Die
Darwinsche Theorie
und
die Sprachwissenschaft .
Offenes Sendschreiben an Herrn Dr. Ernst Häckel , a. o. Pro-
fessor der Zoologie und Director des zoologischen
Museums an der Universität Jena
von
Aug. Schleicher .
Weimar
Hermann Böhlau
1863 .
D u hast mir , lieber Freund und College , nicht eher
Ruhe gelassen , als bis ich Darwins viel besprochenes Werk
über die Entstehung der Arten im Thier- und Pflanzenreich
durch natürliche Züchtung oder Erhaltung der vervollkomm-
neten Rassen im Kampfe ums Dasein , nach der zweiten
Auflage übersetzt von Bronn , Stuttgart 1860 , gelesen hatte .
Ich habe Deinen Willen gethan und mich durch das einiger
Maassen unbeholfen angeordnete und schwerfällig geschriebene
und theilweise in kurioses Deutsch übersetzte Buch von
Anfang bis zu Ende hindurch gearbeitet ; die meisten Theile
des Werks reizten zu wiederholtem Lesen . Vor allem
danke ich Dir für die ausdauernden Bemühungen , denen es
endlich glückte , mich zum Studium dieses ohne Zweifel be-
deutenden Buches zu bewegen . Dass mich die Schrift an-
sprechen würde , schienst Du mit Bestimmtheit voraus zu
setzen ; freilich dachtest Du zunächst an meine gärtnerischen
und botanischen Liebhabereien . Allerdings bietet die Gärt-
nerei gar manche Gelegenheit z. B. den ‘ Kampf ums
Dasein ’ zu beobachten , den man zu Gunsten der auserwählten
Lieblinge zu entscheiden pflegt , eine Tätigkeit , welche in
der Sprache des gewöhnlichen Lebens ‘ jäten ’ genannt wird ;
1*
welcher Verbreitung eine einzige Pflanze fähig ist , wenn
sie Raum und sonst günstige Verhältnisse dazu findet , das
erlebt der Gärtner auch manchmal mehr als ihm lieb ist ;
und was die Veränderlichkeit der Arten , was Erblichkeit ,
kurz , was ‘ Züchtung ’ betrifft , nun darin macht einer , der
seit Jahren das Steckenpferd reitet eine unserer abänder-
ungsfähigsten Zierblumen nach bestimmten Richtungen hin
zu vervollkommnen , manche Erfahrung und Beobachtung .
Dennoch warst du , lieber Freund , nicht ganz auf der
richtigen Fährte , als Du mich vorzüglich wegen meiner
Gartenleidenschaft mit dem genannten merkwürdigen Buche
zusammenbringen wolltest . In noch höherem Grade wirkten
nämlich Darwins Darlegungen und Ansichten auf mich in
so ferne ich sie in Verbindung brachte mit der Sprach-
wissenschaft .
Von den sprachlichen Organismen gelten nämlich ähnliche
Ansichten , wie sie Darwin von den lebenden Wesen über-
haupt ausspricht , theils fast allgemein , theils habe ich zu-
fällig im Jahre 1860 , also in demselben Jahre , in welchem
die deutsche Uebersetzung von Darwins Werk erschien Das englische Original ward in erster Ausgabe im November des
Jahres 1859 veröffentlicht ( Seite 6 der Uebersetzung ) . Es blieb mir
unbekannt . , über
den ‘ Kampf ums Dasein ’ , über das Erlöschen alter Formen ,
über die grosse Ausbreitung und Differenzierung einzelner
Arten auf sprachlichem Gebiete mich in einer Weise aus-
gesprochen , welche , den Ausdruck abgerechnet , mit Dar-
wins Ansichten in auffälliger Weise zusammen stimmt Die deutsche Sprache , Stuttgart 1860 S. 43 flg . ; besonders S. 44
zu Anfang . . Kein
Wunder also , dass diese mich lebhaft ansprachen .
Wenn Du nunmehr wissen willst , welche Wirkung Dar-
wins Buch auf mich geäussert hat , so will ich Dir das recht
gerne auseinander setzen und noch dazu vor aller Welt .
Ich hoffe , dass der Nachweis , wie die Hauptzüge der Dar-
winschen Lehre auf das Leben der Sprachen Anwendung finden
oder vielmehr , wenn man so sagen darf , unbewuster Weise
bereits fanden , Dir , dem eifrigen Verfechter Darwinscher
Grundsätze , nicht ganz unwillkommen sein werde . Auch denke
ich , dass die Dinge , die ich Dir mittheilen möchte , auch für
andere nicht ohne alles Interesse sein dürften . Indem ich
mich zunächst an Dich wende und mir das harmlose Ver-
gnügen mache Dich mit einem offenen Briefe zu überraschen ,
rede ich vor allem zu den Naturforschern , von denen ich
wünsche , dass sie mehr Notiz von den Sprachen nehmen
mögen , als diess bisher geschehen ist . Und zwar denke
ich hierbei nicht nur an die physiologische Erforschung der
Sprachlaute , welche in neuerer Zeit so ausgezeichnete
Fortschritte gemacht hat , sondern auch an die Beachtung
und Betrachtung der sprachlichen Unterschiede in ihrer
Bedeutung für die Naturgeschichte des Genus Homo . Soll-
ten nicht etwa die sprachlichen Unterschiede als Grundlage
eines natürlichen Systems dieses in seiner Art einzigen Ge-
nus brauchbar sein ? Ist nicht die Entwickelungsgeschichte
der Sprache eine Hauptseite der Entwickelungsgeschichte
des Menschen ? So viel steht doch gewiss fest , dass ohne
Kenntniss der sprachlichen Verhältnisse Niemand sich von
der Natur und von dem Wesen des Menschen eine genü-
gende Anschauung erwerben kann .
Dass bei den Sprachforschern die naturwissenschaftliche
Methode mehr und mehr Eingang finde , ist ebenfalls einer
meiner lebhaftesten Wünsche . Vielleicht vermögen die fol-
genden Zeilen einen oder den andern angehenden Sprach-
forscher dazu in Betreff der Methode bei tüchtigen Bota-
nikern und Zoologen in die Schule zu gehen . Auf mein
Wort , er wird es nicht zu bereuen haben . Ich wenigstens
weiss sehr wohl , was ich dem Studium von Werken , wie
Schleidens wissenschaftliche Botanik , Carl Vogts physiolo-
gische Briefe u. s. f. für die Erfassung des Wesens und des
Lebens der Sprache zu danken habe . Habe ich doch aus
diesen Büchern zuerst erfahren , was Entwickelungsgeschichte
ist . Bei den Naturforschern kann man einsehen lernen ,
dass für die Wissenschaft nur die durch sichere , streng ob-
jective Beobachtung festgestellte Thatsache und der auf
diese gebaute richtige Schluss Geltung hat ; eine Erkennt-
niss , die manchem meiner Collegen von Nutzen wäre . Sub-
jektives Deuteln , haltloses Etymologisieren , vage Vermu-
thungen ins Blaue hinein , kurz alles , wodurch die sprach-
lichen Studien ihrer wissenschaftlichen Strenge beraubt und
in den Augen einsichtiger Leute herabgesetzt , ja sogar
lächerlich gemacht werden , wird demjenigen gründlich ver-
leidet , der sich auf den oben angedeuteten Standpunkt
nüchterner Beobachtung zu stellen gelernt hat . Nur die
genaue Beobachtung der Organismen und ihrer Lebens-
gesetze , nur die völlige Hingabe an das wissenschaftliche
Object soll die Grundlage auch unserer Disciplin bilden ;
alles noch so geistreiche Gerede , das jenes festen Grundes
enträth , ist jedes wissenschaftlichen Werthes bar und ledig .
Die Sprachen sind Naturorganismen , die , ohne vom
Willen des Menschen bestimmbar zu sein , entstunden , nach
bestimmten Gesetzen wuchsen und sich entwickelten und
wiederum altern und absterben ; auch ihnen ist jene Reihe
von Erscheinungen eigen , die man unter dem ‘ Lebens ’
zu verstehen pflegt . Die Glottik , die Wissenschaft der
Sprache , ist demnach eine Naturwissenschaft ; ihre Methode
ist im Ganzen und Allgemeinen dieselbe , wie die der übri-
gen Naturwissenschaften Von der Philologie , einer historischen Disciplin , ist hier na-
türlich nicht die Rede . . So konnte mir denn auch das
Studium des Darwinschen Buches , zu dem Du mich veran-
lasstest , nicht als meinem Fache allzu ferne liegend er-
scheinen .
Darwins Werk scheint mir durch die Geistesrichtung
unserer Tage bedingt zu sein , abgesehen von jener Stelle
( S. 487 flg . ) , wo der Verfasser der bekannten Beschränkt-
heit seiner Landsleute in Glaubenssachen das wenig folge-
richtige Zugeständniss macht , dass sich mit seiner An-
sicht dennoch der Begriff der Schöpfung vereinigen lasse .
Diese Stelle lassen wir natürlich im Folgenden völlig ausser
Betracht ; sie enthält einen Widerspruch Darwins mit sich
selbst , mit dessen Darlegungen sich nur die Vorstellung
allmählichen Werdens der Naturorganismen , keineswegs
aber die einer Schöpfung aus Nichts vereinigen lässt . Folge-
richtig ergibt sich aus Darwins Lehre als der gemeinsame
Anfang aller lebenden Organismen die einfache Zelle , aus
welcher sich im Verlaufe sehr langer Zeiträume die ganze
Fülle der noch vorhandenen und der bereits wieder ge-
schwundenen lebenden Wesen entwickelte , wie wir ja noch
jetzt diese einfachste Form des Lebens bei den auf der nied-
rigsten Entwicklungsstufe stehen gebliebenen Organismen
und im ersten Embryonalzustand auch der höheren Wesen
finden . Darwins Buch , sagte ich , scheint mir in vollkomme-
ner Uebereinstimmung mit den philosophischen Grund-
ansichten zu stehen , die man heute zu Tage mehr oder
minder klar bewust und ausgesprochen bei den meisten
naturwissenschaftlichen Schriftstellern findet . Ich will das
etwas weiter ausführen .
Die Richtung des Denkens der Neuzeit läuft unver-
kennbar auf Monismus hinaus . Der Dualismus , fasse man
ihn nun als Gegensatz von Geist und Natur , Inhalt und
Form , Wesen und Erscheinung , oder wie man ihn sonst
bezeichnen mag , ist für die naturwissenschaftlichen Anschau-
ung unserer Tage ein vollkommen überwundener Stand-
punkt . Für diese gibt es keine Materie ohne Geist ( ohne
die sie bestimmende Nothwendigkeit ) , aber eben so wenig
auch Geist ohne Materie . Oder vielmehr es gibt weder
Geist noch Materie im gewöhnlichen Sinne , sondern nur
eines , das beides zugleich ist Diese Beobachtung beruhende Ansicht des Materialismus zu
beschuldigen , ist eben so verkehrt , als wollte man sie des Spiritualis-
mus zeihen . . Ein philosophisches System
des Monismus fehlt zur Zeit noch , doch sieht man in der
Entwickelungsgeschichte der neueren Philosophie deutlich
das Ringen nach einem solchen . Es ist übrigens nicht
ausser Acht zu lassen , dass gerade in Folge der jetzigen
Art zu denken und die Dinge zu betrachten der Gang der
wissenschaftlichen Thätigkeit ein anderer geworden ist , als
er füher war . Während man einst zuerst das System fer-
tig machte und dann das Object darauf hin bearbeitete es
ins System zu bringen , verfährt man jetzt umgekehrt . Vor
allem versenkt man sich in das genaueste Einzelstudium des
Objectes , ohne an einem systematischen Aufbau des Ganzen
zu denken . Man erträgt mit gröster Gemüthsruhe den
Mangel eines dem Stande unserer scharfen und genauen
Einzelforschungen entsprechenden philosophischen Systems
in der Überzeugung , dass vor der Hand ein solches noch
nicht geschaffen werden könne , vielmehr mit dem Versuche
der Herstellung desselben gewartet werden müsse , bis der-
maleinst eine genügende Fülle zuverlässiger Beobachtungen
und sicherer Erkenntnisse aus allen Sphären des mensch-
lichen Wissens vorliegt .
Eine nothwendige Folge der monistischen Grundanschau-
ung , die hinter den Dingen nichts sucht , sondern das Ding
mit seiner Erscheinung für identisch hält , ist die Bedeu-
tung , welche heute zu Tage die Beobachtung für die Wis-
senschaft , zunächst für die Naturwissenschaft , gewonnen
hat . Die Beobachtung ist die Grundlage des heutigen Wis-
sens . Ausser der Beobachtung lässt man nur den auf sie
gegründeten mit Nothwendigkeit sich ergebenden Schluss
gelten . Alles a priori Construierte , alles ins Blaue hinein
Gedachte gilt im besten Falle als geistreiches Spiel , für die
Wissenschaft aber als werthloser Plunder .
Die Beobachtung lehrt nun aber , dass alle lebendigen
Organismen , die überhaupt in den Kreis genügender Beo-
bachtung fallen , sich nach bestimmten Gesetzen verändern .
Diese ihre Veränderungen , ihr Leben , sind ihr eigentliches
Wesen ; wir kennen sie nur dann , wenn wir die Summe
dieser Veränderungen , wenn wir ihr ganzes Wesen kennen .
Mit andern Worten : wenn wir nicht wissen wie etwas ge-
worden ist , so kennen wir es nicht . Nothwendige Folge
der Beobachtungsgrundlage ist die Bedeutung , welche die
Entwickelungsgeschichte und die wissenschaftliche Erkennt-
niss des Lebens der Organismen überhaupt für die Natur-
wissenschaft unserer Tage erlangt hat .
Die Wichtigkeit der Entwickelungsgeschichte für die
Erkenntniss des individuellen Organismus ist widerspruchs-
los anerkannt . Zuerst fand die Entwickelungsgeschichte
Eingang bei der Zoologie und Botanik . Lyell hat bekannt-
lich auch das Leben unseres Planeten als eine Reihe ganz
allmählich verlaufender Veränderungen dargestellt ; ein ruck-
weises , plötzliches Eintreten neuer Lebensphasen finde hier
eben so wenig statt , als im Leben anderer Naturorganis-
men . Auch Lyell beruft sich vor allem auf die Beobach-
tung . Da die Beobachtung des allerdings nur sehr kurzen
Zeitraumes des jüngsten Erdenlebens nur ein allmähliches
Verändern ergibt , so haben wir durchaus kein Recht für
die Vergangenheit eine andere Art des Lebensverlaufes vor-
auszusetzen . Von derselben Ansicht ging ich von je her bei
der Betrachtung des Lebens der Sprachen aus , welches
ebenfalls nur in seinen für uns letzten und jüngsten , ver-
hältnissmässig sehr kurzen Perioden innerhalb der unmittel-
baren Beobachtung fällt . Diese kurze Zeit von einigen
Jahrtausenden lehrt uns mit unumstösslicher Gewissheit ,
dass das Leben der Sprachorganismen überhaupt nach be-
stimmten Gesetzen in ganz allmählichen Veränderungen ver-
laufe und dass wir nicht im entferntesten ein Recht haben
vorauszusetzen , dass diess jemals sich anders verhalten
habe .
Darwin und seine Vorgänger gingen nun einen Schritt
weiter als die übrigen Zoologen und Botaniker : nicht nur
die Individuen haben ein Leben , sondern auch die Arten
und Gattungen ; auch sie sind allmählich geworden , auch sie
sind fortwährenden Veränderungen nach bestimmten Ge-
setzen unterworfen . Wie alle Forscher der Neuzeit , so be-
ruft sich auch Darwin auf die Beobachtung , wenn diese
auch , wie es die Natur der Sache , eben so wie bei dem
Leben der Erde und dem der Sprachen , mit sich bringt ,
auf einen kurzen Zeitraum beschränkt ist . Da wir wirk-
lich wahrnehmen können , dass die Arten nicht völlig be-
ständig sind , so ist ihre Veränderungsfähigkeit überhaupt ,
wenn auch in beschränktem Maasse , beobachtet . Eine an
sich zufällige Sache , nämlich die Kürze des Zeitraumes ,
innerhalb welches brauchbare Beobachtungen angestellt wur-
den , ist der Grund , dass die Veränderung der Arten im
ganzen als nicht bedeutend erscheint . Man braucht nur ,
im Einklange mit den Ergebnissen sonstiger Beobachtungen ,
für das Vorhandensein lebender Wesen auf unserem Welt-
körper eine grosse Anzahl von Jahrtausenden anzunehmen ,
um begreiflich zu finden , wie durch fortwährende allmäh-
liche Veränderung , analog denen , die wirklich unter un-
sere Beobachtung fallen , die Gattungen und Arten , wie
sie jetzt vorhanden sind , entstehen konnten .
Darwins Lehre scheint mir demnach in der That nur
eine nothwendige Folge der heute zu Tage in der Naturwissen-
schaft geltenden Grundsätze zu sein . Sie beruht auf Be-
obachtung und ist wesentlich ein Versuch einer Entwickel-
ungsgeschichte . Was Lyell für die Lebensgeschichte der
Erde , das hat Darwin für die Lebensgeschichte der Bewoh-
ner der Erde ausgeführt . Darwins Lehre ist also keine zu-
fällige Erscheinung , sie ist nicht die Ausgeburt eines ab-
sonderlichen Kopfes , sondern ein rechtes und echtes Kind
unseres Jahrhunderts . Darwins Lehre ist eine Nothwen-
digkeit .
Das was Darwin für die Arten der Thiere und Pflanzen
geltend macht , gilt nun aber auch , wenigstens in seinen
hauptsächlichsten Zügen , für die Organismen der Sprachen .
Diess auszuführen ist der eigentliche Zweck dieser Zeilen ,
zu dem wir uns nunmehr wenden , nachdem wir im allge-
meinen gezeigt zu haben glauben , wie überhaupt durch die
Beobachtungswissenschaften der Neuzeit , zu denen auch die
Sprachwissenschaft gehört , ein gemeinsamer Zug , bedingt
durch eine bestimmte philosophische Grundanschauung , hin-
durch geht .
Nehmen wir nun das Darwinsche Buch zur Hand und
sehen wir zu , was sich von Seiten der Sprachwissenschaft
den von Darwin vertretenen Anschauungen analoges zur
Seite stellen lässt .
Vor Allem sein jedoch daran erinnert , dass die Verhält-
nisse der Specificierung im Gebiete der Sprachen zwar im
Wesentlichen dieselben sind als im Reiche der Naturwesen
überhaupt , dass aber die Ausdrücke zur Bezeichnung dieser
Verhältnisse , deren sich die Sprachforscher bedienen , von
denen der Naturforscher abweichen . Diess bitte ich stäts
vor Augen zu behalten , da auf dieser Erkenntniss alles Fol-
gende beruht . Was die Naturforscher als Gattung bezeich-
nen würden , heisst bei den Glottikern Sprachstamm , auch
Sprachsippe ; näher verwandte Gattungen bezeichnen sie wohl
auch als Sprachfamilien einer Sippe oder eines Sprachstam-
mes . Ich will jedoch keineswegs verschweigen , dass über die
Feststellung der Gattungen bei den Sprachforschern nicht
minder Uneinigkeit obwaltet , als bei den Zoologen und Bo-
tanikern ; auf diesen charakteristischen Umstand , der sich
bei allen Abstufungen der Specificierung wiederholt , komme
ich später noch besonders zurück . Die Arten einer Gattung
nennen wir Sprachen eines Stammes ; die Unterarten einer
Art sind bei uns die Dialecte oder Mundarten einer Sprache ;
den Varietäten und Spielarten entsprechen die Untermund-
arten oder Nebenmundarten und endlich den einzelnen Indi-
viduen die Sprechweise der einzelnen die Sprachen redenden
Menschen . Bekanntlich sind sich die einzelnen Individuen
einer und derselben Art nicht absolut gleich , völlig dasselbe
gilt von den sprachlichen Individuen ; auch die Sprechweise
der einzelnen eine und dieselbe Sprache redenden Menschen
ist stäts mehr oder minder stark individuell gefärbt .
Was nun zunächst die von Darwin behauptete Verän-
derungsfähigkeit der Arten im Verlaufe der Zeit betrifft ,
durch welche , wenn sie nicht bei allen Individuen in glei-
chem Maasse und in gleicher Weise hervortritt , aus einer
Form mehrere Formen hervorgehen ( ein Prozess der sich
natürlich abermals und abermals wiederholt ) , so ist sie
für die sprachlichen Organismen längst allgemein angenom-
men . Diejenigen Sprachen , die wir , wenn wir uns der
Ausdrucksweise der Botaniker und Zoologen bedienten , als
Arten einer Gattung bezeichnen würden , gelten uns als
Töchter einer gemeinsamen Grundsprache , aus welcher sie
durch allmähliche Veränderung hervorgiengen . Von Sprach-
sippen , die uns genau bekannt sind , stellen wir eben so
Stammbäume auf , wie diess Darwin ( S. 121 ) für die Arten
von Pflanzen und Thieren versucht hat . Es zweifelt Nie-
mand mehr daran , dass die ganze Sippe der indogerma-
nischen Sprachen , indisch , eranisch ( persisch , armenisch
u. s. w. ) , griechisch , italisch ( lateinisch , oskisch , umbrisch
sammt den Tochtersprachen des ersteren ) , keltisch , slawisch ,
litauisch , germanisch oder deutsch , also eine Sippe , die
aus zahlreichen Arten , Unterarten und Varietäten besteht ,
von einer einzigen Grundform , der indogermanischen Ur-
sprache , ihren Ausgang genommen habe ; dasselbe gilt von
den Sprachen der semitischen Sippe , zu welcher bekannt-
lich hebräisch , syrisch und chaldäisch , arabisch u. s. f. ge-
hören , sowie von allen Sprachsippen oder Sprachstämmen
überhaupt . Als Beispiel möge hier der Stammbaum der
indogermanischen Sprachsippe Platz finden , wie er nach
unserem Dafürhalten als Bild des allmählichen Entstehens
derselben aufzustellen ist S. die beigefügte Steindrucktafel . ; man vergleiche ihn mit Darwins
bildlicher Darstellung ( S. 121 ) , wobei man nicht ausser
Acht lasse , dass Darwin ein ideales Schema aufstellt , wir
aber das Bild der Entstehung einer gegebenen Sippe zeich-
nen Übereinstimmender mit dem Darwinschen Schema ist die eben-
falls ideal gehaltene Zeichnung der Entstehung sprachlicher Arten und
Unterarten aus einer Grundform , die ich Deutsche Sprache S. 28 ent-
worfen habe . . Uebrigens war es nicht wohl thunlich unser Sippen-
bild genau auszuführen , die Mundarten ( Varietäten ) sind
überall nur angedeutet worden ; die Spaltungen des era-
nischen und indischen Astes musten wir hinweg lassen .
Was unser Bild besagt , lässt sich mit Worten etwa
folgendermaassen ausdrücken .
In einer früheren Lebensperiode des Menschengeschlechtes
gab es eine Sprache , die wir aus den aus ihr hervorge-
gangenen indogermanisch genannten Sprachen ziemlich ge-
nau erschliessen können In Bezug auf die grammatischen Formen habe ich diesen Ver-
such gemacht in meinem Compendium der vergleichenden Grammatik
der indogermanischen Sprache , Weimar , Böhlau , 1861 . 1862 . , die indogermanische Urspache .
Nachdem sie von einer Reihe von Generationen gesprochen
ward , während dem wahrscheinlich das sie redende Volk
sich mehrte und ausbreitete , nahm sie auf verschiedenen
Theilen ihres Gebietes ganz allmählich einen verschiedenen
Charakter an , so dass endlich zwei Sprachen aus ihr her-
vorgiengen . Möglicher Weise können es auch mehrere Spra-
chen gewesen sein , von denen aber nur zwei am Leben
blieben und sich weiter entwickelten ; dasselbe gilt auch
von allen späteren Theilungen . Jede dieser beiden Sprachen
unterlag dem Differenzierungsprozesse noch zu wiederholten
Malen . Der eine Zweig , den wir nach dem , was später
aus ihm ward , den slawodeutschen nennen wollen , theilte
sich abermals durch allmähliche Differenzierung ( durch die
fortgesetzte Neigung zur Divergenz des Charakters , wie es
bei Darwin heisst ) in deutsch und slawolettisch , von denen
das erstere die Stammmutter aller deutschen ( germanischen )
Sprachen und ihrer Mundarten , das letztere die der sla-
wischen und litauischen ( baltischen , lettischen ) ward . Die
andere Sprache , die sich durch Differenzierung aus der
indogermanischen Ursprache heraus entwickelt hatte , das
ariograecoitalokeltische — man verzeihe diese langathmige
Bezeichnung — theilte sich später ebenfalls in zwei Spra-
chen , von denen die eine , die graecoitalokeltische , die Mut-
ter der griechischen , albanesischen und der Sprache ward ,
aus welcher später keltisch und italisch hervorgiengen und
die wir deshalb die italokeltische nennen , die andere aber ,
die arische Sowohl die ältesten Inder als auch die ältesten Eraner ( Perser )
nennen sich Arier , daher der Name für die gemeinsame Grundsprache
des Indischen und des Eranischen . Sprache , die nah verwandten Stammmütter der
indischen Die Grundsprache der indischen Sprachfamilie ist uns erhalten ,
es ist die Sprache , in welcher die uralten religiösen Hymnen der Inder ,
die Vedahymnen , abgefasst sind . Aus dieser Sprache entwickelten sich
einerseits die mittelindischen Sprachen die Prakritsprachen und wei-
terhin die neuindischen Sprachen und Mundarten ( das Bengalische ,
Mahrattische , Hindustanische und verwandte ) , anderseits eine Schrift- und der eranischen ( persichen ) Sprachfamilie er-
zeugte . Weitere Uebersetzung des Bildes in Worte ist
wohl überflüssig . Genaueres s. in meiner Deutschen Sprache , S. 71 flg .
Ähnliche Stammbäume lassen sich natürlich von allen
Sprachsippen entwerfen , deren Verwandtschaftsverhältnisse
hinreichend genau erkannt sind . Sprachen oder Mundarten ,
die sich sehr nahe stehen , gelten uns als noch nicht lange
vorhandene Trennungen einer ihnen gemeinsamen Grund-
sprache ; je verschiedener von einander die Sprachen einer
Sippe sind , desto früher setzen wir ihre Loslösung aus ge-
meinsamer Grundform an , indem wir die Verschiedenheit
auf Rechnung einer längeren individuellen Entwickelung
schreiben .
Nun wirst Du , lieber Freund , und mit Dir diejenigen
Naturkundigen , welche sich nicht mit sprachlichen Dingen
befasst haben , die Frage aufzuwerfen nicht abgeneigt sein ,
von wannen uns solcherlei Wissenschaft komme . Ähnliche
Stammbäume , wie der für eine Sprachsippe hier beispiels-
weise aufgestellte , auch für Pflanzen- und Thiersippen zu
entwerfen , die man genau genug kennt , unter der Voraus-
setzung , dass sie von früheren Grundformen abstammen
und diese Grundformen in ihren Hauptzügen zu erschliessen ,
das ist wohl ein nicht unausführbares Beginnen . Das aber
ist ja eben nur die Frage , ob solche Grundformen als einst
wirklich existiert habend vorauszusetzen sind . Wer gibt
euch Sprachforschern das Recht , so könntest Du fragen ,
eure aus den vorliegenden Sprachformen erschlossenen
sprache , die nie Volkssprache war , das Sanskrit , die Sprache der nach-
wedischen indischen Litteratur , so zu sagen das indische Latein , das ,
wie das Schriftlatein der Römer , bis auf den heutigen Tag Gelehr-
tensprache geblieben ist .
Grundsprachen und Ursprachen für Wirklichkeiten aus-
zugeben und eure Sippenstammbäume für mehr zu halten ,
als für blosse Phantasiegebilde ? Warum seid ihr so sicher
und einstimmig in der Behauptung der Veränderlichkeit der
Arten , der Spaltung einer Form in mehrere im Verlaufe der
Zeit , während wir Zoologen und Botaniker uns über diese
Frage nicht wenig streiten und genug Leute von uns das
Dasein der Arten als ein von jeher Gewesenes betrachten
und über Darwin , der über Thier- und Pflanzenarten etwa
eben so denkt wie ihr über Spracharten , ohne weiteres den
Stab brechen ?
Antwort . Die Beobachtung ist in Beziehung auf Ent-
stehung neuer Formen aus früheren sprachlichem Ge-
biete leichter und in grösserem Maassstabe anzustellen , als
auf dem der pflanzlichen und thierischen Organismen . Aus-
nahmsweise sind wir Sprachforscher hier einmal im Vor-
theile gegen die übrigen Naturforscher . Wir vermögen
wirklich an manchen Sprachen geradezu nachzuweisen , dass
sie in mehrere Sprachen , Mundarten u. s. f. auseinander
gegangen sind . Einige Sprachen und Sprachfamilien kann
man nämlich durch mehr als zwei Jahrtausende hindurch
beobachten , da uns mittels der Schrift das im wesentlichen
treue Bild ihrer früheren Formen überliefert ist . Diess ist
z. B. beim Lateinischen der Fall . Wir kennen sowohl das
Altlateinische , als die durch Differenzierung und durch frem-
den Einfluss — Ihr würdet sagen durch Kreuzung — nach-
weislich aus ihm hervorgegangenen romanischen Sprachen ;
wir kennen das uralte Indisch , kennen die zunächst aus
diesem gewordenen Sprachen und die weiterhin von diesen
stammenden neuindischen Sprachen . So haben wir festen
und sicheren Beobachtungsgrund . Was bei denjenigen Spra-
2
chen , die wir zufällig deshalb so lange Zeiträume hindurch
beobachten können , weil die sie redenden Völker glück-
licherweise aus verhältnissmässig früher Zeit Schriftdenk-
male hinterlassen haben , wirklich vorliegt , das muss auch
bei den anderen Sprachsippen vorausgesetzt werden , denen
dergleichen Bilder ihrer früheren Formen abgehen . Wir
wissen also geradezu aus vorliegenden Beobachtungsreihen ,
dass die Sprachen sich verändern so lange sie leben , und
diese längeren Beobachtungsreihen verdanken wir der Schrift .
Wäre die Schrift bis auf den heutigen Tag noch nicht
erfunden , so würden die Sprachkenner wohl niemals auf
den Gedanken gekommen sein , dass Sprachen wie z. B.
Russisch , Deutsch und Französisch schliesslich von einer und
derselben Sprache abstammen . Vielleicht wäre man dann
überhaupt gar nicht darauf verfallen gemeinsamen Ursprung
für irgend welche Sprachen , seien sie auch sehr nahe ver-
wandt , vorauszusetzen und überhaupt anzunehmen , dass die
Sprache veränderlich ist . Wir wären ohne Schrift noch
viel übeler daran als Botaniker und Zoologen , denen doch
Reste früherer Bildungen zu Gebote stehen und deren wis-
senschaftliche Objecte sich überhaupt leichter beobachten
lassen als Sprachen . So aber haben wir mehr Beobach-
tungsmaterial als die übrigen Naturforscher und sind daher
früher auf den Gedanken der Unursprünglichkeit der Arten
gekommen . Auch mögen wohl die Veränderungen in den
Sprachen im Ganzen in kürzeren Zeiträumen vor sich ge-
gangen sein , als in der Thier- und Pflanzenwelt , so dass
Zoologen und Botaniker etwa erst dann mit uns gleich gün-
stig gestellt wären , wenn wenigstens von einigen Gattungen
ganze Reihen sogenannter vorweltlicher Formen in vollkom-
men erhaltenen Exemplaren , also mit Haut und Haar , mit
Blatt , Blüte und Frucht auf uns hätten kommen können .
Die sprachlichen Verhältnisse sind also als paradigmatische
Beispiele für die Entstehung von Arten aus gemeinsamen
Grundformen einigermaassen lehrreich für jene Gebiete , auf
denen es , vor der Hand wenigstens , an nachweislichen
Fällen der Art noch mangelt . Uebrigens ist , wie gesagt ,
der Unterschied bezüglich des Beobachtungsmaterials zwischen
der Sprachwelt und der Pflanzen- und Thierwelt nur ein
quantitativer , nicht aber ein specifischer , denn bekanntlich
ist ja die Abänderungsfähigkeit in gewissem Grade auch für
Thiere und Pflanzen eine anerkannte Thatsache .
Aus dem bisher über die Differenzierung einer Grund-
form in mehrere zuerst wenig dann allmählich stärker von
einander abweichende Formen Dargelegten folgt , dass wir
auf sprachlichem Gebiete zwischen den Bezeichnungen für
die verschiedenen Stufen der Unterschiede , d. h. zwischen
Sprache , Dialekt , Mundart , Untermundart keine festen und
sicheren Begriffsunterschiede aufzustellen vermögen . Die
Verschiedenheiten , welche durch diese Worte bezeichnet
werden , haben sich allmählich gebildet und gehen ineinan-
der über ; noch dazu sind sie in jeder Gruppe von Sprachen
ihrem Wesen nach verschiedenartig . So stehen z. B. die
semitischen Sprachen in einem wesentlich anderen Verwandt-
schaftsverhältnisse zu einander , als die indogermanischen
Sprachen ; von der Verwandtschaftsart beider Sippen unterschei-
det sich aber wieder die der finnischen Sprachen ( finnisch ,
lappisch , magyarisch u. s. f. ) sehr wesentlich . So war denn
begreiflicher Weise noch kein Sprachforscher im Stande
eine genügende Definition von Sprache im Gegensatze zu
Dialekt u. s. f. zu geben . Was die Einen Sprachen nennen ,
das nennen die Andern Dialekte und umgekehrt . Sogar das
2*
so genau durchforschte Gebiet der indogermanischen Spra-
chen liefert uns für diese Behauptung Belege . So reden
manche Sprachforscher von slawischen Dialekten , andere
von slawischen Sprachen ; auch die verschiedenen , die deut-
sche Familie bildenden Sprachen hat man bisweilen als
Dialekte bezeichnet . Ganz eben so verhält es sich aber
mit den entsprechenden Begriffen Art , Unterart , Varietät .
Wenn hierüber Darwin sagt ( S. 57 ) : ‘ Eine bestimmte Grenz-
linie ist bis jetzt sicherlich nicht gezogen worden , weder
zwischen Arten und Unterarten , d. i. solchen Formen ,
welche nach der Meinung einiger Naturforscher den Rang
einer Species nahezu aber doch nicht gänzlich erreichen ,
noch zwischen Unterarten und ausgezeichneten Varietäten ,
noch endlich zwischen den geringeren Varietäten und indi-
viduellen Verschiedenheiten . Diese Verschiedenheiten grei-
fen , in eine Reihe geordnet , unmerklich ineinander , und die
Reihe weckt die Vorstellung von einem wirklichen Ueber-
gang ’ , so brauchen wir nur die Benennungen Art , Unter-
art , Varietät mit den in der Sprachwissenschaft üblichen
( Sprache , Dialekt , Mundart , Untermundart ) zu vertauschen
und das von Darwin Gesagte gilt vollkommen für die sprach-
lichen Unterschiede innerhalb der Sippen , deren allmäh-
liches Entstehen wir so eben an einem Beispiele vor Augen
geführt haben .
Wie verhält es sich nun aber mit der Ursprünglichkeit
der Gattungen , d. h. auf sprachlichem Gebiete , mit der
Ursprünglichkeit der den Sippen zu Grunde liegenden
Muttersprachen ? Wiederholt sich hier dieselbe Erscheinung ,
die wir an den Sprachen einer Sippe wahrnehmen , stammen
auch diese Muttersprachen wiederum von gemeinsamen
Grundsprachen und schliesslich diese alle von einer ein-
zigen Ursprache ab ?
Diese Frage würde sich mit mehr Sicherheit entscheiden
lassen , wenn wir die Gattungsgrundformen einer grösseren
Reihe von Sprachsippen aus ihren Nachkommen nach den
Gesetzen des Sprachlebens bereits erschlossen hätten . Vor
der Hand fehlt es aber an solchen Präparaten noch so gut
als völlig . Indessen lässt sich doch einiges zur Entschei-
dung der aufgeworfenen Frage aus Beobachtungen an den
vorliegenden Sprachen gewinnen .
Vor allem ist die Verschiedenheit der einzelnen , als
solche sicher erkannten , sprachlichen Sippen eine so grosse
und derartige , dass an einen gemeinsamen Ursprung der-
selben kein vorurtheilsfreier Beobachter denken kann . Kein
Mensch ist z. B. im Stande sich eine Sprache vorzustellen ,
von welcher etwa indogermanisch und chinesisch , semitisch
und hottentottisch abstammen könnten ; ja selbst aus den
Grundformen benachbarter und in ihrem Wesen einiger-
maassen ähnlicher Sprachstämme , z. B. aus der semitischen
und der indogermanischen Grundsprache , lässt sich keine
diesen beiden als Mutter zu zu theilende Sprachform erschlies-
sen . Eine so zu sagen materielle Abstammung aller Spra-
chen von einer einzigen Ursprache können wir also unmög-
lich voraussetzen .
Anders aber steht die Sache in Bezug auf die sprach-
liche Form . Sämmtliche höher organisierten Sprachen , also
z. B. die indogermanische Sippenmutter , die wir ja erschlies-
sen können , zeigen nämlich durch ihren Bau augenfällig ,
dass sie aus einfacheren Formen durch allmähliche Ent-
wickelung hervorgegangen sind . Der Bau aller Sprachen
weist darauf hin , dass seine älteste Form im wesentlichen
dieselbe war , die sich bei einigen Sprachen einfachsten
Baues ( z. B. beim chinesischen ) erhalten hat . Kurz , das ,
wovon alle Sprachen ihren Ausgang genommen haben , waren
Bedeutungslaute , einfache Lautbilder für Anschauungen ,
Vorstellungen , Begriffe , die in jeder Beziehung , d. h. als
jede grammatische Form fungieren konnten , ohne dass
für diese Functionen ein lautlicher Ausdruck , so zu sagen ,
ein Organ , vorhanden war . Auf dieser urältesten Stufe
sprachlichen Lebens gibt es also , lautlich unterschieden ,
weder Verba noch Nomina , weder Conjugation noch Decli-
nation u. s. f. Versuchen wir diess wenigstens an einem
einzigen Beispiele anschaulich zu machen . Die älteste
Form für die Worte , die jetzt im Deutschen That , ge-
than , thue , Thäter , thätig lauten , war zur Entsteh-
ungszeit der indogermanischen Ursprache dha , denn diess
dha ( setzen , thun bedeutend ; altindisch dha , altbaktrisch
da , griechisch ϑε , litauisch und slawisch de , gothisch da ,
hochdeutsch ta ) ergibt sich als die gemeinsame Wurzel
aller jener Worte , was hier nicht weiter nachgewiesen wer-
den kann ; ( jeder Sprachforscher auf indogermanischem Ge-
biete wird diess jedoch bestätigen . ) In etwas späterer Ent-
wickelungsstufe des Indogermanischen setzte man , um be-
stimmte Beziehungen auszudrücken , die Wurzeln , die da-
mals noch als Worte fungierten , auch zweimal , fügte ihnen
ein anderes Wort , eine andere Wurzel , bei ; doch war jedes
dieser Elemente noch selbständig . Um z. B. die erste Per-
son des Praesens zu bezeichnen sagte man dha dha ma ,
aus welchem im späteren Lebensverlaufe der Sprache durch
Verschmelzung der Elemente zu einem Ganzen und durch
die hinzutretende Veränderungsfähigkeit der Wurzeln dha-
dhâmi ( altind . dádhâmi , altbaktr . dadhâmi , griech. τίϑημι ,
althochdeutsch tôm , tuom für tëtômi , neuhochdeutsch
thue ) hervorgieng . In jenem ältesten dha ruhten die verschie-
denen grammatischen Beziehungen , die verbale und no-
minale sammt ihren Modificationen noch ungeschieden und
unentwickelt , wie solches sich bis jetzt bei den Sprachen
beobachten lässt , die auf der Stufe einfachster Entwickelung
stehen geblieben sind . Eben so , wie mit dem zufällig ge-
wählten Beispiele , verhält es sich aber mit allen Worten
des Indogermanischen .
Dir und Deinen Collegen kann ich gleichnissweise die
Wurzeln als einfache Sprachzellen bezeichnen , bei welchen
für die Function als Nomen , Verbum u. s. f. noch keine be-
sonderen Organe vorhanden sind und bei denen diese Func-
tionen ( die grammatischen Beziehungen ) noch eben so wenig
geschieden sind , als bei einzelligen Organismen oder im
Keimbläschen höherer lebender Wesen Athmen und Ver-
dauen . Vgl. K. Snell , die Schöpfung des Menschen , Leipzig 1863 , S. 81 flg .
Für alle Sprachen nehmen wir also einen formell glei-
chen Ursprung an . Als der Mensch von den Lautgebärden
und Schallnachahmungen den Weg zu den Bedeutungslauten
gefunden hatte , waren diese eben nur Bedeutungslaute ,
einfache Lautformen ohne alle grammatische Beziehung .
Dem Lautmateriale nach aber , aus dem sie bestunden und
der Bedeutung nach , die sie ausdrückten , waren diese ein-
fachsten Anfänge der Sprache bei verschiedenen Menschen
verschieden ; dafür zeugt die Verschiedenheit der Sprachen ,
die aus jenen Anfängen sich entwickelt haben . Wir setzen
deswegen eine unzählbare Menge von Ursprachen voraus ,
aber für alle statuieren wir eine und dieselbe Form .
Einiger Maassen entsprechend wird es sich wahrscheinlich
mit der Entstehung der pflanzlichen und thierischen Orga-
nismen verhalten ; die einfache Zelle ist wohl die gemein-
same Urform derselben , wie die einfache Wurzel die der
Sprachen . Die einfachsten Formen des späteren Thier- und
Pflanzenlebens , die Zellen , sind wohl auch in einer gewissen
Periode des Lebens unseres Weltkörpers als in Menge ent-
standen vorauszusetzen , wie in der Welt der Sprachen die
einfachen Bedeutungslaute . Diese anfänglichen , weder als
Pflanzen noch als Thiere anzusprechenden Formen des or-
ganischen Lebens bildeten sich später nach verschiedenen
Richtungen hin weiter aus . Eben so die Wurzeln der
Sprachen .
Da wir in historischer Zeit beobachten können , dass
bei Menschen , die unter wesentlich gleichartigen Verhält-
nissen leben , die Sprachen sich im Munde aller sie reden-
den Individuen gleichmässig verändern , so nehmen wir dem-
zufolge auch an , dass sich die Sprache bei völlig gleich-
artigen Menschen auch gleichartig bildete . Denn die oben
entwickelte Methode vom Bekannten aus auf das Nicht-
bekannte zu schliessen , gestattet uns nicht , für die der un-
mittelbaren Beobachtung entrückte Vorzeit andere Gesetze
des Lebens vorauszusetzen , als die sind , welche wir in dem
unserer Beobachtung zugänglichen Zeitabschnitte wahr-
nehmen .
Unter anderen Verhältnissen bildeten sich auch die
Sprachen anders und zwar stund aller Wahrscheinlichkeit
nach die Verschiedenheit der Sprachen in geradem Verhält-
nisse zur Verschiedenheit der Lebensverhältnisse der Men-
schen überhaupt . Die Vertheilung der Sprachen auf der
Erde muss also ursprünglich eine strenge Gesetzmässigkeit
gezeigt haben ; benachbarte Sprachen müssen sich ähnlicher
gewesen sein , als Sprachen von Menschen , die in verschie-
denen Welttheilen lebten . Von einem gedachten Punkte
aus müssen , je nach der Grösse der Entfernung von diesem
Punkte , die Sprachen sich in immer stärker werdender Ab-
weichung von der Sprache des Ausgangspunktes gruppiert
haben , da mit der räumlichen Entfernung die Verschieden-
heit des Klimas und der Lebensverhältnisse überhaupt zu-
zunehmen pflegt . Von jener geforderten regelmässigen
Vertheilung der Sprachen glauben wir allerdings selbst jetzt
noch Spuren wahrnehmen zu können . So zeigen z. B. die
amerikanischen Sprachen , die Sprachen der südlichen Insel-
welt bei aller Verschiedenheit doch einen unverkennbar ge-
meinsamen Typus . Ja selbst im asiatisch-europäischen
Welttheile , dessen sprachliche Verhältnisse durch geschicht-
liche Vorgänge so stark verändert wurden , sind Gruppen
wesentlich ähnlicher Sprachstämme nicht zu verkennen .
Indogermanisch , finnisch , türkisch-tatarisch , mongolisch ,
mandschurisch sowie dekhanisch ( tamulisch u. s. f. ) zeigen
z. B. sämmtlich den Sufixbau , d. h. alle Bildungselemente ,
alle Beziehungsausdrücke treten an den Auslaut der Wur-
zel an , nicht aber vor dieselbe oder in dieselbe ( Ausnahmen ,
wie z. B. das Augment des indogermanischen Verbums , sind
nur scheinbar , was hier nicht genauer dargethan werden
kann ; über das Augment vgl. z. B. Comp. der vgl. Gramm .
der indog . Spr. §. 292 , S. 567 ) . Bezeichnen wir eine be-
liebige Wurzel mit R ( radix ) , ein oder mehrere beliebige
Suffixe mit s , Praefixe mit p , Infixe mit i , so können wir
uns kürzer fassen , indem wir sagen , dass die Wortform der
sämmtlichen genannten Sprachsippen durch die morpholo-
gische Formel Rs darstellbar ist ; für das Indogermanische
lautet die Formel genauer R x s ; mit R x bezeichnen wir
nämlich eine beliebige , zum Zwecke des Beziehungsaus-
druckes regelmässig veränderbare ( steigerungsfähige , poten-
zierbare ) Wurzel , wie z. B. Band , Bund , Bind-e ; Flug ,
Flieg-e , flog ; grabe , grub ; riss , reisse ; ἔ-λι-πον ,
λείπ-ω , λέ-λοιπ-α u. s. f. Andere Sprachen zeigen mehr
als eine Wortform , so kennt z. B. das Semitische die Wort-
formen R x , pR x , R x s , pR x s u. s. f. Aber trotz dieses grossen
Gegensatzes zum Indogermanischen , der namentlich in der
Form pR x ( im Praefixbau ) ausgesprochen ist , stimmt doch
das Semitische wieder darin mit seinem indogermanischen
Nachbar überein , dass beide die einzigen bekannten Spra-
chen sind , denen mit Sicherheit die Wurzelform R x zu-
kommt . Diese auffallenden Uebereinstimmungen im Baue
geographisch benachbarter Sprachsippen halten wir für Nach-
wirkungen aus der Zeit des früheren und frühesten Sprach-
lebens . Die Entstehungsherde solcher Sprachen , deren Bil-
dungsprinzip wesentlich analog ist , glauben wir uns als be-
nachbart denken zu müssen . In ähnlicher Weise , wie die
Sprachen , zeigen ja auch die Floren und Faunen der ein-
zelnen Welttheile einen ihnen eigenthümlichen Typus .
In historischer Zeit sehen wir nun fort und fort sprach-
liche Arten- und Gattungen untergehen und andere sich auf
ihre Kosten ausbreiten . Ich erinnere beispielsweise nur an
die Ausbreitung der indogermanischen Sippe und den Unter-
gang der amerikanischen Sprachen . In der Vorzeit , als die
Sprachen noch von verhältnissmässig schwachen Bevölker-
ungen gesprochen wurden , mag das Aussterben sprachlicher
Formen in ungleich höherem Grade stattgefunden haben .
Da nun die höher organisierten Sprachen , wie z. B. die in-
dogermanische , bereits sehr lange existieren müssen , wie
diess aus ihrer hohen Entwickelung und aus ihrer jetzigen ,
bereits schon ausgesprochen senilen Form und der im Gan-
zen langsamen Veränderung der Sprachen sich ergibt , so folgt ,
dass die vorgeschichtliche Lebensperiode der Sprachen eine
viel längere gewesen sein muss , als die innerhalb der ge-
schichtlichen Zeit fallende . Kennen wir ja doch erst die
Sprache von der Zeit an , da die sie redenden Völker sich
der Schrift bedienten . Wir haben also für jene Vorgänge
des Verschwindens sprachlicher Organismen und der Störung
der ursprünglichen Verhältnisse überhaupt einen sehr langen
Zeitraum , eine Zeit von vielleicht mehreren Zehntausenden
von Jahren vorauszusetzen . Vgl . Deutsche Sprache S. 41 flg . In diesem langen Zeitraume
gingen höchst wahrscheinlich viel mehr sprachliche Gattun-
gen zu Grunde , als deren gegenwärtig noch fortleben . So
erklärt sich auch die Möglichkeit der grossen Ausbreitung
einzelner Sippen , z. B. der indogermanischen , der finnischen ,
der malaiischen , der südafrikanischen u. a. , die sich nun
auf breitem Boden reich differenzierten . Solcherlei Vorgang
nimmt nun Darwin auch für die Pflanzen- und Thierwelt
an , er nennt ihn den Kampf ums Dasein . Eine Menge von
organischen Formen muste in diesem Kampfe zu Grunde
gehen und verhältnissmässig wenigen bevorzugten Platz
machen . Lassen wir Darwin selbst reden . Er sagt ( Seite
350 flg. ) : ‘ Die herrschenden Arten der grösseren herrschen-
den Gruppen streben viele abgeänderte Nachkommen zu
hinterlassen , und so werden wieder neue Untergruppen und
Gruppen gebildet . Im Verhältnisse als diese entstehen ,
neigen sich die Arten minder kräftiger Gruppen in Folge
ihrer gemeinsam ererbten Unvollkommenheit dem gemein-
samen Erlöschen zu , ohne irgendwo auf der Erd-Oberfläche
eine abgeänderte Nachkommenschaft zu hinterlassen . Aber
das gänzliche Erlöschen einer Arten-Gruppe mag oft ein
sehr langsamer Prozess sein , wenn einzelne Arten in ge-
schützten oder abgeschlossenen Standorten kümmernd noch
eine Zeit lang fortleben können [ bei Sprachen pflegt diess
in Gebirgen der Fall zu sein , ich erinnere z. B. an das
Baskische der Pyrenäen , den Rest einer nachweislich früher
weit verbreiteten Sprache ; ähnlich verhält es sich im Kau-
kasus und sonst ] . Ist eine Gruppe einmal untergegangen ,
so kann sie nie wieder erscheinen , weil ein Glied aus der
Generationen-Reihe zerbrochen ist .
So ist es begreiflich , dass die Ausbreitung herrschen-
der Lebensformen , welche eben am öftesten variiren , mit
der Länge der Zeit die Erde mit nahe verwandten jedoch
modifizirten Formen bevölkern , denen es sodann gewöhn-
lich gelingt , die Plätze jener Arten-Gruppen einzunehmen ,
welche ihnen im Kampfe ums Dasein unterliegen .’
An diesen Worten Darwins braucht man auch nicht ein
einziges zu ändern um sie auf die Sprachen anzuwenden .
Darwin schildert in den angeführten Zeilen völlig treffend
die Vorgänge beim Kampfe der Sprachen um ihre Existenz .
In der gegenwärtigen Lebensperiode der Menschheit sind
vor allem die Sprachen indogermanischen Stammes die Sie-
ger im Kampfe ums Dasein ; sie sind in fortwährender Aus-
breitung begriffen und haben bereits zahlreichen andern
Sprachen den Boden entzogen . Von der Menge ihrer Arten
und Unterarten zeugt der oben angedeutete Stammbaum
derselben .
Durch den massenhaften Untergang von Sprachen star-
ben nun manche Mittelformen aus , durch die Wanderungen
der Völker verschoben sich die ursprünglichen Verhältnisse
der Sprachen , so dass jetzt nicht selten Sprachen sehr ver-
schiedener Form als Gebietsnachbarn erscheinen , ohne dass
Mittelglieder zwischen beiden vorhanden sind . So haben
wir nunmehr z. B. das vom Indogermanischen völlig ver-
schiedene Baskische als Sprachinsel in jenes eingesprengt .
Wesentlich dasselbe sagt Darwin von den Verhältnissen der
Thier- und Pflanzenwelt ( S. 465 flg. ) .
Diess wäre nun etwa , lieber Freund und College , das ,
was mir in den Sinn kam , als ich Deinen verehrten Darwin
studierte , dessen Lehren Du so eifrig zu vertheidigen und
zu verbreiten strebst , wodurch Du , wie ich so eben erfahre ,
sogar den Zorn glaubenseifriger Tagesblätter auf Dich geladen
hast . Begreiflicher Weise konnten es nur die Grundzüge
der Darwinschen Anschauungen sein , die auf die Sprachen
Anwendung finden . Das Reich der Sprachen ist von dem
der Pflanzen und Thiere zu verschieden , als dass die Ge-
sammtheit der Darwinschen Ausführungen mit ihren Einzel-
heiten für dasselbe Geltung haben könnten .
Desto unbestreitbarer ist aber auf sprachlichem Gebiete
die Entstehung der Arten durch allmähliche Differenzierung
und die Erhaltung der höher entwickelten Organismen im
Kampfe ums Dasein . Die beiden Hauptpunkte der Darwin-
schen Lehre theilen also mit mancher andern wichtigen
Erkenntniss die Eigenschaft , dass sie auch in solchen Krei-
sen sich bewähren , welche anfänglich nicht in Betracht ge-
zogen wurden . S. 426 berührt Darwin kurz die Sprachen , in deren Verwandt-
schaftsverhältnissen er mit Recht eine Bestätigung seiner Lehre ver-
muthet .
Weimar . — Hofbuchdruckerei .