verſuch ihres Freunds riß
mich im Anfang hin , wie ein Kind , ich haͤtte ſei-
nen Schulmeiſter in den erſten Stunden zum Staats-
miniſter gemacht ; nach und nach machte mich die
Erinnerung alles deſſen , was mir fehl geſchlagen ,
wieder kaͤlter . Indeſſen ſezt mich der Erfolg ſeiner
Sachen in Erſtaunen , und noch viel mehr izt die
Natur euers Antrags . Ihr wollet das Volk ohne
Gewalt , ohne Zudringlichkeit , und ohne anmaßli-
che willkuͤhrliche Einmiſchung , durch den bloßen
D d 4
Einfluß einer gutmuͤthigen Leitung , in ihrem haͤus-
lichen Gluͤck weiter bringen , blos dadurch das
Druͤckende der Finanz und der Juſtiz , das Gefaͤhrli-
che der allgemeinen Geldjagd mindern , und eben
dadurch die Wege anbahnen , die Verwaltung des
Staats in allen ihren Theilen mit den Beduͤrfniſſen
der menſchlichen Natur in Uebereinſtimmung zu brin-
gen , das iſt ihr Plan — ! Was ſoll ich ihnen ſagen ,
Bylifsky ? Iſt es moͤglich , ich wollte Steine tragen
ihn zu erzielen ; iſt es aber unmoͤglich , ſo wollte ich
auch die ewige Plage , immer unnuͤz an ſolche Sa-
chen zu denken , haͤtte einmal ein Ende . Ich bin
alt , die Sachen fangen an , mich mehr zu belaſten
als in meinen jungen Tagen , kommen Sie , ich
will ihnen etwas zeigen — ! Mit dieſem Wort
ſtund er auf , oͤfnere einen Schrank , zeigte ihm Ar-
ners zerriſſenes Gemaͤld — ſehen Sie , wie ſchwach
bin ich ! wohin mich mein Unmuth bringt ? Ich
ſtund , es mag 3 Monat ſeither ſeyn , vor ihm zu ,
es kaͤmpfte noch in mir , ob ich ſeinen Traͤumen
mein Herz geben wolle ? aber ich konnte es nicht ,
und warf im Unmuth da dieſen Stein gegen ihn
uͤber . — Bylifsky nahm das ſchoͤne zerriſſene Stuͤck
mit Waͤrme in ſeine Hand , und ſagte , Gottlob ,
daß du lieber Arner alſo von dieſer Wand wegge-
kommen , und nicht anders ! — Der Fuͤrſt ſag-
te , ich darf ihn , wie er iſt , nicht wieder hinhaͤn-
gen , ſonſt wuͤrd' ich es thun — aber Sie ſind izt
auch de einzige Menſch , der weiß , wie er weggekom-
men . —
Bylifsky . Darf ich eine Gnade bitten , Ihr
Durchaucht ?
Fuͤrſt . Nun welche ?
Bylifsky . Dieſes auch Arner ſagen zu duͤrfen ?
Fuͤrſt . O ja ! ſchreiben Sie es ihm — aber
kommen Sie , wir ſind noch nicht fertig . Mit die-
ſem ſez t e er ſich , und ſagte , ich will , ehe Sie weiter
gehen , einer Kommißion auftragen , ihnen die Gruͤn-
de vorzulegen , welche die Schwierigkeiten einer all-
gemeinen Ausfuͤhrung der Grundſaͤtzen Arners ins
Licht ſetzen , dann werden Sie mir ihre Antwort ein-
ſenden . — Mit dieſem entließ er Bylifsky ; und
da er fort war , nahm er den weitern Entſchluß , er
mag izt Recht haben oder Unrecht , ſo will ich un-
partheyiſch ſeyn , und Helidor muß mit ihm offen
fechten . Mit dem ſezte er ſich hin , ſandte dem Lieb-
ling ein Handbillet , des Innhalts : „ Er ſolle ,
wen er immer tuͤchtig finde , die Unmoͤglichkeit der
allgemeinen Ausfuͤhrung der Bonnaler Grundſaͤtzen
in behoͤriges Licht zu ſetzen , von ſeinetwegen dazu
befehlen , und machen , daß dieſe mit moͤglichſter
Befoͤrderung ſo wohl , als mit moͤglicher Deutlich-
keit geſchehe , Bylifsky werde dannzumal ſolches zu
beantworten haben ; er aber ſelber wolle inzwiſchen
muͤndlich mit Niemand mehr kein Wort daruͤber
verlieren . “ —
Wie ein Donner in den Bergen rollt , ſo rollte
die Zeile , „ er wolle muͤndlich mit Niemand kein
Wort mehr daruͤber verlieren “ durch den Schaͤdel
des Lieblings ; und wann der Feind in das Herz der
Linien eingedrungen , iſt es einem General nicht ſo
bang , als es izt Helidor war ; er ſah keinen Aus-
weg , als beſtimmt zu thun , was der Fuͤrſt befoh-
len , und eilte zuſammen zu treiben , wen er immer
konnte , um Einwuͤrfe gegen Arners Grundſaͤtze zu
machen . Am dritten Morgen war fertig , was er
mit ſeinen Helfern dagegen zuſammen bringen konn-
te ; ſie proteſtierten aber am Ende , daß die Sache
ſelber ſich viel beſſer in der Natur und auf den Doͤr-
fern , als auf dem Papier widerlege .
Noch viel geſchwinder , blos ein paar Stunden
darauf , hatte der Herzog Bylifskys Antwort . Er
proteſtierte aber auch faſt mit gleichen Worten , daß
die Sache viel beſſer in der Natur ſelber , und auf
den Doͤrfern ſich zeigen und beweiſen laſſe , als auf
dem Papier . —
Das Weſentliche dieſer beyden Schriften iſt
mit kurzem dieſes —
§. 68.
Mene Mene Thekel , Uphraſin .
Einwuͤrfe .
1. E r ſtreite wider alle
Erfahrung , daß
man ein Volk in der Welt
ſo weit bringen koͤnne , als
man ſage , daß Arner ſei-
ne Bauern in Bonnal
bringen wolle .
2. Alle Anſtalten fuͤrs
Volk , ſo gut man es mey-
ne , und ſo gut man ſie
mache , arten immer aus ,
und werden oft ſchneller
als der Wind wehet , aus
Volks-Anſtalten blos
Pfruͤnde fuͤr die Maͤntel-
traͤger und Schattenbil-
der der Verſorger , die
man dem Volk geben
wolle .
3. Es mangle den
Landedelleuten allgemein :
Antworten .
1. D ie Geſchichte der
Alten zeige we-
nigſtens , daß man ein Volk
weit bringen koͤnne , und
zu verſorgen ſey man es
ſchuldig .
2. Das ſey wahr , aber
ſie wollen zum voraus er-
klaͤren , daß ſie auf keine
Anſtalten antragen wer-
den , die zu Pfruͤnden fuͤr
die Manteltraͤger und
Schattenbilder der Volks-
verſorger ausarten koͤnn-
ten . Im Gegentheil ſey
das Weſen deſſen , ſo ſie
anzutragen Luſt haben ,
von einer Natur , daß es
vielen ſolchen Manteltraͤ-
gern ihre Maͤntel recht
ſchwer machen wuͤrde .
3. Die Edelleute ſeyen
Menſchen wie andere ; ih-
Einwuͤrfe .
an derjenigen Betrieb-
ſamkeit , und an demjeni-
gen Ton , der hiezu erfo-
dert werde , wenn man ſo
etwas von ihnen erwar-
ten ſollte .
Antworten .
re Betriebſamkeit und ihr
Ton hange von den Um-
ſtaͤnden ab , mehr als ein
Sohn vom Koͤnig in Eng-
land , Georg dem Zwey-
ten lerne Seedienſte thun ;
viele Prinzen dienen ſogar
denen Myne Herren in
Holland , es ſey aber auch
nicht die Rede davon , die
Edelleute in ihrem Ton ,
und in ihrer Unbetrieb-
ſamkeit zu genieren , oder
ihnen im geringſten etwas
zuzumuthen , das ihren
Geſchmack ſtoßen koͤnnte .
Alles , was man in Sinn
haͤtte , waͤre ihnen ein paar
Spiegel zuzuſchicken , ſie
ſehen zu machen , wo ſie
zu Haus ſind , und wo ſie
hinkommen koͤnnten , weñ
ſie wollten mit voͤlliger
Freyheit fuͤr einen jeden
ſich in nichts rathen , weil
geſchweigen befehlen zu
laſſen , bis es eines jeden
ſeiner Gnaden auffallen
Einwuͤrfe .
4. Sie ſeyen zu traͤg ,
launig und ungeduldig ,
und haben gar nicht den
Geiſt , und die Stim-
mung , die zu ſo etwas ha-
ben muͤſſen .
5. Mit den Pfarrern
ſey es eben das , ſie ſeyen
weder aͤußerlich noch in-
nerlich , was ſie ſeyn muͤß-
ten , wenn man ſo etwas
mit ihnen ausrichten ſoll-
te .
6. Es werde am Volk
Antworten .
wuͤrde , daß es die andern
beſſer haben , die ſich ra-
then laſſen .
4. Sie werden nicht
durch eine Konſpiration
eben ſo wenig durch einen
ihrem Stand anklebenden
Naturfehler traͤg , launig
und ungeduldig ſeyn ; und
wenn ſie dieſe Fehler nur
wie andere Menſchen ha-
ben , ſo werden ſie auch
wie andere Menſchen da-
von zu heilen ſeyn .
5. Man wolle das gar
nicht widerſprechen , aber
es ſey wieder die gleiche
Sache , wie mit den Edel-
leuten , auch die Pfarrer
werden nicht durch eine
Konſpiration , und nicht
durch beſondere ihrem
Stand anklebende Na-
turfehler ganz anderſt ge-
ſtimmt ſeyn , als ſie fuͤr das ,
was ſie ſind , ſeyn ſollen .
6. Es fehle am Volk
Einwuͤrfe .
ſelber fehlen , daß es ſich
nicht werde helfen laſſen .
7. Man koͤnne auf
100. Stund weit nicht
6. bis 7. Perſonen zuſam-
men bringen , wie der Zu-
fall Arnern ein halb du-
zend Leute zugeſchneiet
habe , die zu ſeinem Spiel
gut ſeyen . — Das ſey
von ſeinem Schulmeiſter
an bis auf die Frau , die
den Kindern die Struͤm-
pfe binde , wahr .
Antworten .
nie , daß es ſich nicht hel-
fen laſſe , wenn man wiſſe
mit ihm umzugehen , es
ſteige ein jeder gern die
Leiter hinauf , wenn er
ſehe , daß er mit Sicher-
heit hinaufſteigen koͤnne .
7. Man koͤnne Leute
zuſammenſtellen , wenn ſie
auch der Zufall nicht zu-
ſammenſchneie . Es ſey
freylich wahr , um Arners
Ordnung im ganzen zu-
erſt einzurichten , brauche
es eine Art Schnee , wie
es vielleicht in 100 Jah-
ren kaum einen lege , aber
nachdem ſie einmal einge-
richtet , und in der Ord-
nung daſtehe , ſo brauche
es zum Nachmachen kaum
mehr den Zehenden vom
Kopf , den es brauchte , es
einzurichten ; es ſeyen fuͤr
alle Theile dieſes Werks
Tabellen , Vorſchriften ,
Wegweiſungen eingerich-
Einwuͤrfe .
8. Mit ſolchen großen
Volks-Ausſichten und
Staats-Geſichtspunkten
mache man die Menſchen
nur zu politiſchen Kan-
nengießern , und veran-
laſſe 100. und 100. un-
vorhergeſehene Anmaſ-
Antworten .
tet , daß Edelleute , Schul-
meiſter , Pfarrer , Kauf-
leute , Dorfrichter , ein je-
der ſeinen deutlichen und
ſichern Leitfaden finde , an
dem er ſich halten kann ;
und die Hausvaͤter , die
Hausmuͤtter , bis auf das
Schulkind hinunter , fin-
den die Wege gebahnt
nach dieſen Plan ſich wei-
ter zu bringen . Uebrigens
fall' es auf , daß es ſo we-
nig als beym Soldaten-
ſtand darum zu thun ſey ,
daß die Mittelsperſonen
das ganze uͤberſehen , ſon-
dern nur , daß ſie fuͤr ihre
Stelle und fuͤr ihren Po-
ſten in Ordnung kom̃en .
8. Arners Plan fuͤh-
re den Menſchen zu ſei-
nem Heerd , und lenke die
ganze Kraft ſeiner Auf-
merkſamkeit auf dieſen
hin , ſo daß , wenn irgend
etwas dem politiſchen
Kannengießer-Geiſt des
E i nwuͤrfe .
ſungen u n d Unordnun-
gen .
9. Ar n er untergrabe
den einzi g en Grund , und
das einz i ge Fundament
aller wah r en buͤrgerlichen
Ordnung , die Religions-
lehre . —
Antworten .
Volks , und uͤberhaupt ſei-
nen Anmaßungen und Un-
ordnungen entgegen wir-
ken koͤnne , ſo ſey es dieſes .
9. Die Religionsleh-
re ſey ſo wenig der einzi-
ge Grund und das einzi-
ge Fundament aller buͤr-
gerlichen Ordnung , als
ſie der einzige Grund ,
und das einzige Funda-
ment des Schneider- und
Schuhmachers-Hand-
werks ſey . Die Religion
ſoll ſeyn ohne allen Wi-
derſpruch goͤttlich , und
die Furcht Gottes ohne
Widerred zu allen Din-
gen nutz ; aber ihre Lehre
gehe durch Menſchenhaͤn-
de und Menſchenmaͤuler ,
und werde nicht ſelten
unrein . Unrein desnahen
muͤſſe man das menſchli-
che der Religionslehre
immer wohl von der Re-
ligion
Einwuͤrfe .
10. Ein ſolcher Grad
von Wohlſtand wie Arner
ihn traͤume , wuͤrde das
Volk frech , und ſelber die
Regierung gefaͤhrlich ma-
chen .
Antworten .
ligion ſelber ſoͤndern . Ihr
ſelber , und der Liebe und
dem Zutrauen zu Gott ,
den Dankempfindungen
des Menſchen gegen ſei-
nen Schoͤpfer , u. ſ. w.
koͤnne man nicht beſſer
aufhelfen , alswenn man
ihre Hausordnung , ihre
Faͤhigkeit ſich ſelber und
den ihrigen vor aller Ver-
wirrung , vor allem Un-
gluͤk zu bewahren , und
durch Bedaͤchtlichkeit ,
Sorgfalt , die Kraͤfte ih-
rer Hilfsbegierde und ih-
rer Neigung ihren Mitge-
ſchoͤpfen wohl zu thun feſt
gruͤnde , u. ſicher mache .
10. Noth , Unſicher-
heit , Unordnung , macht
den Menſchen frech . Kein
Volks Wohlſtand , der auf
Arbeit , Fleiß , und Haus-
ordnung ruhet , wird der
Regierung gefaͤhrlich .
E e
Einwuͤrfe .
11. Mit einem Wort ,
die Sache ſey nicht aus-
fuͤhrbar .
Antworten .
11. Mit einem Wort
das ſey zu unterſuchen .
§ . 69.
Ihr kennet das Spiel — Meine Muͤlli
gaht ( geht ) ; deine Muͤlli bſtaht ( ſteht ) .
D as war der Innhalt von Helidors Einwuͤrfen ,
und von den Antworten Bylifskys . Der Fuͤrſt er-
ſtaunte , als er ſie las , und ſagte zu ſich ſelber , ent-
weder muͤſſen ſie ihre Sachen nicht verſtehen , oder
Bylifsky iſt darinn begruͤndter als ich es vermuthet .
— Er las es wieder — und noch einmal — konnte
nicht begreifen , daß etwas ſo Schwaches von Heli-
dor an Ihn gelange ; doch kam ihm auch zu Sinn ,
dieſer laſſe ſich in Nichts hinein , das geſchrieben
wird ; aber es ſtaͤrkte den Fuͤrſten um ſo viel mehr
in ſeinem Vorſaz , unpartheyiſch zu ſeyn , und der
Sache ihren natuͤrlichen Gang zu laſſen , auf wel-
che Seite ſie auch hinſchlagen werde . Er ließ auch
am gleichen Abend Bylifsky zu ſich kommen , ſagte
ihm , wenn er an Ort und Stelle Meiſter werde ,
wie er auf dem Papier Meiſter worden , ſo werde er
in ſeinen alten Tagen von ihm lernen , was er in
ſeinen jungen Jahren ſo gern gelernt haͤtte , aber
keinen Menſchen dazu fand . —
Helidor brachte alles in Bewegung , den Streich
abzulenken , und ihn noch dahin zu bringen , daß er
die Sache liegen laſſe . Von allen Seiten ſtroͤmten
Leute zu , die laͤchelten , und von dieſem Traͤumer-
weſen redten ; ſelber die Religion , die Helidor in ſei-
nem Leben zu Nichts gebraucht hatte , ſchien ihm izt
gut genug , ihm hierinn einen Dienſt zu leiſten .
Ein Geiſtlicher , der , ich weiß nicht wie , Zugang
zum Fuͤrſten hatte , bog ſich vor dem Herzog , wie die
Patres von der Aufwart vor ihrem Herrn Abt ; und
da er nach geduldigem Warten den Augenblick er-
ſah , da er reden durfte , verunglimpfte er Arnern ,
und winkte mit beſcheidenen Worten , er raube den
armen Menſchen , die ſonſt nichts in der Welt ha-
ben , als ihren Gott und ihren Jeſum , den einzigen
Troſt ihres Lebens ; und wenn es ſchon hart ſchiene ,
ſo ſey es doch wahr : er verſchmaͤhe die Erkenntniß
Gottes und ſeines Worts , und ſey wahrlich einer
aus denen , die den Herrn der Herrlichkeit Gottes
verlaͤugnen und kreuzigen . — Das war zu rund —
Der Fuͤrſt warf den Kopf hinter ſich , ſah den Pfaff
an , und ſagte , was iſt das ? was thut er dann ? —
Demuͤthig und gebuͤckt , erwiederte der Prieſter ,
er meynt = = = =
Ich frage nicht , was er meyne ? Ich frage , was
hat er gethan ?
E e 2
Die Frage verwirrte den Geiſtlichen ; er wollte
von dem reden was er meyne , und nicht von dem
was er thue ; dennoch erholte er ſich , und ſagte ,
Ihr Durchlaucht ! er hat die Chriſtenlehre kuͤrzer
gemacht . —
Fuͤrſt . Das mag nicht uͤbel ſeyn . —
Prieſter . Und ſein Pfarrer predigt wenn er
will , und wenn er nicht will , ſo laͤßt er es gelten .
Fuͤrſt . Nun — wenn er es nur dann gut
macht ! —
Prieſter . Es iſt doch keine Ordnung , Ihr
Durchlaucht ! ſo wenig , als daß er waͤhrend der
Predigt mit ſeinen Leuten redt , und ſie fragt , ob
alles daheim geſund ſey ? und der Großvater und die
Großmutter dieſe Nacht wohl geſchlafen haben ? —
Der Fuͤrſt lachte , und ſagte , aber das iſt doch
nicht den Herrn der Herrlichkeit gekreuziget ? —
Prieſter . Ja — ich vergaß mich faſt , Ihr
Durchlaucht ! man hoͤrt die Hauptlehren des Chri-
ſtenthums , und das Wort Jeſus und Heiland manch-
mal in einer ganzen Predigt , kein einzigesmal aus
ſeinem Munde . —
Fuͤrſt . Das thut ja nicht er , ſondern ſein Pfar-
rer — und auch das iſt nicht den Herrn der Herr-
lichkeit gekreuziget . —
Hier wollte der Prieſter deſſerrieren , aber der
Herzog ſagte ihm , er ſolle ſchweigen , das Ueber-
triebene ſey bey keiner Klage gut , und mit dem ,
was er gehoͤrt habe , kreuzige der Pfarrer in Bonnal
den lieben Heiland ſo wenig , als er ſeine 85 jaͤhrige
Tante damit ins Grab gebracht habe , daß er nicht
ſo geſchraubet bey ſeinem A B C Buch habe ſitzen
koͤnnen , als ſeine Franzoͤſin es gern geſehen ; ſie
habe ihm freylich wohl hundertmal geſagt , er brin-
ge ſie mit ſeinem Nichtſtillſitzen ins Grab , dann koͤn-
ne ſie ihm keine bon bon mehr geben . —
Mit dieſem mußte der Pfarrer gehen , und es
waͤr Helidor faſt etwas ſchlimmes begegnet , als er
ihm dieſe Geſchichte erzaͤhlte .
Es geſchah noch gar viel anders , und wurde
noch gar viel mehr geredt in dieſen Tagen , aber es
wuͤrde mich ab dem Heimweg fuͤhren , wenn ich allem
dieſem nachlaufen wollte ; und es geluͤſtet mich
wahrlich bald zu Hauſe zu ſeyn , wie du mir es
wohl anſehen wirſt , lieber Leſer ! —
Durch alles hindurch blieb der Fuͤrſt bey dem
Entſchluß , der Unterſuchung dieſer Sache ihren Lauf
zu laſſen , und ſich durch keine Privateinmiſchungen
weder links noch rechts davon abwendig zu machen ,
und gab Bylifsky das naͤchſtemal , da er ihn ſah ,
folgende Nota in die Hand —
— Zu unterſuchen iſt —
1 ) Ob Arner wirklich in Abſicht auf die F in anz ,
Juſtiz und den Erwerb da ſey , wo wir izt vor-
ausſetzen .
E e 3
2 ) Wenn er wirklich in allen dieſen Stuͤcken da iſt ,
durch was fuͤr Mittel er dazu gelangt ?
3 ) Ob die Mittel , die er dazu gebraucht , im Gro-
ßen eines Reichs anwendbar ? Und im ausge-
dehntern Gebrauch auf die Finanz , Juſtiz und
den Erwerb , eben die Wirkung hervorbringen
werden , die ſie in dieſem Dorf hervorgebracht ?
4 ) Und endlich , wenn man alles dieſes moͤglich
finden wuͤrde , auf was Art und Weiſe man zu
dieſem Ziel vorſchreiten muͤßte ? —
Bylifsky las dieſe Nota , uͤberlegte ſie , und
ſagte dann : In Abſicht auf den dritten Punkt , kann
das Ob nicht entſchieden werden , bis unterſucht
iſt , Wie — und es ſcheint mir , es komme eigent-
lich in die Frage : Kann man die Einrichtungen , die
Arner auf ſeinem Dorf gemacht , auf 10 , 20 und
100 Doͤrfern auch machen ? Und denn , wenn es ge-
ſchehen wuͤrde , ſollte es nach dem Verhaͤltniß der
Anzahl dieſer Doͤrfer nicht auf das Ganze des
Reichs , in Abſicht auf Finanz , Juſtiz und Erwerb ,
den gleichen Einfluß haben , den es in Bonnal hat ? —
Der Fuͤrſt nahm die Nota zuruͤck , aͤnderte den
dritten Punkt , ſtrich den vierten durch , ſagte dann ,
weil ich ſo weit gehe , ſo will ich keine Seite der
Sache unerforſcht laſſen , und mich gaͤnzlich nicht
der Unannehmlichkeit ausſetzen , daß hintennach ſich
Schwierigkeiten zeigen , an die Niemand gedacht ;
es muͤſſen Rechts gelehrte , Beamtete von der Fi-
nanz , Herrſchaftsherren , Kaufleute , Geiſtliche , Un-
terbeamtete ab dem Land , Schulmeiſter und Aerzte
dabey ſeyn , und von den meiſten Staͤnden will ich
noch Frauen dabey haben , um auch mit Weiber-
augen der Sache nachzuſehen , und ſicher zu ſeyn ,
daß nichts Romanenhaftes darhinter ſtecke . Aber
nicht wahr , ſezte er laͤchelnd hinzu , darvor muß ich
lauter Unglaubige zur Unterſuchung nehmen ? —
Nehmen Sie doch , ſagte Bylifsky , weder Glau-
bige noch Unglaubige , ſondern fuͤr jedes Fach den er-
fahrenſten Mann , den Sie dazu auftreiben koͤnnen —
Ich nehme ihrer fuͤr jedes Fach zwey , und wie
geſagt , auch noch einige erfahrne Weiber — ihr Her-
ren , ihr habt mich ſchon ſo manchmal betrogen ! —
Helidor war aufs Aeußerſte getrieben ; der
Fuͤrſt erklaͤrte ſich noch einmal , er wolle mit Un-
partheylichkeit die Sache erforſchen , und auch ihn
zur Unterſuchung ziehen , aber er ſolle ſich ein Fach
waͤhlen , um daſſelbe in der Ordnung zu beurthei-
len , und dann dem Uebrigen ſeinen natuͤrlichen
Gang laſſen . Das behagte dem Liebling nicht ; er
wollte , ohne fuͤr etwas ſich zu beſtimmen , mit-
kommen und ſehen ; aber der Fuͤrſt ſagte ihm be-
ſtimmt , er wolle keine andere Einmiſchung , als
eine regelmaͤßige Unterſuchung der Sache ; Helidor
E e 4
zog es vor , wenn es ſo ſey , lieber dem Spiel in
der Ferne zuzuſehen ; alles was ihm uͤbrig blieb
Staub in die Milch zu werfen , war dieſes , daß er
am Abend , ehe der Herzog verreißte , noch zu ihm
ſagte , er ſolle Arner , den Lieutenant und den Pfar-
rer waͤhrend der Unterſuchung entfernen . — Dieſe
Herren , ſagte er , wiſſen izt , daß Sie kommen ,
und ihre Uhr iſt aufgezogen , daß ſie waͤhrend ihrem
Daſeyn gut gehet ; aber ſo ſie die drey erſten Raͤ-
der davon eine Weile ſtill ſtellen , ſo iſt die Stunde
vielleicht ſo gut , daß Sie dahin kommen die Schwaͤ-
che des Werks , die mir ſicher iſt , einzuſehen , ohne
dieſes aber gewiß nicht . —
Nun verreißte der Herzog , und das ganze Per-
ſonale der Unterſuchung hatte Befehl , in den erſten
Tagen , und ſo lang bis ein jeder in ſeinem Fach
dem Herzog Bericht abgeſtattet , kein Urtheil daruͤ-
ber zu faͤllen , ſich auch gegen Niemand verlauten
zu laſſen , was ihre wahre Urtheile daruͤber ſeyen —
Das war gut , aber nicht um deswillen warum es
der Fuͤrſt glaubte — Er meynte nemlich — der
erſte Eindruck der Sache werde ſie einnehmen , daß
ſie alſobald mit einem Trompetenſtoß zum Vortheil
davon herausruͤcken , und denn nicht mehr zuruͤck-
ſtimmen koͤnnen . Es war das Gegentheil ; da ſie
das Ganze ſahen , ſchwindelte es den Herren und
Frauen , ſie meynten nichts anders , als dieſes all-
gemein auszufuͤhren uͤberſteige alle Menſchen Kraͤfte ,
und ſey gaͤnzlich unmoͤglich . Sie haͤtten auch in den
erſten Stunden dieſes alles mit einem Mund rund
heraus geſagt , wenn ſie nicht dieſen Befehl gehabt
haͤtten zu ſchweigen .
Aber als ſie an ihre Arbeit mußten , und ein
jeder in dem beſondern Fach , das er zu beurtheilen
hatte , naͤher forſchte , was eigentlich da ſey , und
wie Arner darzu gekommen , den beſtimmten Vor-
ſchritt dieſes Fachs ſo hoch hinauf zu treiben als
ſie ihn ſahen , vergieng ihnen nach und nach der
Schwindel , der ſie beym erſten Anblick dieſes blen-
denden Werks uͤbernommen , und ſie kamen Tag
fuͤr Tag mehr dahin , die Mittel , die Arner zu
dieſem Zweck gebraucht , nichts weniger als un-
nachahmlich zu finden ; ſonder im Gegentheil , ſie
ſtimmten am ſechsten Tage , da der Herzog ihren
erſten Bericht abnahm , einmuͤthig fuͤr die Moͤg-
lichkeit der allgemeinern Ausfuͤhrung der Sache im
Großen . —
§ . 70.
Der Autor rezenſiert ſein Buch — Und
die Herren von der Kommißion erſtat-
ten dem Fuͤrſten Bericht . —
Die zwey Juſtizraͤthe urtheilten :
1. E s ſey wahr , es ſeyen bey den Einrichtungen ,
die Arner gemacht , unter zehn Dorfſtreitigkeiten ,
neune geradezu unmoͤglich ; und ſein Rechtsgang
habe die Fehler der gewohnten Rechtsform , uͤber
welche man allenthalben ſo laut und allgemein kla-
ge , gaͤnzlich nicht ; er untergrabe die Gutmuͤthig-
keit , Billigkeit und Gemuͤthsruhe des Volks nicht ;
er verderbe den Sinn der Nation weder durch
Verfaͤnglichkeit noch Gewaltthaͤtigkeit , und ſchuͤtze
und erhalte uͤbrigens ſeine Leute auf eine Art bey
dem Ihrigen , daß ſie nichts ſehen , das hierinn
mangle . — Im Kriminale ſey es das gleiche ; bey
ſeinen Einrichtungen ſeyen wieder unter zehn Kri-
minalfaͤllen neune geradezu unmoͤglich ; und er ſey
wirklich vollkommen da , daß er ohne die geringſte
Bloͤße zu geben , den Galgen mit allen Ehren fuͤr
dieſes Dorf habe abſchaffen koͤnnen , indem die Ver-
brechen beym Ganzen ſeiner Einrichtungen unmoͤg-
lich mehr den anſteckenden Reiz haben koͤnnen , um
deſſentwillen der Gebrauch des Galgens einzig und
allein vor Gott und Menſchen zu entſchuldigen iſt . —
2. Die Mittel , durch die er dahin gekommen ,
ſeine Gerechtigkeit auf einen ſo guten Fuß zu ſetzen ,
ſeyen nichts anders , als die Feſtigkeit eines regel-
maͤßigen Einfluſſes ſeiner Dorfregierung auf den
haͤuslichen Zuſtand ſeiner Leute , die ihn ſicher ſtelle ,
daß ein jeder einzelner Menſch in allen Theilen ſei-
ner Beduͤrfniſſen , und fuͤr alle Ordnungen ſeines
Lebens , Rath , Leitung und Bildung finde .
3. Sie koͤnnen auf der einen Seite nicht finden ,
warum es nicht einem jeden Edelmann , dem der
gute Zuſtand ſeiner Dorfleute im Ernſt angelegen
waͤre , eben ſo wohl als Arnern moͤglich ſeyn ſollte ,
in ſeinen Doͤrfern mehr oder minder eben diejenige
Einrichtungen zu machen ; aber denn muͤſſen ſie
auf der andern Seite auch ſagen , daß eben die-
ſes , nemlich eine uͤbereinſtimmende Bemuͤhung vie-
ler Partikularen zu dieſem Ziel , der einzige Weg ſey ,
durch welchen die Juſtizform Arners im Großen
ausfuͤhrbar ſeyn wuͤrde ; das aber ſetze zum Vor-
aus , daß ſowohl die Kenntniſſe der Edelleute , in
Abſicht auf die Fuͤhrung und Bildung des Volks ,
als auch ihre Neigung fuͤr den Wohlſtand deſſelben ,
ihre Thaͤtigkeit zu verwenden , erhoͤhet werden muß .
In dieſem Fall nemlich , bey feſter und allgemeiner
Ausbreitung der Kenntniſſen von der Volksfuͤhrung
bey den Edelleuten , und beym Allgemein bey den-
ſelben rege gemachten Intereſſe fuͤr dieſen Gegen-
ſtand , koͤnnte es nicht anderſt ſeyn , als daß nach
Maaßgebung der Ausdehnung ſolcher Privatein-
richtungen , die Juſtiz des Landes im Ganzen mit
den Einrichtungen Arners harmoniſch werden muͤßte .
Dann bemerkten ſie noch , Arners Rechtsgang
laſſe ſich noch mehr vereinfachen , und ſagten , er
ſchiene bey der Schwerfaͤlligkeit des Ceremoniels in
ſeinen Rechtsſchritten nicht genug Ruͤckſicht auf den
Zuſtand genommen zu haben , in welchen ſein Volk
durch den fortgeſezten Genuß ſeiner Einrichtungen
nothwendig kommen muͤſſe . — Im rohen Zuſtand
des Landvolks , und in der daſſelbe verwilderten Ver-
wirrung in der es lebt , auch noch in den Anfaͤngen ei-
ner beſſern Fuͤhrung , iſt dieſe druͤckende Schwerfaͤl-
ligkeit des Ceremoniels in den Rechtsſchritten von
weſentlichem Nutzen — aber nach Maaßgebung daß
ein Volk ſeine Rohheit verliert , und in eine ehren-
veſte ſittliche Ordnung gebracht wird , wird auch
das ſchwerfaͤllige Ceremoniel bey der Rechtsform
bey ihm uͤberfluͤßig — das wird aber Arner bey der
Erfahrung im Augenblick finden . —
Die Finanzraͤthe giengen mit dem Bleyſtift in
der Hand in mehr als 15 Haͤuſer , ließen ſich von
den Hausvaͤtern mit eben ſo viel Genauheit als
Umſtaͤndlichkeit vorrechnen , was die neuen Ein-
richtungen des Dorfs fuͤr einen beſtimmten Einfluß
auf ihr Hausweſen gehabt , und was fuͤr einen Un-
terſchied ſie ſowohl in Abſicht auf den Kapitalwerth
ihres Eigenthums , als auf den Jahrgenuß ihrer
Wirthſchaft gezeigt haͤtten .
Das Samtliche dieſer genau aufgenommenen
Unterſuchungen bewieß , daß Arners Einrichtungen
wirklich ſowohl den Kapitalwerth des Eigenthums
ſeiner Bonnaler , als ihren Jahrvorſchlag verdop-
peln , und ihnen Erſparniſſe moͤglich machen , die
zu ſo wichtigen Staatsendzwecken hinfuͤhren koͤnn-
ten , als ihr angefangener Steuerfond , wenn er in
einer großen Anzahl von Doͤrfern errichtet wuͤrde ,
erzielen koͤnnte .
Sie bemerkten dabey , es waͤre Arner ohne den
Baumwollen-Meyer unmoͤglich geweſen , dieſes zu
leiſten ; und ſagten , der Detail dieſer Rechnungen
zeige , daß zwey Drittel von einem Vorſchlag des
Dorfs von der Handarbeit , und kaum ein Drittel
vom Abtrag ihrer Landbeſitzungen herruͤhre ; indeſſen
ſey dieſer Gewuͤnſt ( Gewinn ) unter der Regierung
des alten Arners vollends draufgegangen , ohne daß
ein Menſch einen Heller beyſeits gelegt , und allent-
halben wo die Gewerbsleute fuͤr ihre Arbeiter nicht
eine ſolche Sorgfalt tragen , wie der Baumwollen-
Meyer , und von der Regierung weder Aufmunte-
rung noch Handbietung hierzu genießen , zeiget die
Erfahrung , daß aller dieſer Gewinnſt verlohren
geht , und der Endzweck , das Volk durch die In-
duſtrie immer mehr zu heben , und es in Lagen zu
ſetzen , einen merklichen Vorſchritt in ſeinem Wohl-
ſtand zu thun , und fuͤr ſeine Nachkommenſchaft auf
eine zuverlaͤßige und beruhigende Art zu ſorgen ,
oder ſo gar Erſparniſſe zu machen , um ſich von den
Beduͤrfniſſen der oͤffentlichen Finanz , und dem ver-
wirrenden Druck der Landeslaſten wie in Bonnal
ledig zu machen , ſetze offenbar voraus , daß die
Edelleute den kaufmaͤnniſchen Stand auf eine ſehr
ſorgfaͤltige Art in ihr Intereſſe ziehen — indem
der Kaufmann izt die Brodquellen des Volks in ſei-
nem Porte-Feuille herumtrage , wie ehedem der
Edelmann in ſeinem Stiefel , und gewoͤhnlich von
ſeinem herausfließenden Einfluß auf den Zuſtand des
Volks einer auf ſeinen wahren Wohlſtand eben ſo
wenig aufmerkſamen Gebrauch mache , als ehedem
die Edelleute von dem Recht ihres Sporrens — der
Staat aber koͤnne dieſes nicht laͤnger dem Zufall
uͤberlaſſen , und muͤſſe , wenn er den Zuſtand ſeiner
Einwohner nicht gaͤnzlich hindanſetzen wolle , un-
umgaͤnglich einmal anfangen , jedermann , der mit
ſeiner Gewerbſamkeit Menſchen im Land , wenn es
auch nur 20 waͤren , beſchaͤftige , zu verpflichten ,
der Regierung Rechenſchaft zu geben , wer dieſe Ar-
beiter ſeyen , was ſie woͤchentlich gewinnen , was ſie
gewinnen koͤnnten , wenn ſie ihre Arbeit beſſer ver-
ſtuͤnden und fleißiger waͤren ? Was ſie fuͤr einen
Gebrauch von ihrem Verdienſt machen ? Durch
was fuͤr Mittel er glaube daß es moͤglich waͤre ſie
dazuzubringen , ſie weiter zu bringen ? —
Auf dieſe Art wuͤrde der Staat in allen Faͤ-
chern des gemeinen Verdienſts Nachrichten erhal-
ten , durch die er von Leuten , die des Details
kundig , auf die Spur bringen koͤnnte , durch was
fuͤr Mittel das Volk in dieſen wichtigen Geſichts-
punkten in allen Ecken des Landes weiters zu
bringen waͤre ? —
§ . 71.
Der Autor weiß zum Voraus , daß der
Schlendrian der Geiſtlichkeit nicht fuͤr
ihn ſtimmt . Anmerkung . Er weiß dieſes auch vom
Schlendrian anderer Staͤnden , und iſt hinge-
gen der Beyſtimmung erleuchteter Geiſtlicher
in vielen Punkten ſehr ſicher . Da aber die
Sache mit den andern Staͤnden durchs Rech-
nen muß eroͤrtert werden , ſo braucht es einer-
ſeits weniger Redens gegen ihren Schlendrian ,
D ie Herren von der Unterſuchungs-Kommißion
konnten alle rechnen . Bylifsky bat den Fuͤrſten , daß
er keine unordentliche Haushalter , und keine Leu-
te , die ſich aus dem Rechnen nichts machen , dazu
ziehe . Der Fuͤrſt konnte ihm dieſes nicht abſchlagen ,
und ſah bey ihrer Wahl allgemein darauf ; bey den
Geiſtlichen allein kam ihm nicht zu Sinn , daß er
auch hierauf Ruͤckſicht nehmen ſollte . Es gieng nicht
gut , da alle andere Staͤnde im Eins mal Eins und
in der Erfahrung ihre Handhebe hatten , woran ſie
ſich hielten , ſo hatten dieſe Herren keine , und wuß-
ten nicht recht was ſie ſagen wollten .
Es war ihnen nicht genug ein wohlverſorgtes
Volk , mit ruhigem Gemuͤth , voller Kraͤften , zu
weiſer haͤuslicher Gluͤckſeligkeit , und zu wirkſamer
Menſchenliebe gebildet vor ihren Augen zu ſehen ;
nicht genug , bey ihnen ein ernſthaft frohes , be-
daͤchtliches Vertrauen auf Gott , und eine Dank-
barkeit gegen ihn , die ſich durch allgemeine Sorg-
falt fuͤr ihre erſte Lebenspflichten als real erprobte ,
und eine Menſchenfuͤhrung zu finden , die den Quel-
len der groͤßeſten und traurigſten Menſchenleiden ,
und den vorzuͤglichſten Reizen zu den meiſten Bos-
heiten
und anderſeits iſts wirklich zu erwarten , daß
ihr Nutzen und Schaden ſie allgemein fruͤher zu
richtigen Grundſaͤtzen in der Volksfuͤhrung er-
heben werde , als daß der große Theil der Geiſt-
lichkeit , unter den Umſtaͤnden darinn er lebt ,
dahin gelangen moͤchte .
heiten und Suͤnden mehr und allgemeiner entgegen
wirkte , und ihre Gemuͤthsruhe , und jede gute Kraft
der Seele weit mehr und allgemeiner befoͤrderte ,
als ſie es noch nie geſehen . Sie meynten dennoch ,
erſtlich : der Pfarrer unterrichte die Leute nicht ge-
nug in der Religionslehre ; zweytens , er erwaͤrme
ſie nicht genug mit den Heiligthuͤmern des Glau-
bens ; drittens , er ſetze einen zu großen Werth auf
irrdiſche Dinge ; und viertens , er binde ihr Ver-
trauen auf Gott an das gefaͤhrliche Strohhalm ih-
rer eigenen Sorgfalt .
Die Antworten des Pfarrers und des Lieute-
nants uͤber dieſe Punkte beſtunden darinn —
1. Der wiſſenſchaftliche Unterricht uͤber die Re-
ligion ſey eine Menſchenfoderung , und werde von
der Bibel auf keine Weiſe als ein Bedingniß der
Seligkeit gefodert , nicht einmal als ein Mittel zu
derſelben empfohlen . — Das Volk im Ganzen ſey
unfaͤhig irgend einen wiſſenſchaftlichen Unterricht
anderſt zu faſſen , als es die armſeligſten Blend-
werke des trugvollſten Aberglaubens auch faſſen
wuͤrde . — Die Bibel fodere vom Menſchen nicht
Religions-Wiſſenſchaft , ſondern Religions-Ausuͤ-
bung . — Alle Verſuche , die Religion zu erklaͤren ,
bringe das Volk von der einfaͤltigen , geraden , ſich
in nichts Fremdes , und in nichts das ob der Hand
iſt miſchenden Seelenſtimmung ab , und mache es
dadurch ſehr vieles verlieren . —
F f
2. Er erwaͤrme ſeine Leute nicht mit Religions-
Woͤrtern , und nicht mit irgend einem Bild , we-
der deſſen was daroben iſt , noch deſſen was auf
Erden iſt , noch deſſen was unter der Erden iſt ; aber
mit einer Seelenſtimmung , die der Ausuͤbung der
Religionspflichten angemeſſen .
3. Das Zeitliche und Irrdiſche ſey , ſeitdem die
Erde geſchaffen , und die Welt gegruͤndet worden ,
das reinſte , ſicherſte und untruͤglichſte Fundament
der wahren Volks-Religion geweſen ; die Doͤrner
und Diſteln , die der Herr des Himmels zur Uebung
unſerer Kraͤfte auf Erden wachſen laͤßt , ſeyen noch
izt wie vor 6000 Jahren , das was den Menſchen
am Beſten lehre Gott erkennen , und er muͤſſe darum
recht zum Irrdiſchen erzogen werden , weil ſonſt die
Reize zu allem Boͤſen ohne Maaß groͤßer , und die
Kraͤfte zu allem Guten ohne Maaß kleiner in ihm
werden , und er dadurch , daß er zu ſeinem Stand-
punkt nicht wohl erzogen wird , ſo viel als noth-
wendig in Lagen und Verwicklungen kommen muß ,
darinn das Vernuͤnftige in der Religion keinen Ein-
druck mehr auf ihn machen kann , und er nothwen-
dig gegen die Gewalt ſeines leidenſchaftlichen Zu-
ſtands , bey einer ſo leicht zum Unſinn aller Schwaͤr-
merey hinfuͤhrenden Anſpannung ſeiner Einbildungs-
kraft Hilfe ſuchen muß .
Aber wehe dem , ſagte der Lieutenant , der mit
Verſtand nicht zu Gott kommen kann — und lieber
braucht — zur Rettung ſeiner Seele . —
4. Daß Arners Sorgfalt auf Kind und Kindes-
kinder hinunter dem wahren Vertrauen auf Gott
ſchaͤdlich , und das Chriſtenthum einer ſolchen Sorge
fuͤr den morndrigen Tag entgegen — daruͤber ſagte
der Lieutenant — iſt es wahr , daß das Chriſten-
thum der feſten genauen Sorgfalt , die die Fuͤrſten
fuͤr ihre Succeßion haben , entgegen ?
Das wollten die Geiſtlichen nicht behaupten —
Alſo waͤre es dieſem Grad von Sorgfalt nur bey ge-
gemeinen Leuten entgegen ? ſagte der Lieutenant .
Aber ſie wollten ihm das auch nicht gelten laſ-
ſen , und ſich mit der großen Wichtigkeit der fuͤrſtli-
chen Succeßion heraus helfen — aber der Lieute-
nant ſagte ihnen , als Chriſten muͤſſen ſie wiſſen , das
Kind des Fuͤrſten ſey vor Gott nicht mehr als das
Kind ſeines Knechts , und er brauche zu ſeiner Vor-
ſehung uͤber ihns , und uͤber den Staubhaufen ſei-
nes Reichs ſo wenig eine uͤberfluͤßige Menſchenſorg-
falt zur Hilfe , als uͤber den Staubhaufen der Bett-
lerhuͤtte des andern — Und als Buͤrger muß ich ih-
nen ſagen , die Sorgfalt fuͤr die Scceßion des Volks
iſt im Ganzen der Menſchheit wichtiger , als die
Sorgfalt fuͤr die Succeßion des Fuͤrſten , und viel-
leicht das einzige reale Mittel fuͤr die Succeßion des
Fuͤrſten zuverlaͤßig zu ſorgen . —
Der Lieutenant wurde uͤber dieſen Punkt leb-
haft , und ſagte , man koͤnne denſelben unmoͤglich
F f 2
im Dunkeln laſſen , er entſcheide gaͤnzlich , ob man
links oder rechts mit der Volksfuͤhrung hinlenken
muͤſſe ; ein einziger Schritt auf die unrechte Seite
ſey hierinn in den Folgen unabſehbar . —
Entweder , ſagte er , iſt das Chriſtenthum fuͤr
einen Glauben , bey dem man die natuͤrlichen Mittel
der Sorgfalt fuͤr ſich und die Seinigen auf Gott
hin vernachlaͤßigen darf , ohne dabey fuͤr ſich und
ſeine Nachkommen zu gefahren . In dieſem Fall
ſind taͤgliche Wunder unumgaͤnglich noͤthig , oder
das Chriſtenthum muͤßte ſeiner Natur nach das offe-
ne Grab des Menſchengeſchlechts werden ; aber die
Kraft unſerer Natur und des ſchlichten Menſchen-
verſtands wirket auch hierinn den Verirrungen ſei-
nes Kunſtſyſtems entgegen , wie ſie den Verirrungen
aller menſchlichen Kunſt und Syſtemen durch Got-
tes Vorſehung zur Rettung des Menſchengeſchlechts
entgegen gewirkt hat .
Iſt es aber nicht , iſt das Chriſtenthum fuͤr einen
Glauben , bey dem man die natuͤrlichen Mittel der
Selbſterhaltung und Sorgfalt fuͤr die Seinigen auf
Gott hin vernachlaͤßigen darf , und iſt es ſeine offe-
ne , unzweydeutige , und allgemeine Meynung , es
ſey Gott verſucht , die Haͤnde in den Schoos zu le-
gen , und die natuͤrlichen Mittel der Selbſterhal-
tung und Vorſorge nicht mit aller noͤthigen Auf-
merkſamkeit , Sorgfalt und Thaͤtigkeit zu gebrau-
chen ; ſo kann es auf der andern Seite die Bemuͤ-
hungen des Staats , das Volk im Ganzen ſeiner
Bildung , in einem ſolchen Grad auf das Irrdiſche
aufmerkſam zu machen , als es zur Erzielung der
Kraͤften , die dem Menſchen zur Selbſterhaltung
und Vorſorge in ſeiner beſtimmten Lage erforderlich
ſind , nothwendig iſt , nicht mißbilligen .
Aber es iſt unmoͤ g lich , den Schlendrian der
Geiſtlichkeit uͤber dieſem Punkt zu feſten , heitern ,
praktiſch ſichern Begri ff en empor zu heben . Es lie-
gen in ihren Umſtaͤnd e n und in ihrer Bildung zu
viele Reize , ihre Aufm e rkſamkeit von dem Grad der
Kraft fuͤr das Irrdiſche , welche in die innerſte
Stimmung des Volks muß hineingebracht werden ,
abzulenken , wenn daſſelbe in den erſten Beduͤrfniſſen
des Lebens , auf deren Befriedigung im Allgemeinen
alles andere ruhet , nicht verwahrloſet ſeyn ſoll .
Es war umſonſt , der einte Geiſtliche konnte
nicht rechnen , hingegen unendlich reden ; er hatte in
ſeinem Leben noch nie nachgegeben , wenn er etwas
behauptete , und ſagte izt hinter allem dieſem noch ,
eine ſolche fuͤr das Irrdiſche aufmerkſame Volksſtim-
mung koͤnnte nicht anderſt als der Religion gefaͤhr-
lich ſeyn .
Wohlehrwuͤrdiger Herr ! erwiederte der Lieute-
nant , die Erfahrung zeigt , daß nichts ſo ſehr die
Menſchen von Gott und allem Guten wegbringt , als
wenn ſie ſich ſelbſt und die Ihrigen nicht verſorgen
koͤnnen .
Ff 3
Das macht nichts , ſagte der Geiſtliche , wenn
man die Begriffe der Religion auseinander ſezt , ſo
ſieht man es deutlich und klar , daß eine ſolche Volks-
ſtimmung der Religion Gefahr bringen muͤſſe .
Aber wohlehrwuͤrdiger Herr ! erwiederte dieſer
nochmals , die Erfahrung ſezt mir dieſe Begriffe ge-
gen Sie ſo heiter auseinander , daß mir bey dieſem
Einwurf iſt , ich hoͤre in einer Hungersnoth mitten
im Klaggeſchrey von Tauſenden , die nach Brod ru-
fen , einen Menſchen behaupten , das Brod ſey nicht
geſund zu eſſen . —
Das ſey nicht geredt , ſagte der Geiſtliche .
Und der Lieutenant — man denke bey dem Wort
„ es ſey etwas fuͤr die Religion gefaͤhrlich “ ſo oft
weder an Gott noch an die Menſchen , und brauche
es unzaͤhlichemal ſo in Tag hinein .
Wie ein benachbarter Pfarrer , der vor etlichen
Monaten , da der Stral ein ſteinern Kreuz am Weg
zerſchmettert , auch behauptete , es ſey der Religion
gefaͤhrlich , wenn man die zerſchmetterte Stuͤcken
Steine dem Volk lang vor den Augen laſſe , man
muͤſſe geſchwind wieder ein neues machen — das
iſt blos laͤcherlich — aber wenn man die Sorgfalt
des Staats fuͤr des Volks erſte Nothdurft , und fuͤr
ſein Brod und fuͤr die Nachkommenſchaft , die ohne
feſte Richtung ſeines Geiſts auf das Irrdiſche nie zu-
verlaͤßig iſt , als der Religion gefaͤhrlich erklaͤren
wollte , denn waͤr es etwas — anders , als blos
laͤcherlich . —
Aber der gleiche Geiſtliche war dannnoch im
Stande , hinter dieſem zu ſagen , der Lieutenant und
der Pfarrer haben weder Phyſik noch Landbaukennt-
niß , die ſie in Stand ſetzen , das Volk real auch nur
hierinn weiter zu bringen , ſie haben nicht einmal
Kenntniß der neuern Hilfsmittel der Volksaufklaͤ-
rung . —
Herr ! antwortete der Lieutenant , ihr kennet
das Volk nicht , und verſteht nicht , was es heißt ,
es zu fuͤhren , und was es braucht , es weiters zu
bringen ; und trat dann in dieſe Materie hinein ,
und ſagte : es iſt gar nicht , daß einer , der das Volk
fuͤhren will , in allem den Detail verſtehen muͤſſe ,
was er will daß es lerne . Die Kunſt iſt , daß er es
lehre angreifen was es muß , und denken , woruͤber
es ihm noͤthig zu denken iſt , alles uͤbrige giebt ſich
dann von ſelber ; wenn man wolle die Bauern da-
durch , daß man ihre Sachen im Detail ſelber ſtu-
diere , und einfaͤltig und deutlich mit ihnen rede ,
und ihnen Buͤchelchen , die ſo klar als Brunnenwaſ-
ſer ſeyen , machen koͤnne , weiters bringen , ſo gehe
man an den Waͤnden , man bringe den Bauer
nicht weiter , außer man ziehe ihn , daß er des Den-
kens gewohnt werde , und bringt ſeine Vorurtheile
nicht aus ihm heraus , außer man bilde ſeinen
Wahrheitsſinn mit einer Kraft , die dieſen Vorur-
Ff 4
theilen angemeſſen ; und einzelne oͤkonomiſche , phy-
ſikaliſche und moraliſche Wahrheiten , ohne ſie auf
das Fundament einer ſolchen Bildung zu gruͤnden ,
und alle Verſuche , die mit Vorbeygang eines feſten
Einfluſſes auf das Ganze ſeiner Stimmung , aller-
ley Kunſt und Wiſſenſchaften in das Volk werfen
wollen , ſeyen Schloͤſſer in die Luft , und Arbeit in
den Wind .
Iſt einer im Stand das Volk ordentlich , an-
ſtellig , bedaͤchtlich und thaͤtig zu machen , ſo muß
er es weder eggen noch pfluͤgen lehren , kann er aber
das nicht , ſo arbeitet er umſonſt es eggen und pfluͤ-
gen zu lehren ; es iſt umſonſt daß er zum Schwein
ſage , es ſolle nicht im Koth wuͤhlen , und zum
Bauer , der in ſeiner innerſten Bildung fuͤr Ord-
nung und Thaͤtigkeit zuruͤck iſt , er ſoll auf Phyſik
und Arzneykunſt gegruͤndete Regeln der Selbſter-
haltung und des Feldbaues anwenden .
Er ſagte fort , ich verſtehe von allem Bauern-
weſen im Detail gar nichts Anmerkung . Das iſt beſtimmt der Fall
des Verfaſſers , und der Geiſt des Buchs ,
es enthaͤltet kein einziges Recept fuͤr irgend
einigen Detail-Umſtand von den Millionen
einzelnen Beduͤrfniſſen des Volks , dennoch ſoll
es den Bauern in dieſen einzelnen Beduͤrf-
niſſen dienen koͤnnen , und indem es auf die
Richtung ihres Kopfs und ihres Herzens ; aber meine Kinder
muͤſſen mir den Kleebau dennoch wie die Spitze ma-
chen , das Wolleweben wie das Ruͤbenhacken , und
wenn es noͤthig iſt , das Uhrenmachen ſo gut als das
Miſtverzetteln wohl lernen . — Auch desfalls blieb
der Geiſtliche bey ſeiner Meynung , und behauptete ,
es wuͤrde doch nichts ſchaden , wenn das Volk et-
was von der Phyſik und Arzneykunſt verſtuͤnde . —
Als wenn Zerſtreuung und Halbwiſſen , und das
Ablenken ſeines Kopfs von der einfachen Richtung
auf das Nothwendigſte nicht der groͤßeſte Schaden
waͤre , den man ihm thun koͤnnte , ſagte mit Eifer
der Lieutenant — ſezte hinzu — Nein , nein , dieſe
Art Aufklaͤrung , die uns Romanenbauern machen
koͤnnte , wie wir Romanenbuͤrger haben , iſt nichts
nutz , und die Faſſungskraft des Volks durch feſten
Einfluß auf ſeine Berufsbildung zu erweitern , iſt
das einzige wahre Mittel zu ſeiner rechten Aufklaͤ-
rung .
In der Fuͤlle ſeiner Wiſſenſchaft vergraben ,
und fuͤr alles , was der andere ſagt , immer eine Ant-
wort findend , machte endlich den Lieutenant muͤde ,
daß er ſchwieg .
Den erſten verdroß es , daß der Lieutenant ge-
ſchwiegen , eh die Sache , wie er meynte , waͤre aus-
gemacht worden , und ergab ſich hernach auch allge-
mach .
Einfluß hat , ſie ſelber auf die Spur der De-
tailrecepten , die ſie noͤthig haben , fuͤhren . —
Aber hingegen der andere Geiſtliche , der faſt
nichts redete , kam wirklich unter dieſem Geſpraͤch
dahin , zu fuͤhlen , daß die aͤußere Form der Chri-
ſtenlehre , in Ruͤckſicht auf den Einfluß , den ihr
wiſſenſchaftlicher Zuſchnitt auf die Volksſtimmung
habe , einee allgemeinen Reviſion beduͤrfe ; ſondierte
nach ſeiner Art das Volk in Bonnal wie ein Spion ,
ob es auch wirklich an den Heiland glaube , oder
nur dieſen Herren anhange — die es im Zeitlichen
verſorgen ? Und fragte , ſeiner Meynung zum Vor-
aus ſicher , neben dem Lieutenant zu ein Kind in der
Schule , ob ihm der Heiland mehr lieb ſey als der
Schulmeiſter ? —
Ja freylich , ſagte das Kind .
Warum doch das ? ſagte der Mann , und meyn-
te es koͤnnte nun izt nichts mehr antworten , und
waͤre froh geweſen , denn ſeine Antwort war ihm
ſchon zum Voraus geruͤſtet — ſieheſt du , gutes Kind !
du weißt nicht ſo viel vom lieben Heiland als vom Hr.
Schulmeiſter , darum kann er dir auch nicht ſo lieb
ſeyn , wenn du es ſchon ſagſt und es vielleicht
meynſt . —
Aber der Seitenſprung zur Ehre des Heilands
gerieth ihm nicht . — Das Kind antwortete —
Wenn der Herr Schulmeiſter noch ſo gut iſt ,
er ließe ſich doch keinen Nagel durch die Hand ſchla-
gen um ander Leute willen . —
Es war dem Prieſter leid , daß die Unſchuld
ſo wider ihn zeugte — und er glaubte doch nicht . —
§. 72 .
Die andern Staͤnde fahren fort fuͤr ihn
zu ſtimmen , bis zu Ende der Rezen-
ſion ſeines Buchs . Anmerkung . Verſtehet ſich nach ſeiner
Meynung , und eben ſo daß dieſe Meynung
noch zu unterſuchen iſt .
D ie Kaufleute giengen wie die Finanzraͤthe in die
Stuben des Volks , und ſahen die Arbeit dieſer
Leute und ihre Ordnung mit Genauheit , unterſuch-
ten die Urſachen dieſes Vorſchritts in ihrem Ver-
dienſt ſowohl , als in ihrer Arbeitsfaͤhigkeit , und
erklaͤrten ſich , nachdem ſie alles dieſes genau ge-
ſehen , beſtimmt , die Einrichtungen Arners fuͤh-
ren zu einer ſolchen Totalveraͤnderung in den Um-
ſtaͤnden des Volks , und geben ihm einen ſolchen
Grad von Erwerbskraͤften , daß ſie , wenn ſie all-
gemein auf den Doͤrfern eingefuͤhrt wuͤrden , in
Abſicht der Feſtgruͤndung und Ausdehnung der
Handlung eines Reichs unuͤberſehbar große Fol-
gen haben muͤßten .
Dieſes , den Fuͤrſten heiter zu machen , er-
klaͤrten ſie .
Die Hauptſchwierigkeiten , die der Errichtung
aller neuen Gewerbsbranches im Weg ſtehen , ſey
die Rohheit , Unordnung , Unanſtelligkeit des ge-
meinen Volks . Alles , was ſolche Leute in die Hand
nehmen , gehe zu Grund , was ſie gerad machen
ſollen , machen ſie krumm , und da ſie weder Kennt-
niß noch Erfahrung im Geldgebrauch haben , ſo
gehe es unter ihren Haͤnden zu grund wie nichts ,
je mehr ſie verdienen , je mehr verthun ſie wieder ,
das erniedrige ſie zu falſchen , untreuen , gefaͤhr-
lichen Menſchen , und alle dieſe Umſtaͤnde bringen
den meiſten Anfaͤngern von neuen Gewerbsbran-
chen einen ihnen unerſchwinglichen Verlurſt , auch
ſehe man ſie alltaͤglich unter ſolchen Haͤnden dahin
ſchwinden , wie Fruͤhlingsmuͤkken bey einem Win-
terfroſt .
Wenn hingegen der Staat durch ſolche Dorf-
einrichtungen ſolchen Unternehmern , darinn an die
Hand gehen wuͤrde , daß ſie ſeines feſten Einfluſ-
ſes in die Bildung des Volks zur Anſtelligkeit ,
Reinlichkeit , Ordnungsliebe , Genauheit und Spar-
ſamkeit zum Voraus verſichert ſeyn koͤnnten , ſo wuͤr-
de der erſte Stein des Anſtoſſes gehoben ſeyn , an
welchem die nach allen Arten von Handlungsetab-
liſſements ſo duͤrſtende Gierigkeit aller Reichen ſo
lang anſtoſſen wird , bis ihre Geſetzgeber erken-
nen , daß ſie in dieſer Sache auf Fundamente ar-
beiten , und mit Geduld durch vorhergehende Ein-
richtungen zur zweckmaͤßigen Bildung des Volks
die Moͤglichkeit eines allgemeinen Handlungs und
Gewerbsgeiſts vorbereiten , und abwarten muͤſſen ,
eh ſie ihn genießen koͤnnen .
Denn , ſagten ſie , beſonders in Ruͤckſicht auf
den Zuſtand Seiner Durchlaucht , wo das Volk
wohlfeil Brod habe , da ſey die Etablirung einer all-
gemeinen Gewerbſamkeit doppelt ſchwierig , alle In-
duſtrie gedeihe am beſten in duͤrren brodloſen Bergen
und auf hartem unfruchtbaren Boden , wo der
Druck der Noth den Menſchen lehre ihre Kraͤfte
anſpannen , und ſo hoch treiben als moͤglich , um
Brod zu finden . Im platten Land und in frucht-
reichen Thaͤlern koͤnne man das Volk unmoͤglich
zur gleichen Anſtrengung im Kunſtfleiß empor he-
ben , wenn man nicht durch feſten Einfluß in ſeine
Nationalbildung ſie durch die Beweggruͤnde der
Ehre , und die Reize ſicherer und ungluͤcklicherer
Umſtaͤnde zu der Thaͤtigkeit erhebt , zu welcher ſie
die Noth nicht zwingt ; aber wenn man dieſes thun
wuͤrde , und durch Einrichtungen wie in Bonnal
bey dieſen gluͤcklichern Gegenden , dieſem Ziel ent-
gegen ſtreben wuͤrde , ſo wuͤrden dieſelben am En-
de , denn auch ſicher hierinn den Vorzug behaup-
ten , den ihnen die Natur allgemein verliehen . —
Eben ſo wuͤrde eine ſolche Bildung des Volks
auf die einzeln Menſchen , die bey der Induſtrie
Verdienſt finden , eine ganz andere Wirkung her-
vor bringen , und auch in der Tiefe des Volks ,
und beym niederſten Arbeiter die Grundlag ſolider
Umſtaͤnden , und eines den Faͤhigkeiten , dem Fleiß ,
der Anſtelligkeit eines jeden Menſchen proportionir-
ten Vorſchritts in ſeinen Vermoͤgensumſtaͤnden
moͤglich machen , und dann wuͤrde die ganze Maſſa
dieſeserhoͤheten und ſicher geſtellten Landesverdienſts
allgemein auf die Fundamente des menſchlichen
Wohlſtands wirken , und wirken muͤſſen , ſo daß
man dannzumal die Wirkungen der Handlung nicht
mehr ſogar im Pomp truͤglicher Palaͤſten als im
Flor eines untruͤglichen allgemeinen Volks Wohl-
ſtands bewundern , und lebhafter als izt erkennen
wuͤrde , daß hundert Millionen auf hunderttau-
ſend Menſchen vertheilt , dem Staat unendlich mehr
Werth ſind , als zwey und dreyhundert Millionen
auf wenigen Koͤpfen , — und daß es dem Staat
weit wichtiger iſt , daß der Pfenning in der Hand
von hunderttauſend Wuchern , als daß Millio-
nen in der Hand eines einzigen ohne Ruͤckſicht auf
den Pfennig der Hunderttauſend , oder gar zu
ihrem Ruin ſich haͤufen , und durch jede Laune ei-
nes ſchwierigen Erben dem Staat entriſſen , und
mit ſeinem Handzug in ein fremdes Land gewor-
fen werde .
Sie ſagten beyde , das erſte Kennzeichen wahr-
haft ſolider und den Staat ſicher ſtellenden Hand ,
lungsgrundſaͤtzen ſey dieſes , wenn ein Haus in oͤko-
nomiſchen Vorſchritt , alle Menſchen mit denen es im
Verkehr ſtehet , ſein wahres Intereſſe kennet und
findet , wie im Gegentheil es eben ſo das Kenn-
zeichen einer beſchraͤnkten , unſichern , dem Land
gefaͤhrlichen Handlungsmanier iſt , wenn ein Kauf-
mann alles braucht , was ihm zur Stund dienet ,
und im mitten unter ſich haͤufenden Menſchen E-
lend von jedem zieht , was er kann , und noch froh
iſt , wenn die Menſchenhaufen , die er beſchaͤftigt ,
den Verdienſt , den er ihnen zuwirft , geſchwind
wieder zu Grund richten , damit ſie ihm immer de-
ſto wohlfeiler an der Ketten bleiben , und alſo de-
ſto leichter ohne viel Muͤhe und Sorgen beym An-
ſchwellen ſeiner Geldhaufen aufduͤmſen , wie er
aufdumſet .
Es giebt viele Leute in der Welt , ſagten ſie ,
die mit allem Geld , das ſie beſitzen , ihrem Lande
nicht den Zehnden von dem Schaden wieder ver-
guͤten koͤnnten , den ſie ihm durch eine ſolche Hand-
lungsweiſe gethan haben .
Aber davon iſt izt nicht die Rede ; hingegen
muß ich noch ſagen , daß die beyde Kaufleute ge-
urtheilt haben , Arners Einrichtungen wuͤrden ein
jedes Land vor dieſer Klippen ſicher ſtellen .
Auch ſeine Edelleute konnten zum Gluͤk rech-
nen , und geſtunden , wenn ſie etwas auf die wah-
ren Vortheile ihres Stands aufmerkſam machen ,
und ihnen darin Licht geben koͤnne , ſo ſeyen es die
Verſuche Arners , und ihr Erfolg ; ſie verheelten
nicht in Gegenwart des Fuͤrſten , es ſey hohe Zeit ,
daß ſie fuͤr ihren Stand , nach den veraͤnderten Um-
ſtaͤnden , ganz neue und dieſen gemaͤſſe Entſchlieſ-
ſungen nehmen , und bey dem Einfluß den der im-
mer mehr ſteigende Geldverkehr auf den Zuſtand
der Welt habe , nicht laͤnger Gedankenlos auf ih-
rem Heerde ſitzen , und mit Vernachlaͤſſigungen von
Einrichtungen durch die ſie ihrer Familie und ih-
ren Unterthanen zugleich Vorſehung thun koͤnnen ,
ſich durch dumme Anhaͤnglichkeit an die aͤußere
Form abgeſtorbener Eitelkeitsrechten , bey denen ſie
und ihre Unterthanen immer mehr zugleich zu kurz
kommen , von einem realen Vorſchritt in ihren Um-
ſtaͤnden zuruͤckbinden laſſen .
Sie geſtunden ohne Zuruͤckhalt , daß Einrich-
tungen im Land , die es den Bauern moͤglich ma-
chen wuͤrden , den Betrag ihrer Schuldigkeiten
durch niedergelegte Kapitalien zu verſichern , den
Werth ihrer Herrſchaften erhoͤhen , ihre Einkuͤnfte
ſolider machen , ſie von ſehr wichtigen Ausgaben
und Risque befreyen , eine Menge Schwierigkei-
ten , die das Verhaͤltniß zwiſchen ihnen und ihren
Unterthanen ſo oft unangenehm und laͤſtig machen ,
aus dem Wege raͤumen , und die Rechte und Ge-
nieſſungen ihres Standes mit dem Wohlſtand der
Einwohner
Einwohner ihrer Doͤrfer , und mit dem allgemei-
nen Intereſſe des Staats in eine fuͤr ſich ſelbſt vor-
theilhafte Uebereinſtimmung bringen wuͤrde .
Eben ſo erklaͤrten ſie ſich , ſie wußten gar nicht
warum nicht eine große Anzahl Edelleute mit Freu-
den eine Laufbahn ergreifen ſollten , die ſo ehren-
voll vor ſie , und ſo vortheilhaft fuͤr ihre Haͤuſer
ſeyn muͤßten , wenn der Staat eine ſolche Lauff-
bahn beguͤnſtigen wuͤrde .
Zwey Aerzte , die den gleichen Weg der freyen
Nachforſchung giengen , hatten eine Menge Krank-
heiten aufgezeichnet , die , ſeitdem Arner Ordnung
ins Dorf gebracht , nachgelaſſen . Die Ruͤtz ( Kraͤ-
tze ) war allgemein im Dorf , und iſt faſt voͤllig
fort . — Eben ſo haben ſich die Kinderkrankhei-
ten faſt voͤllig verloren , ſeitdem man ihnen Rath
anthun kann , und Rath anthun muß . — Sie
fanden auch , der Fabrikverdienſt ſchade dieſen Kin-
dern an ihrer Geſundheit gar viel weniger als an-
derswo , und der Grund davon ſey , weil ſie mit
Ordnung dazu gezogen , auf ihre Geſundheit ſelbſt
aufmerkſam gemacht , ihren Verdienſt nicht wie
hungerige Thiere einen gefundenen Fraß mit wil-
dem Unſinn immer nur auf der Stell verſchlingen ,
und ihre Hausarbeit mit einem ihrer Geſundheit
ſehr vortheilhaften kleinen Feldbau verbinden . —
Sie machten auch uͤber den Vorſchritt dieſer Leute
folgende Bemerkung . —
Gg
Es haben ſchon mehrere Aeltern ihren Kindern
die Blatern einpfropfen laſſen . —
Der Gebrauch unbekannter Aerzte , und unſi-
cherer Arzneyen habe ſich beynahe gaͤnzlich verloren ,
und ſeitdem gar viele Leute durch eine beſſere
Ordnung ihre Krankheiten von ſich ſelber verloren ,
auch das Zutrauen zu den Aerzten ſelber habe
dadurch abgenommen , wovon aber der Schaden
um ſo weniger groß ſey , weil eben noch kein recht
guter in der Naͤhe wohne .
Die Hexerey und Lachsner-Glauben habe weit
und breit keinen ſolchen Stoß erlitten , ſie heiſſen
izt dergleichen Sachen nur Hummelsglauben ,
und das Wort habe mehr Narrenſachen aus ihrem
Kopf herausgetrieben , als man durch ein halbes
Menſchenalter durch noch ſo vernuͤnftige Vorſtel-
lungen aus dem Kopf heraustreiben konnte . Sie
machten bey dem Anlaß die Bemerkung , wie viel
man mit einem ſolchen Wort beym Volk ausrichten
koͤnne , wenn man ihm daſſelbe zum Spruͤchwort
machen koͤnne .
Das Urtheil zweyer Dorfſchulmeiſter war dieſes . —
Sie haben im Anfang geglaubt , ſie koͤnnten
eher lernen Meß leſen , als die Kinder alſo lehren ,
aber es ſey ihnen izt nicht mehr ſo , ſie wollen ,
ſo bald ſie wieder heimkommen , es auch anfangen
und probiren , wie weit ſie es koͤnnen . —
Der Fuͤrſt ſagte ihnen , das ſey brav . — und
ſie erwiederten , wenn ſie duͤrften , ſo wollen ſie es
von Ihro Durchlaucht zur Gnade ausbitten , ſie
noch einen Monat hier zu laſſen ; — der Herr
Lieutenant habe ihnen verſprochen , er wolle ſie in
dieſer Zeit voͤllig in der Ordnung ſeiner Schule
unterrichten , und wenn er das thue , und ſie es
recht begreifen koͤnnen , ſo wuͤnſchten ſie Daheim
keinen beſſern Dienſt , als ihren Schuldienſt . —
Ob das einen Unterſchied in ihrem Schuldienſt
machen wuͤrde , fragte der Fuͤrſt ? —
Es wuͤrde ihnen , antworteten ſie , jedermann
die Haͤnde unter die Fuͤße legen , wenn ſie eine
ſolche Schule einrichten koͤnnten . —
Aber auch mehr Lohn geben ? fragte der Fuͤrſt . —
Gewiß ſo viel ſie fodern duͤrften , erwiederten
die Maͤnner , und ſetzten hinzu , wenn ſie ihre Kinder
ſo weit bringen koͤnnten , es die hier gebracht , und
ſo alles zum Nutzen ; die Aeltern wuͤrden alles auftrei-
ben , ihnen fuͤr einen ſolchen Dienſt rechtzu danken .
Vielleicht iſt das wichtigſte Urtheil von allen
dasjenige eines ſehr alten Landmanns , der naͤm-
lich ſagte , es ſeyen vor hundert und mehr Jah-
ren , ſo wie ihn die Alten berichtet , von der Zeit
der Reformation an , bis auf ſeinen Vater ſelig ,
beynahe eine gleiche Ordnung geweſen , wie izt
Arner eine einfuͤhren wolle ; die Pfarrer haben faſt
Gg 2
auf eben dieſe Art Roͤdel gehabt , darein ſie ge-
nau aufgeſchrieben , was ſie von Haus zu Haus
von einem jeden ihrer Pfarrkinder zu wiſſen noth-
wendig gehabt , um mit Rath und That ihnen an
die Hand zu gehen . Sie haben nicht , wie es
izt uͤblich ſey , es blos bey ihrem Predigen , Kin-
derlehrhalten , und den Sterbenden vorbeten gel-
ten laſſen , ſondern ihre Sorgfalt fuͤrs Volk viel
weiter getrieben , und Jahr fuͤr Jahr , Haus fuͤr
Haus nachgeſehen , ob ſie bey irgend jemand et-
was helfen und nuͤtzen koͤnnen , da wo ihre Kan-
zelarbeit umſonſt ſey , auch haben es die Dorfleute
bis auf die Schulkinder hinunter alle wohl ge-
wußt , daß ihre Pfarrer an dem Zuſtand ihrer
Hausordnung , Kinderzucht , und auch an ihren
Feldern und Matten die Probe machen , ob ihr
Chriſtenthum und ihr Aufſagen in der Kirche mehr
als nichts ſey . Es ſey uͤberall mehr in der Uebung
geweſen , auf die Menſchen acht zu geben , ſie zu
leiten , und an der Hand zu halten , daß ſie nicht
zu ſtark verirren , und jedermann habe das fuͤr
eine ausgemachte Sache angeſehen , daß ein jeder
Menſch fuͤr andere Menſchen , die ihm anvertraut
ſind , mehr als fuͤr irgend eine zeitliche Sache auf-
richtig und redlich zu ſorgen ſchuldig ſeyen , ſo
daß wenn einer das nicht gethan , oder gar Urſach
geweſen , daß dergleichen ihm anvertraute Leute an
Leib und Seel Schaden gelitten , ſo habe ihm das
Volk dieſes ſo gut , als wenn er geſtohlen , oder
eine Mordthat gethan , zur Suͤnde gerechnet , und
ſo ein Menſch habe darauf zaͤhlen koͤnnen , daß
er im Land verachtet , und fuͤr ein Unchriſt , und
Unmenſch gehalten worden ſey , habe er dann Jun-
ker geheißen , oder Pfarrer , oder Ehegaumer , oder
auch nur Hebamme . — Auch nur kein Meiſter
und keine Meiſterin habe ihren Knecht , oder ihre
Magd wie izt in allem was nicht den Dienſt an-
betrift , ſich ſelber uͤberlaſſen , und ſich nicht da-
rum bekuͤmmert , ob ſie an Leib und Seel fuͤr ſich
ſelber ſorgen oder nicht . — So lang du bey mir
biſt , und mein Brod iſſeſt , ſo hab ich dich zu ver-
antworten . — Wenn du denn nicht mehr bey mir
biſt , ſo thue denn in Gottes Namen was du willſt ,
dann gehts mich nichts mehr an , — das ſey das
Land hinauf , und das Land hinab die Sprache
der Meiſterleuten gegen ihre Dienſte geweſen . —
Auch das ſey vor gar altem ungefaͤhr ſo ge-
weſen , wie es Arner izt wieder einrichten will ,
daß die Junkern alle Jahr durch alle Zelgen ge-
ritten , und ſich vom Herrſchaftsweibel einen je-
den Acker , der beſonders ſchoͤn , oder beſonders
ſchlecht geweſen , aufſchreiben laſſen ; denn hernach
im Gemeindhaus mit den Bauern daruͤber geredt ,
und bey einem jeden den Urſachen nachgefragt ,
warum er in dieſem Zuſtand ſey ?
Eben ſo haben die Schulkinder jaͤhrlich zwey
Freudentaͤg gehabt , und die Oſterbroͤdchen kom-
Gg 3
men noch vor dieſen Tagen her , aber freylich ſey
von ihrer Freud dem Volk nichts mehr uͤbrig ge-
blieben , als ein Pfund Brod auf den Kopf von
einem jeden Kind , wie ich eben geſagt habe , auf
die Oſtern .
So meynte der Mann , im Grund ſey alles
alt , was der Junker machen wolle , aber es ſey
nichts deſto ſchlimmer , die Prob ſey dann ſchon
da geweſen , daß es gut ſey .
Sein Urtheil hatte viel aͤhnliches mit dem ,
was zwo Frauen von Edelleuten und eine Pfar-
rersfrau daruͤber ſagten , nemlich das zugleich
Lernen und Arbeiten ſey nichts anders , als was
weuigſtens in gemeinen Buͤrgershaͤuſern vielfaͤltig
ausgeuͤbt werde , daß die Muͤtter und Toͤchter
miteinander um einen Tiſch herumſitzen , in allem
Ernſt darauf losarbeiten , und doch zugleich etwas
auswendig lernen , ſich im franzoͤſiſch Leſen uͤben ,
und wirklich auch rechnen ; es ſey nicht daran zu
zweifeln , daß ein Mann wie der Lieutenant eine
Ordnung und Einrichtung koͤnne angeben , bey der
man dieſen alten Hausvortheil bey vielen Toͤch-
tern , die nicht gar reich ſeyen , und doch auch
hinkommen moͤchten , noch gar viel weiters treiben
koͤnnte . Indeſſen werde es auch izt ſchon in
vielen Penſions- und Lehranſtalten fuͤr die gemei-
nen Staͤnde getrieben , daß man den Kindern bey
ihrer Arbeit zugleich auch noch den Kopf beſchaͤf-
tige , und in den Bergen in dem Neuenburgiſchen
ſey es bis auf die gemeinſte Spitzmacherin herun-
ter ein Gewohntes , daß ſie bey ihrer Arbeit bey-
einander etwas leſen und lernen . — Auch das
ſagten dieſe Frauen , die Kinder in Bonnal ha-
ben eine voͤllig buͤrgerliche Erziehung , mit der ſie
das geſunde , gute , und natuͤrliche vom Bauern-
ſtand verbinden ; und die zwo erſten ſagten , es
habe ſie noch nie gefreut Herrſchaften haben , und
die andere eine Pfarrerin zu ſeyn , wie izt . Die
erſten ſezten hinzu , ſie wollen die groͤßeſten Freu-
den , die Menſchen haben koͤnnen , gewiß nicht mehr
uͤber Sachen die wie Kartenhaͤuschen fuͤr Kinder
ſeyen , verſaͤumen , und es muͤſſe ihnen nicht mehr
ſeyn , daß ihr Staͤlle beſſer in der Ordnung , als
ihre Schul ſeyen . Und die Frau Pfarrerin ſagte ,
ſie ſeye ihres Obſtdoͤrrens , und ihrer Schuͤtte ,
und ihres Kellers auch gewiß noch nie ſo muͤde
geweſen , und wolle auch nicht mehr fuͤr dieſes
allein Pfarrerin ſeyn . —
Zwey Vorgeſetzte antworteten dem Fuͤrſten auf
die Frage , ob ſie im Stand ſeyen die Roͤdel uͤber
die Menſchen , uͤber ihre Geſundheit , Ordnung ,
ihren Fleiß , und ihren Verdienſt auch zu machen ,
wie ſie in Bonnal gemacht werden ? Sie haben
dergleichen Roͤdel ſchon mehrmal uͤber Pferd und
Hornvieh , und Schaf machen muͤſſen , wenn et
Gg 4
u nrechtes unter ihnen geweſen , uͤber die Menſchen
noch nie , aber ſie meynten , ſie wuͤrden es eben
ſowohl lernen , als uͤber das Vieh , wenn es ſeyn
muͤßte , und ſie die Formen und Einrichtungen ,
die der Junker den Vorgeſetzten in Bonnal gemacht ,
auch haͤtten . —
§. 73 .
Das iſt wieder langweilig fuͤr Leute ,
die nicht fuͤrs allgemeine denken , und
dieſer ſind viel .
D er Fuͤrſt ſaß wie im Traum da . Was er
tief verworren glaubte , fand er unverwikelt vor
ſeinen Augen . Wo er unuͤberſteigliche Schwierig-
keiten ahndete , fand er nichts als gemeinen Fleiß ,
und gemeinen Menſchenverſtand , wie in allen Sa-
chen auf der Welt nothwendig . —
In einer Art von Betaͤubung ſagte er —
aber , wenn izt alles ſo waͤre , was muͤßte ich
denn thun , ſo geſchwind als moͤglich zu dieſem
Ziel zu kommen ? — Er hatte ſeine Augen auf
den Lieutenant geworfen , da er das ſagte . —
Und dieſer , mit dem Feuer des Menſchen , der
Jahre lang auf den Anlaß gewartet , zu reden ,
wo er ſicher war , es nicht ohne Erfolg zu thun ,
und mit Bylifsky uͤber die Schritte zu ihrem Ziel
zu gehen einig , drang auf einen oͤffentlichen Lehr-
ſtuhl uͤber die Natur der Volksfuͤhrung in allen
Theilen , auf die Landskommißion , die ihr kennet .
Dann , ſagte er zum Fuͤrſten , auch die Wai-
ſen und Findelhaͤuſer , ſo wie die Gefangenſchaft
und Zuchthaͤuſer ſind in ihrer Hand wichtige und
weitfuͤhrende Mittel , die Nationalbildung nach
den Geſichtspunkten , die Arner auf ſeinem Dorf
hat , zu leiten .
Der Fuͤrſt wollte , daß er ſich uͤber beydes
naͤher erlaͤuterte . — Der Lieutenant zeigte um-
ſtaͤndlich , wie natuͤrlich und leicht , und ſogar mit
wenigen Unkoſten mit der Auferziehung der Wai-
ſen und Findelkinder eine vorzuͤglich gute Bildung
derſelben zu verbinden moͤglich ſey , und wie denn
dieſe Kinder in fortdaurender Verbindung mit ih-
rem Erziehungshaus , als ein ſicherer Saamen zur
allgemeinen Volksbildung fuͤr die Induſtrie koͤnn-
ten benutzt werden .
Aber der Abſchaum der Gefangenen , und
der Auswurf der Menſchen in den Zuchthaͤuſern ,
— — was ſoll ich hiezu mit dieſen ? ſagte der
Fuͤrſt .
Erlauben Ihr Durchlaucht ! erwiederte der
Lieutenant , der Menſch in der Tiefe wird ſo un-
ſinnig verwahrloſet , und ſo gewaltſam vertreten ,
daß die beſten Anlagen ſeiner Natur , das Gefuͤhl
ſeines Werths , die beſtimmten Vorzuͤge ſeiner Kraͤf-
ten , und das dringende Beduͤrfniß der Anwen-
dung ſeiner Anlagen ihn in unendlich vielen Faͤl-
len faſt nothwendig zum Verbrecher machen .
Auch findet man in Zuchthaͤuſern und Ge-
faͤngniſſen beſtaͤndig eine Menge Menſchen , die ein
beſſeres Schickſal verdient haͤtten , und die auch
izt noch , was ſie unter andern Umſtaͤnden weit mehr
geweſen waͤren , der menſchlichen Geſellſchaft von
weſentlichem Nutzen ſeyn koͤnnen , wenn man im
Stand iſt , ſie dazu zu gebrauchen . — Dieſe Leute
beſitzen einen ſolchen Grad von Lokalkenntniſſen im
Land , und Fertigkeiten ſich an Ort und Stelle
Einfluß zu verſchaffen , — ſie kennen ſo genau den
Zuſtand des Volks , und die naͤchſten Quellen ih-
rer Verbrechen , die erſten Hinderniſſe des Guten ,
— ſie wiſſen ſo wie Niemand , was alles dem
guten Willen der Regierung in der Tiefe des Volks
entgegen ſtehet , an Ort und Stelle an den Fingern
abzuzaͤhlen , und was ſie bey der unterſten Hefen
des Menſchengeſchlechts im Stand ſind auszurich-
ten , das beſſere Menſchen bey ihnen nie ausrich-
ten werden . Man lehre ſie in ihren Stockhaͤuſern
eine Branche von Induſtrie , und ſetze ihnen ihre
Freyheit zum Preiß bey einer Anzahl von Gefan-
genen , die zu einer beſtimmten Vollkommenheit
in einer Erwerbsbranche gebracht . Man gebrau-
che ihre Freyheit durch beſtaͤndige Verbindung mit
dem Gefangenſchaftshaus , ihrer Thaͤtigkeit durch
Ausbreitung ihrer Arbeitskenntniſſen Raum zu ver-
ſchaffen , und man wird finden , daß durch viele
von ihnen im Land Sachen erzielet werden koͤnnen ,
die durch Niemand anders alſo zu erzielen moͤglich . —
Auch das ſchiene dem Fuͤrſten nicht unwahr-
ſcheinlich . Hingegen fand er im Allgemeinen , eine
ſolche Volksumſchaffung zur Induſtrie wuͤrde zu
einer Bevoͤlkerung fuͤhren , die das Verhaͤltniß des
Landabtrags bey weitem uͤberſteigen , die Einwoh-
ner des Lands ganz von ihrem Handverdienſt ab-
haͤnglich , und ihren Unterhalt bey theuren Zeiten ,
und bey Stockung des Gewerbs mißlich machen
koͤnnte . —
Der Lieutenant antwortete ihm , die dießfaͤl-
lige Sicherheit der Menſchen ruhe unter dieſen
Umſtaͤnden .
1. Auf ihren Erſparniſſen .
2. Auf ihrer Fertigkeit , bey Stockung einer
Art von Gewerb , auf eine andere zu lenken .
3. Auf ihrer Uebung im Sparen und Abthei-
len , und uͤberhaupt auf ihrer mehr ausge-
bildeten Fertigkeiten ſich nach den Umſtaͤnden
zu richten . —
Und ſetzte hinzu , er wuͤnſchte , daß Ihr
Durchlaucht uͤber dieſen Punkt ſowohl , als uͤber
denjenigen , wie die Waiſenkinder zur allgemeinen
Ausbreitung der Induſtrie im Land zu gebrauchen
waͤren , mit dem Baumwollen-Meyer reden moͤch-
ten . —
Und der Herzog gieng mit ihm und Arner
und dem Pfarrer in das Haus des Meyers . —
Dieſer ſagte ihm uͤber den erſten Punkt , es
ſey ſehr wichtig , daß die Kinder , deren Brod von
ihrem Hausverdienſt abhange , in ihrer Jugend
gleichſam den Katechiſmus lernen , wie ſie ſich
einzurichten haben , um bey Stockung der Ge-
werbſamkeit , und in theuren Zeiten nicht in Ver-
wicklung zu kommen . Das ſey ein weſentli-
cher Grund , warum eine jede Obrigkeit Rechen-
ſchaft von den Unterthanen uͤber die Anwendung
ihres Fabriken-Verdienſts fodere , und ſie gewoͤh-
nen ſollte , von Kindesbeinen auf alles moͤgliche ,
was ſie erſparen koͤnnen , beyſeits zu legen . Uebri-
gens aber fuͤhre der Gewinnſt einer gut geleiteten
Gewerbſamkeit ſo weit , daß einem jeden Dorf ,
deſſen Bevoͤlkerung durch die Gewerbſamkeit alſo
zunehmen wuͤrde , eben dadurch auch ſo viel Mit-
tel zufließen muͤßten , genugſame Einrichtungen zu
ſeiner Sicherheit mit Leichtigkeit zu machen . —
Und es komme hierinn nur auf den Gebrauch an ,
der im Dorf von dieſen Umſtaͤnden gemacht werde ,
und auf die Obrigkeit , zu was fuͤr einem Gebrauch
ihrer Umſtaͤnde ſie das Volk fuͤhre und anhalte . —
Ueber das andere : Wie die Waiſenkinder als
eine Pflanzſchule die Gewerbſamkeit im Volk all-
gemein zu machen , zu gebrauchen waͤr ? — ſagte
er , man muͤſſe einen Unterſchied machen zwiſchen
bloßen Arbeitern , die nur wieder andere Arbeiter
nachzuziehen haͤtten , und denen die in Stand kom-
men ſollten , irgend eine Art Gewerb an einem
Ort ſelber anzulegen . Fuͤr die erſtern erfodere es
nichts , als daß ſie ihre Handgriffe vollkommen
lernen und fleißig ſeyen — aber die andern muͤſ-
ſen , wenn ſie die Handgriffe vollends gelernt , aus
einem ſolchen Erziehungshauſe weg , und zu Leu-
ten gethan werden , die dieſen Gewerb ſelber trei-
ben , um ihnen alle Arten Vorſichtigkeitsregeln
gelaͤufig zu machen , die es in der Welt braucht ,
wenn man den Menſchen auch noch ſo wenig an-
vertrauen muß ; und dann auch zu lernen , ſich
die Menſchen an die Hand zu bringen , und an der
Hand zu halten , oder wie man ſich unter den
Bauern ausdruͤcke , den Maͤuſen zu pfeifen . Hin-
gegen koͤnnten ſie in ſolchen Erziehungshaͤuſern dar-
inn einen großen Vortheil genießen , wenn ſie in den-
ſelben wohl rechnen , ſchreiben , und die Hand-
lungsbuͤcher fuͤhren lernten , welches alles er aus
ſich ſelber habe lernen muͤſſen , und alſo erfahren ,
wie viel es ihm hinderlich geweſen . —
Eben ſo beſtaͤtigte er , daß in den Gefangen-
ſchaften und Zuchthaͤuſern zu dieſen Endzwecken
ſehr brauchbare Menſchen zu Grund gehen , und
daß man wichtige Vortheile von ihnen ziehen koͤn-
ne , wenn man die Manier kennen wuͤrde , dieſes
Geſchaͤft recht anzugreifen , und auch das ſey ſi-
cher , daß man dieſe Manier bey Niemand als bey
den Zuͤchtlingen ſelber erforſchen muͤſſe .
Dann ſah der Fuͤrſt auch noch die Gertrud ,
und die Kinder des Huͤbel-Rudis , die vor Jahr
und Tagen noch im Elend faſt verfaulet keine Ar-
beit verſtunden , und von dieſem Weib ſo in Ord-
nung gebracht worden . Der Lieutenant ſagte dem
Fuͤrſten vor ihr , ſie hatte meine Schule in ihrer
Stube , ehe ich noch daran dachte , ohne ſie haͤtte
ich meine Einrichtungen nicht in dieſe Ordnung
gebracht .
Denn hat ſie viel gethan , ſagte der Fuͤrſt ,
ſah ſie ſteif an ; und bald darauf — ich will noch
mehr mit ihr reden — aber izt war er wie in einem
Sturm — Gedanken draͤngten ſich uͤber Gedan-
ken — ſein Herz ſchlug — er fuͤhlte daß ſeine
ganze Stimmung ihn nicht mehr ruhig urtheilen
laſſe — er entfernte ſich einige Augenblick , ſtund
an des Rudis Matten , an der Zaͤunung , gegen
die untergehende Sonne , ſuchte Luft fuͤr ſein klop-
fendes Herz — Nein — es iſt zu viel — ſagte er da
an des Rudis Zaun — wenn es weniger waͤr , ich
wollte ihnen glauben , aber ſo viel kann und will
ich nicht glauben — Eine Weile darauf — er
hat recht — ich muß noch die drey Raͤder ſtill
ſtellen , wenn ich die Wahrheit ſehen will , mit dem
gieng er wieder zu Arner , ſagte ihm , und dem
Lieutenant und dem Pfarrer und dem Baumwollen-
Meyer , der bey ihm ſtund , ihr muͤſſet mir alle 4
nach Sklavenheim , ich will euch da 3 Tage allein
laſſen , aber am Samſtag bin ich auch dort , ſo lang
unterſuchet in dieſer Zeit an Ort und Stelle , ſowohl
mit den Waiſenkindern als mit den Zuͤchtlingen ,
was ihr von dem , was ihr ſaget , ausfuͤhrbar fin-
det . Indeſſen will ich hier noch die Gegenſtaͤnde ,
die ich izt wie in einem Traum ſehe , ein wenig
kaltbluͤtiger ins Auge zu faſſen ſuchen . —
§. 74 .
Der Lieutenant zeigt noch wie im Flug ,
was er in einer hoͤhern Sphaͤre ſeyn
wuͤrde . — Und der Autor beſchließt
ſein Werk .
S o ſchickte er ſie fort . — Der Lieutenant merk-
te es , und ſagte , da ſie Morgens darauf mit ein-
ander im Wagen ſaßen , er ſezt uns fuͤr hie und
da auf die Probe : die andern ſtuzten ; er aber
ſagte , es macht nichts — er will nicht betrogen
ſeyn , und darinn hat er recht . — Wir wollen ihm
aber um deswillen doch auch nicht minder zeigen ,
als was wahr iſt . —
Dann rief er dem Poſtknecht , daß er davon
jage was immer moͤglich ; und ſagte zu den Her-
ren , dieſe drey Tage entſcheiden izt — bringen
wir in Sklavenheim etwas wirkliches zu Stand ,
ſo iſt er gewonnen ; kommen wir ihm nur mit
Worten , ſo ſind wir in dieſer Sache nicht weiter ,
als wir vor zwey Jahren waren . Die Herren
ſagten ihm alle , er ſolle von ihnen fodern , was er
begehre , und wenn ſie 3 Tage kein Auge zuthun muͤſ-
ſen , ſo wollen ſie ihm helfen zu thun was moͤg-
lich. —
lich . — Der Poſtknecht jagte , ſie waren in der
halben Zeit dort , und in der erſten Stunde hatte
der Lieutenant ſchon 12 Kinder aus der Waiſen-
ſtube ausgeſucht , ſie einer Spinnerin uͤbergeben ,
an ihre Raͤder geſezt , und fieng nun an mit einem
nach dem andern zu reden , dann mit allen , dann
ihnen etwas vorzuſprechen , das ſie ihm nachſagen
mußten . Am gleichen Abend brachte er ſie noch
dahin , einige Zahlen Reyhen bis auf 50 — zu 3 —
und zu 4 — und zu 5 — hoch zuruͤck und vor-
waͤrts zu zaͤhlen — und das alles bey ihrem Spin-
nen — das aber freylich im Anfang nicht ganz or-
dentlich gehen wollte . — In der gleichen Stunde
ſuchte der Baumwollen-Meyer im Zuchthaus 10
Maͤnner aus , von denen er glaubte , ſie ſeyen im
Stande weben zu lernen ; er fand zwey vollkom-
mene Weber , die als Contrebandiers aus dem be-
nachbarten Fuͤrſtenthum mit verbotener Tuchwaare
ergriffen , eingeſezt worden ; dieſe beredete er bald ,
mit ihm Hand ans Werk zu legen , und die zehn
Maͤnner , die auf ihren Stuͤhlen vor Hofnung der
Erloͤſung zitterten , das Handwerk zu lernen . —
Sie fanden im Dorf , und zum Theil im Zucht-
haus ſelber , Stuͤhle , Geſchirr , Zettel , und Spuh-
ler genug — vor Abend war das alles in Ord-
nung .
Eben ſo bald fieng Arner an , die Geſchichte
der Gefangenen aufzunehmen , und hauptſaͤchlich
Hh
aufzuzeichnen , was ſie gelernt — wodurch ſie glaub-
ten , ihr Brod verdienen zu koͤnnen — und denn ,
wodurch ſie ungluͤcklich geworden — wie ſtark ihre
Fehler in ihrem Land und in ihrem Dorf eingeriſ-
ſen — was und wer daran ſchuldig — wie ſie
glaubten , daß dieſen Fehlern am Beſten geſteuert
werden koͤnnte — ob ſie glaubten , wenn ſie in der
Freyheit waͤren , ſelber etwas dazu beytragen zu
koͤnnen — und uͤberhaupt , womit ſie im Land et-
was nuͤzliches anzufangen ſich im Stand glaubten
— und endlich , ob ſie nicht gern in der Gefan-
genſchaft ſelber ſich anſtrengen , und etwas lernen
wollten , das ſie in Stand ſetzen koͤnnte , mit Nutzen
fuͤr ſich ſelber und fuͤr ihren Nebenmenſchen in der
Welt zu leben ? Sie fielen faſt vor ihm auf die
Knie , jammerten , daß ſie das Unmoͤgliche thun
wollten , dieſem Elend zu entkommen . Ihrer viele
ſagten , ſie muͤßten an Leib und Seele faſt verfau-
len , und die Leute ſeyen Kinder von Unſchuld ,
wann ſie in dieſe Oerter hineingebracht werden ,
gegen den Zuſtand , in welchem ſie ſich befinden ,
wann ſie wieder herauskommen .
Er war am dritten Abend mit der Geſchichte
und Ausſage dieſer Leute fertig ; eben ſo der Pfar-
rer mit der Beſchreibung des Zuſtands von 70
Kindern , die in dieſem Hauſe an Kraͤtze , Blaͤſſe ,
Dummheit und Unanſtelligkeit bewieſen , daß ihre
Verwalter Diebe , und die Obern dieſer Verwal-
ter etwas anders zu thun haben , als nach ihnen
zu ſehen . —
Und auch der Lieutenant war mit ſeinen Kin-
dern ſo weit , daß ſie ſeine Ordnung kannten wie
die in Bonnal ; und die Zuͤchtlinge des Meyers
kamen in dieſen Tagen mit ihrem Weben weiters
als man es moͤglich geglaubt haͤtte .
Indeſſen hatte der Herzog mit Luchsaugen
ausgeſpaͤht , ob es in Bonnal einen Unterſchied
mache , daß er dieſe drey Raͤder ſtill geſtellt — Er
fand keinen — vielmehr ſagten ihm verſchiedene
von den Herren ſeiner Kommißion , die Sache ſey
ſo tief gegruͤndet , daß ſie , wenn dieſe ſaͤmtlichen
Anfaͤnger ſterben wuͤrden , um deswillen nicht zu
Grund gehen muͤſſe . —
Nunmehr ſtieg eine ruhige Hofnung , daß doch
wenigſtens etwas , wo nicht alles , von dieſen Ver-
ſuchen ausfuͤhrbar , in dem Herzog empor . Er
nahm am vierten Tage Thereſen mit ſich auf Skla-
venheim ; aber er ahndete von Fernem nicht , was
er da antraf .
Er fand Bonnalsſchule mit zwoͤlf Waiſenkin-
dern angefangen .
H h 2
Er ſah den Vorſchritt , den der Meyer mit dem
Gebrauch der Zuͤchtlinge in dieſen Tagen moͤglich
gemacht .
Er las in der Geſchichte der Gefangenen den
Zuſtand ſeines Reichs , in der Schilderung der 70
Waiſenkinder den Zuſtand ſeiner Anſtalten fuͤrs
Volk . —
Staunte uͤber das Werk dreyer Tagen ; und
ward von einem Geraͤuſch unterbrochen . Die
Schaar der Gefangenen , und die Menge ſeiner
Kinder lag zu ſeinen Fuͤßen , ſie baten um Vaͤter
und Verſorger wie dieſe vier Herren .
Stehet auf , ſagte er , Gefangene ! Stehet
auf meine Kinder , euer Schickſal iſt in ihrer
Hand ! —
Ich bin uͤberzeugt ; er konnte nicht mehr —
die Kinder blieben auf den Knien — es umgab
ihn eine heilige Stille , und der Ahndungen groͤſte
hob ſich in aller Herzen empor .