Granit .
Stifter, Jugendſchriften. I. 2
1.
Granit.
Vor meinem väterlichen Geburtshauſe dicht neben
der Eingangsthür in dasſelbe liegt ein großer acht¬
ekiger Stein von der Geſtalt eines ſehr in die Länge
gezogenen Würfels. Seine Seitenflächen ſind roh
ausgehauen, ſeine obere Fläche aber iſt von dem
vielen Sizen ſo fein und glatt geworden, als wäre
ſie mit der kunſtreichſten Glaſur überzogen. Der Stein
iſt ſehr alt, und niemand erinnert ſich, von einer
Zeit gehört zu haben, wann er gelegt worden ſei.
Die urälteſten Greiſe unſers Hauſes waren auf dem
Steine geſeſſen, ſo wie jene, welche in zarter Jugend
hinweggeſtorben waren, und nebſt all den andern in
dem Kirchhofe ſchlummern. Das Alter beweiſt auch
der Umſtand, daß die Sandſteinplatten, welche dem
Steine zur Unterlage dienen, ſchon ganz ausgetreten,
und dort, wo ſie unter die Dachtraufe hinaus ragen,
2*
mit tiefen Löchern von den herabfallenden Tropfen
verſehen ſind.
Eines der jüngſten Mitglieder unſeres Hauſes,
welche auf dem Steine geſeſſen waren, war in meiner
Knabenzeit ich. Ich ſaß gerne auf dem Steine, weil
man wenigſtens dazumal eine große Umſicht von dem¬
ſelben hatte. Jezt iſt ſie etwas verbaut worden. Ich
ſaß gerne im erſten Frühlinge dort, wenn die milder
werdenden Sonnenſtrahlen die erſte Wärme an der
Wand des Hauſes erzeugten. Ich ſah auf die geaker¬
ten aber noch nicht bebauten Felder hinaus, ich ſah
dort manchmal ein Glas wie einen weißen feurigen
Funken ſchimmern und glänzen, oder ich ſah einen
Geier vorüber fliegen, oder ich ſah auf den fernen
blaulichen Wald, der mit ſeinen Zaken an dem Him¬
mel dahin geht, an dem die Gewitter und Wolken¬
brüche hinabziehen, und der ſo hoch iſt, daß ich
meinte, wenn man auf den höchſten Baum desſelben
hinauf ſtiege, müßte man den Himmel angreifen
können. Zu andern Zeiten ſah ich auf der Straße,
die nahe an dem Hauſe vorübergeht, bald einen
Erndtewagen bald eine Heerde bald einen Hauſirer
vorüber ziehen.
Im Sommer ſaß gerne am Abende auch der Gro߬
vater auf dem Steine, und rauchte ſein Pfeifchen, und
manchmal, wenn ich ſchon lange ſchlief, oder in den
beginnenden Schlummer nur noch gebrochen die Töne
hinein hörte, ſaßen auch theils auf dem Steine theils
auf dem daneben befindlichen Holzbänkchen oder auf
der Lage von Baubrettern junge Burſche und Mädchen,
und ſangen anmuthige Lieder in die finſtere Nacht.
Unter den Dingen, die ich von dem Steine aus
ſah, war öfter auch ein Mann von ſeltſamer Art. Er
kam zuweilen auf der Hoſſenreuther Straße mit einem
glänzenden ſchwarzen Schubkarren herauf gefahren.
Auf dem Schubkarren hatte er ein glänzendes ſchwar¬
zes Fäßchen. Seine Kleider waren zwar vom Anfange
an nicht ſchwarz geweſen, allein ſie waren mit der Zeit
ſehr dunkel geworden, und glänzten ebenfalls. Wenn die
Sonne auf ihn ſchien, ſo ſah er aus, als wäre er mit
Öhl eingeſchmiert worden. Er hatte einen breiten Hut
auf dem Haupte, unter dem die langen Haare auf
den Naken hinabwallten. Er hatte ein braunes An¬
geſicht, freundliche Augen, und ſeine Haare hatten
bereits die gelblich weiße Farbe, die ſie bei Leuten
unterer Stände, die hart arbeiten müſſen, gerne be¬
kommen. In der Nähe der Häuſer ſchrie er gewöhn¬
lich etwas, was ich nicht verſtand. In Folge dieſes
Schreiens kamen unſere Nachbarn aus ihren Häuſern
heraus, hatten Gefäße in der Hand, die meiſtens
ſchwarze hölzerne Kannen waren, und begaben ſich
auf unſere Gaſſe. Während dies geſchah, war der
Mann vollends näher gekommen, und ſchob ſeinen
Schubkarren auf unſere Gaſſe herzu. Da hielt er
ſtille, drehte den Hahn in dem Zapfen ſeines Faſſes,
und ließ einem jeden, der unterhielt, eine braune
zähe Flüſſigkeit in ſein Gefäß rinnen, die ich recht gut
als Wagenſchmiere erkannte, und wofür ſie ihm eine
Anzahl Kreuzer oder Groſchen gaben. Wenn alles
vorüber war, und die Nachbarn ſich mit ihrem Kaufe
entfernt hatten, richtete er ſein Faß wieder zuſammen,
ſtrich alles gut hinein, was hervor gequollen war,
und fuhr weiter. Ich war bei dem Vorfalle ſchier alle
Male zugegen; denn wenn ich auch eben nicht auf der
Gaſſe war, da der Mann kam, ſo hörte ich doch ſo
gut wie die Nachbarn ſein Schreien, und war
gewiß eher auf dem Plaze als alle Andern.
Eines Tages, da die Lenzſonne ſehr freundlich
ſchien, und alle Menſchen heiter und ſchelmiſch machte,
ſah ich ihn wieder die Hoſſenreuther Straße herauf¬
fahren. Er ſchrie in der Nähe der Häuſer ſeinen ge¬
wöhnlichen Geſang, die Nachbarn kamen herbei,
er gab ihnen ihren Bedarf, und ſie entfernten ſich.
Als dieſes geſchehen war, brachte er ſein Faß wie zu
ſonſtigen Zeiten in Ordnung. Zum Hineinſtreichen
deſſen, was ſich etwa an dem Hahne oder durch das
Lokern des Zapfens an den untern Faßdauben ange¬
ſammelt hatte, hatte er einen langen ſchmalen flachen
Löffel mit kurzem Stiele. Er nahm mit dem Löffel
geſchikt jedes Reſtchen Flüſſigkeit, das ſich in einer
Fuge oder in einem Winkel verſtekt hatte, heraus,
und ſtrich es bei den ſcharfen Rändern des Spund¬
loches hinein. Ich ſaß, da er dieſes that, auf dem
Steine, und ſah ihm zu. Aus Zufall hatte ich bloße
Füße, wie es öfter geſchah, und hatte Höschen an,
die mit der Zeit zu kurz geworden waren. Plözlich ſah
er von ſeiner Arbeit zu mir herzu, und ſagte: „Willſt
du die Füſſe eingeſchmiert haben?“
Ich hatte den Mann ſtets für eine große Merk¬
würdigkeit gehalten, fühlte mich durch ſeine Vertrau¬
lichkeit geehrt, und hielt beide Füſſe hin. Er fuhr mit
ſeinem Löffel in das Spundloch, langte damit herzu,
und that einen langſamen Strich auf jeden der beiden
Füſſe. Die Flüſſigkeit breitete ſich ſchön auf der Haut
aus, hatte eine außerordentlich klare, goldbraune
Farbe, und ſandte die angenehmen Harzdüfte zu mir
empor. Sie zog ſich ihrer Natur nach allmählich um
die Rundung meiner Füſſe herum, und an ihnen
hinab. Der Mann fuhr indeſſen in ſeinem Geſchäfte
fort, er hatte ein paar Male lächelnd auf mich herzu
geblikt, dann ſtekte er ſeinen Löffel in eine Scheide
neben das Faß, ſchlug oben das Spundloch zu, nahm
die Tragbänder des Schubkarrens auf ſich, hob
letzteren empor, und fuhr damit davon. Da ich nun
allein war, und ein zwar halb angenehmes aber de߬
ungeachtet auch nicht ganz beruhigtes Gefühl hatte,
wollte ich mich doch auch der Mutter zeigen. Mit
vorſichtig in die Höhe gehaltenen Höschen ging ich in
die Stube hinein. Es war eben Samſtag, und an
jedem Samſtage mußte die Stube ſehr ſchön gewaſchen
und geſcheuert werden, was auch heute am Morgen
geſchehen war, ſo wie der Wagenſchmiermann gerne
an Samſtagen kam, um am Sonntage da zu bleiben,
und in die Kirche zu gehen. Die gut ausgelaugte und
wieder getroknete Holzfaſer des Fußbodens nahm die
Wagenſchmiere meiner Füſſe ſehr begierig auf, ſo daß
hinter jedem meiner Tritte eine ſtarke Tappe auf dem
Boden blieb. Die Mutter ſaß eben, da ich herein kam,
an dem Fenſtertiſche vorne, und nähte. Da ſie mich ſo
kommen und vorwärts ſchreiten ſah, ſprang ſie auf.
Sie blieb einen Augenblik in der Schwebe, entweder
weil ſie mich ſo bewunderte, oder weil ſie ſich nach
einem Werkzeuge umſah, mich zu empfangen. Endlich
aber rief ſie: „Was hat denn dieſer heilloſe einge¬
fleiſchte Sohn heute für Dinge an ſich?“
Und damit ich nicht noch weiter vorwärts ginge,
eilte ſie mir entgegen, hob mich empor, und trug mich
meines Schrekes und ihrer Schürze nicht achtend in
das Vorhaus hinaus. Dort ließ sie mich nieder, nahm
unter der Bodenſtiege, wohin wir, weil es an einem
andern Orte nicht erlaubt war, alle nach Hauſe ge¬
brachten Ruthen und Zweige legen mußten, und wo
ich ſelber in den lezten Tagen eine große Menge die¬
ſer Dinge angeſammelt hatte, heraus, was ſie nur
immer erwiſchen konnte, und ſchlug damit ſo lange
und ſo heftig gegen meine Füſſe, bis das ganze Laub¬
werk der Ruthen, meine Höschen, ihre Schürze, die
Steine des Fußbodens und die Umgebung voll Pech
waren. Dann ließ ſie mich los, und ging wieder in
die Stube hinein.
Ich war, obwohl es mir ſchon von Anfange bei
der Sache immer nicht ſo ganz vollkommen geheuer
geweſen war, doch über dieſe fürchterliche Wendung
der Dinge, und weil ich mit meiner theuerſten Ver¬
wandten dieſer Erde in dieſes Zerwürfniß gerathen
war, gleichſam vernichtet. In dem Vorhauſe befindet
ſich in einer Eke ein großer Steinwürfel, der den
Zwek hat, daß auf ihm das Garn zu den Haus¬
weben mit einem hölzernen Schlägel geklopft wird.
Auf dieſen Stein wankte ich zu, und ließ mich auf ihn
nieder. Ich konnte nicht einmal weinen, das Herz
war mir gepreßt, und die Kehle wie mit Schnüren
zugeſchnürt. Drinnen hörte ich die Mutter und die
Magd berathſchlagen, was zu thun ſei, und fürch¬
tete, daß, wenn die Pechſpuren nicht weg gingen, ſie
wieder herauskommen und mich weiter züchtigen
würden.
In dieſem Augenblike ging der Großvater bei der
hintern Thür, die zu dem Brunnen und auf die
Gartenwieſe führt, herein, und ging gegen mich her¬
vor. Er war immer der Gütige geweſen, und hatte,
wenn was immer für ein Unglük gegen uns Kinder
herein gebrochen war, nie nach dem Schuldigen
gefragt, ſondern nur ſtets geholfen. Da er nun zu
dem Plaze, auf dem ich ſaß, hervor gekommen war,
blieb er ſtehen, und ſah mich an. Als er den Zuſtand,
in welchem ich mich befand, begriffen hatte, fragte er,
was es denn gegeben habe, und wie es mit mir ſo
geworden ſei. Ich wollte mich nun erleichtern, allein
ich konnte auch jezt wieder nichts erzählen, denn nun
brachen bei dem Anblike ſeiner gütigen und wohl¬
meinenden Augen alle Thränen, die früher nicht her¬
vor zu kommen vermocht hatten, mit Gewalt heraus,
und rannen in Strömen herab, ſo daß ich vor Weinen
und Schluchzen nur gebrochene und verſtümmelte
Laute hervorbringen, und nichts thun konnte, als die
Füßchen empor heben, auf denen jezt auch aus dem
Peche noch das häßliche Roth der Züchtigung her¬
vor ſah.
Er aber lächelte, und ſagte: „So komme nur her
zu mir, komme mit mir.“
Bei dieſen Worten nahm er mich bei der Hand,
zog mich ſanft von dem Steine herab, und führte mich,
der ich ihm vor Ergriffenheit kaum folgen konnte, durch
die Länge des Vorhauſes zurük, und in den Hof
hinaus. In dem Hofe iſt ein breiter mit Steinen
gepflaſterter Gang, der rings an den Bauwerken her¬
um läuft. Auf dieſem Gange ſtehen unter dem Über¬
dache des Hauſes gewöhnlich einige Schemel oder
derlei Dinge, die dazu dienen, daß ſich die Mägde
beim Hecheln des Flachſes oder andern ähnlichen
Arbeiten darauf nieder ſezen können, um vor dem
Unwetter geſchüzt zu ſein. Zu einem ſolchen Schemel
führte er mich hinzu, und ſagte: „Seze dich da nieder,
und warte ein wenig, ich werde gleich wieder kommen.“
Mit dieſen Worten ging er in das Haus, und
nachdem ich ein Weilchen gewartet hatte, kam er
wieder heraus, indem er eine große, grünglaſirte
Schüſſel, einen Topf mit Waſſer und Seife und
Tücher in den Händen trug. Dieſe Dinge ſtellte er
neben mir auf das Steinpflaſter nieder, zog mir, der
ich auf dem Schemel ſaß, meine Höschen aus, warf
ſie ſeitwärts, goß warmes Waſſer in die Schüſſel,
ſtellte meine Füſſe hinein, und wuſch ſie ſo lange mit
Seife und Waſſer, bis ein großer weiß und braunge¬
fleckter Schaumberg auf der Schüſſel ſtand, die Wa¬
genſchmiere, weil ſie noch friſch war, ganz wegge¬
gangen, und keine Spur mehr von Pech auf der
Haut zu erbliken war. Dann troknete er mit den
Tüchern die Füſſe ab, und fragte: „Iſt es nun gut?“
Ich lachte faſt unter den Thränen, ein Stein nach
dem andern war mir während des Waſchens von dem
Herzen gefallen, und waren die Thränen ſchon linder
gefloſſen, ſo drangen ſie jezt nur mehr einzeln aus
den Augen hervor. Er holte mir nun auch andere
Höschen, und zog ſie mir an. Dann nahm er das
troken gebliebene Ende der Tücher, wiſchte mir damit
das verweinte Angeſicht ab, und ſagte: „Nun gehe
da über den Hof bei dem großen Einfahrtsthore auf
die Gaſſe hinaus, daß dich niemand ſehe, und daß
du niemanden in die Hände falleſt. Auf der Gaſſe
warte auf mich, ich werde dir andere Kleider bringen,
und mich auch ein wenig umkleiden. Ich gehe heute
in das Dorf Melm, da darfſt du mit gehen und da
wirſt du mir erzählen, wie ſich dein Unglük ereignet
hat, und wie du in dieſe Wagenſchmiere gerathen biſt.
Die Sachen laſſen wir da liegen, es wird ſie ſchon
jemand hinweg räumen.“
Mit dieſen Worten ſchob er mich gegen den Hof,
und ging in das Haus zurük. Ich ſchritt leiſe über
den Hof, und eilte bei dem Einfahrtſthore hinaus.
Auf der Gaſſe ging ich ſehr weit von dem großen
Steine und von der Hausthür weg, damit ich ſicher
wäre, und ſtellte mich auf eine Stelle, von welcher
ich von ferne in die Hausthür hinein ſehen konnte.
Ich ſah, daß auf dem Plaze, auf welchem ich gezüch¬
tigt worden war, zwei Mägde beſchäftigt waren,
welche auf dem Boden knieten, und mit den Händen
auf ihm hin und her fuhren. Wahrſcheinlich waren
ſie bemüht, die Pechſpuren, die von meiner Züchti¬
gung entſtanden waren, weg zu bringen. Die Haus¬
ſchwalbe flog kreiſchend bei der Thür aus und ein,
weil heute unter ihrem Neſte immer Störung war,
erſt durch meine Züchtigung und nun durch die arbei¬
tenden Mägde. An der äußerſten Grenze unſerer
Gaſſe ſehr weit von der Hausthür entfernt, wo der
kleine Hügel, auf dem unſer Haus ſteht, ſchon gegen
die vorbeigehende Straſſe abzufallen beginnt, lagen
einige ausgehauene Stämme, die zu einem Baue
oder zu einem anderen ähnlichen Werke beſtimmt
waren. Auf dieſe ſezte ich mich nieder, und
wartete.
Endlich kam der Großvater heraus. Er hatte
ſeinen breiten Hut auf dem Haupte, hatte ſeinen
langen Rok an, den er gerne an Sonntagen nahm,
und trug ſeinen Stok in der Hand. In der andern
hatte er aber auch mein blaugeſtreiftes Jäkchen, weiße
Strümpfe, ſchwarze Schnürſtiefelchen und mein graues
Filzhütchen. Das alles half er mir anziehen, und
ſagte: „So, jezt gehen wir.“
Wir gingen auf dem ſchmalen Fußwege durch das
Grün unſers Hügels auf die Straſſe hinab, und
gingen auf der Straſſe fort, erſt durch die Häuſer der
Nachbarn, auf denen die Frühlingsſonne lag, und
von denen die Leute uns grüßten, und dann in das
Freie hinaus. Dort ſtrekte ſich ein weites Feld und
ſchöner grüner Raſen vor uns hin, und heller freund¬
licher Sonnenſchein breitete ſich über alle Dinge der
Welt. Wir gingen auf einem weißen Wege zwiſchen
dem grünen Raſen dahin. Mein Schmerz und mein
Kummer war ſchon beinahe verſchwunden, ich wußte,
daß ein guter Ausgang nicht fehlen konnte, da der
Großvater ſich der Sache annahm, und mich beſchüzte;
die freie Luft und die ſcheinende Sonne übten einen
beruhigenden Einfluß, und ich empfand das Jäkchen
ſehr angenehm auf meinen Schultern und die Stie¬
felchen an den Füſſen, und die Luft floß ſanft durch
meine Haare.
Als wir eine Weile auf der Wieſe gegangen waren,
wie wir gewöhnlich gingen, wenn er mich mit nahm,
nehmlich daß er ſeine großen Schritte milderte, aber
noch immer große Schritte machte, und ich theilweiſe
neben ihm trippeln mußte, ſagte der Großvater: „Nun
ſage mir doch auch einmal, wie es denn geſchehen iſt,
daß du mit ſo vieler Wagenſchmiere zuſammen ge¬
rathen biſt, daß nicht nur deine ganzen Höschen voll
Pech ſind, daß deine Füſſe voll waren, daß ein Pech¬
flek in dem Vorhauſe iſt, mit Pech beſudelte Ruthen
herum liegen, ſondern daß auch im ganzen Hauſe,
wo man nur immer hin kömmt, Fleken von Wagen¬
ſchmiere anzutreffen ſind. Ich habe deiner Mutter
ſchon geſagt, daß du mit mir geheſt, du darfſt nicht
mehr beſorgt ſein, es wird dich keine Strafe mehr
treffen.“
Ich erzählte ihm nun, wie ich auf dem Steine
geſeſſen ſei, wie der Wagenſchmiermann gekommen
ſei, wie er mich gefragt habe, ob ich meine Füſſe ein¬
geſchmiert haben wolle, wie ich ſie ihm hingehalten,
und wie er auf jeden einen Strich gethan habe, wie
ich in die Stube gegangen ſei, um mich der Mutter zu
zeigen, wie ſie aufgeſprungen ſei, wie ſie mich genom¬
men, in das Vorhaus getragen, mich mit meinen
eigenen Ruthen gezüchtiget habe, und wie ich darnach
auf dem Steine ſizen geblieben ſei.
„Du biſt ein kleines Närrlein,“ ſagte der Gro߬
vater, „und der alte Andreas iſt ein arger Schalk, er
hat immer ſolche Streiche ausgeführt, und wird jezt
heimlich und wiederholt bei ſich lachen, daß er den
Einfall gehabt hat. Dieſer Hergang beſſert deine
Sache ſehr. Aber ſiehst du, auch der alte Andreas, ſo
übel wir ſeine Sache anſehen mögen, iſt nicht ſo
ſchuldig, als wir andern uns denken; denn woher
ſoll denn der alte Andreas wiſſen, daß die Wagen¬
ſchmiere für die Leute eine ſo ſchrekende Sache iſt,
und daß ſie in einem Hauſe eine ſolche Unordnung
anrichten kann; denn für ihn iſt ſie eine Waare, mit
der er immer umgeht, die ihm ſeine Nahrung gibt,
die er liebt, und die er ſich immer friſch holt, wenn
ſie ihm ausgeht. Und wie ſoll er von gewaſchenen
Fußböden etwas wiſſen, da er Jahr aus Jahr ein
bei Regen und Sonnenſchein mit ſeinem Faſſe auf der
Straſſe iſt, bei der Nacht oder an Feiertagen in einer
Scheune ſchläft, und an ſeinen Kleidern Heu oder
Halme kleben hat. Aber auch deine Mutter hat Recht;
ſie mußte glauben, daß du dir leichtſinniger Weiſe die
Füſſe ſelber mit ſo vieler Wagenſchmiere beſchmiert
habeſt, und daß du in die Stube gegangen ſeieſt, den
ſchönen Boden zu beſudeln. Aber laſſe nur Zeit, ſie
wird ſchon zur Einſicht kommen, ſie wird alles ver¬
ſtehen, und alles wird gut werden. Wenn wir dort
auf jene Höhe hinauf gelangen, von der wir weit
herum ſehen, werde ich dir eine Geſchichte von ſolchen
Pechmännern erzählen, wie der alte Andreas iſt, die
ſich lange vorher zugetragen hat, ehe du geboren
wurdeſt, und ehe ich geboren wurde, und aus der du
erſehen wirſt, welche wunderbare Schikſale die Men¬
ſchen auf der Welt des lieben Gottes haben können.
Und wenn du ſtark genug biſt, und gehen kannſt, ſo
laſſe ich dich in der nächſten Woche nach Spizenberg
und in die Hirſchberge mitgehen, und da wirſt du am
Wege im Fichtengrunde eine ſolche Brennerei ſehen,
wo ſie die Wagenſchmiere machen, wo ſich der alte
Andreas ſeinen Vorrath immer holt, und wo alſo
das Pech her iſt, womit dir heute die Füſſe einge¬
ſchmiert worden ſind.“
„Ja, Großvater,“ ſagte ich, „ich werde recht ſtark
ſein.“
„Nun das wird gut ſein,“ antwortete er, „und du
darfſt mitgehen.“
Bei dieſen Worten waren wir zu einer Mauer
Stifter, Jugendſchriften. I. 3
aus loſen Steinen gelangt, jenſeits welcher eine grüne
Wieſe mit dem weißen Fußpfade war. Der Großvater
ſtieg über den Steigſtein, indem er ſeinen Stok und
ſeinen Rok nach ſich zog, und mir, der ich zu klein
war, hinüber half; und wir gingen dann auf dem reinen
Pfade weiter. Ungefähr in der Mitte der Wieſe blieb
er ſtehen, und zeigte auf die Erde, wo unter einem
flachen Steine ein klares Wäſſerlein hervor quoll,
und durch die Wieſe fortrann.
„Das iſt das Behringer Brünnlein,“ ſagte er,
„welches das beſte Waſſer in der Gegend hat, aus¬
genommen das wunderthätige Waſſer, welches auf
dem Brunnberge in dem überbauten Brünnlein iſt,
in deſſen Nähe die Gnadenkapelle zum guten Waſſer
ſteht. Manche Menſchen holen ſich aus dieſem Brünn¬
lein da ihr Trinkwaſſer, mancher Feldarbeiter geht
weit herzu, um da zu trinken, und mancher Kranke
hat ſchon aus entfernten Gegenden mit einem Kruge
hieher geſchikt, damit man ihm Waſſer bringe.
Merke dir den Brunnen recht gut.“
„Ja, Großvater,“ ſagte ich.
Nach dieſen Worten gingen wir wieder weiter.
Wir gingen auf dem Fußpfade durch die Wieſe, wir
gingen auf einem Wege zwiſchen Feldern empor, und
kamen zu einem Grunde, der mit dichtem kurzem faſt
grauem Raſen bedekt war, und auf dem nach allen
Richtungen hin in gewiſſen Entfernungen von einan¬
der Föhren ſtanden.
„Das, worauf wir jezt gehen,“ ſagte der Gro߬
vater, „ſind die Dürrſchnäbel, es iſt ein ſeltſamer
Name, entweder kömmt er von dem trokenen dürren
Boden, oder von dem mageren Kräutlein, das tau¬
ſendfältig auf dem Boden ſizt, und deſſen Blüthe ein
weißes Schnäblein hat mit einem gelben Zünglein
darin. Siehe, die mächtigen Föhren gehören den
Bürgern zu Oberplan je nach der Steuerbarkeit, ſie
haben die Nadeln nicht in zwei Zeilen, ſondern in
Scheiden wie grüne Borſtbüſchel, ſie haben das
geſchmeidige fette Holz, ſie haben das gelbe Pech, ſie
ſtreuen ſparſamen Schatten, und wenn ein ſchwaches
Lüftchen geht, ſo hört man die Nadeln ruhig und
langſam ſauſen.“
Ich hatte Gelegenheit, als wir weiter gingen,
die Wahrheit deſſen zu beobachten, was der Gro߬
vater geſagt hatte. Ich ſah eine Menge der wei߬
gelben Blümlein auf dem Boden, ich ſah den grauen
Raſen, ich ſah auf manchem Stamme das Pech wie
goldene Tropfen ſtehen, ich ſah die unzähligen Nadel¬
büſchel auf den unzähligen Zweigen gleichſam aus
winzigen dunkeln Stiefelchen heraus ragen, und ich
3*
hörte, obgleich kaum ein Lüftchen zu verſpüren war,
das ruhige Sauſen in den Nadeln.
Wir gingen immer weiter, und der Weg wurde
ziemlich ſteil.
Auf einer etwas höheren und freieren Stelle blieb
der Großvater ſtehen, und ſagte: „So, da warten
wir ein wenig.“
Er wendete ſich um, und nachdem wir uns von
der Bewegung des Aufwärtsgehens ein wenig aus¬
geathmet hatten, hob er ſeinen Stok empor, und
zeigte auf einen entfernten mächtigen Waldrüken in
der Richtung, aus der wir gekommen waren, und
fragte: „Kannſt du mir ſagen, was das dort iſt?“
„Ja, Großvater,“ antwortete ich, „das iſt die
Alpe, auf welcher ſich im Sommer eine Viehheerde
befindet, die im Herbſte wieder herabgetrieben wird.“
„Und was iſt das, das ſich weiter vorwärts von
der Alpe befindet?“ fragte er wieder.
„Das iſt der Hüttenwald,“ antwortete ich.
„Und rechts von der Alpe und dem Hüttenwalde?“
„Das iſt der Philippgeorgsberg.“
„Und rechts von dem Philippgeorgsberge?“
„Das iſt der Seewald, in welchem ſich das dunkle
und tiefe Seewaſſer befindet.“
„Und wieder rechts von dem Seewalde?“
„Das iſt der Blokenſtein und der Seſſelwald.“
„Und wieder rechts?“
„Das iſt der Tuſſetwald.“
„Und weiter kannſt du ſie nicht kennen; aber da
iſt noch mancher Waldrüken mit manchem Namen,
ſie gehen viele Meilen weit in die Länder fort. Einſt
waren die Wälder noch viel größer als jezt. Da ich
ein Knabe war, reichten ſie bis Spizenberg und die
vordern Stiftshäuſer, es gab noch Wölfe darin, und
die Hirſche konnten wir in der Nacht, wenn eben die
Zeit war, bis in unſer Bette hinein brüllen hören.
Siehſt du die Rauchſäule dort, die aus dem Hütten¬
walde aufſteigt?“
„Ja, Großvater, ich ſehe ſie.“
„Und weiter zurük wieder eine aus dem Walde
der Alpe?“
„Ja, Großvater.“
„Und aus den Niederungen des Philippgeorgs¬
berges wieder eine?“
„Ich ſehe ſie, Großvater.“
„Und weit hinten im Keſſel des Seewaldes, den
man kaum erbliken kann, noch eine, die ſo ſchwach
iſt, als wäre ſie nur ein blaues Wölklein?“
„Ich ſehe ſie auch, Großvater.“
„Siehſt du, dieſe Rauchſäulen kommen alle von
den Menſchen, die in dem Walde ihre Geſchäfte trei¬
ben. Da ſind zuerſt die Holzknechte, die an Stellen
die Bäume des Waldes umſägen, daß nichts übrig
iſt als Strünke und Strauchwerk. Sie zünden ein
Feuer an, um ihre Speiſen daran zu kochen, und
um auch das unnöthige Reiſig und die Äſte zu ver¬
brennen. Dann ſind die Kohlenbrenner, die einen
großen Meiler thürmen, ihn mit Erde und Reiſern
bedecken, und in ihm aus Scheitern die Kohlen
brennen, die du oft in großen Säken an unſerem
Hauſe vorbei in die ferneren Gegenden hinaus führen
ſiehſt, die nichts zu brennen haben. Dann ſind die
Heuſucher, die in den kleinen Wieſen und in den von
Wald entblößten Stellen das Heu machen, oder es
auch mit Sicheln zwiſchen dem Geſteine ſchneiden.
Sie machen ein Feuer, um ebenfalls daran zu kochen,
oder daß ſich ihr Zugvieh in den Rauch lege, und
dort weniger von den Fliegen geplagt werde. Dann
ſind die Sammler, welche Holzſchwämme, Arznei¬
dinge, Beeren und andere Sachen ſuchen, und auch
gerne ein Feuer machen, ſich daran zu laben. Endlich
ſind die Pechbrenner, die ſich aus Walderde Öfen
bauen, oder Löcher mit Lehm überwölben, und dane¬
ben ſich Hütten aus Waldbäumen aufrichten, um in
den Hütten zu wohnen, und in den Öfen und Löchern
die Wagenſchmiere zu brennen, aber auch den Theer,
den Terpentin und andere Geiſter. Wo ein ganz
dünnes Rauchfädlein aufſteigt, mag es auch ein
Jäger ſein, der ſich ſein Stüklein Fleiſch bratet, oder
der Ruhe pflegt. Alle dieſe Leute haben keine blei¬
bende Stätte in dem Walde; denn ſie gehen bald
hierhin bald dorthin, je nachdem ſie ihre Arbeit
gethan haben, oder ihre Gegenſtände nicht mehr fin¬
den. Darum haben auch die Rauchſäulen keine blei¬
bende Stelle, und heute ſieheſt du ſie hier und ein
anderes Mal an einem anderen Plaze.“
„Ja, Großvater.“
„Das iſt das Leben der Wälder. Aber laß uns
nun auch das außerhalb betrachten. Kannſt du mir
ſagen, was das für weiße Gebäude ſind, die wir da
durch die Doppelföhre hin ſehen?“
„Ja, Großvater, das ſind die Pranghöfe.“
„Und weiter von den Pranghöfen links?“
„Das ſind die Häuſer von Vorder– und Hinter¬
ſtift.“
„Und wieder weiter links?“
„Das iſt Glökelberg.“
„Und weiter gegen uns her am Waſſer?“
„Das iſt die Hammermühle und der Bauer David.“
„Und die vielen Häuſer ganz in unſerer Nähe,
aus denen die Kirche emporragt, und hinter denen ein
Berg iſt, auf welchem wieder ein Kirchlein ſteht?“
„Aber, Großvater, das iſt ja unſer Marktfleken
Oberplan, und das Kirchlein auf dem Berge iſt das
Kirchlein zum guten Waſſer.“
„Und wenn die Berge nicht wären und die An¬
höhen, die uns umgeben, ſo würdeſt du noch viel
mehr Häuſer und Ortſchaften ſehen: Die Karlshöfe,
Stuben, Schwarzbach, Langenbruk, Melm, Honnet¬
ſchlag, und auf der entgegengeſezten Seite Pichlern,
Pernek, Salnau und mehrere andere. Das wirſt du
einſehen, daß in dieſen Ortſchaften viel Leben iſt, daß
dort viele Menſchen Tag und Nacht um ihren Lebens¬
unterhalt ſich abmühen, und die Freude genießen, die
uns hienieden gegeben iſt. Ich habe dir darum die
Wälder gezeigt und die Ortſchaften, weil ſich in ihnen
die Geſchichte zugetragen hat, welche ich dir im
Heraufgehen zu erzählen verſprochen habe. Aber laß
uns weiter gehen, daß wir bald unser Ziel erreichen,
ich werde dir die Geſchichte im Gehen erzählen.“
Der Großvater wendete ſich um, ich auch, er
ſezte die Spize ſeines Stokes in die magere Raſenerde,
wir gingen weiter, und er erzählte: „In allen dieſen
Wäldern und in allen dieſen Ortſchaften hat ſich einſt
eine merkwürdige Thatſache ereignet, und es iſt ein
großes Ungemach über ſie gekommen. Mein Großva¬
ter, dein Ururgroßvater, der zu damaliger Zeit gelebt
hat, hat es uns oft erzählt. Es war einmal in einem
Frühlinge, da die Bäume kaum ausgeſchlagen hatten,
da die Blüthenblätter kaum abgefallen waren, daß
eine ſchwere Krankheit über dieſe Gegend kam, und
in allen Ortſchaften, die du geſehen haſt, und auch in
jenen, die du wegen vorſtehender Berge nicht haſt ſehen
können, ja ſogar in den Wäldern, die du mir gezeigt
haſt, ausgebrochen iſt. Sie iſt lange vorher in ent¬
fernten Ländern geweſen, und hat dort unglaublich
viele Menſchen dahin geraſt. Plözlich iſt ſie zu uns
herein gekommen. Man weiß nicht, wie ſie gekommen
iſt: haben ſie die Menſchen gebracht, iſt ſie in der mil¬
den Frühlingsluft gekommen, oder haben ſie Winde
und Regenwolken daher getragen: genug ſie iſt ge¬
kommen, und hat ſich über alle Orte ausgebreitet, die
um uns herum liegen. Über die weißen Blüthenblät¬
ter, die noch auf dem Wege lagen, trug man die Tod¬
ten dahin, und in dem Kämmerlein, in das die Früh¬
lingsblätter hinein ſchauten, lag ein Kranker, und
es pflegte ihn einer, der ſelbſt ſchon krankte. Die
Seuche wurde die Peſt geheißen, und in fünf bis ſechs
Stunden war der Menſch geſund und todt, und ſelbſt
die, welche von dem Übel genaſen, waren nicht mehr
recht geſund und recht krank, und konnten ihren Ge¬
ſchäften nicht nachgehen. Man hatte vorher in Winter¬
abenden erzählt, wie in andern Ländern eine Krankheit
ſei, und die Leute an ihr wie an einem Strafgerichte
dahin ſterben; aber niemand hatte geglaubt, daß ſie
in unſere Wälder herein kommen werde, weil nie
etwas Fremdes zu uns herein kömmt, bis ſie kam.
In den Rathſchlägerhäuſern iſt ſie zuerſt ausgebro¬
chen, und es ſtarben gleich alle, die an ihr erkrankten.
Die Nachricht verbreitete ſich in der Gegend, die
Menſchen erſchraken, und rannten gegen einander.
Einige warteten, ob es weiter greifen würde, andere
flohen, und trafen die Krankheit in den Gegenden,
in welche ſie ſich gewendet hatten. Nach einigen Tagen
brachte man ſchon die Todten auf den Oberplaner
Kirchhof, um ſie zu begraben, gleich darauf von nahen
und fernen Dörfern und von dem Marktfleken ſelbſt.
Man hörte faſt den ganzen Tag die Zügengloke läu¬
ten, und das Todtengeläute konnte man nicht mehr
jedem einzelnen Todten verſchaffen, ſondern man
läutete es allgemein für alle. Bald konnte man ſie auch
nicht mehr in dem Kirchhofe begraben, ſondern man
machte große Gruben auf dem freien Felde, that die
Todten hinein, und ſcharrte ſie mit Erde zu. Von
manchem Hauſe ging kein Rauch empor, in manchem
hörte man das Vieh brüllen, weil man es zu füttern
vergeſſen hatte, und manches Rind ging verwildert
herum, weil niemand war, es von der Weide in den
Stall zu bringen. Die Kinder liebten ihre Eltern
nicht mehr und die Eltern die Kinder nicht, man warf
nur die Todten in die Grube, und ging davon. Es
reiften die rothen Kirſchen, aber niemand dachte an
ſie, und niemand nahm ſie von den Bäumen, es reif¬
ten die Getreide, aber ſie wurden nicht in der Ordnung
und Reinlichkeit nach Hauſe gebracht, wie ſonſt, ja
manche wären gar nicht nach Hauſe gekommen, wenn
nicht doch noch ein mitleidiger Mann ſie einem Büb¬
lein oder Mütterlein, die allein in einem Hauſe ge¬
ſund geblieben waren, einbringen geholfen hätte.
Eines Sonntages, da der Pfarrer von Oberplan die
Kanzel beſtieg, um die Predigt zu halten, waren mit
ihm ſieben Perſonen in der Kirche; die andern waren
geſtorben, oder waren krank oder bei der Krankenpflege,
oder aus Wirrniß und Starrſinn nicht gekommen.
Als ſie dieſes ſahen, brachen ſie in ein lautes Weinen
aus, der Pfarrer konnte keine Predigt halten, ſondern
las eine ſtille Meſſe, und man ging auseinander.
Als die Krankheit ihren Gipfel erreicht hatte, als die
Menſchen nicht mehr wußten, ſollten ſie in dem Him¬
mel oder auf der Erde Hilfe ſuchen, geſchah es, daß
ein Bauer aus dem Amiſchhauſe von Melm nach
Oberplan ging. Auf der Drillingsföhre ſaß ein Vög¬
lein und ſang:
„Eßt Enzian und Pimpinell,
Steht auf, ſterbt nicht ſo ſchnell.
Eßt Enzian und Pimpinell
Steht auf, ſterbt nicht ſo ſchnell.“
Der Bauer entfloh, er lief zu dem Pfarrer nach Ober¬
plan und ſagte ihm die Worte, und der Pfarrer ſagte
ſie den Leuten. Dieſe thaten, wie das Vöglein ge¬
ſungen hatte, und die Krankheit minderte ſich immer
mehr und mehr, und noch ehe der Haber in die Stop¬
peln gegangen war, und ehe die braunen Haſelnüſſe
an den Büſchen der Zäune reiften, war ſie nicht mehr
vorhanden. Die Menſchen getrauten ſich wieder her¬
vor, in den Dörfern ging der Rauch empor, wie man
die Betten und die andern Dinge der Kranken ver¬
brannte, weil die Krankheit ſehr anſtekend geweſen
war; viele Häuſer wurden neu getüncht und ge¬
ſcheuert, und die Kirchengloken tönten wieder fried¬
fertige Töne, wenn ſie entweder zu dem Gebete riefen
oder zu den heiligen Feſten der Kirche.“
In dem Augenblike gleichſam wie durch die Worte
hervor gerufen tönte hell klar und rein mit ihren
deutlichen tiefen Tönen die große Gloke von dem
Thurme zu Oberplan, und die Klänge kamen zu uns
unter die Föhren herauf.
„Siehe,“ ſagte der Großvater, „iſt es ſchon vier Uhr,
und ſchon Feierabendläuten; ſiehst du, Kind, dieſe
Zunge ſagt uns beinahe mit vernehmlichen Worten,
wie gut und wie glüklich und wie befriedigt wieder alles
in dieſer Gegend iſt.“
Wir hatten uns bei dieſen Worten umgekehrt, und
ſchauten nach der Kirche zurük. Sie ragte mit ihrem
dunkeln Ziegeldache und mit ihrem dunkeln Thurme,
von dem die Töne kamen, empor, und die Häuſer
drängten ſich wie eine graue Taubenſchaar um ſie.
„Weil es Feierabend iſt,“ ſagte der Großvater,
„müſſen wir ein kurzes Gebeth thun.“
Er nahm ſeinen Hut von dem Haupte, machte
ein Kreuz, und bethete. Ich nahm auch mein Hütchen
ab, und bethete ebenfalls. Als wir geendet, die
Kreuze gemacht, und unſere Kopfbedekungen wieder
aufgeſezt hatten, ſagte der Großvater: „Es iſt ein
ſchöner Gebrauch, daß am Samſtage nachmittags mit
der Gloke dieſes Zeichen gegeben wird, daß nun
der Vorabend des Feſtes des Herrn beginne, und daß
alles ſtrenge Irdiſche ruhen müſſe, wie ich ja auch an
Samſtagen nachmittags keine ernſte Arbeit vornehme,
ſondern höchſtens einen Gang in benachbarte Dörfer
mache. Der Gebrauch ſtammt von den Heiden her,
die früher in den Gegenden waren, denen jeder Tag
gleich war, und denen man, als ſie zum Chriſten¬
thume bekehrt waren, ein Zeichen geben mußte, daß
der Gottestag im Anbrechen ſei. Einſtens wurde
dieſes Zeichen ſehr beachtet; denn wenn die Gloke
klang, betheten die Menſchen, und ſezten ihre harte
Arbeit zu Hauſe oder auf dem Felde aus. Deine
Großmutter, als ſie noch ein junges Mädchen war,
kniete jederzeit bei dem Feierabendläuten nieder, und
that ein kurzes Gebeth. Wenn ich damals an Samſtag-
Abenden, ſo wie ich jezt in andere Gegenden gehe,
nach Glökelberg ging, denn deine Großmutter iſt von
dem vordern Glökelberg zu Hauſe, ſo kniete ſie oft
bei dem Klange des Dorfglökleins mit ihrem rothen
Leibchen und ſchneeweißen Rökchen neben dem Gehege
nieder, und die Blüthen des Geheges waren eben ſo
weiß und roth wie ihre Kleider.“
„Großvater, ſie bethet jezt auch noch immer, wenn
Feierabend geläutet wird, in der Kammer neben dem
blauen Schreine, der die rothen Blumen hat,“ ſagte ich.
„Ja, das thut ſie,“ erwiederte er, „aber die andern
Leute beachten das Zeichen nicht, ſie arbeiten fort auf
dem Felde, und arbeiten fort in der Stube, wie ja
auch die Schlage unſers Nachbars des Webers ſelbſt
an Samſtagabenden forttönt, bis es Nacht wird, und
die Sterne am Himmel ſtehen.“
„Ja, Großvater.“
„Das wirſt du aber nicht wiſſen, daß Oberplan
das ſchönſte Geläute in der ganzen Gegend hat. Die
Gloken ſind geſtimmt, wie man die Saiten einer
Geige ſtimmt, daß ſie gut zuſammen tönen. Darum
kann man auch keine mehr dazu machen, wenn eine
bräche, oder einen Sprung bekäme, und mit der
Schönheit des Geläutes wäre es vorüber. Als dein
Oheim Simon einmal vor dem Feinde im Felde lag,
und krank war, ſagte er, da ich ihn beſuchte: „„Vater,
wenn ich nur noch einmal das Oberplaner Glöklein
hören könnte!““ aber er konnte es nicht mehr hören,
und mußte ſterben.“
In dieſem Augenblike hörte die Gloke zu tönen
auf, und es war wieder nichts mehr auf den Feldern
als das freundliche Licht der Sonne.
„Komme, laſſe uns weiter gehen,“ ſagte der
Großvater.
Wir gingen auf dem grauen Raſen zwiſchen den
Stämmen weiter, immer von einem Stamme zum
andern. Es wäre wohl ein ausgetretener Weg ge¬
weſen, aber auf dem Raſen war es weicher und
ſchöner zu gehen. Allein die Sohlen meiner Stiefel
waren von dem kurzen Graſe ſchon ſo glatt gewor¬
den, daß ich kaum einen Schritt mehr zu thun ver¬
mochte, und beim Gehen nach allen Richtungen ausglitt.
Da der Großvater dieſen Zuſtand bemerkt hatte, ſagte
er: „Du mußt mit den Füſſen nicht ſo ſchleifen; auf
dieſem Graſe muß man den Tritt gleich hinſtellen,
daß er gilt, ſonſt bohnt man die Sohlen glatt, und es
iſt kein ſicherer Halt möglich. Siehſt du, alles muß
man lernen, ſelbſt das Gehen. Aber komme, reiche
mir die Hand, ich werde dich führen, daß du ohne
Mühſal fort kömmſt.“
Er reichte mir die Hand, ich faßte ſie, und ging
nun geſtüzt und geſicherter weiter.
Der Großvater zeigte nach einer Weile auf einen
Baum, und ſagte: „Das iſt die Drillingsföhre.“
Ein großer Stamm ging in die Höhe, und trug
drei ſchlanke Bäume, welche in den Lüften ihre Äſte
und Zweige vermiſchten. Zu ſeinen Füſſen lag eine
Menge herabgefallener Nadeln.
„Ich weiß es nicht,“ ſagte der Großvater, „hatte
das Vöglein die Worte geſungen, oder hat ſie Gott
dem Manne in das Herz gegeben: aber die Dril¬
lingsföhre darf nicht umgehauen werden, und
ihrem Stamme und ihren Äſten darf kein Schaden
geſchehen.“
Ich ſah mir den Baum recht an, dann gingen wir
weiter, und kamen nach einiger Zeit allmählich aus den
Dürrſchnäbeln hinaus. Die Stämme wurden dünner,
ſie wurden ſeltener, hörten endlich ganz auf, und wir
gingen auf einem ſehr ſteinigen Wege zwiſchen Fel¬
dern, die jezt wieder erſchienen, hinauf. Hier zeigte
mir der Großvater wieder einen Baum, und ſagte:
„Siehe, das iſt die Machtbuche, das iſt der bedeut¬
ſamſte Baum in der Gegend, er wächſt aus dem ſtei¬
nigſten Grunde empor, den es gibt. Siehe, darum iſt
ſein Holz auch ſo feſt wie Stein, darum iſt ſein
Stamm ſo kurz, die Zweige ſtehen ſo dicht, und
halten die Blätter feſt, daß die Krone gleichſam eine
Kugel bildet, durch die nicht ein einziges Äuglein
des Himmels hindurch ſchauen kann. Wenn es Win¬
ter werden will, ſehen die Leute auf dieſen Baum und
ſagen: Wenn einmal die Herbſtwinde durch das dürre
Laub der Machtbuche ſauſen, und ihre Blätter auf
dem Boden dahin treiben, dann kömmt bald der
Winter. Und wirklich hüllen ſich in kurzer Zeit die
Hügel und Felder in die weiße Deke des Schnees.
Merke dir den Baum, und denke in ſpäten Jahren,
wenn ich längſt im Grabe liege, daß es dein Gro߬
vater geweſen iſt, der ihn dir zuerſt gezeigt hat.“
Von dieſer Buche gingen wir noch eine kleine
Stifter, Jugendſchriften. I. 4
Zeit aufwärts, und kamen dann auf die Schneide¬
linie der Anhöhe, von der wir auf die jenſeitigen
Gegenden hinüber ſahen, und das Dorf Melm in
einer Menge von Bäumen zu unſern Füßen erblikten.
Der Großvater blieb hier ſtehen, zeigte mit ſeinem
Stoke auf einen entfernten Wald, und ſagte: „Siehſt
du, dort rechts hinüber der dunkle Wald iſt der
Rindlesberg, hinter dem das Dorf Rindles liegt, das
wir nicht ſehen können. Weiter links, wenn der
Nadelwald nicht wäre, würdeſt du den großen Alſch¬
hof erbliken. Zur Zeit der Peſt iſt in dem Alſchhofe
alles ausgeſtorben bis auf eine einzige Magd, welche
das Vieh, das in dem Alſchhofe iſt, pflegen mußte,
zwei Reihen Kühe, von denen die Milch zu dem Käſe
kömmt, den man in dem Hofe bereitet, dann die
Stiere und das Jungvieh. Dieſe mußte ſie viele
Wochen lang nähren und warten, weil die Seuche den
Thieren nichts anhaben konnte, und ſie fröhlich und
munter blieben, bis ihre Herrſchaft Kenntniß von
dem Ereigniße erhielt, und von den übrig gebliebenen
Menſchen ihr einige zu Hilfe ſendete. In der großen
Hammermühle, die du mir im Heraufgehen gezeigt haſt,
ſind ebenfalls alle Perſonen geſtorben bis auf einen
einzigen krummen Mann, der alle Geſchäfte zu thun
hatte, und die Leute befriedigen mußte, die nach der
Peſt das Getreide zur Mühle brachten, und ihr Mehl
haben wollten; daher noch heute das Sprichwort
kömmt: „Ich habe mehr Arbeit als der Krumme im
Hammer.“ Von den Prieſtern in Oberplan iſt nur
der alte Pfarrer übrig geblieben, um der Seelſorge zu
pflegen, die zwei Kapläne ſind geſtorben, auch der
Küſter iſt geſtorben und ſein Sohn, der ſchon die
Prieſterweihe hatte. Von den Badhäuſern, die neben
der kurzen Zeile des Marktes die gebogene Gaſſe
machen, ſind drei gänzlich ausgeſtorben.“
Nach dieſen Worten gingen wir in dem Hohlwege
und unter allerlei lieblichen Spielen von Licht und
Farben, welche die Sonne in den grünen Blättern
der Geſträuche verurſachte, in das Dorf Melm
hinunter.
Der Großvater hatte in dem erſten Hauſe desſel¬
ben im Machthofe zu thun. Wir gingen deßhalb durch
den großen Schwibbogen desſelben hinein. Der
Machtbauer ſtand in dem Hofe, hatte bloße Hemd¬
ärmel an den Armen und viele hochgipflige Metall¬
knöpfe auf der Weſte. Er grüßte den Großvater, als
er ihn ſah, und führte ihn in die Stube; mich aber
ließen ſie auf einem kleinen hölzernen Bänklein neben
der Thür im Hofe ſizen, und ſchikten mir ein Butter¬
brod, das ich verzehrte. Ich raſtete, betrachtete die
4*
Dinge, die da waren, als: die Wägen, welche abge¬
laden unter dem Schoppendache ineinander geſchoben
ſtanden, die Pflüge und Eggen, welche, um Plaz zu
machen, in einen Winkel zuſammengedrängt waren,
die Knechte und Mägde, die hin und her gingen,
ihre Samſtagsarbeit thaten, und ſich zur Feier des
Sonntages rüſteten; und die Dinge geſellten ſich zu
denen, mit denen ohnehin mein Haupt angefüllt war,
zu Drillingsföhren Todten und Sterbenden und
ſingenden Vöglein.
Nach einer Zeit kam der Großvater wieder heraus,
und ſagte: „So, jezt bin ich fertig, und wir treten
unſern Rükweg wieder an.“
Ich ſtand von meinem Bänklein auf, wir gingen
dem Schwibbogen zu, der Bauer und die Bäurin
begleiteten uns bis dahin, nahmen bei dem Schwib¬
bogen Abſchied, und wünſchten uns glükliche Heim¬
kehr.
Da wir wieder allein waren, und auf unſerem
Rükwege den Hohlweg hinan ſchritten, fuhr der
Großvater fort: „Als es tief in den Herbſt ging, wo
die Preißelbeeren reifen, und die Nebel ſich ſchon auf
den Mooswieſen zeigen, wandten ſich die Menſchen
wieder derjenigen Erde zu, in welcher man die Todten
ohne Einweihung und Gepränge begraben hatte.
Viele Menſchen gingen hinaus, und betrachteten den
friſchen Aufwurf, andere wollten die Namen derer
wiſſen, die da begraben lagen, und als die Seelſorge
in Oberplan wieder vollkommen hergeſtellt war,
wurde die Stelle wie ein ordentlicher Kirchhof einge¬
weiht, es wurde feierlicher Gottesdienſt unter freiem
Himmel gehalten, und alle Gebethe und Segnungen
nachgetragen, die man früher verſäumt hatte. Dann
wurde um den Ort eine Planke gemacht, und unge¬
löſchter Kalk auf denſelben geſtreut. Von da an
bewahrte man das Gedächtniß an die Vergangenheit
in allerlei Dingen. Du wirſt wiſſen, daß manche
Stellen unſerer Gegend noch den Beinamen Peſt
tragen, zum Beiſpiele Peſtwieſe, Peſtſteig, Peſthang;
und wenn du nicht ſo jung wäreſt, ſo würdeſt du
auch die Säule noch geſehen haben, die jezt nicht
mehr vorhanden iſt, die auf dem Marktplaze von
Oberplan geſtanden war, und auf welcher man leſen
konnte, wann die Peſt gekommen iſt, und wann ſie
aufgehört hat, und auf welcher ein Dankgebet zu dem
Gekreuzigten ſtand, der auf dem Gipfel der Säule
prangte.“
„Die Großmutter hat uns von der Peſtſäule er¬
zählt,“ ſagte ich.
„Seitdem aber ſind andere Geſchlechter gekom¬
men,“ fuhr er fort, „die von der Sache nichts wiſſen
und die die Vergangenheit verachten, die Einhegungen
ſind verloren gegangen, die Stellen haben ſich mit
gewöhnlichem Graſe überzogen. Die Menſchen ver¬
geſſen gerne die alte Noth, und halten die Geſundheit
für ein Gut, das ihnen Gott ſchuldig ſei, und das
ſie in blühenden Tagen verſchleudern. Sie achten
nicht der Pläze, wo die Todten ruhen, und ſagen
den Beinamen Peſt mit leichtfertiger Zunge, als ob
ſie einen andern Namen ſagten wie etwa Hagedorn
oder Eiben.“
Wir waren unterdeſſen wieder durch den Hohl¬
weg auf den Kamm der Anhöhe gekommen, und hat¬
ten die Wälder, zu denen wir uns im Heraufgehen
umwenden mußten, um ſie zu ſehen, jezt in unſerem
Angeſichte, und die Sonne neigte ſich in großem Ge¬
pränge über ihnen dem Untergange zu.
„Wenn nicht ſo die Abendſonne gegen uns ſchiene,“
ſagte der Großvater, „und alles in einem feurigen
Rauche ſchwebte, würde ich dir die Stelle zeigen kön¬
nen, von der ich jezt reden werde, und die in unſere
Erzählung gehört. Sie iſt viele Wegeſtunden von
hier, ſie iſt uns gerade gegenüber, wo die Sonne
unterſinkt, und dort ſind erſt die rechten Wälder. Dort
ſtehen die Tannen und Fichten, es ſtehen die Erlen
und Ahorne, die Buchen und andere Bäume wie die
Könige, und das Volk der Gebüſche und das dichte
Gedränge der Gräſer und Kräuter der Blumen der
Beeren und Mooſe ſteht unter ihnen. Die Quellen
gehen von allen Höhen herab, und rauſchen, und
murmeln, und erzählen, was ſie immer erzählt
haben, ſie gehen über Kieſel wie leichtes Glas, und
vereinigen ſich zu Bächen, um hinaus in die Länder
zu kommen, oben ſingen die Vögel, es leuchten die
weißen Wolken, die Regen ſtürzen nieder, und wenn
es Nacht wird, ſcheint der Mond auf alles, daß es
wie ein geneztes Tuch aus ſilbernen Fäden iſt. In
dieſem Walde iſt ein ſehr dunkler See, hinter ihm iſt
eine graue Felſenwand, die ſich in ihm ſpiegelt, an
ſeinen Seiten ſtehen dunkle Bäume, die in das Waſ¬
ſer ſchauen, und vorne ſind Himbeer- und Brombeer¬
gehege, die einen Verhau machen. An der Felſen¬
wand liegt ein weißes Gewirre herabgeſtürzter Bäume,
aus den Brombeeren ſteht mancher weiße Stamm
empor, der von dem Blize zerſtört iſt, und ſchaut auf
den See, große graue Steine liegen hundert Jahre
herum, und die Vögel und das Gewild kommen zu
dem See, um zu trinken.“
„Das iſt der See, Großvater, den ich im Herauf¬
gehen genannt habe,“ ſagte ich, „die Großmutter hat
uns von ſeinem Waſſer erzählt, und den ſeltſamen
Fiſchen, die darin ſind, und wenn ein weißes Wölk¬
lein über ihm ſteht, ſo kömmt ein Gewitter.“
„Und wenn ein weißes Wölklein über ihm ſteht,“
fuhr der Großvater fort, „und ſonſt heiterer Himmel
iſt, ſo geſellen ſich immer mehrere dazu, es wird ein
Wolkenheer, und das löſt ſich von dem Walde los,
und zieht zu uns mit dem Gewitter heraus, das uns
den ſchweren Regen bringt und auch öfter den Hagel.
Am Rande dieſes Waldes, wo heut zu Tage ſchon
Felder ſind, wo aber dazumal noch dichtes Gehölze
war, befand ſich zur Zeit der Peſt eine Pechbrenner¬
hütte. In derſelben wohnte der Mann, von dem ich
dir erzählen will. Mein Großvater hat ſie noch ge¬
kannt, und er hat geſagt, daß man zeitweilig von
dem Walde den Rauch habe aufſteigen ſehen, wie du
heute die Rauchfäden haſt aufſteigen geſehen, da
wir heraufgegangen ſind.“
„Ja Großvater,“ ſagte ich.
„Dieſer Pechbrenner,“ fuhr er fort, „wollte ſich in
der Peſt der allgemeinen Heimſuchung entziehen, die
Gott über die Menſchen verhängt hatte. Er wollte
in den höchſten Wald hinauf gehen, wo nie ein
Beſuch von Menſchen hinkömmt, wo nie eine Luft
von Menſchen hinkömmt, wo alles anders iſt als
unten, und wo er geſund zu bleiben gedachte. Wenn
aber doch einer zu ihm gelangte, ſo wollte er ihn eher
mit einem Schürbaume erſchlagen, als daß er ihn
näher kommen, und die Seuche bringen ließe. Wenn
aber die Krankheit lange vorüber wäre, dann wollte
er wieder zurükkehren, und weiter leben. Als daher
die ſchwarzen Schubkarrenführer, die von ihm die
Wagenſchmiere holten, die Kunde brachten, daß in
den angrenzenden Ländern ſchon die Peſt entſtanden
ſei, machte er ſich auf, und ging in den hohen Wald
hinauf. Er ging aber noch weiter, als wo der See
iſt, er ging dahin, wo der Wald noch iſt, wie er bei
der Schöpfung geweſen war, wo noch keine Menſchen
gearbeitet haben, wo kein Baum umbricht, als wenn
er vom Blize getroffen iſt, oder von dem Winde
umgeſtürzt wird; dann bleibt er liegen, und aus
ſeinem Leibe wachſen neue Bäumchen und Kräuter
empor; die Stämme ſtehen in die Höhe, und zwi¬
ſchen ihnen ſind die unangeſehenen und unangetaſteten
Blumen und Gräſer und Kräuter.“
Während der Großvater dieſes ſagte, war die
Sonne untergegangen. Der feurige Rauch war plöz¬
lich verſchwunden, der Himmel, an welchem keine
einzige Wolke ſtand, war ein goldener Grund gewor¬
den, wie man in alten Gemälden ſieht, und der Wald
ging nun deutlich und dunkelblau in dieſem Grunde
dahin.
„Siehe Kind, jezt können wir die Stelle ſehen,
von der ich rede,“ ſagte der Großvater, „blike da
gerade gegen den Wald, und da wirſt du eine
tiefere blaue Färbung ſehen, das iſt das Beken,
in welchem der See iſt. Ich weiß nicht, ob du es
ſiehſt.“
„Ich ſehe es,“ antwortete ich, „ich ſehe auch die
ſchwachen grauen Streifen, welche die Seewand
bedeuten.“
„Da haſt du ſchärfere Augen als ich,“ erwiederte
der Großvater; „gehe jezt mit den Augen von der
Seewand rechts und gegen den Rand empor, dann
haſt du jene höheren großen Waldungen. Es ſoll ein
Fels dort ſein, der wie ein Hut überhängende Krem¬
pen hat, und wie ein kleiner Auswuchs an dem Wald¬
rande zu ſehen iſt.“
„Großvater, ich ſehe den kleinen Auswuchs.“
„Er heißt der Hutfels, und iſt noch weit oberhalb
des Sees im Hochwalde, wo kaum ein Menſch geweſen
iſt. An dem See ſoll aber ſchon eine hölzerne Woh¬
nung geſtanden ſein. Der Ritter von Wittinghauſen
hat ſie als Zufluchtsort für ſeine zwei Töchter im
Schwedenkriege erbaut. Seine Burg iſt damals ver¬
brannt worden, die Ruinen ſtehen noch wie ein blauer
Würfel aus dem Thomaswalde empor.“
„Ich kenne die Ruine, Großvater.“
„Das Haus war hinter dem See, wo die Wand
es beſchüzte, und ein alter Jäger hat die Mädchen
bewacht. Heut zu Tage iſt von alle dem keine Spur
mehr vorhanden. Von dieſem See ging der Pechbren¬
ner bis zum Hutfels hinan, und ſuchte ſich einen
geeigneten Plaz aus. Er war aber nicht allein, ſon¬
dern es waren ſein Weib und ſeine Kinder mit ihm,
es waren ſeine Brüder, Vettern, Muhmen und Knechte
mit, er hatte ſein Vieh und ſeine Geräthe mitge¬
nommen. Er hatte auch allerlei Sämereien und
Getreide mit geführt, um in der aufgelokerten Erde
anbauen zu können, daß er ſich Vorrath für die
künftigen Zeiten ſammle. Nun baute man die Hütten
für Menſchen und Thiere, man baute die Öfen zum
Brennen der Waare, und man ſäte die Saamen in
die aufgegrabenen Felder. Unter den Leuten im Walde
war auch ein Bruder des Pechbrenners, der nicht in
dem Walde bleiben, ſondern wieder zu der Hütte
zurükkehren wollte. Da ſagte der Pechbrenner, daß
er ihnen ein Zeichen geben ſolle, wenn die Peſt aus¬
gebrochen ſei. Er ſolle auf dem Hausberge in der
Mittagsſtunde eine Rauchſäule aufſteigen laſſen, ſolle
dieſelbe eine Stunde gleichartig dauern laſſen, und
ſolle dann das Feuer dämpfen, daß ſie aufhöre. Dies
ſolle er zur Gewißheit drei Tage hinter einander thun,
daß die Waldbewohner daran ein Zeichen erkennen,
das ihnen gegeben worden ſei. Wenn aber die Seuche
aufgehört habe, ſolle er ihnen auch eine Nachricht
geben, daß ſie hinabgehen könnten, und die Krankheit
nicht bekämen. Er ſolle eine Rauchſäule um die Mit¬
tagsſtunde von dem Hausberge aufſteigen laſſen,
ſolle ſie eine Stunde gleichartig erhalten, und dann
das Feuer löſchen. Dies ſolle er vier Tage hinter
einander thun, aber an jedem Tage eine Stunde
ſpäter; an dieſem beſonderen Vorgange würden ſie
erkennen, daß nun alle Gefahr vorüber ſei. Wenn
er aber erkranke, ſo ſolle er den Auftrag einem Freunde
oder Bekannten als Teſtament hinterlaſſen und dieſer
ihn wieder einem Freunde oder Bekannten, ſo daß
einmal einer eine Rauchſäule errege, und von dem
Pechbrenner eine Belohnung zu erwarten habe.
Kennſt du den Hausberg?“
„Ja, Großvater,“ antwortete ich, „es iſt der
ſchwarze ſpizige Wald, der hinter Pernek empor ſteigt
und auf deſſen Gipfel ein Felsklumpen iſt.“
„Ja,“ ſagte der Großvater, „der iſt es. Es ſollen
einmal drei Brüder gelebt haben, einer auf der Alpe,
einer auf dem Hausberge und einer auf dem Thomas¬
walde. Sie ſollen ſich Zeichen gegeben haben, wenn
einem eine Gefahr drohte, bei Tage einen Rauch bei
Nacht ein Feuer, daß es geſehen würde, und daß die
andern zu Hilfe kämen. Ich weiß nicht ob die Brüder
gelebt haben. In dem hohen Walde wohnten nun die
Ausgewanderten fort, und als die Peſt in unſern
Gegenden ausgebrochen war, ſtieg um die Mittags¬
ſtunde eine Rauchſäule von dem Hausberge empor,
dauerte eine Stunde gleichartig fort, und hörte dann
auf. Dies geſchah drei Tage hinter einander, und die
Leute in dem Walde wußten, was ſich begeben hatte.
— Aber ſiehe, wie es ſchon kühl geworden iſt, und wie
bereits der Thau auf die Gräſer fällt, komme, ich werde
dir dein Jäkchen zumachen, daß du nicht frierſt, und
werde dir dann die Geſchichte weiter erzählen.“
Wir waren während der Erzählung des Gro߬
vaters in die Dürrſchnäbel gekommen, wir waren an
der Drillingsföhre vorüber gegangen, und unter den
dunkeln Stämmen auf dem faſt farbloſen Graſe bis
zu den Feldern von Oberplan gekommen. Der Gro߬
vater legte ſeinen Stok auf den Boden, beugte ſich
zu mir herab, neſtelte mir das Halstuch feſter, richtete
mir das Weſtchen zurecht, und knöpfte mir das Jäk¬
chen zu. Hierauf knöpfte er ſich auch ſeinen Rok
zu, nahm ſeinen Stab, und wir gingen wieder
weiter.
„Siehſt du, mein liebes Kind,“ fuhr er fort, „es
hat aber alles nichts geholfen, und es war nur eine
Verſuchung Gottes. Da die Büſche des Waldes ihre
Blüthen bekommen hatten, weiße und rothe, wie die
Natur will, da aus den Blüthen Beeren geworden
waren, da die Dinge, welche der Pechbrenner in die
Walderde gebaut hatte, aufgegangen und gewachſen
waren, da die Gerſte die goldenen Barthaare bekom¬
men hatte, da das Korn ſchon weißlich wurde, da
die Haberfloken an den kleinen Fädlein hingen, und
das Kartoffelkraut ſeine grünen Kugeln und blaulichen
Blüthen trug: waren alle Leute des Pechbrenners
er ſelber und ſeine Frau bis auf einen einzigen kleinen
Knaben, den Sohn des Pechbrenners, geſtorben.
Der Pechbrenner und ſein Weib waren die lezten
geweſen, und da die Überlebenden immer die Todten
begraben hatten, der Pechbrenner und ſein Weib aber
niemand hinter ſich hatten, und der Knabe zu ſchwach
war, ſie zu begraben, blieben ſie als Todte in ihrer
Hütte liegen. Der Knabe war nun allein in dem
fürchterlichen großen Walde. Er ließ die Thiere aus,
welche in den Ställen waren, weil er ſie nicht füttern
konnte, er dachte, daß ſie an den Gräſern des Waldes
eine Nahrung finden würden, und dann lief er ſelber
von der Hütte weg, weil er den todten Mann und
das todte Weib entſezlich fürchtete. Er ging auf eine
freie Stelle des Waldes, und da war jezt überall
niemand, niemand als der Tod. Wenn er in der
Mitte von Blumen und Geſträuchen nieder kniete und
bethete, oder wenn er um Vater und Mutter und um
die andern Leute weinte und jammerte, und wenn er
dann wieder aufſtand, ſo war nichts um ihn als die
Blumen und Geſträuche, und das Vieh, welches
unter die Bäume des Waldes hinein weidete, und
mit den Gloken läutete. Siehſt du, ſo war es mit
dem Knaben, der vielleicht gerade ſo groß war wie du.
Aber ſiehe, die Pechbrennerknaben ſind nicht wie die
in den Marktfleken oder in den Städten, ſie ſind ſchon
unterrichteter in den Dingen der Natur, ſie wachſen
in dem Walde auf, ſie können mit dem Feuer umgehen,
ſie fürchten die Gewitter nicht, und haben wenig Klei¬
der, im Sommer keine Schuhe und auf dem Haupte
ſtatt eines Hutes die berußten Haare. Am Abende
nahm der Knabe Stahl Stein und Schwamm aus
ſeiner Taſche, und machte ſich ein Feuer; das in den
Öfen der Pechbrenner war längſt ausgegangen, und
erloſchen. Als ihn hungerte, grub er mit der Hand
Kartoffeln aus, die unter den emporwachſenden Reben
waren, und briet ſie in der Glut des Feuers. Zu
Trinken gaben ihm Quellen und Bäche. Am anderen
Tage ſuchte er einen Ausweg aus dem Walde. Er
wußte nicht mehr, wie ſie in den Wald hinauf ge¬
kommen waren. Er ging auf die höchſte Stelle des
Berges, er kletterte auf einen Baum, und ſpähte,
aber er ſah nichts als Wald und lauter Wald. Er
gedachte nun zu immer höhern und höhern Stellen
des Waldes zu gehen, bis er einmal hinaus ſähe,
und das Ende des Waldes erblikte. Zur Nahrung
nahm er jezt auch noch die Körner der Gerſte und
des Kornes, welche er ſamt den Ähren auf einem
Steine über dem Feuer röſtete, wodurch ſich die Haare
und Hülſen verbrannten, oder er löste die rohen
zarten Kornkörner aus den Hülſen, oder er ſchälte
Rüben, die in den Kohlbeeten wuchſen. In den
Nächten hüllte er ſich in Blätter und Zweige und
dekte ſich mit Reiſig. Die Thiere, welche er ausge¬
laſſen hatte, waren fortgegangen, entweder weil ſie
ſich in dem Walde verirrt hatten, oder weil ſie auch
die Todtenhütte ſcheuten, und von ihr flohen; er
hörte das Läuten nicht mehr, und ſie kamen nicht zum
Vorſcheine. Eines Tages, da er die Thiere ſuchte,
fand er auf einem Hügel, auf welchem Brombeeren
und Steine waren, mitten in einem Brombeerenge¬
ſtrüppe ein kleines Mädchen liegen. Dem Knaben
klopfte das Herz außerordentlich, er ging näher, das
Mädchen lebte, aber es hatte die Krankheit, und lag
ohne Bewußtſein da. Er ging noch näher, das Mäd¬
chen hatte weiße Kleider und ein ſchwarzes Mäntel¬
chen an, es hatte wirre Haare, und lag ſo ungefüg in
dem Geſtrippe, als wäre es hinein geworfen worden.
Er rief, aber er bekam keine Antwort, er nahm das
Mädchen bei der Hand, aber die Hand konnte nichts
faſſen, und war ohne Leben. Er lief in das Thal,
ſchöpfte mit ſeinem alten Hute, den er aus der Hütte
mitgenommen hatte, Waſſer, brachte es zu dem Mäd¬
chen zurük, und befeuchtete ihm die Lippen. Dies that
er nun öfter. Er wußte nicht, womit dem Kinde zu
helfen wäre, und wenn er es auch gewußt hätte, ſo
hätte er nichts gehabt, um es ihm zu geben. Weil er
durch das verworrene Geſtrippe nicht leicht zu dem
Plaze gelangen konnte, auf welchem das Mädchen
lag, ſo nahm er nun einen großen Stein, legte ihn
auf die kriechenden Ranken der Brombeeren, und
wiederholte das ſo lange, bis er die Brombeeren be¬
dekt hatte, bis ſie niedergehalten wurden, und die
Steine ein Pflaſter bildeten. Auf dieſes Pflaſter kniete
er nieder, rükte das Kind, ſah es an, ſtrich ihm die
Haare zurecht, und weil er keinen Kamm hatte, ſo
Stifter, Jugendſchriften. I. 5
wiſchte er die naſſen Loken mit ſeinen Händen ab,
daß ſie wieder ſchönen feinen menſchlichen Haaren
glichen. Weil er aber das Mädchen nicht heben konnte,
um es auf einen beſſeren Plaz zu tragen, ſo lief er
auf den Hügel, riß dort das dürre Gras ab, riß die
Halme ab, die hoch an dem Geſteine wachſen, ſam¬
melte das trokene Laub, das von dem vorigen Herbſte
übrig war, und das entweder unter Geſtrippen hing,
oder von dem Winde in Steinklüfte zuſammen geweht
worden war, und that alles auf einen Haufen. Da
es genug war, trug er es zu dem Mädchen, und
machte ihm ein weicheres Lager. Er that die Dinge
an jene Stellen unter ihrem Körper, wo ſie am mei¬
ſten noth thaten. Dann ſchnitt er mit ſeinem Meſſer
Zweige von den Geſträuchen, ſtekte ſie um das Kind
in die Erde, band ſie an den Spizen mit Gras und
Halmen zuſammen, und legte noch leichte Äſte darauf,
daß ſie ein Dach bildeten. Auf den Körper des Mäd¬
chens legte er Zweige, und bedekte ſie mit breitblätt¬
rigen Kräutern zum Beiſpiele mit Huflattig, daß ſie
eine Deke bildeten. Für ſich holte er dann Nahrung
aus den Feldern des todten Vaters. Bei der Nacht
machte er ein Feuer aus zuſammen getragenem Holze
und Moder. So ſaß er bei Tage bei dem bewußtloſen
Kinde, hüthete es, und ſchüzte es vor Thieren und
Fliegen, bei Nacht unterhielt er ein glänzendes Feuer.
Siehe das Kind ſtarb aber nicht, ſondern die Krank¬
heit beſſerte ſich immer mehr und mehr, die Wänglein
wurden wieder lieblicher und ſchöner, die Lippen
bekamen die Roſenfarbe, und waren nicht mehr ſo
bleich und gelblich, und die Äuglein öffneten ſich, und
ſchauten herum. Es fing auch an zu eſſen, es aß die
Erdbeeren, die noch zu finden waren, es aß Him¬
beeren, die ſchon reiften, es aß die Kerne der Haſel¬
nüſſe, die zwar nicht reif aber ſüß und weich waren,
es aß endlich ſogar das weiße Mehl der gebratenen
Kartoffeln und die zarten Körner des Kornes, was ihm
alles der Knabe brachte, und reichte; und wenn es
ſchlief, ſo lief er auf den Hügel, und erkletterte einen
Felſen, um überall herum zu ſpähen, auch ſuchte er
wieder die Thiere, weil die Milch jezt recht gut ge¬
weſen wäre. Aber er konnte nichts erſpähen, und
konnte die Thiere nicht finden. Da das Mädchen
ſchon ſtärker war, und mithelfen konnte, brachte er
es an einen Plaz, wo überhängende Äſte es ſchüzten,
aber da er dachte, daß ein Gewitter kommen, und der
Regen durch die Äſte ſchlagen könnte, ſo ſuchte er eine
Höhle, die troken war, dort machte er ein Lager, und
brachte das Mädchen hin. Eine Steinplatte ſtand
oben über die Stätte, und ſie konnten ſchön auf den
5*
Wald hinausſehen. Ich habe dir geſagt, daß jene
Krankheit ſehr heftig war, daß die Menſchen in fünf
bis ſechs Stunden geſund und todt waren; aber ich
ſage dir auch: wer die Krankheit überſtand, der war
ſehr bald geſund, nur daß er lange Zeit ſchwach blieb,
und lange Zeit ſich pflegen mußte. In dieſer Höhle
blieben nun die Kinder, und der Knabe ernährte das
Mädchen, und that ihm alles und jedes Gute, was
es nothwendig hatte. Nun erzählte ihm auch das
Mädchen wie es in den Wald gekommen ſei. Vater
und Mutter und mehrere Leute hätten ihre ferne Hei¬
math verlaſſen, als ſich die Krankheit genähert habe,
um höhere Orte zu ſuchen, wo ſie von dem Übel nicht
erreicht werden würden. In dem großen Walde ſeien
ſie irre gegangen, der Vater und die Mutter ſeien
geſtorben, und das Mädchen ſei allein übrig geblie¬
ben. Wo Vater und Mutter geſtorben ſeien, wo die
andern Leute hingekommen, wie es ſelber in die Brom¬
beeren gerathen ſei, wußte es nicht. Auch konnte es
nicht ſagen, wo die Heimath ſei. Der Knabe erzählte
dem Mädchen auch, wie ſie ihre Hütte verlaſſen
hätten, wie alle in den Wald gegangen wären, und
wie ſie geſtorben ſeien, und er allein nur am Leben
geblieben wäre. Siehſt du, ſo ſaſſen die Kinder in
der Höhle, wenn der Tag über den Wald hinüber
zog, und das Grüne beleuchtete, die Vöglein ſangen,
die Bäume glänzten, und die Bergſpizen leuchteten;
oder ſie ſchlummerten wenn es Nacht war, wenn es
finſter und ſtill war, oder der Schrei eines wilden
Thieres tönte, oder der Mond am Himmel ſtand,
und ſeine Strahlen über die Wipfel goß. Du kannſt
dir denken, wie es war, wenn du betrachteſt, wie
ſchon hier die Nacht iſt, wie der Mond ſo ſchauer¬
lich in den Wolken ſteht, wo wir doch ſchon ſo
nahe an den Häuſern ſind, und wie er auf die
ſchwarzen Vogelbeerbäume unſers Nachbars hernieder
ſcheint.“
Wir waren, während der Großvater erzählte,
durch die Felder von Oberplan herab gegangen, wir
waren über die Wieſe gegangen, in welcher das
Behringer Brünnlein iſt, wir waren über die Stein¬
wand geſtiegen, wir waren über den weichen Raſen
gegangen, und näherten uns bereits den Häuſern von
Oberplan. Es war indeſſen völlig Nacht geworden,
der halbe Mond ſtand am Himmel, viele Wolken
hatten ſich aufgethürmt, die er beglänzte, und ſeine
Strahlen fielen gerade auf die Vogelbeerbäume, die
in dem Garten unſers Nachbars ſtanden.
„Nachdem das Mädchen ſehr ſtark geworden war,“
fuhr der Großvater fort, „dachten die Kinder daran
aus dem Walde zu gehen. Sie berathſchlagten unter
ſich, wie ſie das anſtellen ſollten. Das Mädchen
wußte gar nichts; der Knabe aber ſagte, daß alle
Wäſſer abwärts rinnen, daß ſie fort und fort rinnen,
ohne ſtille zu ſtehen, daß der Wald ſehr hoch ſei, und
daß die Wohnungen der Menſchen ſehr tief liegen,
daß bei ihrer Hütte ſelber ein breites rinnendes Waſ¬
ſer vorbeigegangen wäre, daß ſie von dieſer Hütte in
den Wald geſtiegen ſeien, daß ſie immer aufwärts
und aufwärts gegangen, und mehreren herabfließen¬
den Waſſern begegnet ſeien; wenn man daher an
einem rinnenden Waſſer immer abwärts gehe, ſo
müſſe man aus dem Walde hinaus und zu Menſchen
gelangen. Das Mädchen ſah das ein, und mit
Freuden beſchloſſen ſie ſo zu thun. Sie rüſteten ſich
zur Abreiſe. Von den Feldern nahmen ſie Kartoffeln,
ſo viel ſie tragen konnten, und viele zuſammen gebun¬
dene Büſchel von Ähren. Der Knabe hatte aus ſeiner
Jake einen Sak gemacht, und für Erdbeeren und
Himbeeren machte er ſchöne Täſchchen aus Birken¬
rinde. Dann brachen ſie auf. Sie ſuchten zuerſt den
Bach in dem Thale, aus dem ſie bisher getrunken
hatten, und gingen dann an ſeinem Waſſer fort.
Siehſt du, der Knabe leitete das Mädchen, weil es
ſchwach war, und weil er in dem Walde erfahrener
war; er zeigte ihm die Steine, auf die es treten, er
zeigte ihm die Dornen und ſpizigen Hölzer, die es
vermeiden ſollte, er führte es an ſchmalen Stellen,
und wenn große Felſen oder Dikichte und Sümpfe
kamen, ſo wichen ſie ſeitwärts aus, und lenkten dann
klug immer wieder der Richtung des Baches zu. So
gingen ſie immer fort. Wenn ſie müde waren, ſezten
ſie ſich nieder, und raſteten, wenn ſie ausgeraſtet hat¬
ten gingen ſie weiter. Am Mittage machte er ein
Feuer, und ſie brieten Kartoffeln, und röſteten ſich
ihre Getreideähren. Das Waſſer ſuchte er in einer
Quelle oder in einem kalten Bächlein, die winzig
über weißen Sand aus der ſchwarzen Walderde oder
aus Gebüſch und Steinen hervorrannen. Wenn ſie
Stellen trafen wo Beeren und Nüſſe ſind, ſo ſam¬
melten ſie dieſe. Bei der Nacht machte er ein Feuer,
machte dem Mädchen ein Lager, und bettete ſich ſel¬
ber wie er ſich in den erſten Tagen im Walde gebettet
hatte. So wanderten ſie weiter. Sie gingen an vielen
Bäumen vorüber, an der Tanne mit dem herab¬
hängenden Bartmooſe, an der zerriſſenen Fichte, an
dem langarmigen Ahorne, an dem weißgeflekten
Buchenſtamme mit den lichtgrünen Blättern, ſie
gingen an Blumen Gewächſen und Steinen vorüber,
ſie gingen unter dem Singen der Vögel dahin, ſie
gingen an hüpfenden Eichhörnchen vorüber oder an
einem weidenden Reh. Der Bach ging um Hügel
herum, oder er ging in gerader Richtung, oder er
wand ſich um die Stämme der Bäume. Er wurde
immer größer, unzählige Seitenbächlein kamen aus
den Thälern heraus, und zogen mit ihm, von dem
Laube der Bäume und von den Gräſern tropften ihm
Tropfen zu, und zogen mit ihm. Er rauſchte über
die Kieſel, und erzählte gleichſam den Kindern. Nach
und nach kamen andere Bäume, an denen der Knabe
recht gut erkannte, daß ſie nach auswärts gelangten;
die Zakentanne, die Fichte mit dem rauhen Stamme,
die Ahorne mit den großen Äſten und die knollige
Buche hörten auf, die Bäume waren kleiner friſcher
reiner und zierlicher. An dem Waſſer ſtanden Erlenge¬
büſche, mehrere Weiden ſtanden da, der wilde Apfel¬
baum zeigte ſeine Früchte, und der Waldkirſchenbaum
gab ihnen ſeine kleinen ſchwarzen ſüſſen Kirſchen. Nach
und nach kamen Wieſen, es kamen Hutweiden, die
Bäume lichteten ſich, es ſtanden nur mehr Gruppen,
und mit einem Male, da der Bach ſchon als ein
breites ruhiges Waſſer ging, ſahen ſie die Felder und
Wohnungen der Menſchen. Die Kinder jubelten, und
gingen zu einem Hauſe. Sie waren nicht in die Hei¬
math des Knaben hinaus gekommen, ſie wußten
nicht, wo ſie hingekommen waren, aber ſie wurden
recht freundlich aufgenommen, und von den Leuten in
die Pflege genommen. Inzwiſchen ſtieg wieder eine
Rauchſäule von dem Hausberge empor, ſie ſtieg in
der Mittagsſtunde auf, blieb eine Stunde gleichartig
und hörte dann auf. Dies geſchah vier Tage hinter
einander, an jedem Tage um eine Stunde ſpäter:
aber es war niemand da, das Zeichen verſtehen zu
können.“
Als der Großvater bis hieher erzählt hatte,
waren wir an unſerem Hauſe angekommen.
Er ſagte: „Da wir müde ſind, und da es ſo
warm iſt, ſo ſezen wir uns ein wenig auf den Stein,
ich werde dir die Geſchichte zu Ende erzählen.“
Wir ſezten uns auf den Stein, und der Gro߬
vater fuhr fort: „Als man in Erfahrung gebracht
hatte, wer der Knabe ſei, und wohin er gehöre,
wurde er ſamt dem Mädchen in die Pechbrennerhütte
zu dem Oheime gebracht. Der Oheim ging in den
Wald hinauf, und verbrannte vor Entſezen die Wald¬
hütte, in welcher der todte Pechbrenner mit ſeinem
Weibe lag. Auch das Mädchen wurde von ſeinen
Verwandten ausgekundſchaftet, und in der Pechbren¬
nerhütte abgeholt. Siehſt du, es iſt in jenen Zeiten
auch in andern Theilen der Wälder die Peſt ausge¬
brochen, und es ſind viele Menſchen an ihr geſtorben;
aber es kamen wieder andere Tage, und die Geſund¬
heit war wieder in unſern Gegenden. Der Knabe
blieb nun bei dem Oheime in der Hütte, wurde dort
größer und größer, und ſie betrieben das Geſchäft
des Brennens von Wagenſchmiere Terpentin und
andern Dingen. Als ſchon viele Jahre vergangen
waren, als der Knabe ſchon beinahe ein Mann ge¬
worden war, kam einmal ein Wägelchen vor die
Pechbrennerhütte gefahren. In dem Wägelchen ſaß
eine ſchöne Jungfrau, die ein weißes Kleid und ein
ſchwarzes Mäntelchen an hatte, und an der Bruſt
ein Brombeerſträuslein trug. Sie hatte die Wangen,
die Augen und die feinen Haare des Waldmädchens.
Sie war gekommen den Knaben zu ſehen, der ſie ge¬
rettet, und aus dem Walde geführt hatte. Sie und
der alte Vetter, der ſie begleitete, bathen den Jüng¬
ling, er möchte mit ihnen in das Schloß des Mäd¬
chens gehen, und dort leben. Der Jüngling, der das
Mädchen auch recht liebte, ging mit. Er lernte dort
allerlei Dinge, wurde immer geſchikter, und wurde
endlich der Gemahl des Mädchens, das er zur Zeit
der Peſt in dem Walde gefunden hatte. Siehſt du,
da bekam er ein Schloß, er bekam Felder, Wieſen,
Wälder, Wirthſchaften und Geſinde, und wie er ſchon
in der Jugend verſtändig und aufmerkſam geweſen
war, ſo vermehrte und verbeſſerte er alles, und wurde
von ſeinen Untergebenen, von ſeinen Nachbarn und
Freunden und von ſeinem Weibe geachtet und geliebt.
Er ſtarb als ein angeſehener Mann, der im ganzen
Lande geehrt war. Wie verſchieden die Schikſale der
Menſchen ſind. Seinen Oheim hat er oft eingeladen
zu kommen bei ihm zu wohnen und zu leben, dieſer
aber blieb in der Pechbrennerhütte, und betrieb das
Brenngeſchäft fort und fort, und als der Wald immer
kleiner wurde, als die Felder und Wieſen bis zu ſeiner
Hütte vorgerükt waren, ging er tiefer in das Gehölze,
und trieb dort das Brennen der Wagenſchmiere wei¬
ter. Seine Nachkommen die er erhielt, als er in den
Eheſtand getreten war, blieben bei der nehmlichen Be¬
ſchäftigung, und von ihm ſtammt der alte Andreas
ab, der auch nur ein Wagenſchmierfuhrmann iſt, und
nichts kann, als im Lande mit ſeinem ſchwarzen Faſſe
herum ziehen, und thörichten Knaben, die es nicht
beſſer verſtehen, die Füſſe mit Wagenſchmiere an¬
ſtreichen.“
Mit dieſen Worten hörte der Großvater zu erzäh¬
len auf. Wir blieben aber noch immer auf dem Steine
ſizen. Der Mond hatte immer heller und heller ge¬
ſchienen, die Wolken hatten ſich immer länger und
länger geſtrekt, und ich ſchaute ſtets auf den ſchwarzen
Vogelbeerbaum des Nachbars.
Da ſtrekte ſich das Antliz der Großmutter aus der
Thür heraus, und ſie fragte, ob wir denn nicht zum
Eſſen gehen wollten. Wir gingen nun in die Stube
der Großeltern, die Großmutter that ein ſchönes aus
braun- und weißgeſtreiftem Pflaumenholze verfertig¬
tes Hängetiſchchen von der Wand herab, überdekte es
mit weißen Linnen, gab uns Teller, und Eßgeräthe,
und ſtellte ein Huhn mit Reis auf. Da wir aßen,
ſagte ſie mit böſer Miene, daß der Großvater noch
thörichter und unbeſonnener ſei als der Enkel, weil
er zum Waſchen von Wagenſchmierfüſſen eine grün¬
glaſirte Schüſſel genommen habe, ſo daß man ſie jezt
aus Ekel zu nichts mehr verwenden könne.
Der Großvater lächelte und ſagte: „So zerbrechen
wir die Schüſſel, daß ſie nicht einmal aus, Unacht¬
ſamkeit doch genommen wird, und kaufen eine neue;
es iſt doch beſſer, als wenn der Schelm länger in der
Angſt geblieben wäre. Du nimmſt dich ja auch um
ihn an.“
Bei dieſen Worten zeigte er gegen den Ofen, wo
in einem kleinen Wännchen meine Pechhöschen ein¬
geweicht waren.
Als wir gegeſſen hatten, ſagte der Großvater, daß
ich nun ſchlafen gehen ſolle, und er geleitete mich ſelber
in meine Schlafkammer. Als wir durch das Vorhaus
gingen, wo ich in ſolche Strafe gekommen war,
zwitſcherten die jungen Schwalben leiſe in ihrem Neſte
wie ſchlaftrunken, in der großen Stube brannte ein
Lämpchen auf dem Tiſche, das alle Samſtagsnächte
die ganze Nacht zu Ehren der heiligen Jungfrau
brannte, in dem Schlafgemache der Eltern lag der
Vater in dem Bette, hatte ein Licht neben ſich, und
las, wie er gewöhnlich zu thun pflegte; die Mutter
war nicht zu Hauſe, weil ſie bei einer kranken
Muhme war. Da wir den Vater gegrüßt hatten, und
er freundlich geantwortet hatte, gingen wir in das
Schlafzimmer der Kinder. Die Schweſter und die
kleinen Brüderchen ſchlummerten ſchon. Der Gro߬
vater half mir, mich entkleiden, und er blieb bei mir,
bis ich gebethet und das Dekchen über mich gezogen
hatte. Dann ging er fort. Aber ich konnte nicht
ſchlafen, ſondern dachte immer an die Geſchichte, die
mir der Großvater erzählt hatte, ich dachte an dieſen
Umſtand und an jenen, und es fiel mir mehreres ein,
um was ich fragen müſſe. Endlich machte doch die
Müdigkeit ihr Recht gelten, und der Schlaf ſenkte ſich
auf die Augen. Als ich noch im halben Entſchlummern
war, ſah ich bei dem Scheine des Lichtes, das aus
dem Schlafzimmer der Eltern herein fiel, daß die
Mutter herein ging, ohne daß ich mich zu vollem
Bewußtſein empor richten konnte. Sie ging zu dem
Gefäße des Weihbrunnens, nezte ſich die Finger,
ging zu mir, beſprizte mich, und machte mir das
Kreuzzeichen auf Stirn, Mund und Bruſt, ich erkannte,
daß alles verziehen ſei, und ſchlief nun plözlich mit
Verſöhnungfreuden, ich kann ſagen, beſeligt ein.
Aber der erſte Schlaf iſt doch kein ruhiger gewe¬
ſen. Ich hatte viele Sachen bei mir, Todte, Sterbende,
Peſtkranke, Drillingsföhren, das Waldmädchen, den
Machtbauer, des Nachbars Vogelbeerbaum, und der
alte Andreas ſtrich mir ſchon wieder die Füſſe an.
Aber der Verlauf des Schlafes muß gut geweſen ſein;
denn als man mich erwekte ſchien die Sonne durch die
Fenſter herein, es war ein lieblicher Sonntag, alles
war feſtlich, wir bekamen nach dem Gebethe das Feſt¬
tagsfrühſtük, bekamen die Feſttagskleider, und als
ich auf die Gaſſe ging, war alles rein friſch und klar,
die Dinge der Nacht waren dahin, und der Vogel¬
beerbaum des Nachbars war nicht halb ſo groß als
geſtern. Wir erhielten unſere Gebethbücher, und
gingen in die Kirche, wo wir den Vater und Gro߬
vater auf ihren Pläzen in dem Bürgerſtuhle ſahen.
Seitdem ſind viele Jahre vergangen, der Stein
liegt noch vor dem Vaterhauſe, aber jezt ſpielen die
Kinder der Schweſter darauf, und oft mag das alte
Mütterlein auf ihm ſizen, und nach den Weltgegenden
ausſchauen, in welche ihre Söhne zerſtreut ſind.
Wie es aber auch ſeltſame Dinge in der Welt
gibt, die ganze Geſchichte des Großvaters weiß ich,
ja durch lange Jahre, wenn man von ſchönen Mäd¬
chen redete, fielen mir immer die feinen Haare des
Waldmädchens ein: aber von den Pechſpuren, die
alles einleiteten, weiß ich nichts mehr, ob ſie durch
Waſchen oder durch Abhobeln weggegangen ſind, und
oft, wenn ich eine Heimreiſe beabſichtigte, nahm ich
mir vor die Mutter zu fragen, aber auch das vergaß
ich jedes Mal wieder.
II.
Kalkſtein.
Stifter, Jugendſchriften. I. 6
Ich erzähle hier eine Geſchichte, die uns einmal
ein Freund erzählt hat, in der nichts Ungewöhnliches
vorkömmt, und die ich doch nicht habe vergeſſen kön¬
nen. Unter zehn Zuhörern werden neun den Mann,
der in der Geſchichte vorkömmt, tadeln, der zehnte
wird oft an ihn denken. Die Gelegenheit zu der
Geſchichte kam von einem Streite, der ſich in der
Geſellſchaft von uns Freunden darüber entſpann,
wie die Geiſtesgaben an einem Menſchen vertheilt
ſein können. Einige behaupteten, es könne ein Menſch
mit einer gewiſſen Gabe außerordentlich bedacht ſein,
und die andern doch nur in einem geringen Maße
beſizen. Man wies dabei auf die ſogenannten Vir¬
tuoſen hin. Andere ſagten, die Gaben der Seele ſeien
immer im gleichen Maße vorhanden, entweder alle
gleich groß oder gleich mittelmäßig oder gleich klein,
6*
nur hänge es von dem Geſchike ab, welche Gabe
vorzüglich ausgebildet wurde, und dies rufe den
Anſchein einer Ungleichheit hervor. Raphael hätte
unter andern Jugendeindrüken und Zeitverhältniſſen
ſtatt eines großen Malers ein großer Feldherr werden
können. Wieder andere meinten, wo die Vernunft
als das überſinnliche Vermögen und als das höchſte
Vermögen des Menſchen überhaupt in großer Fülle
vorhanden ſei, da ſeien es auch die übrigen unterge¬
ordneten Fähigkeiten. Das Umgekehrte gelte jedoch
nicht; es könne eine niedere Fähigkeit beſonders
hervorragen, die höhern aber nicht. Wohl aber, wenn
was immer für eine Begabung, ſie ſei ſelber hoch oder
niedrig, bedeutend iſt, müſſen es auch die ihr unter¬
geordneten ſein. Als Grund gaben ſie an, daß die
niedere Fähigkeit immer die Dienerin der höhern ſei,
und daß es ein Widerſinn wäre, die höhere gebie¬
thende Gabe zu beſizen und die niedere dienende nicht.
Endlich waren noch einige, die ſagten, Gott habe die
Menſchen erſchaffen, wie er ſie erſchaffen habe, man
könne nicht wiſſen, wie er die Gaben vertheilt habe,
und könne darüber nicht hadern, weil es ungewiß
ſei, was in der Zukunft in dieſer Beziehung noch zum
Vorſcheine kommen könne. Da erzählte mein Freund
ſeine Geſchichte.
Ihr wißt alle, ſagte er, daß ich mich ſchon ſeit
vielen Jahren mit der Meßkunſt beſchäftige, daß ich
in Staatsdienſten bin, und daß ich mit Aufträgen
dieſer Art von der Regierung bald hierhin bald dort¬
hin geſendet wurde. Da habe ich verſchiedene Lan¬
destheile und verſchiedene Menſchen kennen gelernt.
Einmal war ich in der kleinen Stadt Wengen, und
hatte die Ausſicht, noch recht lange dort bleiben zu
müſſen, weil ſich die Geſchäfte in die Länge zogen,
und noch dazu mehrten. Da kam ich öfter in das nahe
gelegene Dorf Schauendorf, und lernte deſſen Pfarrer
kennen, einen vortrefflichen Mann, der die Obſtbaum¬
zucht eingeführt, und gemacht hatte, daß das Dorf,
das früher mit Heken, Dikicht und Geniſte umgeben
war, jezt einem Garten glich, und in einer Fülle
freundlicher Obſtbäume da lag. Einmal war ich von
ihm zu einer Kirchenfeierlichkeit geladen, und ich ſagte,
daß ich ſpäter kommen würde, da ich einige nothwen¬
dige Arbeiten abzuthun hätte. Als ich mit meinen
Arbeiten fertig war, begab ich mich auf den Weg
nach Schauendorf. Ich ging über die Feldhöhen hin,
ich ging durch die Obſtbäume, und da ich mich dem
Pfarrhofe näherte, ſah ich, daß das Mittagsmal
bereits begonnen haben müſſe. In dem Garten, der
wie bei vielen katholiſchen Pfarrhöfen vor dem Hauſe
lag, war kein Menſch, die gegen den Garten gehenden
Fenſter waren offen, in der Küche, in die mir ein
Einblik gegönnt war, waren die Mägde um das Feuer
vollauf beſchäftigt, und aus der Stube drang einzel¬
nes Klappern der Teller und Klirren der Eßgeräthe.
Da ich eintrat, ſah ich die Gäſte um den Tiſch ſizen,
und ein unberührtes Gedeke für mich aufbewahrt.
Der Pfarrer führte mich zu demſelben hin, und
nöthigte mich zum Sizen. Er ſagte, er wolle mir
die anweſenden Mitglieder nicht vorſtellen, und ihren
Namen nicht nennen, einige ſeien mir ohnehin be¬
kannt, andere würde ich im Verlaufe des Eſſens ſchon
kennen lernen, und die übrigen würde er mir, wenn
wir aufgeſtanden wären, nennen. Ich ſezte mich alſo
nieder, und was der Pfarrer vorausgeſagt hatte,
geſchah. Ich wurde mit manchem Anweſenden bekannt,
von manchem erfuhr ich Namen und Verhältniſſe, und
da die Gerichte ſich ablöſeten, und der Wein die
Zungen öffnete, war manche junge Bekanntſchaft
ſchon wie eine alte. Nur ein einziger Gaſt war nicht
zu erkennen. Lächelnd und freundlich ſaß er da, er
hörte aufmerkſam alles an, er wandte immer das An¬
geſicht der Gegend, wo eifrig geſprochen wurde, zu,
als ob ihn eine Pflicht dazu antriebe, ſeine Mienen
gaben allen Redenden recht, und wenn an einem an¬
dern Orte das Geſpräch wieder lebhafter wurde, wandte
er ſich dorthin, und hörte zu. Selber aber ſprach er
kein Wort. Er ſaß ziemlich weit unten, und ſeine ſchwarze
Geſtalt ragte über das weiße Linnengedeke der Tafel
empor, und obwohl er nicht groß war, ſo richtete er ſich
nie vollends auf, als hielte er das für unſchiklich. Er
hatte den Anzug eines armen Landgeiſtlichen. Sein Rok
war ſehr abgetragen, die Fäden waren daran ſichtbar,
er glänzte an manchen Stellen, und an andern hatte er
die ſchwarze Farbe verloren, und war röthlich oder
fahl. Die Knöpfe daran waren von ſtarkem Bein.
Die ſchwarze Weſte war ſehr lang, und hatte eben¬
falls beinerne Knöpfe. Die zwei winzig kleinen Läpp¬
chen von weißer Farbe — das einzige Weiße, das er
an ſich hatte — die über ſein ſchwarzes Halstuch
herabgingen, bezeugten ſeine Würde. Bei den Ärmeln
gingen, wie er ſo ſaß, manchmal ein ganz klein
wenig eine Art Handkrauſen hervor, die er immer
bemüht war wieder heimlich zurük zu ſchieben. Viel¬
leicht waren ſie in einem Zuſtande, daß er ſich ihrer
ein wenig hätte ſchämen müſſen. Ich ſah, daß er von
keiner Speiſe viel nahm, und dem Aufwärter, der
ſie darreichte, immer höflich dankte. Als der Nachtiſch
kam, nippte er kaum von dem beſſeren Weine, nahm
von dem Zukerwerke nur kleine Stükchen, und legte
nichts auf ſeinen Teller heraus, wie doch die andern
thaten, um nach der Sitte ihren Angehörigen eine
kleine Erinnerung zu bringen.
Dieſer Eigenheiten willen fiel mir der Mann auf.
Als das Mal vorüber war, und die Gäſte ſich
erhoben hatten, konnte ich auch den übrigen Theil
ſeines Körpers betrachten. Die Beinkleider waren von
demſelben Stoffe und in demſelben Zuſtande wie der
Rok, ſie reichten bis unter die Knie, und waren dort
durch Schnallen zuſammen gehalten. Dann folgten
ſchwarze Strümpfe, die aber faſt grau waren. Die
Füſſe ſtanden in weiten Schuhen, die große Schnallen
hatten. Sie waren von ſtarkem Leder, und hatten
dike Sohlen. So angezogen ſtand der Mann, als
ſich Gruppen zu Geſprächen gebildet hatten, faſt
allein da, und ſein Rüken berührte beinahe den
Fenſterpfeiler. Sein körperliches Ausſehen ſtimmte zu
ſeinem Anzuge. Er hatte ein längliches ſanftes faſt
eingeſchüchtertes Angeſicht mit ſehr ſchönen klaren
blauen Augen. Die braunen Haare gingen ſchlicht
gegen hinten zuſammen, es zogen ſich ſchon weiße
Fäden durch ſie, die anzeigten, daß er ſich bereits den
fünfzig Jahren nähere, oder daß er Sorge und Kum¬
mer gehabt haben müſſe.
Nach kurzer Zeit ſuchte er aus einem Winkel ein
ſpaniſches Rohr hervor, das einen ſchwarzen Bein¬
knopf hatte, wie die an ſeinen Kleidern waren,
näherte ſich dem Hausherrn, und begann Abſchied zu
nehmen. Der Hausherr fragte ihn, ob er denn ſchon
gehen wolle, worauf er antwortete, es ſei für ihn
ſchon Zeit, er habe vier Stunden nach ſeinem Pfarr¬
hofe zu gehen, und ſeine Füſſe ſeien nicht mehr ſo
gut, wie in jüngeren Jahren. Der Pfarrer hielt ihn
nicht auf. Er empfahl ſich allſeitig, ging zur Thür
hinaus und gleich darauf ſahen wir ihn durch die
Kornfelder dahin wandeln, den Hügel, der das Dorf
gegen Sonnenuntergang begrenzte, hinan ſteigen,
und dort gleichſam in die glänzende Nachmittagsluft
verſchwinden.
Ich fragte, wer der Mann wäre, und erfuhr,
daß er in einer armen Gegend Pfarrer ſei, daß er
ſchon ſehr lange dort ſei, daß er nicht weg verlange,
und daß er ſelten das Haus verlaſſe außer bei einer
ſehr dringenden Veranlaſſung. —
Es waren ſeit jenem Gaſtmale viele Jahre ver¬
gangen, und ich hatte den Mann vollſtändig ver¬
geſſen, als mich mein Beruf einmal in eine fürchter¬
liche Gegend rief. Nicht daß Wildniſſe Schlünde
Abgründe Felſen und ſtürzende Wäſſer dort geweſen
wären — das alles zieht mich eigentlich an — ſon¬
dern es waren nur ſehr viele kleine Hügel da, jeder
Hügel beſtand aus naktem grauem Kalkſteine, der
aber nicht, wie es oft bei dieſem Geſteine der Fall iſt,
zerriſſen war, oder ſteil abfiel, ſondern in rundlichen
breiten Geſtalten auseinander ging, und an ſeinem
Fuße eine lange geſtrekte Sandbank um ſich herum
hatte. Durch dieſe Hügel ging in großen Windungen
ein kleiner Fluß Namens Zirder. Das Waſſer des
Fluſſes, das in der grauen und gelben Farbe des
Steines und Sandes durch den Widerſchein des
Himmels oft dunkelblau erſchien, dann die ſchmalen
grünen Streifen, die oft am Saume des Waſſers
hingingen, und die andern einzelnen Raſenfleke, die
in dem Geſteine hie und da lagen, bildeten die ganze
Abwechſlung und Erquikung in dieſer Gegend.
Ich wohnte in einem Gaſthofe, der in einem
etwas beſſeren und darum ſehr entfernten Theile der
Gegend lag. Es ging dort eine Straſſe über eine
Anhöhe, und führte, wie das in manchen Gegenden
der Fall iſt, den Namen Hochſtraſſe, welchen Namen
auch der Gaſthof hatte. Um nicht durch Hin- und
Hergehen zu viele Zeit zu verlieren, nahm ich mir
immer kalte Speiſen und Wein auf meinen Arbeits¬
plaz mit, und aß erſt am Abende mein Mittagsmal.
Einige meiner Leute wohnten auch in dem Gaſthofe,
die andern richteten ſich ein, wie es ging, und bauten
ſich kleine hölzerne Hüttchen in dem Steinlande.
Die Gegend Namens Steinkar, obwohl ſie im
Grunde nicht außerordentlich abgelegen iſt, wird doch
wenigen Menſchen bekannt ſein, weil keine Veran¬
laſſung iſt, dorthin zu reiſen.
Eines Abends, als ich von meinen Arbeiten allein
nach Hauſe ging, weil ich meine Leute vorausge¬
ſchikt hatte, ſah ich meinen armen Pfarrer auf einem
Sandhaufen ſizen. Er hatte ſeine großen Schuhe
faſt in den Sand vergraben, und auf den Schößen
ſeines Rokes lag Sand. Ich erkannte ihn in dem
Augenblike. Er war ungefähr ſo gekleidet wie damals,
als ich ihn zum erſten Male geſehen hatte. Seine
Haare waren jezt viel grauer, als hätten ſie ſich
beeilt, dieſe Farbe anzunehmen, ſein längliches An¬
geſicht hatte deutliche Falten bekommen, und nur die
Augen waren blau und klar wie früher. An ſeiner
Seite lehnte das Rohr mit dem ſchwarzen Beinknopfe.
Ich hielt in meinem Gange inne, trat näher zu
ihm, und grüßte ihn.
Er hatte keinen Gruß erwartet, daher ſtand er
eilfertig auf, und bedankte ſich. In ſeinen Mienen
war keine Spur vorhanden, daß er mich erkenne; es
konnte auch nicht ſein; denn bei jenem Gaſtmale hat
er mich gewiß viel weniger betrachtet als ich ihn. Er
blieb nur ſo vor mir ſtehen, und ſah mich an. Ich
ſagte daher, um ein Geſpräch einzuleiten: „Euer Ehr¬
würden werden mich nicht mehr kennen.“
„Ich bin nicht der Ehre theilhaftig,“ antwor¬
tete er.
„Aber ich habe die Ehre gehabt,“ ſagte ich auf
den Ton ſeiner Höflichkeit eingehend, „mit Euer Ehr¬
würden an ein und derſelben Tafel zu ſpeiſen.“
„Ich kann mich nicht mehr erinnern,“ erwie¬
derte er.
„Euer Ehrwürden ſind doch derſelbe Mann,“ ſagte
ich, „der einmal vor mehreren Jahren auf einem
Kirchenfeſte bei dem Pfarrer zu Schauendorf war, und
nach dem Speiſen der erſte fort ging, weil er, wie er
ſagte, vier Stunden bis zu ſeinem Pfarrhofe zu gehen
hätte?“
„Ja, ich bin derſelbe Mann,“ antwortete er, „ich
bin vor acht Jahren zu der hundertjährigen Jubelfeier
der Kircheneinweihung nach Schauendorf gegangen,
weil es ſich gebührt hat, ich bin bei dem Mittagseſſen
geblieben, weil mich der Pfarrer eingeladen hat, und
bin der erſte nach dem Eſſen fortgegangen, weil ich
vier Stunden nach Hauſe zurük zu legen hatte. Ich
bin ſeither nicht mehr nach Schauendorf gekommen.“
„Nun an jener Tafel bin ich auch geſeſſen,“ ſagte
ich, „und habe Euer Ehrwürden heute ſogleich er¬
kannt.“
„Das iſt zu verwundern — nach ſo vielen Jahren,“
ſagte er.
„Mein Beruf bringt es mit ſich,“ erwiederte ich,
„daß ich mit vielen Menſchen verkehre, und ſie mir
merke, und da habe ich denn im Merken eine ſolche
Fertigkeit erlangt, daß ich auch Menſchen wieder
erkenne, die ich vor Jahren und auch nur ein einziges
Mal geſehen habe. Und in dieſer abſcheulichen Gegend
haben wir uns wieder gefunden.“
„Sie iſt, wie ſie Gott erſchaffen hat,“ antwortete
er, „es wachſen hier nicht ſo viele Bäume wie in
Schauendorf, aber manches Mal iſt ſie auch ſchön,
und zuweilen iſt ſie ſchöner als alle andern in der
Welt.“
Ich fragte ihn, ob er in der Gegend anſäſſig ſei,
und er antwortete, daß er ſieben und zwanzig Jahre
Pfarrer in dem Kar ſei. Ich erzählte ihm, daß ich
hieher geſendet worden ſei, um die Gegend zu ver¬
meſſen, daß ich die Hügel und Thäler aufnehme, um
ſie auf dem Papiere verkleinert darzuſtellen, und daß
ich in der Hochſtraſſe draußen wohne. Als ich ihn
fragte, ob er oft hieher komme, erwiederte er: „ich
gehe gerne heraus, um meine Füſſe zu üben, und ſize
dann auf einem Steine, um die Dinge zu betrachten.“
Wir waren während dieſes Geſpräches ins Gehen
gekommen, er ging an meiner Seite, und wir redeten
noch von manchen gleichgültigen Dingen, vom Wetter,
von der Jahreszeit, wie dieſe Steine beſonders geeignet
ſeien, die Sonnenſtrahlen einzuſaugen, und von
Anderem.
Waren ſeine Kleider ſchon bei jenem Gaſtmale
ſchlecht geweſen, ſo waren ſie jezt wo möglich noch
ſchlechter. Ich konnte mich nicht erinnern, ſeinen Hut
damals geſehen zu haben, jezt aber mußte ich wieder¬
holt auf ihn hin bliken; denn es war nicht ein ein¬
ziges Härchen auf ihm.
Als wir an die Stelle gelangt waren, wo ſein
Weg ſich von dem meinigen trennte, und zu ſeinem
Pfarrhofe in das Kar hinab führte, nahmen wir Ab¬
ſchied, und ſprachen die Hoffnung aus, daß wir uns
nun öfter treffen würden.
Ich ging auf meinem Wege nach der Hochſtraſſe
dahin, und dachte immer an den Pfarrer. Die unge¬
meine Armuth, wie ich ſie noch niemals bei einem
Menſchen oberhalb des Bettlerſtandes angetroffen
habe, namentlich nicht bei ſolchen, die andern als
Muſter der Reinlichkeit und Ordnung vorzuleuchten
haben, ſchwebte mir beſtändig vor. Zwar war der
Pfarrer beinahe ängſtlich reinlich, aber gerade dieſe
Reinlichkeit hob die Armuth noch peinlicher hervor,
und zeigte die Lokerheit der Fäden, das Unhaltbare und
Weſenloſe dieſer Kleidung. Ich ſah noch auf die
Hügel, welche nur mit Stein bedekt waren, ich ſah
noch auf die Thäler, in welchen ſich nur die langen
Sandbänke dahin zogen, und ging dann in meinen
Gaſthof, um den Ziegenbraten zu verzehren, den ſie
mir dort öfter vorſezten.
Ich fragte nicht um den Pfarrer, um keine rohe
Antwort zu bekommen.
Von nun an kam ich öfter mit dem Pfarrer zu¬
ſammen. Da ich den ganzen Tag in dem Steinkar
war, und Abends noch öfter in demſelben herum
ſchlenderte, um verſchiedene Richtungen und Abthei¬
lungen kennen zu lernen, da er auch zuweilen heraus¬
kam, ſo konnte es nicht fehlen, daß wir uns trafen.
Wir kamen auch einige Male zu Geſprächen. Er ſchien
nicht ungerne mit mir zuſammen zu treffen, und ich
ſah es auch gerne, wenn ich mit ihm zuſammen kam.
Wir gingen ſpäter öfter mit einander in den Steinen
herum, oder ſaßen auf einem, und betrachteten die
andern. Er zeigte mir manches Thierchen, manche
Pflanze, die der Gegend eigenthümlich waren, er
zeigte mir die Beſonderheiten der Gegend, und machte
mich auf die Verſchiedenheiten mancher Steinhügel
aufmerkſam, die der ſorgfältigſte Beobachter für ganz
gleich gebildet angeſehen haben würde. Ich erzählte
ihm von meinen Reiſen, zeigte ihm unſere Werkzeuge,
und erklärte ihm bei Gelegenheit unſerer Arbeiten
manchmal deren Gebrauch.
Ich kam nach der Zeit auch einige Male mit ihm
in ſeinen Pfarrhof hinunter. Wo das ſtärkſte Geſtein
ſich ein wenig auflöſet, gingen wir über eine ſanftere
Abdachung gegen das Kar hinab. An dem Rande
der Geſteine lag eine Wieſe, es ſtanden mehrere
Bäume darauf, unter ihnen eine ſchöne große Linde,
und hinter der Linde ſtand der Pfarrhof. Er war
damals ein weißes Gebäude mit einem Stokwerke,
das ſich von dem freundlicheren Grün der Wieſe, von
den Bäumen und von dem Grau der Steine ſchön
abhob. Das Dach war mit Schindeln gedekt. Die
Dachfenſter waren mit Thürchen verſehen, und die
Fenſter des Hauſes waren mit grünen Flügelbalken
zu ſchließen. Weiter zurük, wo die Landſchaft einen
Winkel macht, ſtand gleichſam in die Felſen verſtekt
die Kirche mit dem roth angeſtrichenen Kirchthurm¬
dache. In einem anderen Theile des Kar ſtand in
einem dürftigen Garten die Schule. Dieſe drei einzi¬
gen Gebäude waren das ganze Kar. Die übrigen
Behauſungen waren in der Gegend zerſtreut. An
manchem Stein gleichſam angeklebt lag eine Hütte
mit einem Gärtchen mit Kartoffeln oder Ziegenfutter.
Weit draußen gegen das Land hin lag auch ein frucht¬
barerer Theil, der zu der Gemeinde gehörte, und
der auch Aker- Wieſen- und Kleegrund hatte.
Im Angeſichte der Fenſter des Pfarrhofes ging
am Rande der Wieſe die Zirder vorüber, und über
den Fluß führte ein hoher Steg, der ſich gegen die
Wieſe herab ſenkte. Die Wieſenfläche war nicht viel
höher als das Flußbett. Dieſes Bild des hohen
Steges über den einſamen Fluß war nebſt der Stein¬
gegend das einzige, das man von dem Pfarrhofe
ſehen konnte.
Wenn ich mit dem Pfarrer in ſein Haus ging,
führte er mich nie in das obere Stokwerk, ſondern
er geleitete mich ſtets durch ein geräumiges Vorhaus
in ein kleines Stüblein. Das Vorhaus war ganz
leer, nur in einer Mauervertiefung, die ſehr breit
aber ſeicht war, ſtand eine lange hölzerne Bank. Auf
der Bank lag immer, ſo oft ich den Pfarrhof beſuchte,
eine Bibel, ein großes in ſtarkes Leder gebundenes
Buch. In dem Stüblein war nur ein weicher unan¬
geſtrichener Tiſch, um ihn einige Seſſeln derſelben
Stifter, Jugendſchriften. I. 7
Art, dann an der Wand eine hölzerne Bank und zwei
gelbangeſtrichene Schreine. Sonſt war nichts vor¬
handen, man müßte nur ein kleines ſehr ſchön aus
Birnholz geſchniztes mittelalterliches Crucifix hieher
rechnen, das über dem ebenfalls kleinen Weihbrunnen¬
keſſel an dem Thürpfoſten hing.
Bei dieſen Beſuchen machte ich eine ſeltſame Ent-
dekung. Ich hatte ſchon in Schauendorf bemerkt, daß
der arme Pfarrer immer heimlich die Handkrauſen
ſeines Hemdes in die Rokärmel zurük ſchiebe, als
hätte er ſich ihrer zu ſchämen. Dasſelbe that er auch
jezt immer. Ich machte daher genauere Beobachtungen,
und kam darauf, daß er ſich ſeiner Handkrauſen kei¬
neswegs zu ſchämen habe, ſondern daß er, wie mich
auch andere Einblike in ſeine Kleidung belehrten, die
feinſte und ſchönſte Wäſche trug, welche ich jemals
auf Erden geſehen hatte. Dieſe Wäſche war auch
immer in der untadelhafteſten Weiße und Reinheit,
wie man es nach dem Zuſtande ſeiner Kleider nie ver¬
muthet hätte. Er mußte alſo auf die Beſorgung die¬
ſes Theiles die größte Sorgfalt verwenden. Da er
nie davon ſprach, ſchwieg ich auch darüber, wie ſich
wohl von ſelber verſteht.
Unter dieſem Verkehre ging ein Theil des Som¬
mers dahin.
Eines Tages war in den Steinen eine beſondere
Hize. Die Sonne hatte zwar den ganzen Tag nicht
ausgeſchienen, aber dennoch hatte ſie den matten
Schleier, der den ganzen Himmel bedekte, ſo weit
durchdrungen, daß man ihr blaſſes Bild immer ſehen
konnte, daß um alle Gegenſtände des Steinlandes
ein weſenloſes Licht lag, dem kein Schatten beigegeben
war, und daß die Blätter der wenigen Gewächſe, die
zu ſehen waren, herab hingen; denn obgleich kaum
ein halbes Sonnenlicht durch die Nebelſchichte der
Kuppel drang, war doch eine Hize, als wären drei
Tropenſonnen an heiterem Himmel, und brennten
alle drei nieder. Wir hatten ſehr viel gelitten, ſo daß
ich meine Leute kurz nach zwei Uhr entließ. Ich ſezte
mich unter einen Steinüberhang, der eine Art Höhle
bildete, in welcher es bedeutend kühler war, als
draußen in der freien Luft. Ich verzehrte dort mein
Mittagmal, trank meinen eingekühlten Wein, und
las dann. Gegen Abend wurde die Wolkenſchichte
nicht zerriſſen, wie es doch an ſolchen Tagen ſehr
häufig geſchieht, ſie wurde auch nicht dichter, ſondern
lag in derſelben gleichmäßigen Art wie den ganzen
Tag über den Himmel. Ich ging daher ſehr ſpät aus
der Höhle; denn ſo wie die Schleierdeke am Himmel
ſich nicht geändert hatte, ſo war die Hize auch kaum
7*
minder geworden, und man hatte in der Nacht keinen
Thau zu erwarten. Ich wandelte ſehr langſam durch
die Hügel dahin, da ſah ich den Pfarrer in den Sand¬
lehnen daher kommen, und den Himmel betrachten.
Wir näherten uns, und grüßten uns. Er fragte mich,
wo wir heute gearbeitet hätten, und ich ſagte es ihm.
Ich erzählte ihm auch, daß ich in der Höhle geleſen
habe, und zeigte ihm das Buch. Hierauf gingen wir
mit einander in dem Sande weiter.
Nach einer Weile ſagte er: „Es wird nicht mehr
möglich ſein, daß Sie die Hochſtraſſe erreichen.“
„Wie ſo?“ fragte ich.
„Weil das Gewitter ausbrechen wird,“ antwor¬
tete er.
Ich ſah nach dem Himmel. Die Wolkendeke war
eher dichter geworden, und auf allen kahlen Stein¬
flächen, die wir ſehen konnten, lag ein ſehr ſonder¬
bares bleifarbenes Licht.
„Daß ein Gewitter kommen wird,“ ſagte ich, „war
wohl den ganzen Tag zu erwarten, allein wie bald
die Dunſtſchichte ſich verdichten, erkühlen, den Wind
und die Electricität erzeugen, und ſich herabſchütten
wird, kann man, glaube ich, nicht ermeſſen.“
„Man kann es wohl nicht genau ſagen,“ antwor¬
tete er, „allein ich habe ſieben und zwanzig Jahre in
der Gegend gelebt, habe Erfahrungen geſammelt, und
nach ihnen wird das Gewitter eher ausbrechen, als
man denkt, und wird ſehr ſtark ſein. Ich glaube daher,
daß es das Beſte wäre, wenn Sie mit mir in meinen
Pfarrhof gingen, und die Nacht heute dort zubrächten.
Der Pfarrhof iſt ſo nahe, daß wir ihn noch leicht
erreichen, wenn wir auch das Gewitter ſchon deutlich
an dem Himmel ſehen, dort ſind Sie ſicher, und kön¬
nen morgen an Ihre Geſchäfte gehen, ſobald es
Ihnen beliebt.“
Ich erwiederte, daß es deßohngeachtet nicht un¬
möglich ſei, daß aus der Dunſtſchichte ſich auch nur
ein Landregen entwikle. In dieſem Falle ſei ich gebor¬
gen; ich habe ein Mäntelchen aus Wachstaffet bei
mir, das dürfe ich nur aus der Taſche ziehen, und
umhängen, und der Regen könne mir nichts anhaben.
Ja wenn ich auch ohne dieſen Schuz wäre, ſo ſei ich
in meinem Amte ſchon ſo oft vom Regen durchnäßt
worden, daß ich, um ein derartiges Ereigniß zu ver¬
meiden, nicht jemanden zur Laſt ſein, und Unordnung
in ſein Hausweſen bringen möchte. Sollte aber wirk¬
lich ein Gewitter bevorſtehen, das Plazregen oder
Hagel oder gar einen Wolkenbruch bringen könnte,
dann nähme ich ſein Anerbieten dankbar an, und
bitte um einen Unterſtand für die Nacht, aber ich
mache die Bedingung, daß es wirklich nichts weiter
ſei als ein Unterſtand, daß er ſich in ſeinem Hauſe
nicht beirren laſſe, und ſich weiter keine Laſt auferlege,
als daß er mir ein Pläzchen unter Dach und Fach
gäbe; denn ich bedürfe nichts als ein ſolches Pläzchen.
Übrigens führe unſer Weg noch ein gutes Stük auf
demſelben gemeinſchaftlichen Pfade fort, da könnten
wir die Frage verſchieben, indeſſen den Himmel
betrachten, und zulezt nach der Geſtalt der Sache
entſcheiden.
Er willigte ein, und ſagte, daß, wenn ich bei ihm
bliebe, ich nicht zu fürchten hätte, daß er ſich eine Laſt
auflege, ich wiſſe, daß es bei ihm einfach ſei, und
es werde keine andere Anſtalt gemacht werden, als die
nothwendig ſei, daß ich die Nacht bei ihm zubringen
könnte.
Nachdem wir dieſen Vertrag geſchloſſen hatten,
gingen wir auf unſerem Wege weiter. Wir gingen
ſehr langſam, theils der Hize wegen, theils weil es
von jeher ſchon ſo unſere Gewohnheit war.
Plözlich flog ein ſchwacher Schein um uns, unter
dem die Felſen errötheten.
Es war der erſte Bliz geweſen, der aber ſtumm
war, und dem kein Donner folgte.
Wir gingen weiter. Nach einer Weile folgten
mehrere Blize, und da der Abend bereits ziemlich
dunkel geworden war, und da die Wolkenſchichte auch
einen dämmernden Einfluß ausübte, ſtand unter
jedem Blize der Kalkſtein in roſenrother Farbe vor
uns.
Als wir zu der Stelle gelangt waren, an welcher
unſere Wege ſich theilten, blieb der Pfarrer ſtehen,
und ſah mich an. Ich gab zu, daß ein Gewitter
komme, und ſagte, daß ich mit ihm in ſeinen Pfarr¬
hof gehen wolle.
Wir ſchlugen alſo den Weg in das Kar ein, und
gingen über den ſanften Steinabhang in die Wieſe
hinunter.
Als wir bei dem Pfarrhofe angelangt waren,
ſezten wir uns noch ein wenig auf das hölzerne Bänk¬
lein, das vor dem Hauſe ſtand. Das Gewitter hatte
ſich nun vollſtändig entwikelt, und ſtand als dunkle
Mauer an dem Himmel. Nach einer Weile entſtanden
auf der gleichmäßigen dunkelfarbigen Gewitterwand
weiße laufende Nebel, die in langen wulſtigen Strei¬
fen die untern Theile der Wolkenwand ſäumten. Dort
war alſo vielleicht ſchon Sturm, während bei uns
ſich noch kein Gräſchen und kein Laub rührte. Solche
laufende gedunſene Nebel ſind bei Gewittern oft
ſchlimme Anzeichen, ſie verkünden immer Windaus¬
brüche, oft Hagel und Waſſerſtürze. Den Blizen folg¬
ten nun auch ſchon deutliche Donner.
Endlich gingen wir in das Haus.
Der Pfarrer ſagte, daß es ſeine Gewohnheit ſei,
bei nächtlichen Gewittern ein Kerzenlicht auf den Tiſch
zu ſtellen, und bei dem Lichte ruhig ſizen zu bleiben,
ſo lange das Gewitter dauere. Bei Tage ſize er ohne
Licht bei dem Tiſche. Er fragte mich, ob er auch
heute ſeiner Sitte treu bleiben dürfe. Ich erinnerte
ihn an ſein Verſprechen, ſich meinetwegen nicht die
geringſte Laſt aufzulegen. Er führte mich alſo durch
das Vorhaus in das bekannte Stüblein, und ſagte,
daß ich meine Sachen ablegen möchte.
Ich trug gewöhnlich an einem ledernen Riemen
ein Fach über die Schulter, in welchem Werkzeuge
zum Zeichnen Zeichnungen und zum Theil auch Me߬
werkzeuge waren. Neben dem Fache war eine Taſche
befeſtigt, in der ſich meine kalten Speiſen, mein Wein,
mein Trinkglas und meine Vorrichtung zum Einkühlen
des Weines befanden. Dieſe Dinge legte ich ab, und
hing ſie über die Lehne eines in einer Eke ſtehenden
Stuhles. Meinen langen Meßſtab lehnte ich an einen
der gelben Schreine.
Der Pfarrer war indeſſen hinaus gegangen, und
kam nun mit einem Lichte in der Hand herein. Es
war ein Talglicht, welches in einem meſſingenen
Leuchter ſtak. Er ſtellte den Leuchter auf den Tiſch und
legte eine meſſingene Lichtſcheere dazu. Dann ſezten
wir uns beide an den Tiſch, blieben ſizen, und erwar¬
teten das Gewitter.
Dasſelbe ſchien nicht mehr lange ausbleiben zu
wollen. Als der Pfarrer das Licht gebracht hatte,
war die wenige Helle, die von draußen noch durch
die Fenſter herein gekommen war, verſchwunden, die
Fenſter ſtanden wie ſchwarze Tafeln da, und die völ¬
lige Nacht war hereingebrochen. Die Blize waren
ſchärfer, und erleuchteten troz des Kerzenlichtes bei
jedem Aufflammen die Winkel des Stübleins. Die
Donner wurden ernſter und dringender. So blieb es
eine lange Weile. Endlich kam der erſte Stoß des
Gewitterwindes. Der Baum, welcher vor dem Hauſe
ſtand, ſchauerte einen Augenblik leiſe, wie von einem
kurz abgebrochenen Lüftchen getroffen, dann war es
wieder ſtille. Über ein Kleines kam das Schauern
abermals, jedoch länger und tiefer. Nach einem kur¬
zen Zeitraume geſchah ein ſtarker Stoß, alle Blätter
rauſchten, die Äſte mochten zittern, nach der Art zu
urtheilen, wie wir den Schall herein vernahmen, und
nun hörte das Tönen gar nicht mehr auf. Der Baum
des Hauſes, die Heken um dasſelbe und alle Gebüſche
und Bäume der Nachbarſchaft waren in einem einzi¬
gen Brauſen befangen, das nur abwechſelnd abnahm
und ſchwoll. Dazwiſchen ſchallten die Donner. Sie
ſchallten immer ſchneller und immer heller. Doch war
das Gewitter noch nicht da. Zwiſchen Bliz und Don¬
ner war noch eine Zeit, und die Blize, ſo hell ſie
waren, waren doch keine Schlangen ſondern nur ein
ausgebreitetes allgemeines Aufleuchten.
Endlich ſchlugen die erſten Tropfen an die Fenſter.
Sie ſchlugen ſtark und einzeln gegen das Glas, aber
bald kamen Genoſſen, und in Kurzem ſtrömte der
Regen in Fülle herunter. Er wuchs ſchnell gleichſam
rauſchend und jagend, und wurde endlich dergeſtalt,
daß man meinte, ganze zuſammenhängende Waſſer¬
mengen fielen auf das Haus hernieder, das Haus
dröhne unter dem Gewichte, und man empfinde das
Dröhnen und Ächzen herein. Kaum das Rollen des
Donners konnte man vor dem Strömen des Waſſers
hören, das Strömen des Waſſers wurde ein zweites
Donnern. Das Gewitter war endlich über unſerem
Haupte. Die Blize fuhren wie feurige Schnüre her¬
nieder, und den Blizen folgten ſchnell und heiſer die
Donner, die jezt alles andere Brüllen beſiegten, und
in ihren tieferen Enden und Ausläufen das Fenſter¬
glas erzittern und klirren machten.
Ich war nun froh, daß ich dem Rathe des Pfar¬
rers gefolgt hatte. Ich hatte ſelten ein ſolches Ge¬
witter erlebt. Der Pfarrer ſaß ruhig und einfach an
dem Tiſche des Stübleins, und das Licht der Talg¬
kerze beleuchtete ſeine Geſtalt.
Zulezt geſchah ein Schlag, als ob er das ganze
Haus aus ſeinen Fugen heben, und niederſtürzen
wollte, und gleich darauf wieder einer. Dann war
ein Weilchen Anhalten, wie es oft bei ſolchen Erſchei¬
nungen der Fall iſt, der Regen zukte einen Augenblik
ab, als ob er erſchroken wäre, ſelbſt der Wind hielt
inne. Aber es wurde bald wieder wie früher; allein
die Hauptmacht war doch gebrochen, und alles ging
gleichmäßiger fort. Nach und nach milderte ſich das
Gewitter, der Sturm war nur mehr ein gleichartiger
Wind, der Regen war ſchwächer, die Blize leuchteten
bläſſer, und der Donner rollte matter gleichſam land¬
auswärts gehend.
Als endlich das Regnen nur ein einfaches Nieder¬
rinnen war, und das Blizen ein Nachleuchten, ſtand
der Pfarrer auf, und ſagte: „Es iſt vorüber.“
Er zündete ſich ein Stümpfchen Licht an, und
ging hinaus. Nach einer Weile kam er wieder herein,
und trug auf einem Eßbrette mehrere Dinge, die zu
dem Abendmale beſtimmt waren. Er ſezte von dem
Eßbrette ein Krüglein mit Milch auf den Tiſch, und
goß aus demſelben zwei Gläſer voll. Dann ſezte er
auf einem grünglaſirten Schüſſelchen Erdbeeren auf
und auf einem Teller mehrere Stüke ſchwarzen
Brotes. Als Beſteke legte er auf jeden Plaz ein Meſ¬
ſer, und ein kleines Löffelchen, dann trug er das E߬
brett wieder hinaus.
Als er hereingekommen war, ſagte er: „Das iſt
unſer Abendmal, laſſen Sie es ſich genügen.“
Er trat zu dem Tiſch, faltete die Hände, und
ſprach bei ſich einen Segen, ich that desgleichen, und
nun ſezten wir uns zu unſerem Abendeſſen nieder. Die
Milch tranken wir aus den Gläſern, von dem ſchwar¬
zen Brote ſchnitten wir uns Stükchen mit dem Meſ¬
ſer, und aßen die Erdbeeren mit dem Löffelchen. Da
wir fertig waren, ſprach er wieder mit gefalteten
Händen ein Dankgebet, holte das Eßbrett, und trug
die Reſte wieder fort.
Ich hatte in meiner Taſche noch Theile von mei¬
nem Mittagsmale und in meiner Flaſche noch Wein.
Ich ſagte daher: „Wenn Euer Ehrwürden erlauben,
ſo nehme ich die Überbleibſel meines heutigen Mittag¬
eſſens aus meinem Ränzchen heraus, weil ſie ſonst
verderben würden.“
„Thun Sie nur nach Ihrem Gefallen,“ antwortete er.
Ich nahm daher meine Taſche, und ſagte: „Da
ſehen Euer Ehrwürden auch zugleich wie ich bei mei¬
nem Wanderleben Tafel halte, und wie mein Trink-
und Eßgeſchirr beſchaffen iſt.“
„Sie müſſen wiſſen,“ fuhr ich fort, „daß, ſo ſehr
man das Waſſer und insbeſonders das Gebirgswaſ¬
ſer lobt, und ſo nüzlich und herrlich dieſer Stoff auch
in dem großen Haushalte der Natur iſt, dennoch,
wenn man tagelang auf offenem Felde im Sonnen¬
ſcheine arbeitet, oder in heißen Steinen und heißem
Sande herum geht, oder in Klippen klettert, ein
Trunk Wein mit Waſſer ungleich mehr labt, und
Kraft gibt, als das lautere auserleſenſte Waſſer der
Welt. Das lernte ich bei meinem Amte bald kennen,
und verſah mich daher ſtets bei allen meinen Reiſen
mit Wein. Aber nur guter Wein iſt es, der gute
Dienſte leiſtet. Ich hatte mir daher auch auf die
Hochſtraſſe einen reinen guten Wein kommen laſſen,
und nehme täglich einen Theil mit in meine Stein¬
hügel.“
Der arme Pfarrer ſah mir zu, wie ich meine Vor¬
richtungen auseinander pakte. Er betrachtete die kleinen
blechernen Tellerchen, deren mehrere in eine unbedeu¬
tende flache Scheibe zuſammen zu paken waren. Ich
ſtellte die Tellerchen auf den Tiſch. Dazu that ich von
meinem Fache Meſſer und Gabeln. Dann ſchnitt ich
Scheibchen von feinem weißen Weizenbrote, das ich
wöchentlich zwei Mal kommen ließ, dann Scheibchen
von Schinken von kaltem Braten und Käſe. Das
breitete ich auf den Tellern aus. Hierauf bath ich ihn
um eine Flaſche Waſſers; denn das allein, ſagte ich,
führe ich nicht mit mir, da ich es in der Natur über¬
all finden müſſe. Als er in einem Kruge Waſſer
gebracht hatte, legte ich meine Trinkvorrichtungen
auseinander. Ich that die Flaſche, die noch halb voll
Wein war, heraus, ich ſtellte die zwei Gläſer —
eines habe ich immer zum Vorrathe — auf den Tiſch,
und dann zeigte ich ihm, wie ich den Wein kühle.
Das Glas wird in ein Fach von ſehr lokerem Stoffe
geſtellt, der Stoff mit einer ſehr dünnen Flüſſigkeit,
die Äther heißt, und die ich in einem Fläſchchen
immer mit führe, befeuchtet, welche Flüſſigkeit ſehr
ſchnell und heftig verdünſtet, und dabei eine Kälte
erzeugt, daß der Wein friſcher wird, als wenn er eben
von dem Keller käme, ja als ob er ſogar in Eis
ſtünde. Da ich auf dieſe Weiſe zwei Gläſer Wein
aufgefriſcht, mit Waſſer vermiſcht, und eins auf ſei¬
nen Plaz geſtellt hatte, lud ich ihn ein, mit mir zu
ſpeiſen.
Er nahm, gleichſam um meiner Einladung die
Ehre anzuthun, ein winziges Bischen von den Dingen,
nippte an dem Glaſe, und war nicht mehr zu bewegen,
etwas weiteres zu nehmen.
Ich aß von den aufgeſtellten Speiſen nun auch
nur ſehr weniges, und pakte dann alles wieder
zuſammen, indem ich mich der Unhöflichkeit, die
ich eigentlich in der Übereilung begangen hatte,
ſchämte.
Ich that ſchnell einen Blik in das Angeſicht des
Pfarrers; aber es ſprach ſich nicht der kleinſte Zug
von Unfreundlichkeit aus.
Da der Tiſch leer war, ſaßen wir noch eine Zeit
bei der Talgkerze, und ſprachen. Dann ſchritt der
Pfarrer daran, mein Bett zu bereiten. Er trug eine
große wollene Deke herein, legte ſie vierfach zuſam¬
men, und that ſie auf die Bank, die an der Mauer
ſtand. Aus einer ähnlichen Deke machte er ein Kiſſen.
Dann öffnete er einen der gelben Schreine, nahm ein
Leintuch von außerordentlicher Schönheit Feinheit
und Weiße heraus, that es auseinander, und brei¬
tete es über mein Lager. Als ich bei dem ſchwachen
Scheine der Kerze die ungemeine Trefflichkeit des
Linnenſtückes geſehen, und dann unwillkührlich meine
Augen auf ihn gewendet hatte, erröthete er in ſeinem
Angeſichte.
Als Hülle für meinen Körper legte er eine dritte
Wolldeke auf das Lager.
„Das iſt Ihr Bett, ſo gut ich es machen kann,“
ſagte er, „Sie dürfen nur ſagen, wann Sie bereitet
ſind die Ruhe zu ſuchen.“
„Das laſſe ich Euer Ehrwürden über,“ antwor¬
tete ich, „wann Sie zum Schlafen ihre Zeit haben,
richten Sie ſich nach derſelben. Ich bin an keine
Stunde gebunden, meine Lebensweiſe bringt es mit
ſich, daß ich bald kurz bald lang ſchlafe, bald früher
bald ſpäter mein Lager ſuche.“
„Auch ich bin keiner Zeit unterthan,“ erwiederte
er, „und kann den Schlummer nach meinen Pflichten
einrichten; aber da es wegen des Gewitters heute
ſpäter geworden iſt als ſonſt, da Sie morgen gewiß
ſehr bald aufſtehen, und wahrſcheinlich in die Hoch¬
ſtraſſe gehen werden, um manches zu holen, ſo dächte
ich, wäre Ruhe das Beſte, und wir ſollten ſie
ſuchen.“
„Ich ſtimme Ihnen vollſtändig bei, Herr Pfarrer,“
ſagte ich.
Nach dieſem Geſpräche verließ er das Stüblein,
und ich dachte, er habe ſich nach ſeiner Schlafkammer
begeben. Ich entkleidete mich daher, ſo weit ich es
immer gewohnt bin, und legte mich auf mein Bett.
Eben wollte ich das Licht, das ich auf einen Stuhl
neben meinem Bette geſtellt hatte, auslöſchen, als
der Pfarrer wieder herein trat. Er hatte ſich umge¬
kleidet, und trug jezt grauwollene Strümpfe grau¬
wollene Beinkleider und eine grauwollene Jake.
Schuhe hatte er nicht, ſondern er ging auf den
Strümpfen. So trat er in das Stüblein.
„Sie haben ſich ſchon zur Ruhe gelegt,“ ſagte er,
„ich bin gekommen, Ihnen eine gute Nacht zu ſagen,
und dann auch den Schlaf zu ſuchen. Alſo ſchlummern
Sie wohl, wie es auf dem Bette möglich iſt.“
„Ich werde gut ſchlafen,“ erwiederte ich, „und
wünſche Ihnen ein Gleiches.“
Nach dieſen Worten ging er zu dem Weihbrun¬
nenkeſſel, der unter dem kleinen ſchön geſchnizten
Crucifixe hing, beſprengte ſich mit Tropfen des Waſ¬
ſers, und verließ das Stüblein.
Ich ſah bei dem Lichte meiner Kerze, wie er in
dem geräumigen Vorhauſe ſich auf die hölzerne Bank,
die in der flachen Niſche ſtand, legte, und die Bibel
ſich als Kiſſen unter das Haupt that.
Als ich dieſes geſehen hatte, ſprang ich von mei¬
nem Lager auf, ging in den Nachtkleidern in das
Vorhaus hinaus, und ſagte: „Mit nichten, Euer
Ehrwürden, ſo iſt es nicht gemeint, Sie dürfen nicht
Stifter, Jugendſchriften. I. 8
auf dieſer nakten Bank ſchlafen, während Sie mir
das beſſere Bett einräumen. Ich bin gewohnt auf
allen Lagern zu ſchlafen ſelbſt im Freien unter einem
Baume, laſſen Sie mich dieſe Bank benüzen, und
begeben Sie ſich in das Bett, das Sie mir abtreten
wollten.“
„Nein, lieber Herr,“ antwortete er, „ich habe
Ihnen kein Bett abgetreten, wo das Ihrige iſt, wird
ſonst nie eines gemacht, und wo ich jezt liege, ſchlafe
ich alle Nächte.“
„Auf dieſer harten Bank und mit dieſem Buche
als Kiſſen ſchlafen Sie alle Nächte?“ fragte ich.
„Wie Sie durch Ihren Stand an alle Lager ge¬
wohnt ſind ſelbſt an eines im Freien,“ erwiederte er,
„ſo bin ich auch durch meinen Stand gewohnt, auf
dieſer Bank zu ſchlafen, und dieſes Buch als Kiſſen
zu haben.“
„Iſt das wirklich möglich?“ fragte ich.
„Ja, es iſt ſo,“ antwortete er, „ich ſage keine Lüge.
Ich hätte mir ja auch auf dieſer Bank ein Bett machen
können, wie ich Ihnen eines auf der Ihrigen gemacht
habe; allein ich habe ſchon ſeit ſehr langer Zeit her
angefangen, in dieſen Kleidern und auf dieſer Bank
hier, wie Sie mich ſehen, zu ſchlafen, und thue es
auch heute.“ Da ich noch immer mißtrauiſch zögerte,
ſagte er: „Sie können in Ihrem Herzen ganz beruhigt
ſein, ganz beruhigt.“
Ich wendete gegen dieſes nichts mehr ein, nament¬
lich war der Grund, daß er ſich ja auch ein Bett
hätte machen können, überzeugend.
Nach einer Weile, während welcher ich noch immer
dageſtanden war, ſagte ich: „Wenn es eine alte Ge¬
wohnheit iſt, hochwürdiger Herr, ſo habe ich freilich
nichts mehr einzuwenden; aber Sie werden es auch
begreifen, daß ich anfänglich dagegen ſprach, weil
man gewöhnlich überall ein gebettetes Lager hat.“
„Ja man hat es,“ ſagte er, „und gewöhnt ſich
daran, und meint, es müſſe ſo ſein. Aber es kann
auch anders ſein. An alles gewöhnt ſich der Menſch,
und die Gewohnheit wird dann ſehr leicht, ſehr
leicht.“
Nach dieſen Worten ging ich wieder, nachdem ich
ihm zum zweiten Male eine gute Nacht gewünſcht
hatte, in mein Stüblein, und legte mich wieder in
mein Bett. Ich erinnerte mich nun auch, daß ich
wirklich nie ein Bett geſehen habe, ſo oft ich früher
in der Behauſung des Pfarrers geweſen war. Ich
dachte noch eine Zeit lang an die Sache, und konnte
nicht umhin, die äußerſte Feinheit des Linnens des
Pfarrers ſehr wohlthätig an meinem Körper zu empfin¬
8*
den. Nach einer kurzen Zeit lieferte der Pfarrer den
thatſächlichen Beweis, daß er an ſein Lager gewohnt
ſei; denn ich hörte aus dem ſanften regelmäßigen
Athmen, daß er bereits in tiefen Schlummer geſun¬
ken ſei.
Da ich nun auch ruhig war, da alles in dem
Pfarrhauſe todtenſtille war, da der Wind aufgehört
hatte, der Regen kaum nur leiſe zu vernehmen war, und
die Blize wie verloren nur mehr ſelten mit mattem
Scheine das Fenſter berührten, ſenkte ſich auch auf
meine Augen der Schlummer, und nachdem ich die
Kerze ausgelöſcht hatte, vernahm ich noch einige
Male das Fallen eines Tropfens an das Fenſter,
dann war mirs, als ob daran der ſchwache Aufblik
eines Leuchtens geſchähe, und dann war nichts
mehr. —
Ich ſchlief ſehr gut, erwachte ſpät, und es war
ſchon völliger Tag, als ich die Augen öffnete. Es
war, als ob es ein zartes Geräuſch geweſen wäre,
das mein völliges Aufwachen veranlaßt hatte. Als
ich die Augen vollkommen öffnete, und herum ſah,
erblikte ich in dem Vorhauſe den Pfarrer in ſeinen
grauen Nachtkleidern, wie er eben beſchäftigt war,
meine Kleider mit einer Bürſte vom Staube zu reini¬
gen. Ich erhob mich ſchnell von meinem Lager, ging
hinaus, und ſtörte ihn in ſeinem Beginnen, indem
ich ſagte, das dürfe nicht ſein, ſo etwas könne ich
von ihm nicht annehmen, es liege nicht in ſeinem
Stande, es mache der Staub nichts, und wenn ich
ihn fort wollte, ſo könnte ich ihn ja ſelber mit einer
Bürſte ſchnell abſtreifen.
„Es liegt nicht in meinem Stande als Prieſter, aber
es liegt in meinem Stande als Gaſtfreund,“ ſagte er,
„ich habe nur eine einzige alte Dienerin, die nicht in
dem Hauſe wohnt, ſie kömmt zu gewiſſen Stunden,
um meine kleinen Dienſte zu verrichten, und iſt heute
noch nicht da.“
„Nein, nein, das thut nichts,“ antwortete ich,
„ich erinnere Sie an Ihr Verſprechen, ſich keine Laſt
aufzulegen.“
„Ich lege mir keine Laſt auf,“ erwiederte er, „und
es iſt ſchon bald gut.“
Mit dieſen Worten that er noch ein paar Striche
mit der Bürſte auf dem Roke, und ließ ſich dann
beides, Bürſte und Kleider, nehmen. Er ging aus
dem Vorhauſe in ein anderes mir bis dahin unbe¬
kanntes Gemach. Ich kleidete mich indeſſen an. Nach
einer Zeit kam auch er vollſtändig angekleidet herein.
Er hatte die alten ſchwarzen Kleider an, die er am
Tage und alle vorhergehenden Tage angehabt hatte.
Wir traten an das Fenſter. Der Schauplaz hatte ſich
vollkommen geändert. Es war ein durchaus ſchöner
Tag und die Sonne erhob ſich ſtrahlend in einem
unermeßlichen Blau. Was doch ſo ein Gewitter iſt!
Das Zarteſte das Weichſte der Natur iſt es, wodurch
ein ſolcher AnfruhrAufruhr veranlaßt wird. Die feinen
unſichtbaren Dünſte des Himmels, die in der Hize
des Tages oder in der Hize mehrerer Tage unſchädlich
in dem unermeßlichen Raume aufgehängt ſind, meh¬
ren ſich immer, bis die Luft an der Erde ſo erhizt und
verdünnt iſt, daß die oberen Laſten derſelben nieder¬
ſinken, daß die tieferen Dünſte durch ſie erkühlt wer¬
den, oder daß ſie auch von einem andern kalten
Hauche angeweht werden, wodurch ſie ſich ſogleich zu
Nebelballen bilden, das electriſche Feuer erzeugen, und
den Sturm wach rufen, neue Kälte bewirken, neue
Nebel erregen, ſodann mit dem Sturme daher fahren,
und ihre Mengen, die zuſammen ſchießen, ſei es in
Eis, ſei es in geſchloſſenen Tropfen, auf die Erde
niederſchütten. Und haben ſie ſie nieder geſchüttet,
und hat die Luft ſich gemiſcht, ſo ſteht ſie bald wieder
in ihrer Reinheit und Klarheit oft ſchon am andern
Tage da, um wieder die Dünſte aufzunehmen, die in
der Hize erzeugt werden, wieder allmählich dasſelbe
Spiel zu beginnen, und ſo die Abwechſlung von
Regen und Sonnenſchein zu bewirken, welche die
Freude und das Gedeihen von Menſchen Thieren
und Gewächſen iſt.
Der unermeßliche Regen der Nacht hatte die Kalk¬
ſteinhügel glatt gewaſchen, und ſie ſtanden weiß und
glänzend unter dem Blau des Himmels und unter
den Strahlen der Sonne da. Wie ſie hinter einander
zurük wichen, wieſen ſie in zarten Abſtufungen ihre
gebrochenen Glanzfarben in Grau, Gelblich, Röth¬
lich. Roſenfarbig, und dazwiſchen lagen die länglichen
nach rükwärts immer ſchöneren luftblauen Schatten.
Die Wieſe vor dem Pfarrhofe war friſch und grün,
die Linde, die ihre älteren und ſchwächeren Blätter
durch den Sturm verloren hatte, ſtand neugeboren da,
und die andern Bäume und die Büſche um den Pfarr¬
hof hoben ihre naſſen glänzenden Äſte und Zweige
gegen die Sonne. Nur in der Nähe des Steges war
auch ein anderes minder angenehmes Schauſpiel des
Gewitters. Die Zirder war ausgetreten, und ſezte
einen Theil der Wieſe, von der ich geſagt habe, daß
ſie um wenig höher liegt als das Flußbett, unter
Waſſer. Der hohe Steg ſenkte ſich mit ſeinem abwärts
gehenden Theile unmittelbar in dieſes Waſſer. Allein,
wenn man von dem Schaden abſieht, den die Über¬
ſchwemmung durch Anführung von Sand auf der
Wieſe verurſacht haben mochte, ſo war auch dieſe
Erſcheinung ſchön. Die große Waſſerfläche glänzte
unter den Strahlen der Sonne, ſie machte zu dem
Grün der Wieſe und dem Grau der Steine den dritten
ſtimmenden und ſchimmernden Klang, und der Steg
ſtand abenteuerlich wie eine dunkle Linie über dem
ſilbernen Spiegel.
Der Pfarrer zeigte mir mehrere Stellen ſehr ent¬
fernter Gegenden, die man ſonſt nicht ſehen konnte,
die aber heute deutlich in der gereinigten Luft wie
klare Bilder zu erbliken waren.
Nachdem wir eine kleine Zeit das Morgenſchau¬
ſpiel, das die Augen unwillkührlich auf ſich gezogen
hatte, betrachtet hatten, brachte der Pfarrer kalte
Milch und ſchwarzes Brot zum Frühmale. Wir ver¬
zehrten beides, und ich ſchikte mich dann zum Fort¬
gehen an. Ich nahm mein Fach und meine Taſche
mit dem Lederriemen über die Schulter, nahm meinen
Stab von der Eke neben dem gelben Schreine, nahm
meinen weißen Wanderhut, und ſagte dem Pfarrer
herzlichen Dank für meine Beherbergung während
des ſtarken Gewitters.
„Wenn es nur nicht zu ſchlecht geweſen iſt,“
ſagte er.
„Nein, nein, Euer Ehrwürden,“ erwiederte ich,
„es war alles lieb und gut von Ihnen, ich bedaure
nur, daß ich Ihnen Störung und Unruhe verurſacht
habe, ich werde künftig genau auf das Wetter und
den Himmel ſehen, daß meine Unvorſichtigkeit nicht
wieder ein anderer büſſen muß.“
„Ich habe gegeben, was ich gehabt habe,“
ſagte er.
„Und ich wünſche ſehr einen Gegendienſt leiſten
zu können,“ erwiederte ich.
„Menſchen leben neben einander, und können ſich
manchen Gefallen thun,“ ſagte er.
Mit dieſen Worten waren wir in das Vorhaus
hinaus gelangt.
„Ich muß Ihnen noch meine dritte Stube zeigen,“
ſagte er, „hier habe ich ein Gemach, in welchem ich
mich auskleide, und ankleide, daß mich niemand ſieht,
und in welchem ich noch mancherlei Sachen aufbe¬
wahrt habe.“
Mit dieſen Worten führte er mich aus dem Vor¬
hauſe in ein Seitenzimmer oder eigentlich in ein Ge¬
wölbe, deſſen Thür ich früher nicht beachtet hatte. In
dem Gewölbe waren wieder ſehr ſchlechte Geräthe. Ein
großer weicher ſtehender Schrein, in dem Kleider und
andere ſolche Dinge, wahrſcheinlich auch die Wolldeken
meines Lagers aufbewahrt wurden, ein paar Stühle,
und ein Brett, auf dem ſchwarze Brote lagen, und ein
Topf mit Milch ſtand: das war die ganze Geräth¬
ſchaft. Als wir wieder aus dem Zimmer heraus getreten
waren, ſchloß er es zu, wir nahmen Abschied, und
verſprachen, uns bald wieder zu ſehen.
Ich trat in die kühle reine Luft und auf die naſſe
Wieſe hinaus. Ich hatte wohl noch den Gedanken,
wie es ſonderbar ſei, daß wir immer nur in dem
Erdgeſchoße geweſen ſeien, und daß ich doch in der
Nacht und am Morgen deutlich Tritte oberhalb unſer
in dem Pfarrhofe vernommen hatte; allein ich ließ
mich den Gedanken nicht weiter anfechten, und ſchritt
vorwärts.
Ich ging nicht auf meinem eigentlichen Wege, ſon¬
dern ich ſchlug die Richtung gegen die Zirder ein.
Wenn man ein Land vermißt, wenn man viele Jahre
lang Länder und ihre Geſtalten auf Papier zeichnet,
ſo nimmt man auch Antheil an der Beſchaffenheit der
Länder, und gewinnt ſie lieb. Ich ging gegen die Zir¬
der, weil ich ſehen wollte, welche Wirkungen ihr
Austritt hervorgebracht hatte, und welche Verän¬
derungen er in der unmittelbaren Nähe eingeleitet
haben möge. Als ich eine Weile vor dem Waſſer
ſtand, und ſein Walten betrachtete, ohne daß ich eben
andere Wirkungen als den bloßen Austritt wahrneh¬
men konnte, ſo erlebte ich plözlich ein Schauſpiel,
welches ich bisher nicht gehabt hatte, und bekam eine
Geſellſchaft, die mir bisher in dem Steinlande nicht
zu Theil geworden war. Außer meinen Arbeitern,
mit denen ich ſo bekannt war, und die mit mir ſo
bekannt waren, daß wir uns wechſelweiſe wie Werk¬
zeuge vorkommen mußten, hatte ich nur einige Men¬
ſchen in meinem Gaſthauſe manchen Wanderer auf
dem Wege und den armen Pfarrer in den Geſteinen
geſehen. Jezt ſollte es anders werden. Als ich hin¬
blikte, ſah ich von dem jenſeitigen Ufer, welches
höher und nicht überſchwemmt war, einen luſtigen
fröhlichen Knaben über den Steg daher laufen. Als
er gegen das Ende des Steges kam, welches ſich in
das Überſchwemmungswaſſer der Zirder hinab ſenkte,
kauerte er ſich nieder, und ſo viel ich durch mein
Handfernrohr wahrnehmen konnte, neſtelte er ſich die
Schuhriemen auf, und zog Schuhe und Strümpfe aus.
Allein nachdem er beides ausgezogen hatte, ging er
nicht in das Waſſer herab, wie ich vermuthet hatte,
ſondern blieb an der Stelle. Gleich darauf kam ein
zweiter Knabe, und that dasſelbe. Dann kam ein bar¬
füßiger, der auch ſtehen blieb, dann mehrere andere.
Endlich kam ein ganzer Schwarm Kinder über den
Steg gelaufen, und als ſie gegen das Ende desſelben
gekommen waren, dukten ſie ſich nieder, gleichſam
wie ein Schwarm Vögel, der durch die Luft geflogen
kömmt, und an einer kleinen Stelle einfällt, und ich
konnte unſchwer wahrnehmen, daß ſie ſämmtlich
damit beſchäftiget waren, Schuhe und Strümpfe aus¬
zuziehen.
Als ſie damit fertig waren, ging ein Knabe über
den Steg herab, und behutſam in das Waſſer. Ihm
folgten die andern. Sie nahmen auf ihre Höschen
keine Rükſicht, ſondern gingen damit tief in das Waſ¬
ſer, und die Rökchen der Mädchen ſchwammen um
ihre Füſſe in dem Waſſer herum. Zu meinem Erſtau¬
nen erblikte ich jezt auch mitten im Waſſer eine grö¬
ßere ſchwarze Geſtalt, die niemand anderer als der
arme Pfarrer im Kar war. Er ſtand faſt bis auf die
Hüften im Waſſer. Ich hatte ihn früher nicht geſe¬
hen, und auch nicht wahrgenommen, wie er hinein
gekommen war, weil ich mit meinen Augen immer
weiterhin gegen den Steg geblikt hatte, und ſie erſt
jezt mehr nach vorn richtete, wie die Kinder gegen
meinen Standpunkt heran ſchritten. Alle Kinder gin¬
gen gegen den Pfarrer zu, und nachdem ſie eine Weile
bei ihm verweilt und mit ihm geſprochen hatten, tra¬
ten ſie den Weg gegen das Ufer an, an dem ich ſtand.
Da ſie ungleich vorſichtig auftraten, ſo zerſtreuten ſie
ſich im Hergehen durch das Waſſer, erſchienen wie
ſchwarze Punkte auf der glänzenden Fläche, und kamen
einzeln bei mir an. Da ich ſah, daß keine Gefahr in
dem überall ſeichten Überſchwemmungswaſſer vor¬
handen ſei, blieb ich auf meiner Stelle ſtehen, und
ließ ſie ankommen. Die Kinder kamen heran, und
blieben bei mir ſtehen. Sie ſahen mich Anfangs mit
trozigen und ſcheuen Angeſichtern an; aber da ich von
Jugend auf ein Kinderfreund geweſen bin, da ich
ſtets die Kinder als Knospen der Menſchheit außer¬
ordentlich geliebt habe, und ſeit meiner Verehlichung
ſelbſt mit einer Anzahl davon geſegnet worden bin,
da zulezt auch keine Art von Geſchöpfen ſo ſchnell
erkennt, wer ihnen gut iſt, und auf dieſem Boden
eben ſo ſchnell Vertrauen gewinnt als Kinder: ſo war
ich bald von einem Kreiſe plaudernder und rühriger
Kinder umringt, die ſich bemühten Fragen zu geben,
und Fragen zu beantworten. Es war leicht zu erra¬
then, auf welchem Wege ſie ſich befanden, da ſie ſämt¬
lich an ledernen oder leinenen Bändern ihre Schulta¬
ſchen um die Schultern gehängt hatten. Weil aber
auch ich meine Taſche und mein Fach an einem leder¬
nen Riemen um meine Schultern trug, ſo mochte es
ein lächerlicher Anblik geweſen ſein, mich gleichſam
wie ein großes Schulkind unter den kleinen ſtehen zu
ſehen. Einige bükten ſich und waren bemüht, ihre
Schuhe und Strümpfe wieder anzuziehen, andere
hielten ſie noch in den Händen, ſahen zu mir auf,
und redeten mit mir.
Ich fragte ſie, woher ſie kämen, und erhielt zur
Antwort, daß ſie aus den Karhäuſern und Steinhäu¬
ſern ſeien, und daß ſie in die Schule in das Kar
gehen.
Als ich ſie fragte, warum ſie auf dem Stege zu¬
ſammen gewartet hätten, und nicht einzeln wie ſie ge¬
kommen wären, in das Waſſer geſtiegen ſeien, ſagten
ſie, weil die Eltern befohlen hätten, ſie ſollten ſehr
vorſichtig ſein, und nicht allein ſondern alle zuſammen
in das Waſſer gehen, wenn ein ſolches jenſeits des
Steges auf der Zirderwieſe ſei.
„Wenn aber das Waſſer auf der Wieſe ſo tief
wäre, daß es über das Haupt eines großen Menſchen
hinaus ginge?“ fragte ich.
„So kehren wir wieder um,“ antworteten ſie.
„Wenn aber erſt das Waſſer mit Gewalt daher
käme, wenn ihr bereits über den Steg gegangen wä¬
ret, und euch auf der Wieſe befändet, was thätet
ihr dann?“
„Das wiſſen wir nicht.“
Ich fragte ſie, wie lange ſie von den Steinhäuſern
und Karhäuſern hieher brauchten, und erhielt die Ant¬
wort: eine Stunde. So weit mochten auch die ge¬
nannten Häuſer wirklich entfernt ſein. Sie liegen
jenſeits der Zirder in einem eben ſo unfruchtbaren
Boden wie das Kar, aber ihre Bewohner treiben viele
Geſchäfte, namentlich brennen ſie Kalk aus ihren
Steinen, und verführen ihn weit.
Ich fragte ſie, ob ihnen die Eltern auch aufgetra¬
gen hätten, die Schuhe und Strümpfe zu ſchonen,
erhielt die Antwort ja, und bewunderte die Unfolge¬
richtigkeit, indem ſie die trokenen Schuhe und Strüm¬
pfe in den Händen hielten, und mit bitterlich naſſen
Höschen und Rökchen vor mir ſtanden.
Ich fragte, was ſie in dem Winter thäten.
„Da gehen wir auch herüber,“ ſagten ſie.
„Wenn aber Schneewaſſer auf der Wieſe iſt.“
„Da ziehen wir die Schuhe nicht aus, ſondern ge¬
hen mit ihnen durch.“
„Und wenn der Steg eiſig iſt?“
„Da müſſen wir acht geben.“
„Und wenn außerordentliches Schneegeſtöber iſt?“
„Das macht nichts.“
„Und wenn ungeheuer viel Schnee liegt, und kein
Weg iſt?“
„Dann bleiben wir zu Hauſe.“
In dieſem Augenblike kam der Pfarrer mit den
lezten Kindern gegen mich heran. Es war auch Zeit;
denn die Kinder waren bereits ſo zutraulich gewor¬
den, daß mir ein winzig kleiner Knabe, der den
Grund und Anfang aller Wiſſenſchaften auf einem
kleinen Papptäfelchen trug, ſeine Buchſtaben aufſa¬
gen wollte.
Da mich der Pfarrer in der Mitte der Kinder an¬
ſichtig wurde, grüßte er ſehr freundlich, und ſagte,
das ſei ſchön von mir, daß ich auch zur Hilfe herbei
geeilt wäre.
Ich erſchrak über dieſe Zumuthung, ſagte aber
gleich, ich ſei eben nicht zur Hilfe herbei geeilt, da ich
nicht gewußt hätte, daß Kinder über den Steg kom¬
men würden, aber wenn Hilfe nöthig geworden wäre,
ſo würde ich ſie gewiß auch geleiſtet haben.
Bei dieſer Gelegenheit, als ich ihn ſo unter den
Kindern ſtehen ſah, bemerkte ich, daß er bei weitem
tiefer im Waſſer geweſen ſein müſſe als die Kinder;
denn er war bis über die Hüften naß, und dies hätte
bei manchem Kinde beinahe an den Hals gereicht. Ich
begrif den Widerſpruch nicht, und fragte ihn deßhalb.
Er ſagte, das ſei leicht zu erklären. Der Wenner¬
bauer, dem das überſchwemmte Stük Wieſe gehöre,
auf dem er eben im Waſſer geſtanden ſei, habe vor¬
geſtern Steine aus der Wieſe graben, und wegführen
laſſen. Die Grube ſei geblieben. Da er nun heute
die Wieſe gegen die Zirder mit Waſſer überdekt geſe¬
hen hätte, habe er geglaubt, daß der Weg der Kinder
etwa nahe an dieſer Grube vorbei gehen, und daß
eines in derſelben verunglüken könnte. Deßhalb habe
er ſich zu der Grube ſtellen wollen, um alle Gefahr
zu verhindern. Da ſie aber abſchüſſig war, ſei er ſel¬
ber in die Grube geglitten, und einmal darin ſtehend
ſei er auch darin ſtehen geblieben. Eines der kleineren
Kinder hätte in der Grube ſogar ertrinken können, ſo
tief ſei ſie gegraben worden. Man müſſe Sorge tra¬
gen, daß die Wieſe wieder abgeebnet werde; denn das
Waſſer bei Überſchwemmungen ſei trüb, und laſſe die
Tiefe und Ungleichheit des Bodens unter ſich nicht
bemerken.
Die naſſen Kinder drängten ſich um den naſſen
Pfarrer, ſie küßten ihm die Hand, ſie redeten mit ihm,
er redete mit ihnen, oder ſie ſtanden da, und ſahen
zutraulich zu ihm hinauf.
Er aber ſagte endlich, ſie ſollten jezt die naſſen
Rökchen auswinden, das Waſſer aus allen Kleidern
drüken, oder abſtreifen, und wer Schuhe und Strüm¬
pfe habe, ſolle ſie anziehen, dann ſollen ſie gehen,
daß ſie ſich nicht erkühlen, ſie ſollen ſich in die Sonne
Stifter, Jugendſchriften. I. 9
ſtellen, daß ſie eher troken würden, und ſollen dann
in die Schule gehen, und dort ſehr ſittſam ſein.
„Ja das werden wir thun,“ ſagten ſie.
Sie folgten der Weiſung auch ſogleich, ſie dukten
oder kauerten ſich nieder, ſie wanden die Rökchen aus,
ſie drükten das Waſſer aus den Füſſen der Höschen,
oder ſie drängten und ſtreiften es aus Falten und
Läppchen, und ich ſah, daß ſie darin eine große
Geſchiklichkeit hatten. Auch war die Sache nicht ſo
bedeutend; denn ſie hatten alle entweder ungebleichte
oder roth- oder blaugeſtreifte leinene Kleidchen an,
die bald troken werden würden, und denen man dann
kaum anſehen würde, daß ſie naß geweſen ſeien; und in
Hinſicht der Geſundheit, dachte ich, würde der jugend¬
liche Körper leicht die Feuchtigkeit überwinden. Da
ſie mit dem Auspreſſen des Waſſers fertig waren,
gingen ſie an das Anziehen der Schuhe und Strümpfe.
Als ſie auch dieſes Geſchäft beendigt hatten, nahm
der Pfarrer wieder von mir Abſchied, dankte mir noch
einmal, daß ich hieher gekommen ſei, und begab ſich
mit den Kindern auf den Weg in das Kar.
Ich rief den Kindern zu, ſie ſollten recht fleißig
ſein, ſie riefen zurük: „ja, ja,“ und gingen mit dem
Pfarrer davon.
Ich ſah die Geſtalt des Pfarrers unter dem Kin¬
derhaufen über die naſſe Wieſe der Karſchule zugehen,
wendete mich dann auch, und ſchlug den Weg in
meine Steine ein. Ich wollte nicht mehr in die Hoch¬
ſtraſſe gehen, ſondern gleich meine Leute und meinen
Arbeitsplaz aufſuchen, theils weil ich keine Zeit zu
verlieren hatte, theils weil ich ohnedem noch mit den
Reſten von Lebensmitteln verſehen war, die der
Pfarrer geſtern Abends verſchmäht hatte. Auch wollte
ich meine Leute beruhigen, die gewiß erfahren haben
würden, daß ich in der Nacht nicht in der Hochſtraſſe
geweſen ſei, und deßhalb meinetwillen beſorgt ſein
könnten.
Als ich in die Höhe der Kalkſteinhügel hinauf
ſtieg, dachte ich an die Kinder. Wie groß doch die
Unerfahrenheit und Unſchuld iſt. Sie gehen auf das
Anſehn der Eltern dahin, wo ſie den Tod haben
können; denn die Gefahr iſt bei den Überſchwem¬
mungen der Zirder ſehr groß, und kann bei der Un¬
wiſſenheit der Kinder unberechenbar groß werden.
Aber ſie kennen den Tod nicht. Wenn ſie auch ſeinen
Namen auf den Lippen führen, ſo kennen ſie ſeine
Weſenheit nicht, und ihr emporſtrebendes Leben hat
keine Empfindung von Vernichtung. Wenn ſie ſelbſt
in den Tod geriethen, würden ſie es nicht wiſſen,
und ſie würden eher ſterben, ehe ſie es erführen.
9*
Als ich ſo dachte, hörte ich das Glöklein von dem
Thurme der Karkirche in meine Steine herein klingen,
das eben zu der Morgenmeſſe rief, die der Pfarrer
abhalten, und der die Kinder beiwohnen würden.
Ich ging tiefer in die Steine hinein, und fand
meine Leute, die ſich freuten, mich zu ſehen, und die
mir Lebensmittel gebracht hatten. —
Da ich lange in der Gegend verweilte, konnte ich
es nicht vermeiden, auch aus dem Munde der Men¬
ſchen manches über den Pfarrer zu hören. Da erfuhr
ich, daß es wirklich wahr ſei, woran ich vermöge
ſeiner Ausſage ohnehin nicht mehr gezweifelt hatte,
daß er ſchon ſeit vielen Jahren in ſeinem Vorhauſe
auf der hölzernen Bank ſchlafe, und die Bibel unter
dem Kopfe habe; daß er hiebei im Sommer nur die
grauen Wollkleider anhabe, und im Winter ſich auch
einer Deke bediene. Seine Kleider trage er ſo lange,
und erhalte ſie ſo beiſammen, daß ſich niemand erin¬
nern könne, wann er ſich einmal neue angeſchafft
hätte. Das obere Stokwerk ſeines Pfarrhofes habe
er vermiethet. Es ſei ein Mann gekommen, der in
einem Amte geſtanden, dann in den Ruheſtand ver¬
ſezt worden war, und der ſeinen Gehalt nun in der
Gegend verzehre, in welcher er geboren worden ſei.
Er habe den Umſtand, daß der Pfarrer ſeine Zimmer
vermiethe, benüzt, um ſich mit ſeiner Tochter da ein¬
zumiethen, daß er immer den Schauplaz vor Augen
habe, in dem er ſeine Kindheit zugebracht hatte. Es
war mir dieſe Thatſache wieder ein Beweis, wie ſüß
uns nach den Worten des Dichters der Geburtsboden
zieht, und ſeiner nicht vergeſſen läßt, daß hier ein
Mann eine Gegend als ein Labſal und als eine Er¬
heiterung ſeines Alters aufſucht, aus der jeder andere
fortzukommen trachten würde. Der Pfarrer, ſagte
man, eſſe zum Frühmale und am Abende nur ein
Stük ſchwarzen Brotes, und ſein Mittageſſen bereite
ihm ſeine Dienerin Sabine, welche es in ihrer
Wohnung koche, und es ihm in den Pfarrhof bringe.
Es beſtehe häufig aus warmer Milch oder einer
Suppe oder im Sommer ſelbſt aus kalten Dingen.
Wenn er krank ſei, laſſe er keinen Arzt und keine Arz¬
nei kommen, ſondern liege, und enthalte ſich der
Speiſen, bis er geſund werde. Von den Einkünften
ſeiner Miethe und ſeines Amtes thue er Gutes und
zwar an Leute, die er ſorgſam ausſuche. Er habe
keine Verwandten und Bekannten. Seit den Jahren,
ſeit denen er da ſei, ſei niemand bei ihm auf Beſuch
geweſen. Alle ſeine Vorgänger ſeien nur kurze Zeit
Pfarrer in dem Kar geweſen, und ſeien dann fortge¬
kommen; er aber ſei ſchon ſehr lange da, und es habe
den Anſchein, daß er bis zu ſeinem Lebensende da
bleiben werde. Er gehe auch nicht auf Beſuche in die
Nachbarſchaft, ja er gehe nicht viel mit Menſchen um,
und wenn er nicht in ſeinen Amtsgeſchäften oder in
der Schule ſei, ſo leſe er in ſeinem Stüblein, oder er
gehe über die Wieſe in das Steinkar, gehe dort im
Sande herum, oder ſize dort einſam mit ſeinen Ge¬
danken.
Es hatte ſich in der Gegend der Ruf verbreitet,
daß er wegen ſeiner Lebensweiſe Geld habe, und er
iſt deßhalb ſchon dreimal beraubt worden.
Ich konnte von dieſen Dingen weder wiſſen was
wahr ſei, noch was nicht wahr ſei. So oft ich zu
ihm kam, ſah ich die ruhigen klaren blauen Augen,
das einfache Weſen, und die bittere ungeheuchelte
Armuth. Was ſeine Vergangenheit geweſen ſei, in
das drang ich nicht ein, und mochte nicht eindringen.
Ich hatte auch mehrere Predigten von ihm gehört.
Sie waren einfach chriſtlich, und wenn auch von
Seite der Beredſamkeit manches einzuwenden geweſen
wäre, ſo waren ſie doch klar und ruhig, und es war
eine ſolche Güte in ihnen, daß ſie in das Herz gingen.
Die Zeit meiner Arbeiten in jener Gegend zog ſich
in die Länge. Die Steinneſter jener unwirthlichen Land¬
ſchaften ſezten uns ſolche Hinderniſſe entgegen, daß
wir Ausſicht hatten, doppelt ſo viele Zeit zu brauchen,
als auf einem gleichen Flächenraume einer gezähm¬
ten und fruchtbaren Gegend. Dazu kam noch, daß
uns von den Behörden gleichſam eine Friſt geſezt
wurde, in der wir fertig ſein ſollten, indem wir
die Beſtimmung bekamen, zu einer gewiſſen Zeit in
einem anderen Theile des Reiches beſchäftigt zu wer¬
den. Ich wollte mir die Schande nicht anthun, mich
ſaumſelig finden zu laſſen. Ich both daher alles auf,
das Geſchäft in einen lebhaften Gang zu bringen.
Ich verließ die Hochſtraſſe, ich ließ mir in dem Theile
des Steinkars, in dem wir arbeiteten, eine Bretter¬
hütte als Wohnung aufſchlagen, ich wohnte dort,
und ließ mir mit meinen Leuten gemeinſchaftlich an
einem Feuer kochen. Ich zog auch alle Leute zu mir,
daß ſie auf dem Arbeitsſchauplaze oder in der Nähe in
errichteten Hüttchen wohnten, und ich nahm noch
mehrere fremde Menſchen als Handlanger auf, um
nun alles recht tüchtig und lebendig zu fördern.
Da ging es nun an ein Hämmern Meſſen Pflöke¬
ſchlagen Kettenziehen an ein Aufſtellen der Meßtiſche
an ein Abſehen durch die Gläſer an ein Beſtimmen
der Linien Winkelmeſſen Rechnen und dergleichen.
Wir rükten durch die Steinhügel vor, und unſere
Zeichen verbreiteten ſich auf dem Kalkgebiethe. Da
es eine Auszeichnung war, dieſen ſchwierigen Erd¬
winkel aufzunehmen, ſo war ich ſtolz darauf, es
recht ſchön und anſehnlich zu thun, und arbeitete oft
noch bis tief in die Nacht hinein in meiner Hütte.
Ich zeichnete manche Blätter doppelt, und verwarf
die minder gelungenen. Der Stoff wurde ſachgemäß
eingereiht.
Daß mir bei dieſen Arbeiten der Pfarrer in den
Hintergrund trat, iſt begreiflich. Allein da ich ihn
einmal ſchon längere Zeit nicht im Steinkar ſah,
wurde ich unruhig. Ich war gewöhnt ſeine ſchwarze
Geſtalt in den Steinen zu ſehen, von weitem ſichtbar,
weil er der einzige dunkle Punkt in der graulich däm¬
mernden oder unter dem Strahle der hinabſinkenden
Sonne röthlich beleuchteten Kalkflur war. Ich fragte
deßhalb nach ihm, und erfuhr, daß er krank ſei. So¬
gleich beſchloß ich, ihn zu beſuchen. Ich benüzte die
erſte freie Zeit dazu, oder vielmehr, ich machte mir
den erſten Abend frei, und ging zu ihm.
Ich fand ihn nicht auf ſeinem gewöhnlichen Lager
in dem Vorhauſe, ſondern in dem Stüblein auf der
hölzernen Bank, auf welcher er mir in der Gewitter¬
nacht ein Bett gemacht hatte. Man hatte ihm die
Wolldeken unter den Leib gegeben, die ich damals
gehabt hatte, und er hatte es zugelaſſen, weil er krank
war. Man hatte ihm auch eine Hülle gegeben, um
ſeinen Körper zudeken zu können, und man hatte den
fichtenen Tiſch an ſein Bett gerükt, daß er Bücher
darauf legen, und andere Dinge darauf ſtellen konnte.
So fand ich ihn.
Er lag ruhig dahin, und war auch jezt nicht zu
bewegen geweſen, einen Arzt oder eine Arznei anzu¬
nehmen, ſelbſt nicht die einfachſten Mittel zuzulaſſen,
die man ihm in ſein Zimmer brachte. Er hatte den
ſeltſamen Grund, daß es eher eine Verſuchung Got¬
tes ſei, eingreifen zu wollen, da Gott die Krankheit
ſende, da Gott ſie entferne, oder den beſchloſſenen Tod
folgen laſſe. Endlich glaubte er auch nicht ſo ſehr an
die gute Wirkung der Arzneien und an das Geſchik
der Ärzte.
Da er mich ſah, zeigte er eine ſehr heitere Miene,
es war offenbar, daß er darüber erfreut war, daß ich
gekommen ſei. Ich ſagte ihm, daß er verzeihen möge,
daß ich erſt jezt komme, ich hätte es nicht gewußt,
daß er krank ſei, ich wäre wegen der vielen Arbeiten
nicht von meiner Hütte in dem Steinkar heraus ge¬
kommen, ich hätte ihn aber vermißt, hätte ihm nach¬
gefragt, und ſei nun gekommen.
„Das iſt ſchön, das iſt recht ſchön,“ ſagte er.
Ich verſprach, daß ich nun ſchon öfter kommen werde.
Ich erkannte bei näheren Fragen über ſeinen Zu¬
ſtand, daß ſeine Krankheit weniger eine bedenkliche,
als vielmehr eine längere ſein dürfte, und ging daher
mit Beruhigung weg. Deßohngeachtet fuhr ich eines
Tages mit herein beſtellten Poſtpferden in die Stadt
hinaus, und berieth mich mit einem mir bekannten
Arzte daſelbſt, indem ich ihm alle Zuſtände, die ich
dem Pfarrer in mehreren Beſuchen abgefragt hatte,
darlegte. Er gab mir die Verſicherung, daß ich recht
geſehen hätte, daß das Übel kein gefährliches ſei, daß
die Natur da mehr thun könne als der Menſch, und
daß der Pfarrer in etwas längerer Zeit ſchon geneſen
werde.
Da ich nun öfter zu dem Pfarrer kam, ſo wurde
ich es ſo gewöhnt Abends ein wenig auf dem Stuhle
neben ſeinem Bette zu ſizen, und mit ihm zu plaudern,
daß ich es nach und nach alle Tage that. Ich ging
nach meiner Tagesarbeit aus dem Steinkar über die
Wieſe in den Pfarrhof, und verrichtete meine Haus¬
arbeit ſpäter bei Licht in meiner Hütte. Ich konnte
es um ſo leichter thun, da ich jezt ziemlich nahe an
dem Pfarrhofe wohnte, was in der Hochſtraſſe bei
Weitem nicht der Fall geweſen war. Ich war aber
nicht der Einzige, der ſich des Pfarrers annahm. Die
alte Sabine ſeine Aushelferin kam nicht nur öfter in
die Wohnung des Pfarrers herüber, als es eigentlich
ihre Schuldigkeit geweſen wäre, ſondern, ſie brachte
die meiſte Zeit, die ſie von ihrem eigenen Hausweſen,
das nur ihre einzige Perſon betraf, abſparen konnte,
in dem Pfarrhofe zu, und verrichtete die kleinen
Dienſte, die bei einem Kranken nothwendig waren.
Außer dieſer alten Frau kam auch noch ein junges
Mädchen, die Tochter des Mannes, welcher in dem
erſten Stokwerke des Pfarrhofes zur Miethe war.
Das Mädchen war bedeuteudbedeutend ſchön, es brachte
dem Pfarrer entweder eine Suppe oder irgend etwas
anderes, oder es erkundigte ſich um ſein Befinden,
oder es hinterbrachte die Frage des Vaters, ob er
dem Pfarrer in irgend einem Stüke beiſtehen könne.
Der Pfarrer hielt ſich immer ſehr ſtille, wenn das
Mädchen in das Zimmer trat, er regte ſich unter ſei¬
ner Hülle nicht, und zog die Deke bis an ſein Kinn
empor.
Auch der Schullehrer kam oft herüber, und auch
ein paar Amtsbrüder aus der Nachbarſchaft waren
eingetroffen, um ſich nach dem Befinden des Pfarrers
zu erkundigen.
War es nun die Krankheit, welche den Mann
weicher ſtimmte, oder war es der tägliche Umgang,
der uns näher brachte, wir wurden ſeit der Krankheit
des Pfarrers viel beſſer mit einander bekannt. Er
ſprach mehr, und theilte ſich mehr mit. Ich ſaß an
dem fichtenen Tiſche, der an ſeinem Bette ſtand, und
kam pünktlich alle Tage an die Stelle. Da er nicht
ausgehen konnte, und nicht in das Steinkar kam, ſo
mußte ich die Veränderungen, die dort vorkamen, be¬
richten. Er fragte mich, ob die Brombeeren an dem
Kulterloche ſchon zu reifen begännen, ob der Raſen
gegen die Zirderhöhe, welchen der Frühling immer
ſehr ſchön grün färbe, ſchon im Vergelben und Aus¬
dorren begriffen ſei, ob die Hagebutten ſchon reiften,
ob das Verwittern des Kalkſteins vorwärts gehe, ob
die in die Zirder gefallenen Stüke ſich vermehrten,
und der Sand ſich vervielfältigte, nndund dergleichen
mehr. Ich ſagte es ihm, ich erzählte ihm auch andere
Dinge, ich ſagte ihm, wo wir gearbeitet hätten, wie
weit wir vorgerükt wären, und wo wir morgen be¬
ginnen würden. Ich erklärte ihm hiebei manches, was
ihm in unſern Arbeiten dunkel war. Auch las ich
ihm zuweilen etwas vor, namentlich aus den Zei¬
tungen, die ich mir wöchentlich zwei Mal durch einen
Boten in das Steinkar herein bringen ließ.
Eines Tages, da die Krankheit ſich ſchon bedeu¬
tend zum Beſſeren wendete, ſagte er, er hätte eine
Bitte an mich.
Als ich ihm erwiederte, daß ich ihm ſehr gerne
jeden Dienſt erweiſe, der nur immer in meiner Macht
ſtehe, daß er nur ſagen ſolle, was er wolle, ich würde
es gewiß thun, antwortete er: „Ich muß Ihnen, ehe
ich meine Bitte ausſpreche, erſt etwas erzählen. Bemer¬
ken Sie wohl, ich erzähle es nicht, weil es wichtig iſt,
ſondern, damit Sie ſehen, wie alles ſo gekommen iſt,
was jezt iſt, und damit Sie vielleicht geneigter wer¬
den, meine Bitte zu erfüllen. Sie ſind immer ſehr
gut gegen mich geweſen, und Sie ſind ſogar neulich,
wie ich erfahren habe, in die Stadt hinaus gefahren,
um einen Arzt über meine Zuſtände zu befragen. Dies
gibt mir nun den Muth, mich an Sie zu wenden.“
„Ich bin der Sohn eines wohlhabenden Gerbers
in unſerer Hauptſtadt. Mein Urgroßvater war ein
Findling aus Schwaben, und wanderte mit dem
Stabe in der Hand in unſere Stadt ein. Er lernte
das Gerbergewerbe aus Güte mildthätiger Menſchen,
er beſuchte dann mehrere Werkſtätten, um in ihnen
zu arbeiten, er ging in verſchiedene Länder, um ſich
mit ſeinen Händen ſein Brod zu verdienen, und dann
die Art kennen zu lernen, wie überall das Geſchäft
betrieben wird. Unterrichtet kehrte er wieder in
unſere Stadt zurük, und arbeitete in einer anſehn¬
lichen Lederei. Dort zeichnete er ſich durch ſeine Kennt¬
niſſe aus, er ward endlich Werkführer, und der Herr
des Gewerbes vertraute ihm mehrere Geſchäfte an,
und übertrug ihm die Ausführung mancher Verſuche
zu neuen Bereitungen. Dabei verſuchte ſich der Ur¬
großvater in kleinen Handelsgeſchäften, er kaufte mit
geringen Mitteln Rohſtoffe, und verkaufte ſie wieder.
So erwarb er ſich ein kleines Vermögen. Da er ſchon
an Jahren zunahm, kaufte er ſich in der entfernten
Vorſtadt einen großen Garten, an den noch unbenüzte
Gründe ſtießen. Er baute auf dieſem Grunde eine
Werkſtätte und ein Häuschen, heirathete ein armes
Mädchen, und trieb nun als eigener Herr ſein Ge¬
werbe und ſeine Handelſchaft. Er brachte es vorwärts,
und ſtarb als ein geachteter bei den Geſchäftsleuten
angeſehener Mann. Er hatte einen einzigen Sohn
meinen Großvater.“
„Der Großvater trieb das Geſchäft ſeines Vaters
fort. Er dehnte es noch weiter aus. Er baute ein
großes Haus am Rande des Gartens, daß die
Fenſter dahin gingen, wo in Zukunft eine Straſſe mit
Häuſern ſein würde. Rükwärts des Hauſes baute er
die Werkſtätten und Aufbewahrungspläze. Der Gro߬
vater war überhaupt ein Freund des Bauens. Er
baute außer dem Hauſe noch einen großen Hof, der
zu weiteren Werkſtätten und zu verſchiedenen Theilen
unſeres Geſchäftes benüzt wurde. Die öden Gründe
neben unſerem Garten verkaufte er, und weil die
Stadt einen großen Aufſchwung nahm, ſo waren
dieſe Gründe ſehr theuer. Den Garten umgab er mit
einer Mauer, die wieder regelmäßige Unterbrechungen
mit Eiſengittern hatte. Er brachte das Geſchäft ſehr
empor, und legte die großen Kaufgewölbe an, in
welchen die Waaren, die wir ſelbſt erzeugten, und
die, mit welchen wir Handelſchaft trieben, niederge¬
legt wurden. Der Großvater hatte wieder nur einen
Sohn, der das Gewerbe weiter führte, meinen und
meines Bruders Vater.“
„Der Vater baute nur noch die Trokenböden auf
das Stokwerk der Werkſtätte, er baute an das Haus
einen kleinen Flügel gegen den Garten, und baute ein
Gewächshaus. Zu ſeiner Zeit war ſchon vor den
Fenſtern des Hauptgebäudes eine Straſſe entſtanden,
welche mit Häuſern geſäumt, mit Steinen gepflaſtert,
und von Gehenden und Fahrenden beſezt war. Ich
erinnere mich noch aus meiner Kindheit, daß unſer
Haus ſehr groß und geräumig war, daß es viele
Höfe und Fächer hatte, die zur Betreibung des Ge¬
werbes dienten. Am liebſten erinnere ich mich noch
des ſchönen Gartens, in dem Bäume und Blumen
Kräuter und Gemüſe ſtanden. In den Räumen der
Gebäude und der Höfe gingen die von ihrer Arbeit in
ihren Leinenkleidern faſt gelbbraun gefärbten Geſellen
herum, in dem großen Gewölbe zu ebener Erde und
in den zwei kleinen daran ſtoßenden lagen Lederballen
aufgethürmt, auf den Stangen des Trokenbodens
hingen Häute, und in den großen Austheilzimmern
wurden ſie geſondert und geordnet. In dem Verkauf¬
gewölbe lagen ſie zierlich in den Fächern. Im Rinder¬
ſtalle ſtanden Kühe, im Pferdeſtalle waren ſechs
Pferde und in dem Wagenbehältniß Kutſchen und
Wägen, ich erinnere mich ſogar noch auf den großen
ſchwarzen Hund Haſſan, der im großen Hofe war,
und bei dem Thore desſelben jederman hinein ließ,
aber niemand hinaus.“
„Unſer Vater war ein großer ſtarker Mann, der
in den weitläufigen Räumen des Hauſes herum ging,
alles beſah, und alles anordnete. Er ging faſt nie
aus dem Hauſe, außer wenn er Geſchäfte hatte, oder
in die Kirche ging; und wenn er zu Hauſe war, und
nicht eben bei der Arbeit nachſah, ſo ſaß er an dem
Schreibtiſche, und ſchrieb. Öfter wurde er auch in
dem Garten geſehen, wie er mit den Händen auf dem
Rüken dahin ging, oder wie er ſo da ſtand, und auf
einen Baum hinauf ſah, oder wie er die Wolken be¬
trachtete. Er hatte eine Freude an der Obſtzucht, hatte
einen eigenen Gärtner hiefür genommen, und hatte
Pfropfreiſer aus allen Gegenden Europas verſchrie¬
ben. Er war gegen ſeine Leute ſehr gut, er hielt ſie
ausreichend, ſah, daß einem jeden ſein Theil werde,
daß er aber auch thue, was ihm obliege. Wenn einer
krank war, ging er ſelber zu ſeinem Bette, fragte ihn,
wie er ſich befinde, und reichte ihm oft ſelber die
Arznei. Er hatte im Hauſe nur den allgemeinen
Namen Vater. Dem Prunke war er abgeneigt, daß
er eher zu ſchlicht und unſcheinbar daher ging als zu
anſehnlich, ſeine Wohnung war einfach, und wenn
er in einem Wagen ausfuhr, ſo mußte es ein ſehr
bürgerlich ausſehender ſein.“
„Wir waren zwei Brüder, Zwillinge, und die
Mutter hatte bei unſerer Geburt ihr Leben verloren.
Der Vater hatte ſie ſehr hoch geehrt, und daher keine
Frau mehr genommen; denn er hat ſie nie vergeſſen
können. Weil auf der Gaſſe zu viel Lärm war, wur¬
den wir in den hintern Flügel gegen den Garten ge¬
than, den der Vater an das Haus angebaut hatte.
Es war eine große Stube, in der wir waren, die
Fenſter gingen gegen den Garten hinaus, die Stube
war durch einen langen Gang von der übrigen Woh¬
nung getrennt, und damit wir nicht bei jedem Aus¬
gange durch den vordern Theil des Hauſes gehen
Stifter, Jugendſchriften. I. 10
mußten, ließ der Vater in dem Gartenflügel eine
Treppe bauen, auf welcher man unmittelbar in den
Garten und von ihm ins Freie gelangen konnte.“
„Nach dem Tode der Mutter hatte der Vater die
Leitung des Hausweſens einer Dienerin anvertraut,
welche ſchon bei der Mutter, ehe ſie Braut wurde, in
Dienſten geſtanden, und gleichſam ihre Erzieherin
geweſen war. Die Mutter hatte ſie auf ihrem Tod¬
bette dem Vater empfohlen. Sie hieß Luiſe. Sie
führte über alles die Leitung und Aufſicht, was die
Speiſe und den Trank betraf, was ſich auf die
Wäſche auf die Geſchirre auf die Geräthe des Hauſes
auf Reinigung der Treppen und Stuben auf Behei¬
zung und Luftung bezog, kurz über alles, was das
innere Hausweſen anbelangt. Sie ſtand an der
Spize der Mägde. Sie beſorgte auch die Bedürfniſſe
von uns beiden Knaben.“
„Da wir größer geworden waren, bekamen wir
einen Lehrer, der bei uns in dem Hauſe wohnte. Es
wurden ihm zwei ſchöne Zimmer hergerichtet, die ſich
neben unſerer Stube befanden, und mit dieſer Stube
den ganzen hintern Theil des Flügels ausmachten,
der den Namen Gartenflügel führte. Wir lernten von
ihm, was alle Kinder zu Anfange ihres Lernens vor¬
nehmen müſſen: Buchſtaben kennen Leſen Rechnen
Schreiben. Der Bruder war viel geſchikter als ich,
er konnte ſich die Buchſtaben merken, er konnte ſie zu
Silben verbinden, er konnte deutlich und in Abſäzen
leſen, ihm kam in der Rechnung immer die rechte
Zahl, und ſeine Buchſtaben ſtanden in der Schrift
gleich und auf der nehmlichen Linie. Bei mir war
das anders. Die Buchſtabennamen wollten mir nicht
einfallen, dann konnte ich die Silbe nicht ſagen, die
ſie mir vorſtellten, und beim Leſen waren die großen
Wörter ſehr ſchwer, und es war eine Pein, wenn
ſehr lange kein Beiſtrich erſchien. In der Rechnung
befolgte ich die Regeln, aber es ſtanden am Ende
meiſtens ganz andere Zahlen da, als uns heraus
kommen mußten. Bei dem Schreiben hielt ich die
Feder ſehr genau, ſah feſt auf die Linie, fuhr gleich¬
mäßig auf und nieder, und doch ſtanden die Buch¬
ſtaben nicht gleich, ſie ſenkten ſich unter die Linie, ſie
ſahen nach verſchiedenen Richtungen, und die Feder
konnte keinen Haarſtrich machen. Der Lehrer war ſehr
eifrig, der Bruder zeigte mir auch vieles, bis ich die
Sachen machen konnte. Wir hatten in der Stube
einen großen eichenen Tiſch, auf welchem wir lernten.
An jeder der zwei Langſeiten des Tiſches waren meh¬
rere Fächer angebracht, die heraus zu ziehen waren,
wovon die eine Reihe dem Bruder diente, ſeine Schul¬
10*
ſachen hinein zu legen, die andere mir. In jeder der
hintern Eken der Stube ſtand ein Bett, und neben dem
Bette ein Nachttiſchchen. Die Thür unſers Zimmers
ſtand Nachts in das Schlafzimmer des Lehrers
offen.“
„Wir gingen ſehr häufig in den Garten, und
beſchäftigten uns dort. Wir fuhren oft mit unſern
Schimmeln durch die Stadt, wir fuhren auch auf
das Land, oder ſonſt irgend wo herum, und der Lehrer
ſaß immer bei uns in dem Wagen. Wir gingen mit
ihm auch aus, wir gingen entweder auf einer Baſtei
der Stadtmauer oder in einer Allee ſpazieren, und
wenn etwas beſonderes in der Stadt ankam, das
ſehenswürdig war, und es der Vater erlaubte, ſo
gingen wir mit ihm hin, es zu ſehen.“
„Als wir in den Gegenſtänden der unteren Schulen
gut unterrichtet waren, kamen die Gegenſtände der
lateiniſchen Schule an die Reihe, und der Lehrer ſagte
uns, daß wir aus ihnen vor dem Director und vor
den Profeſſoren werden Prüfungen ablegen müſſen.
Wir lernten die lateiniſche und griechiſche Sprache,
wir lernten die Naturgeſchichte und Erdbeſchreibung
das Rechnen die ſchriftlichen Aufſäze und andere
Dinge. In der Religion wurden wir von dem wür¬
digen Kaplane unſerer Pfarrkirche in unſerem Hauſe
unterrichtet, und der Vater ging uns in religiöſen und
ſittlichen Dingen mit einem guten Beiſpiele voran.
Aber wie es in dem früheren Unterrichte geweſen war,
ſo war es hier auch wieder. Der Bruder lernte alles
recht gut, er machte ſeine Aufgaben gut, er konnte das
Lateiniſche und Griechiſche deutſch ſagen, er konnte die
Buchſtabenrechnungen machen, und ſeine Briefe und
Aufſäze waren, als hätte ſie ein erwachſener Menſch
geſchrieben. Ich konnte das nicht. Ich war zwar auch
recht fleißig, und im Anfange eines jeden Dinges
ging es nicht übel, ich verſtand es, und konnte es ſa¬
gen und machen; aber wenn wir weiter vorrükten,
entſtand eine Verwirrung, die Sachen kreuzten ſich,
ich konnte mich nicht zurecht finden, und hatte keine
Einſicht. In den Übertragungen aus der deutſchen
Sprache befolgte ich alle Regeln ſehr genau, aber da
waren immer bei einem Worte mehrere Regeln, die
ſich widerſprachen, und wenn die Arbeit fertig war,
ſo war ſie voll Fehler. Eben ſo ging es bei den Über¬
tragungen in das Deutſche. Es ſtanden in dem latei¬
niſchen oder griechiſchen Buche immer ſo fremde
Worte, die ſich nicht fügen wollten, und wenn ich ſie
in dem Wörterbuche aufſchlug, waren ſie nicht darin,
und die Regeln, die wir in unſerer Sprachlehre lern¬
ten, waren in den griechiſchen und lateiniſchen Bü¬
chern nicht befolgt. Am beſten ging es noch in zwei
Nebengegenſtänden, die der Vater zu lernen befohlen
hatte, weil wir ſie in unſerer Zukunft brauchen könn¬
ten, in der franzöſiſchen und italieniſchen Sprache,
für welche in jeder Woche zweimal ein Lehrer in das
Haus kam. Der Bruder und unſer Lehrer nahmen
ſich meiner ſehr an, und ſuchten mir beizuſtehen. Aber
da die Prüfungen kamen, genügte ich nicht, und mei¬
ne Zeugniſſe waren nicht gut.“
„So vergingen mehrere Jahre. Da die Zeit vor¬
über war, welche der Vater zur Erlernung dieſer
Dinge beſtimmt hatte, ſagte er, daß wir jezt unſer
Gewerbe lernen müßten, das er uns nach ſeinem
Tode übergeben würde, und das wir gemeinſam ſo
ehrenwerth und anſehnlich fortzuführen hätten, wie
es unſere und ſeine Vorfahren gethan hätten. Er
ſagte, wir müßten auf die nehmliche Weiſe unterrich¬
tet werden wie unſere Voreltern, damit wir auf die
nehmliche Weiſe zu handeln verſtünden wie ſie. Wir
müßten alle Handgriffe und Kenntniſſe unſeres Ge¬
ſchäftes von unten hinauf lernen, wir müßten zuerſt
arbeiten können, wie jeder gute und der beſte Arbeiter
in unſerem Handwerke, damit wir den Arbeiter und
die Arbeit beurtheilen könnten, damit wir wüßten,
wie die Arbeiter behandelt werden ſollen, und damit
wir von den Arbeitern geachtet würden. Dann erſt
ſollten wir zur Erlernung der weiteren in der Handel¬
ſchaft nöthigen Dinge übergehen.“
„Der Vater wollte, daß wir auch ſo leben ſollten,
wie unſere Arbeiter lebten, daß wir ihre Lage ver¬
ſtünden, und ihnen nicht fremd wären. Er wollte da¬
her, daß wir mit ihnen eſſen wohnen und ſchlafen
ſollten. Unſer bisheriger Lehrer verließ uns, indem
er jedem von uns ein Buch zum Andenken hinterließ,
wir zogen aus der Studierſtube fort, und gingen in
die Arbeiterwohnung hinüber.“
„Der Vater hatte den beſten Geſellen unſeres Ge¬
ſchäftes, der zugleich Werkführer war, zu unſerem
Lehrmeiſter beſtimmt, und uns überhaupt ſeiner Auf¬
ſicht übergeben. Wir bekamen jeder unſern Plaz in
ſeiner Werkſtätte, waren mit dem Handwerkzeuge
verſehen, und mußten beginnen, wie jeder Lehrling.
Zum Speiſen kamen wir an den nehmlichen Tiſch, an
dem alle unſere Arbeiter ſaßen, aber wir kamen an die
unterſten Pläze, wo ſich die Lehrlinge befanden. Als
Schlafgemach hatten wir auch das der Lehrlinge, an
welches das Schlafzimmer des Werkführers ſtieß, der
der einzige war, welcher ein eigenes Zimmer zum
Schlafen hatte. Deßhalb mußte er immer nicht nur
ein ſehr geſchikter Arbeiter ſein, ſondern auch durch
Rechtlichkeit Sitte und Lebenswandel ſich auszeichnen.
Ein anderer wurde in unſerem Hauſe zu dieſer Stelle
gar nicht genommen. Er hatte die beſondere Aufſicht
über die Lehrlinge, weil dieſe noch einer Erziehung
bedurften. Zum Lager erhielten wir ein Bett wie die
Lehrlinge, und zur Bekleidung hatten wir das Kleid
aller unſerer Arbeiter.“
„So begann die Sache. Aber auch hier war es
genau wieder ſo, wie es in allen vorhergegangenen
Dingen geweſen war. Der Bruder arbeitete ſchnell,
und ſeine Arbeitsſtüke waren ſchön. Ich machte es
genau ſo, wie der Lehrmeiſter es angab, aber meine
Stüke wurden nicht ſo, wie ſie ſein mußten, und wur¬
den nicht ſo ſchön wie die meines Bruders. Ich war
aber außerordentlich fleißig. Des Abends ſaßen wir
oft in der großen Geſprächſtube der Arbeiter, und
hörten ihren Reden zu. Es kamen auch böſe Beiſpiele von
Arbeitern vor, aber ſie ſollten uns nicht verloken, ſondern
ſie ſollten uns befeſtigen, und einen Abſcheu einflößen.
Der Vater ſagte, wer leben ſoll, muß das Leben ken¬
nen, das Gute und das Böſe davon, muß aber von
dem Lezteren nicht angegriffen ſondern geſtärkt werden.
An ſolchen Abenden holte ich den Arbeitern gerne Dinge,
um welche ſie mich ſchikten, Wein Käſe und andere Ge¬
genſtände. Sie hatten mich deßhalb auch ſehr lieb.“
„Wenn wir in einer Werkſtätte unterrichtet waren,
und die Sachen machen konnten, kamen wir in eine
andere, bis wir endlich freigeſprochen wurden, und
als Lehrlinge in die Handelſchaft traten. Als wir auch
da fertig waren, kamen wir in die Schreibſtube zu
den Schreibereien unſeres Geſchäftes.“
„Da endlich nach geraumer Zeit unſere Lehrjahre
vorüber waren, kamen wir in das Zimmer der Söhne
vom Hauſe, und erhielten die einfachen Kleider, wie
ſie unſer Vater zu tragen pflegte.“
„Nicht lange nach der Zeit der Vollendung der Leh¬
re, und da der Bruder ſchon überall zu den Geſchäf¬
ten beigezogen wurde, erkrankte der Vater. Er er¬
krankte nicht ſo ernſtlich, daß eine Gefahr zu befürch¬
ten geweſen wäre, ſo wie er auch nicht in dem Bette
liegen mußte, aber ſeine ſtarke Geſtalt nahm ab, ſie
wurde leichter, er ging viel in dem Hauſe und in dem
Garten herum, und nahm ſich nicht mehr ſo um die
Geſchäfte an, wie es früher ſeine Gewohnheit und
ſeine Freude geweſen war.“
„Der Bruder nahm ſich um die Führung des Ge¬
werbes an, ich brauchte mich nicht einzumiſchen, und
der Vater blieb endlich den größten Theil des Tages,
wenn er nicht eben in dem Garten war, in ſeinem
Wohnzimmer.“
„Um jene Zeit that ich die Bitte, daß man erlau¬
ben möge, daß ich wieder unſere alte Studierſtube
beziehen, und dort wohnen dürfe. Man gewährte die
Bitte, und ich ſchafte meine Habſeligkeiten durch den
langen Gang in die Stube. Weil der Vater in dem
Geſchäfte keine Anordnungen und keine Befehle
ertheilte, und weil mir der Bruder keine Arbeit auf¬
trug, hatte ich Muße, zu thun, was ich wollte. Da
man mir damals, als ich in unſeren Lehrgegenſtänden
keine genügenden Zeugniſſe erhalten hatte, keinen
Vorwurf gemacht hatte, ſo beſchloß ich, jezt alles
nachzuholen, und alles ſo zu lernen, wie es ſich ge¬
bührte. Ich nahm ein Buch aus der Lade, ſezte mich
dazu, und las den Anfang. Ich verſtand alles, und
lernte es, und merkte es mir. Am andern Tage wie¬
derholte ich das, was ich an dem vorigen Tage gelernt
hatte, verſuchte, ob ich es noch wiſſe, und lernte ein
neues Stük dazu. Ich gab mir nur Weniges zur
Aufgabe, aber ich ſuchte es zu verſtehen, und es gründ¬
lich in meinem Gedächtniſſe aufzubewahren. Ich gab
mir auch Aufgaben zur Ausarbeitung, und ſie gelan¬
gen. Ich ſuchte die Aufgaben hervor, welche uns
damals von unſerem Lehrer gegeben worden waren,
machte ſie noch einmal, und machte jezt keinen Fehler.
Wie ich es mit dem einen Buche gemacht hatte, machte
ich es auch mit den andern. Ich lernte ſehr fleißig,
und nach und nach war ich ſchier den ganzen Tag in
der Stube beſchäftigt. Wenn ich eine freie Zeit hatte,
ſo ſaß ich gerne nieder, nahm das Buch in die Hand,
welches mir mein Lehrer zum Angedenken gegeben
hatte, und dachte an den Mann, der damals bei uns
geweſen war.“
„In der Stube war alles geblieben, wie es einſt
geweſen war. Der große eichene Tiſch ſtand noch in
der Mitte, er hatte noch die Male, die wir entweder
abſichtlich mit dem Meſſer oder zufällgzufällig mit andern
Werkzeugen in ſein Holz gebracht hatten, er zeigte
noch die vertrokneten Tintenbäche, welche entſtanden
waren, wenn mit dem Tintengefäße ein Unglük ge¬
ſchehen war, und wenn mit allem Waſchen und Rei¬
ben keine Abhilfe mehr gebracht werden konnte. Ich
zog die Fächer heraus. Da lagen noch in den meinigen
meine Lehrbücher mit dem Röthel– oder Bleifederzei¬
chen in ihrem Innern, wie weit wir zu lernen hätten;
es lagen noch die Papierhefte darinnen, in welchen
die Ausarbeitungen unſerer Aufgaben geſchrieben
waren, und es leuchteten die mit rother Dinte ge¬
machten Striche des Lehrers hervor, die unſere Fehler
bedeuteten; es lagen noch die veralteten beſtaubten
Federn und Bleiſtiften darinnen. Eben ſo war es in
den Fächern des Bruders. Auch in ihnen lagen ſeine
alten Lerngeräthe in beſter Ordnung beiſammen. Ich
lernte jezt an demſelben Tiſche meine Aufgaben, an
welchem ich ſie vor ziemlich vielen Jahren gelernt hatte.
Ich ſchlief in dem nehmlichen Bette, und hatte das
Nachttiſchchen mit dem Lichte daneben. Das Bett des
Bruders aber blieb leer, und war immer zugedekt.
In den zwei Zimmern, in welchen damals der Lehrer
gewohnt hatte, hatte ich einige Käſten mit Kleidern
und andern Sachen, ſonſt waren ſie auch unbewohnt,
und hatten nur noch die alten Geräthe. So war ich
der einzige Bewohner des hintern Gartenflügels, und
dieſer Zuſtand dauerte mehrere Jahre.“
„Plözlich ſtarb unſer Vater. Mein Schrek war
fürchterlich. Kein Menſch hatte geglaubt, daß es ſo
nahe ſei, und daß es überhaupt eine Gefahr geben
könnte. Er hatte ſich zwar in der lezten Zeit immer
mehr zurükgezogen, ſeine Geſtalt war etwas verfallen,
auch brachte er oft mehrere Tage in dem Bette zu;
allein wir hatten uns an dieſen Zuſtand ſo gewöhnt,
daß er uns zulezt auch als ein regelmäßiger erſchien,
jeder Hausbewohner ſah ihn als den Vater an, der Vater
gehörte ſo nothwendig zu dem Hauſe, daß man ſich
ſeinen Abgang nicht denken konnte, und ich habe mir
wirklich nie gedacht, daß er ſterben könnte, und daß
er ſo krank ſei. In dem erſten Augenblike war alles
in Verwirrung, dann aber wurden die Leichenvorbe¬
reitungen gemacht. Mit ſeinem Leichenzuge gingen
alle Armen des Stadtbezirkes, es gingen die Männer
ſeines Geſchäftes mit ſeine Freunde viele Fremde die
Arbeiter ſeines Hauſes und ſeine zwei Söhne. Es
wurden ſehr viele Thränen geweint, wie man um
wenige Menſchen des Landes weint, und die Leute
ſagten, daß ein vortrefflicher Mann ein auserleſener
Bürger und ein ehrenvoller Geſchäftsmann begraben
worden ſei. Nach einigen Tagen wurde das Teſta¬
ment eröffnet, und in demſelben ſtand, daß wir beiden
Brüder als Erben eingeſezt ſeien, und uns das Ge¬
ſchäft gemeinſchaftlich zugefallen ſei.“
„Der Bruder ſagte mir nach einiger Zeit, daß die
ganze Laſt des Geſchäftes nun auf unſern Schultern
liege, und ich eröffnete ihm hiebei, daß ich das Latei¬
niſche Griechiſche die Naturgeſchichte die Erdbeſchrei¬
bung und die Rechenkunſt, worin ich damals, als wir
unterrichtet wurden, geringe Fortſchritte gemacht hatte,
nachgelernt hätte, und daß ich jezt beinahe vollkommen
in dieſen Dingen bewandert wäre. Er aber antwortete
mir, daß Lateiniſch Griechiſch und die übrigen Fächer zu
unſerem Berufe nicht geradehin nothwendig ſeien, und
daß ich zu ſpät dieſe Mühe verwendet hätte. Ich er¬
wiederte ihm, daß ich, ſo wie ich dieſe Lernfächer nach¬
gelernt hätte, ich auch alle die Arbeiten und Kennt¬
niſſe, die zu unſerem Geſchäfte unmittelbar nothwen¬
dig wären, allmählich nachlernen würde. Hierauf
ſagte er wieder, daß, wenn das Geſchäft auf mich
warten müßte, ich zu einer Zeit fertig werden würde,
wenn es bereits zu Grunde gegangen wäre. Er ver¬
ſprach aber, daß er ſich ſo annehmen werde, wie es
in ſeinen Kräften möglich ſei, und daß er mir über¬
laſſe, zu thun, wie es mir gefalle, daß ich Einſicht
nehmen könne, daß ich mithelfen könne, daß ich noch
lernen könne, und daß mein Theil mir aber in jedem
Falle unverkümmert bewahrt werden ſolle.“
„Ich ging wieder in die Studierſtube zurük,
miſchte mich in die Geſchäfte nicht, weil ich ſie wohl
nicht verſtand, und er ließ mich dort. Ja er ſchikte
mir ſogar beſſere Geräthe, und verſah mich mit meh¬
reren Bequemlichkeiten, daß der Aufenthalt in der
Stube mir nicht unangenehm würde. Nach einiger
Zeit erſchien er mit dem Rechtsanwalte unſeres
Hauſes mit Perſonen des Gerichtes und mit Zeugen,
welche Freunde unſers Vaters geweſen waren, und
gab mir ein gerichtliches Papier, auf welchem ver¬
zeichnet war, was ich für Anſprüche an die Erbſchaft
habe, welcher mein Theil ſei, und was mir in der
Zukunft gebühre. Der Bruder die Zeugen und ich
unterſchrieben die Schrift.“
„Ich fuhr nun mit dem Lernen fort, der Bruder
leitete den ganzen Umfang des Geſchäftes. Nach einem
Vierteljahre brachte er mir eine Summe Geldes, und
ſagte, das ſeien die Zinſen, welche mir von meinem
Antheile an der Erbſchaft, der in dem Gewerbe thätig
ſei, gebühren. Er ſagte, daß er mir alle Vierteljahre
dieſe Summe einhändigen werde. Er fragte mich, ob
ich zufrieden ſei, und ich antwortete, daß ich ſehr
zufrieden ſei.“
„Nachdem ſo wieder eine Zeit vergangen war,
ſtellte er mir einmal vor, daß mein Lernen doch zu
etwas führen müſſe, und er fragte mich, ob ich nicht
geneigt wäre, zu einem der gelehrten Stände hinzu¬
arbeiten, zu denen die Dinge, mit welchen ich mich
jezt beſchäftige, die Vorarbeit ſeien. Als ich ihm ant¬
wortete, daß ich nie darüber nachgedacht habe, und
daß ich nicht wiſſe, welcher Stand ſich für mich ziemen
könnte, ſagte er, das ſei jezt auch nicht nothwendig,
ich möchte nur aus den Kenntniſſen, die ich mir jezt
erworben hätte, nach und nach die Prüfungen able¬
gen, damit ich beglaubigte Schriften über meine
Anwartſchaft in den Händen hätte, ich möchte mir
die fehlenden Wiſſenſchaften noch zu erwerben trachten,
und mich über ſie gleichfalls Prüfungen unterziehen,
und wenn dann der Zeitpunkt gekommen wäre, mich
für einen beſondern Stand zu entſcheiden, hätte ich
wieder mehr Erfahrungen geſammelt, und ſei dann
leichter in der Lage, mich zu beſtimmen, wohin ich
mich zu wenden hätte.“
„Mir gefiel der Vorſchlag recht gut, und ich ſagte
zu. Nach einiger Zeit machte ich die erſten Prüfungen
aus den unteren Fächern, und ſie fielen außerordent¬
lich gut aus. Dies machte mir Muth und ich ging
mit Eifer an die Erlernung der weiteren Kenntniſſe.
Mir zitterte innerlich das Herz vor Freude, daß ich
einmal einem jener Stände, die ich immer mit ſo
vieler Ehrfurcht betrachtet hatte, die der Welt mit
ihren Wiſſenſchaften und mit ihrer Geſchiklichkeit
dienen, angehören ſollte. Ich arbeitete ſehr fleißig,
ich kargte mir die Zeit ab, ich kam wenig in die
andern Räume des Hauſes hinüber, und nachdem
wieder eine Zeit vergangen war, konnte ich abermals
eine Prüfung mit gutem Erfolge ablegen.“
„So war ich vollſtändig ein Bewohner des hintern
Gartenflügels geworden, durfte es bleiben, und
konnte mich mit gutem Gewiſſen meinen Beſtrebungen
hingeben.“
„An unſern hinteren Gartentheil ſtieß ein zweiter
Garten, der aber eigentlich kein Garten war, ſondern
mehr ein Anger, auf dem hie und da ein Baum ſtand,
den niemand pflegte. Hart an einem Eiſengitter unſeres
Gartens ging der Weg vorüber, der in dem fremden
Garten war. Ich ſah in jenem Garten immer ſehr ſchöne
weiße Tücher und andere Wäſche auf langen Schnüren
aufgehängt. Ich blikte oft theils aus meinen Fenſtern
theils durch das Eiſengitter, wenn ich eben in dem
Garten war, darauf hin. Wenn ſie troken waren,
wurden ſie in einen Korb geſammelt, während eine
Frau dabei ſtand, und es anordnete. Dann wurden
wieder naſſe aufgehängt, nachdem die Frau die zwiſchen
Pflöken geſpannten Schnüre mit einem Tuche abge¬
wiſcht hatte. Dieſe Frau war eine Wittwe. Ihr Gatte
hatte ein Amt gehabt, das ihn gut nährte. Kurz nach
ſeinem Tode war auch ſein alter gütiger Herr geſtor¬
ben, und der Sohn desſelben hatte ein ſo hartes
Herz, daß er der Wittwe nur ſo viel gab, daß ſie
nicht gerade verhungerte. Sie miethete daher das
Gärtchen, das an unſern Garten ſtieß, ſie mietehte
auch das kleine Häuschen, welches in dem Garten
ſtand. Mit dem Gelde, das ihr ihr Gatte hinterlaſſen
hatte, richtete ſie nun das Häuschen und den Garten
dazu ein, daß ſie für die Leute, welche ihr das Ver¬
trauen ſchenken würden, Wäſche beſorgte, feine und
Stifter, Jugendſchriften. I. 11
jede andere. Sie ließ in dem Häuschen Keſſel ein¬
mauern, und andere Vorrichtungen machen, um die
Wäſche zu ſieden, und die Laugen zu bereiten. Sie
ließ Waſchſtuben herrichten, ſie bereitete Orte, wo
geglättet und gefaltet wurde, und für Zeiten des
ſchlechten Wetters und des Winters ließ ſie einen
Trokenboden aufführen. In dem Garten ließ ſie
Pflöke in gleichen Entfernungen von einander ein¬
ſchlagen, an den Pflöken Ringe befeſtigen, und durch
die Ringe Schnüre ziehen, welche oft gewechſelt wur¬
den. Hinter dem Häuschen ging ein Bach vorüber,
welcher die Wittwe verleitet hatte, hier ihre Waſch¬
anſtalt zu errichten. Von dem Bache führten Pump¬
rinnen in die Keſſel, und über dem Waſſer des Baches
war eine Waſchhütte erbaut. Die Frau hatte viele
Mägde genommen, welche arbeiten und die Sache
gehörig bereiten mußten, ſie ſtand dabei, ordnete an,
zeigte, wie alles richtig zu thun ſei, und da ſie die
Wäſche nicht mit Bürſten und groben Dingen behan¬
deln ließ, und darauf ſah, daß ſie ſehr weiß ſei, und
daß das Schlechte ausgebeſſert wurde, ſo bekam ſie
ſehr viele Kundſchaften, ſie mußte ihre Anſtalt erwei¬
tern und mehr Arbeiterinnen nehmen, und nicht ſelten
kam manche vornehme Frau, und ſaß mit ihr unter
dem großen Birnbaume des Gartens.“
„Dieſe Frau hatte auch ein Töchterlein, ein Kind,
nein es war doch kein Kind mehr — ich wußte eigent¬
lich damals nicht, ob es noch ein Kind ſei oder nicht.
Das Töchterlein hatte ſehr feine rothe Wangen, es
hatte feine rothe Lippen, unſchuldige Augen, die
braun waren, und freundlich um ſich ſchauten. Über
die Augen hatte es Lider, die groß und ſanft waren,
und von denen lange Wimpern nieder gingen, die
zart und ſittſam ausſahen. Die dunkeln Haare waren
von der Mutter glatt und rein geſcheitelt, und lagen
ſchön an dem Haupte. Das Mädchen trug manchmal
ein längliches Körbchen von feinem Rohre; über
dem Körbchen war ein weißes ſehr feines Tuch ge¬
ſpannt, und in dem Körbchen mochte ganz auserleſene
Wäſche liegen, welche das Kind zu einer oder der
andern Frau zu tragen hatte.“
„Ich ſah es gar ſo gerne an. Manchmal ſtand ich
an dem Fenſter, und ſah auf den Garten hinüber, in
welchem immer ohne Unterbrechung, außer wenn es
Nacht wurde, oder ſchlechtes Wetter kam, Wäſche an
den Schnüren hing, und ich hatte die weißen Dinge
ſehr lieb. Da kam zuweilen das Mädchen heraus,
ging auf dem Anger hin und wider, und hatte
mancherlei zu thun, oder ich ſah es, obwohl das
Häuschen ſehr unter Zweigen verſtekt war, an dem
11*
Fenſter ſtehen, und lernen. Ich wußte bald auch die
Zeit, an welcher es die Wäſche fort trug, und da
ging ich manchmal in den Garten hinunter, und ſtand
an dem eiſernen Gitter. Da der Weg an dem Gitter
vorüber ging, mußte das Mädchen an mir vorbei
kommen. Es wußte recht wohl, daß ich da ſtehe; denn
es ſchämte ſich immer, und nahm ſich im Gange zu¬
ſammen.“
„Eines Tages, da ich die Wäſchträgerin von ferne
kommen ſah, legte ich ſchnell einen ſehr ſchönen Pfir¬
ſich, den ich zu dieſem Zweke ſchon vorher gepflükt
hatte, durch die Öffnung der Gitterſtäbe hinaus auf
ihren Weg, und ging in das Gebüſche. Ich ging ſo
tief hinein, daß ich ſie nicht ſehen konnte. Als ſchon
ſo viele Zeit vergangen war, daß ſie lange vor¬
über gekommen ſein mußte, ging ich wieder hervor;
allein der Pfirſich lag noch auf dem Wege. Ich war¬
tete nun die Zeit ab, wann ſie wieder zurük kommen
würde. Aber da ſie ſchon zurük gekommen war, und
ich nachſah, lag der Pfirſich noch auf dem Wege.
Ich nahm ihn wieder herein. Das Nehmliche geſchah
nach einer Zeit noch einmal. Beim dritten Male blieb
ich ſtehen, als der Pfirſich mit ſeiner ſanften rothen
Wange auf dem Sande lag, und ſagte, da ſie in die
Nähe kam: „Nimm ihn.“ Sie blikte mich an, zögerte
ein Weilchen, bükte ſich dann, und nahm die Frucht.
Ich weiß nicht mehr, wo ſie dieſelbe hingeſtekt hatte,
aber das weiß ich gewiß, daß ſie ſie genommen hatte.
Nach Verlauf von einiger Zeit that ich dasſelbe wie¬
der, und ſie nahm wieder die Frucht. So geſchah es
mehrere Male, und endlich reichte ich ihr den Pfirſich
mit der Hand durch das Gitter.“
„Zulezt kamen wir auch zum Sprechen. Was wir
geſprochen haben, weiß ich nicht mehr. Es muß ge¬
wöhnliches Ding geweſen ſein. Wir nahmen uns
auch bei den Händen.“
„Mit der Zeit konnte ich nicht mehr erwarten,
wenn ſie mit dem Körbchen kam. Ich ſtand alle Mal
an dem Gitter. Sie blieb ſtehen, wenn ſie zu mir
gekommen war, und wir redeten mit einander. Ein¬
mal bath ich ſie, mir die Dinge in dem Körbchen zu
zeigen. Sie zog den linnenen Dekel mit kleinen
Schnürchen auseinander, und zeigte mir die Sachen.
Da lagen Krauſen feine Ärmel und andere geglättete
Dinge. Sie nannte mir die Namen, und als ich ſagte,
wie ſchön das ſei, erwiederte ſie: »Die Wäſche ge¬
hört einer alten Gräfin, einer vornehmen Frau, ich
muß ſie ihr immer ſelber hin tragen, daß ihr nichts
geſchieht, weil ſie ſo ſchön iſt.« Da ich wieder ſagte:
„Ja das iſt ſchön, das iſt außerordentlich ſchön,“ ant¬
wortete ſie: »Freilich iſt es ſchön, meine Mutter ſagt:
die Wäſche iſt nach dem Silber das erſte Gut in einem
Hauſe, ſie iſt auch feines weißes Silber, und kann,
wenn ſie unrein iſt, immer wieder zu feinem weißen
Silber gereinigt werden. Sie gibt unſer vornehmſtes
und nächſtes Kleid. Darum hat die Mutter auch ſo
viele Wäſche geſammelt, daß wir nach dem Tode des
Vaters genug hatten, und darum hat ſie auch die
Reinigung der Wäſche für andere Leute übernommen,
und läßt nicht zu, daß ſie mit rauhen und unrechten
Dingen angefaßt werde. Das Gold iſt zwar auch
koſtbar, aber es iſt kein Hausgeräthe mehr, ſondern
nur ein Schmuk.« Ich erinnerte mich bei dieſen Wor¬
ten wirklich, daß ich an dem Körper der Sprechenden
immer am Rande des Halſes oder an den Ärmeln die
feinſte weiße Wäſche geſehen hatte, und daß ihre
Mutter immer eine ſchneeweiße Haube mit feiner
Krauſe um das Angeſicht trug.“
„Von dieſem Augenblike an begann ich von dem
Gelde, welches mir der Bruder alle Vierteljahre zu¬
ſtellte, ſehr ſchöne Wäſche, wie die der vornehmen
Gräfin war, anzuſchaffen, und mir alle Arten ſilberne
Hausgeräthe zu kaufen.“
„Einmal, da wir ſo bei einander ſtanden, kam die
Mutter in der Nähe vorüber, und rief: »Johanna,
ſchäme dich.« Wir ſchämten uns wirklich, und liefen
auseinander. Mir brannten die Wangen vor Scham,
und ich wäre erſchroken, wenn mir jemand im Gar¬
ten begegnet wäre.“
„Von der Zeit an ſahen wir uns nicht mehr an
dem Gitter. Ich ging jedes Mal in den Garten, wenn
ſie vorüber kam, aber ich blieb in dem Gebüſche, daß
ſie mich nicht ſehen konnte. Sie ging mit gerötheten
Wangen und mit niedergeſchlagenen Augen vorüber.“
„Ich ließ nun in die zwei Zimmer, die an meine
Wohnſtube ſtießen, Käſten ſtellen, von denen ich die
oberen Fächer hatte ſchmal machen laſſen, in welche
ich das Silber hineinlegte, die unteren aber breit,
in welche ich die Wäſche that. Ich legte das Zuſam¬
mengehörige zuſammen, und umwand es mit rothſei¬
denen Bändern.“
„Nach geraumer Zeit ſah ich das Mädchen lange
nicht an dem eiſernen Gitter vorüber gehen, ich ge¬
traute mir nicht zu fragen, und als ich endlich doch
fragte, erfuhr ich, daß es in eine andere Stadt gege¬
ben worden ſei, und daß es die Braut eines fernen
Anverwandten werden würde.“
„Ich meinte damals, daß ich mir die Seele aus
dem Körper weinen müſſe.“
„Aber nach einer Zeit ereignete ſich etwas Furcht¬
bares. Mein Bruder hatte einen großen Wechſler,
der ihm ſtets auf Treu und Glauben das Geld für
laufende Ausgaben bis zu einer feſtgeſezten Summe
lieferte, um ſich nach Umſtänden immer wieder aus¬
zugleichen. Ich weiß es nicht, haben andere Leute
meinem Bruder den Glauben untergraben, oder hat
der Wechſler ſelber, weil zwei Handelſchaften, die uns
bedeutend ſchuldeten, gefallen waren, und uns um
unſern Reichthum brachten, Mißtrauen geſchöpft: er
weigerte ſich fortan die Wechſel unſeres Hauſes zu
zahlen. Der Bruder ſollte mehrere mit Summen de¬
ken, und es fehlte hinlängliches bares Geld dazu.
Die Freunde, an welche er ſich wendete, ſchöpften ſel¬
ber Mißtrauen, und ſo kam es, daß die Wechſelgläu¬
biger die Klage anſtellten, daß unſer Haus unſere
andern Beſizungen und unſere Waaren abgeſchäzt
wurden, ob ſie hinreichen, ohne daß man an unſere
ausſtehenden Forderungen zu greifen hätte. Da nun
dies bekannt wurde, kamen alle, welche eine Foder¬
ung hatten, und wollten ſie erfüllt haben; aber die,
welche uns ſchuldeten, kamen nicht. Der Bruder
wollte mir nichts entdeken, damit ich mich nicht kränk¬
te, er gedachte es noch vorüber zu führen. Allein da
der Verkauf unſeres Hauſes zu ſofortiger Dekung der
Wechſelſchulden angeordnet wurde, konnte er es mir
nicht mehr verbergen. Er kam auf meine Stube, und
ſagte mir alles. Ich gab ihm das Geld, das ich hatte;
denn meine Bedürfniſſe waren ſehr gering geweſen,
und ich hatte einen großen Theil meiner Einkünfte
erſparen können. Ich öffnete die ſchmalen oberen Fä¬
cher meiner Käſten, und legte alles mein Silber auf
unſern eichenen Lerntiſch heraus, und both es ihm an.
Er ſagte, daß das nicht reiche, um das Haus und
das Geſchäft zu retten, und er weigerte ſich, es anzu¬
nehmen. Auch das Gericht machte keine Foderung an
mich, aber ich konnte es nicht leiden, daß mein Bru¬
der etwas unerfüllt ließe, und ſein Gewiſſen belaſtete,
ich that daher alles zu den andern Werthen. Es
reichte zuſammen hin, daß allen Gläubigern ihre Fo¬
derungen ausgezahlt, und ſie bis auf das Genaueſte
befriediget werden konnten. Allein unſer ſchönes Haus
mit ſeinem hinteren Flügel und unſer ſchöner Garten
war verloren.“
„Ich weiß nicht, welche andere Schläge noch ka¬
men; aber auch die Ausſicht, mit dem ausſtehenden
Gelde noch ein kleines Geſchäft einzuleiten, und uns
nach und nach wieder empor zu ſchwingen, war in kur¬
zer Zeit vereitelt.“
„Mein Bruder, welcher unverheirathet war,
grämte ſich ſo, daß er in ein Fieber verfiel, und ſtarb.
Ich allein und mehrere Menſchen, denen er Gutes ge¬
than hatte, gingen mit der Leiche. Da vom Urgro߬
vater her immer nur ein Sohn als einziges Kind und
Nachfolger bis auf uns beide Brüder geweſen war,
da auch die Haushälterin Luiſe ſchon länger vorher
mit Tod abgegangen war, ſo hatte ich keinen Ver¬
wandten und keinen Bekannten mehr.“
„Ich hatte den Gedanken gefaßt, ein Verkünder
des Wortes des Herrn, ein Prieſter, zu werden. Wenn
ich auch unwürdig wäre, dachte ich, ſo könnte mir doch
Gott ſeine Gnade verleihen, zu erringen, daß ich nicht
ein ganz verwerflicher Diener und Vertreter ſeines
Wortes und ſeiner Werke ſein könnte.“
„Ich nahm meine Zeugniſſe und Schriften zuſam¬
men, ging in die Prieſterbildungsanſtalt, und bath
beklemmt um Aufnahme. Sie wurde mir gewährt.
Ich zog zur feſtgeſezten Zeit in die Räume ein, und
begann meine Lernzeit. Sie ging gut vorüber, und
als ich fertig war, wurde ich zum Diener Gottes ge¬
weihet. Ich that meine erſten Dienſte bei älteren
Pfarrern als Mitarbeiter in der Seelſorge, die ihnen
anvertraut war. Da kam ich in verſchiedene Lagen,
und lernte Menſchen kennen. Von den Pfarrern
lernte ich in geiſtlichen und weltlichen Eigenſchaften.
Als eine ſolche Reihe von Jahren vergangen war,
daß man es mir nicht mehr zu arg deuten konnte,
wenn ich um eine Pfarre einkäme, bath ich um die
jezige, und erhielt ſie. Ich bin nun über ſieben und
zwanzig Jahre hier, und werde auch nicht mehr weg
gehen. Die Leute ſagen, die Pfarre ſei ſchlecht, aber
ſie trägt ſchon, wovon ein Verkünder des Evange¬
liums leben kann. Sie ſagen, die Gegend ſei häßlich,
aber auch das iſt nicht wahr, man muß ſie nur gehö¬
rig anſchauen. Meine Vorgänger ſind von hier auf
andere Pfarrhöfe verſezt worden. Da aber meine jezt
lebenden Mitbrüder, die in meinen Jahren und etwas
jünger ſind, ſich während ihrer Vorbereitungszeit ſehr
auszeichneten, und mir in allen Eigenſchaften über¬
legen ſind, ſo werde ich nie bitten, von hier auf einen
anderen Plaz befördert zu werden. Meine Pfarrkinder
ſind gut, ſie haben ſich manchem meiner lehrenden
Worte nicht verſchloſſen, und werden ſich auch ferner
nicht verſchließen.“
„Dann habe ich noch einen anderen weltlicheren
und einzelneren Grund, weßhalb ich an dieſer Stelle
bleibe. Sie werden denſelben ſchon einmal ſpäter
erfahren, wenn ſie nehmlich die Bitte, die ich an Sie
ſtellen will, erhören. Ich komme nun zu dieſer Bitte,
aber ich muß noch etwas ſagen, ehe ich ſie ausſpreche.
Ich habe zu einem Zweke in dieſem Pfarrhofe zu
ſparen angefangen, der Zwek iſt kein ſchlechter, er
betrifft nicht blos ein zeitliches Wohl, ſondern auch
ein anderes. Ich ſage ihn jezt nicht, er wird ſchon
einmal kund werden; aber ich habe um ſeinetwillen zu
ſparen begonnen. Von dem Vaterhauſe habe ich kein
Vermögen mitgebracht; was noch an Gelde eingegan¬
gen iſt, wurde zu verſchiedenen Dingen verwendet, und
ſeit Jahren iſt nichts mehr eingegangen. Ich habe von
dem väterlichen Erbe nur das einzige Crucifix welches
an meiner Thür dort über dem Weihbrunngefäße
hängt. Der Großvater hat es einmal in Nürnberg
gekauft, und der Vater hat es mir, weil es mir ſtets
gefiel, geſchenkt. So fing ich alſo an, von den Mit¬
teln meines Pfarrhofes zu ſparen. Ich legte einfache
Kleider an, und ſuche ſie lange zu erhalten, ich ver¬
abſchiedete das Bett, und legte mich auf die Bank indem
Vorhauſe, und that die Bibel zum Zeugen und zur
Hilfe unter mein Haupt. Ich hielt keine Bedienung
mehr, und miethete mir die Dienſte der alten Sabine,
die für mich hinreichen. Ich eſſe, was für den menſch¬
lichen Körper gut und zuträglich iſt. Den oberen
Theil des Pfarrhofes habe ich vermiethet. Ich habe
ſchon zweimal darüber einen Verweis von dem hoch¬
würdigen biſchöflichen Conſiſtorium erhalten, aber
jezt laſſen ſie es geſchehen. Weil die Leute bei mir
bares Geld vermutheten, was auch wahr geweſen
iſt, ſo bin ich dreimal desſelben beraubt worden, aber
ich habe wieder von vorne angefangen. Da die Diebe
nur das Geld genommen hatten, ſo ſuchte ich es
ihnen zu entrüken. Ich habe es gegen Waiſenſicher¬
heit angelegt, und wenn kleine Zinſen anwachſen, ſo
thue ich ſie ſtets zu dem Kapitale. So bin ich nun
ſeit vielen Jahren nicht behelligt worden. In der
langen Zeit iſt mir mein Zuſtand zur Gewohnheit
geworden, und ich liebe ihn. Nur habe ich eine
Sünde gegen dieſes Sparen auf dem Gewiſſen: ich
habe nehmlich noch immer das ſchöne Linnen, das ich
mir in der Stube in unſerem Gartenflügel angeſchafft
hatte. Es iſt ein ſehr großer Fehler, aber ich habe
verſucht, ihn durch noch größeres Sparen an meinem
Körper und an anderen Dingen gut zu machen. Ich
bin ſo ſchwach, ihn mir nicht abgewöhnen zu können.
Es wäre gar zu traurig, wenn ich die Wäſche weg¬
geben müßte. Nach meinem Tode wird ſie ja auch
etwas eintragen, und den anſehnlicheren Theil ge¬
brauche ich ja gar nicht.“
Ich wußte nun, weßhalb er ſich ſeiner herrlichen
Wäſche ſchämte.
„Es iſt mir nicht lieb,“ fuhr er fort, „daß ich hier
den Menſchen nicht ſo helfen kann, wie ich möchte;
aber ich kann es dem Zweke nicht entziehen, und es
können ja nicht alle Menſchen im ganzen Umfange
wohlthun, wie ſie wünſchten, dazu wäre der größte
Reichthum nicht groß genug.“
„Sehen Sie, nun habe ich Ihnen alles geſagt
wie es mit mir geweſen iſt, und wie es noch mit mir
iſt. Jezt kömmt meine Bitte, Sie werden ſie mir
vielleicht, wenn Sie an alles denken, was ich Ihnen
erzählt habe, gewähren. Sie iſt aber beſchwerlich zu
erfüllen, und nur Ihre Freundlichkeit und Güte er¬
laubt mir ſie vorzubringen. Ich habe mein Teſtament
bei dem Gerichte zu Karsberg in dem Schloſſe nieder
gelegt. Ich vermuthe, daß es dort ſicher iſt, und ich
habe den Empfangſchein hier in meinem Hauſe. Aber
alle menſchlichen Dinge ſind wandelbar, es kann
Feuer Verwüſtung Feindeseinbruch oder ſonſt ein
Unglük kommen, und das Teſtament gefährden. Ich
habe daher noch zwei gleichlautende Abſchriften ver¬
faßt, um ſie ſo ſicher als möglich nieder zu legen, daß
ſie nach meinem Tode zum Vorſcheine kommen mögen,
und ihr Zwek erfüllt werde. Da wäre nun meine
Bitte, daß Sie eine Abſchrift in Ihre Hände nähmen,
und aufbewahrten. Die andere behalte ich entweder
hier, oder ich gebe ſie auch jemanden, daß er ſie eben¬
falls zu ihrem Zweke aufbewahre. Freilich müßten
Sie da erlauben, daß ich Ihnen, wenn Sie von
dieſer Gegend ſcheiden, von Zeit zu Zeit einen kleinen
Brief ſchreibe, worin ich Ihnen ſage, daß ich noch
lebe. Wenn die Briefe ausbleiben, ſo wiſſen Sie, daß
ich geſtorben bin. Dann müßten Sie das Teſtament
durch ganz ſichere Hände und gegen Beſcheinigung
nach Karsberg gelangen laſſen, oder überhaupt dorthin,
wo die Ämter ſind, die es in Erfüllung bringen kön¬
nen. Es iſt das alles nur zur Vorſicht, wenn das ge¬
richtlich niedergelegte verloren gehen ſollte. Das Teſta¬
ment iſt zugeſiegelt und den Inhalt werden Sie nach
meinem Tode erfahren, wenn Sie nehmlich nicht ab¬
geneigt ſind, meine Bitte zu erfüllen.“
Ich ſagte dem Pfarrer, daß ich mit Freuden in
ſeinen Wunſch eingehe, daß ich das Papier ſo ſorg¬
fältig bewahren wolle, wie meine eigenen beſten
Sachen, deren Vernichtung mir unerſezlich wäre, und
daß ich allen ſeinen Weiſungen gerne nachkommen
wolle. Übrigens hoffe ich, daß der Zeitpunkt noch
ſehr ferne ſei, wo das Teſtament und ſeine zwei an¬
dern Genoſſen entſiegelt werden würden.
„Wir ſtehen alle in Gottes Hand,“ ſagte er, „es
kann heute ſein, es kann morgen ſein, es kann noch
viele Jahre dauern. Zum Zweke, den ich neben mei¬
nen Seelſorgerpflichten verfolge, wünſche ich, daß
es nicht ſo bald ſei; aber Gott weiß, wie es gut iſt,
und er bedarf zulezt auch zur Krönung dieſes Werkes
meiner nicht.“
„Da aber auch ich vor Ihnen ſterben könnte,“
erwiederte ich, „ſo werde ich zur Sicherheit eine ge¬
ſchriebene Verfügung zu dem Teſtamente legen, wo¬
durch meine Verpflichtung in andere Hände übergehen
ſoll.“
„Sie ſind ſehr gut,“ antwortete er, „ich habe
gewußt, daß Sie ſo freundſchaftlich ſein werden, ich
habe es gewiß gewußt. Hier wäre das Papier.“
Mit dieſen Worten zog er unter ſeinem Haupt¬
kiſſen ein Papier hervor. Dasſelbe war gefaltet, und
mit drei Siegeln geſiegelt. Er reichte es in meine
Hand. Ich betrachtete die Siegel, ſie waren rein und
unverlezt und trugen ein einfaches Kreuz. Auf der
obern Seite des Papiers ſtanden die Worte: Lezter
Wille des Pfarrers im Kar. Ich ging an den Tiſch,
nahm ein Blatt aus meiner Brieftaſche, ſchrieb da¬
rauf, daß ich von dem Pfarrer im Kar an dem bezeich¬
neten Tage ein mit drei Siegeln, die ein Kreuz ent¬
halten, verſiegeltes Papier empfangen habe, das die
Aufſchrift Lezter Wille des Pfarrers im Kar trage.
Dieſe Beſcheinigung reichte ich ihm dar, und er ſchob
ſie ebenfalls unter das Kiſſen ſeines Hauptes. Das
Teſtament that ich einſtweilen in die Taſche, in wel¬
cher ich meine Zeichnungen und Arbeiten hatte.
Nach dieſer Unterredung blieb ich noch eine geraume
Zeit bei dem Pfarrer, und das Geſpräch wendete
ſich auf andere gleichgültigere Gegenſtände. Es kam
Sabine herein, um ihm Speiſe zu bringen, es kam
das Mädchen aus dem erſten Stokwerke herunter, um
ſich nach ſeinem Befinden zu erkundigen. Da die
Sterne an dem hohen Himmel ſtanden, ging ich durch
das bleiche Geſtein und den weichen Sand in meine
Hütte, und dachte an den Pfarrer. Ich that das
Teſtament vorerſt in meinen Koffer, wo ich meine
beſten Sachen hatte, um es ſpäter in meinem Hauſe
gut zu verwahren.
Die Zeit nach der Erzählung des Pfarrers ging
mir in meinem Steingewirre dahin, wie ſie mir vor¬
her dahingegangen war. Wir maſſen, und arbeiteten,
und zeichneten; ich ſammelte mir unter Tags Stoff,
beſuchte gegen Abend den Pfarrer, ſaß ein paar Stun¬
den an ſeinem Bette, und arbeitete dann in der Nacht
in meiner Hütte, während mir einer meiner Leute auf
einem Nothherde derſelben einen ſchmalen Braten
briet.
Nach und nach wurde der Pfarrer beſſer, endlich
ſtand er auf, wie es der Arzt in der Stadt voraus
Stifter, Jugendſchriften. I. 12
geſagt hatte, dann ging er vor ſein Haus, er ging
wieder in die Kirche, und zulezt kam er auch wieder
in das Steinkar, wandelte in den Hügeln herum,
oder ſtand bei uns, und ſchaute unſern Arbeiten zu.
Wie aber endlich alles ein Ende nimmt, ſo war
es auch mit unſerem langen Aufenthalte im Steinkar.
Wir waren immer, weiter vorgerükt, wir näherten
uns der Grenzlinie unſeres angewieſenen Bezirks im¬
mer mehr und mehr, endlich waren die Pflöke auf
ihr aufgeſtellt, es war bis dahin gemeſſen, und nach
geringen ſchriftlichen Arbeiten war das Steinkar in
ſeinem ganzen Abbilde in vielen Blättern in unſerer
Mappe. Die Stangen die Pflöke die Werke wurden
ſofort weggeſchaft, die Hütten abgebrochen, meine
Leute gingen nach ihren Beſtimmungen auseinander,
und das Steinkar war wieder von dieſen Bewohnern
frei und leer.
Ich pakte meinen Koffer, nahm von dem Pfarrer
von dem Schullehrer von Sabine von dem Mieths¬
mann und ſeiner Tochter und von andern Leuten Ab¬
ſchied, ließ den Koffer in die Hochſtraſſe bringen, ging
zu Fuſſe dahin, beſtellte mir Poſtpferde, und da dieſe
angelangt waren, fuhr ich von dem Schauplaze mei¬
ner bisherigen Thätigkeit fort.
Eines ſehr ſeltſamen Gefühles muß ich Erwäh¬
nung thun, das ich damals hatte. Es ergrif mich
nehmlich beinahe eine tiefe Wehmuth, als ich von der
Gegend ſchied, welche mir, da ich ſie zum erſten Male
betreten hatte, abſcheulich erſchienen war. Wie ich
immer mehr und mehr in die bewohnteren Theile
hinauskam, mußte ich mich in meinem Wagen um¬
kehren, und nach den Steinen zurükſchauen, deren
Lichter ſo ſanft und matt ſchimmerten, und in deren
Vertiefungen die ſchönen blauen Schatten waren,
wo ich ſo lange verweilt hatte, während ich jezt zu
grünenden Wieſen zu getheilten Feldern und unter
hohe ſtrebende Bäume hinaus fuhr.
Nach fünf Jahren ergrif ich eine Gelegenheit, die
mich in die Nähe brachte, das Steinkar wieder zu
beſuchen. Ich fand den Pfarrer in demſelben zuwei¬
len herum gehen, wie früher, oder gelegentlich auf
einem der Steine ſizen, und herum ſchauen. Seine
klaren blauen Augen waren die nehmlichen geblieben.
Ich zeigte ihm die Briefe, die ich von ihm em¬
pfangen, und die ich aufbewahrt hatte. Er bedankte
ſich ſehr ſchön, daß ich auf jeden der Briefe ihm eine
Antwort geſendet hätte, er freue ſich der Briefe, und
leſe oft in denſelben. Er zeigte ſie mir, da wir in ſei¬
nem Stübchen wieder an dem fichtenen Tiſche beiſam¬
men ſaßen.
12*
Die Zirder floß mit ihrem himmelblauen Bande
durch die Steine, dieſe hatten die graue Farbe, und
der Sand lagerte zu ihren Füſſen. Die grünen Strei¬
fen und die wenigen Geſträuche waren wie immer.
In der Hochſtraſſe war der Wirth die Wirthin und
faſt auch ihre Kinder, wie früher, ja die alten Gäſte
ſchienen an den Tiſchen zu ſizen, ſo ſehr bleiben die
Menſchen die nehmlichen, die in jenen Gegenden den
Verkehr über die Anhöhe treiben.
Nach dieſem Beſuche in jener Gegend führte mich
weder ein Geſchäft mehr dahin, noch fand ich Zeit,
aus freiem Antriebe wieder einmal das Kar zu beſu¬
chen. Viele Jahre gingen vorüber, und der Wunſch
des Pfarrers, daß ihn Gott ſeines Zwekes willen
lange leben laſſen möchte, ſchien in Erfüllung gehen
zu wollen. Alle Jahre bekam ich mehrere Briefe von
ihm, die ich regelmäßig beantwortete, und die regel¬
mäßig im nächſten Jahre wieder anlangten. Nur eins
glaubte ich zu bemerken, daß die Buchſtaben nehmlich
etwas zeigten, als zittere die Hand.
Nach langen Jahren kam einmal ein Brief von
dem Schullehrer. In demſelben ſchrieb er, daß der
Pfarrer erkrankt ſei, daß er von mir rede, und daß er
geſagt habe: „Wenn er es wüßte, daß ich krank bin.“
Er nehme ſich daher die Erlaubniß, mir dieſes zu
melden, weil er doch nicht erkennen könne, ob es nicht
zu etwas gut ſei, und er bitte mich deßhalb um Ver¬
zeihung, daß er ſo zudringlich geweſen.
Ich antwortete ihm, daß ich ſeinen Brief als keine
Zudringlichkeit anſehen könne, ſondern, daß er mir
einen Dienſt damit erwieſen habe, indem ich an dem
Pfarrer im Kar großen Antheil nähme. Ich bitte ihn,
er möge mir öfter über das Befinden des Pfarrers
ſchreiben, und wenn es ſchlechter würde, mir dieſes
ſogleich anzeigen. Und ſollte Gott wider Vermuthen
ſchnell etwas Menſchliches über ihn verhängen, ſo ſolle
er mir auch dieſes ohne geringſtes Verſäumen melden.
An den Pfarrer ſchrieb ich auch zu ſeiner Beru¬
higung, daß ich von ſeiner Erkrankung gehört habe,
daß ich den Schullehrer gebeten habe, er möge mir
über ſein Befinden öfter ſchreiben; ich erſuchte ihn,
daß er ſich nicht ſelber anſtrengen möchte, an mich zu
ſchreiben, daß er ſich ein Bett in das Stübchen ma¬
chen laſſen ſolle, und daß ſich, wie es ja auch in frü¬
heren Jahren geſchehen ſei, ſein Unwohlſein in kurzer
Zeit wieder heben könnte. Mein Beruf geſtatte für
den Augenblik keinen Beſuch.
Er antwortete mir deßohngeachtet in einigen Zei¬
len, daß er ſehr ſehr alt ſei, daß er geduldig harre,
und ſich nicht fürchte.
Da der Schullehrer zwei Briefe geſchrieben hatte,
in denen er ſagte, daß mit dem Pfarrer keine Verän¬
derung vorgegangen ſei, kam ein dritter, der meldete,
daß derſelbe nach Empfang der heiligen Sterbſakra¬
mente verſchieden ſei.
Ich machte mir Vorwürfe, ſezte jezt alles beiſeite,
und machte mich reiſefertig. Ich zog das verſiegelte
Papier aus meinem Schreine hervor, ich nahm auch
die Briefe des Pfarrers mit, die zur Erweiſung der
Handſchrift dienen könnten, und begab mich auf den
Weg nach Karsberg.
Als ich daſelbſt angekommen war, erhielt ich die
Auskunft, daß ein Teſtament des Pfarrers in dem
Schloſſe gerichtlich niedergelegt worden ſei, daß man
ein zweites in ſeiner Verlaſſenſchaft gefunden habe,
und daß ich mich in zwei Tagen in dem Schloſſe ein¬
finden ſolle, um mein Teſtament vorzuzeigen, worauf
die Öffnung und Prüfung der Teſtamente ſtatt haben
würde.
Ich begab mich während dieſer zwei Tage in das
Kar. Der Schullehrer erzählte mir über die lezten
Tage des Pfarrers. Er ſei ruhig in ſeiner Krankheit
gelegen, wie in jener, da ich ihn ſo oft beſucht habe.
Er habe wieder keine Arznei genommen, bis der Pfar¬
rer aus der Wenn, ein Nachbar des Pfarrers im Kar,
welcher ihm die Sterbſakramente gereicht hatte, ihm
dargethan hätte, daß er auch irdiſche Mittel gebrau¬
chen, und es Gott überlaſſen müſſe, ob ſie wirkten
oder nicht. Von dem Augenblike an nahm er alles,
was man ihm gab, und ließ alles mit ſich thun, was
man thun wollte. Er lag wieder in ſeinem Stübchen
wo man ihm wieder aus den Wolldeken ein Bett ge¬
macht hatte. Sabine war immer bei ihm. Als es
zum Sterben kam, machte er keine beſondere Vorbe¬
reitung, ſondern er lag wie alle Tage. Man konnte
nicht abnehmen, ob er es wiſſe, daß er jezt ſterbe oder
nicht. Er war wie gewöhnlich, und redete gewöhn¬
liche Worte. Endlich ſchlief er ſanft ein, und es war
vorüber.
Man entkleidete ihn, um ihn für die Bahre an¬
zuziehen. Man legte ihm das Schönſte ſeiner Wäſche
an. Dann zog man ihm ſein fadenſcheiniges Kleid
an, und über das Kleid den Prieſterchorrok. So
wurde er auf der Bahre ausgeſtellt. Die Leute kamen
ſehr zahlreich, um ihn anzuſchauen; denn ſie hatten
ſo etwas nie geſehen; er war der erſte Pfarrer gewe¬
ſen, der in dem Kar geſtorben war. Er lag mit ſeinen
weißen Haaren da, ſein Angeſicht war mild, nur viel
bläſſer als ſonſt, und die blauen Augen waren von
den Lidern gedekt. Mehrere ſeiner Amtsbrüder kamen,
ihn zur Erde zu beſtatten. Bei der Einſenkung haben
viele der herbeigekommenen Menſchen geweint.
Ich erkundigte mich nun auch um den Miethmann
im erſten Stokwerke. Er kam ſelbſt in das Vorhaus
des Pfarrhofes herunter, in dem ich mich befand,
und ſprach mit mir. Er hatte faſt keine Haare mehr,
und trug daher ein ſchwarzes Käppchen auf ſeinem
Haupte. Ich fragte nach ſeiner ſchönen Tochter, die
damals, als ſie in meiner Gegenwart öfter in das
Krankenzimmer des Pfarrers gekommen war, ein jun¬
ges raſches Mädchen geweſen war. Sie war in der
Hauptſtadt verheirathet, und war Mutter von bei¬
nahe erwachſenen Kindern. Auch dieſe war in den
lezten Tagen des Pfarrers nicht um ihn geweſen. Der
Miethmann ſagte mir, daß er jezt wohl zu ſeiner
Tochter werde ziehen müſſen, da er bei der Wiederbe¬
ſezung der Pfarre gewiß ſeine Wohnung verlieren,
und im Kar keine andere finden werde.
Die alte Sabine war die einzige, die ſich nicht
geändert hatte, ſie ſah gerade ſo aus, wie damals,
als ſie bei meiner erſten Anweſenheit den Pfarrer in
ſeiner Krankheit gepflegt hatte. Niemand wußte, wie
alt ſie ſei, und ſie wußte es ſelbſt nicht.
Ich mußte deßhalb in dem Vorhauſe des Pfarrho¬
fes ſtehen bleiben, weil das Stüblein und das neben
dem Vorhauſe befindliche Gewölbe verſiegelt waren.
Die einzige hölzerne Bank, die Schlafſtätte des Pfar¬
rers, ſtand an ihrer Stelle, und niemand hatte an ſie
gedacht. Die Bibel aber lag nicht mehr auf der
Bank, man ſagte, ſie ſei in das Stüblein gebracht
worden.
Als die zwei Tage vorüber waren, die man als
Friſt zur Eröffnung des Teſtamentes anberaumt hatte,
begab ich mich nach Karsberg, und verfügte mich zur
feſtgeſezten Stunde in den Gerichtsſaal. Es waren
mehrere Menſchen zuſammen gekommen, und es wa¬
ren die Vorſtände der Pfarrgemeinde und die Zeugen
geladen worden. Die zwei Teſtamente und das Ver¬
zeichniß der Verlaſſenſchaft des Pfarrers lagen auf
dem Tiſche. Man wies mir meine Beſcheinigung über
den Empfang des Teſtamentes des Pfarrers vor, die in
der Verlaſſenſchaft gefunden worden war, und foderte
mich zur Vorzeigung des Teſtamentes auf. Ich über¬
reichte es. Man unterſuchte Schrift und Siegel, und
erkannte die Richtigkeit des Teſtamentes an.
Nach herkömmlicher Art wurde nun das gericht¬
lich niedergelegte Teſtament zuerſt eröffnet, und gele¬
ſen. Dann folgte das von mir übergebene. Es lau¬
tete Wort für Wort wie das erſte. Endlich wurde
das in der Wohnung des Pfarrers vorgefundene
eröffnet, und es lautete ebenfalls Wort für Wort
wie die beiden erſten. Die Zeitangabe und die Un¬
terſchrift war in allen drei Urkunden dieſelbe. So¬
fort wurden alle drei Teſtamente als ein einziges in
drei Abſchriften vorhandenes Teſtament erklärt.
Der Inhalt des Teſtamentes aber überraſchte alle.
Die Worte des Pfarrers, wenn man den Eingang
hinweg läßt, in dem er die Hilfe Gottes anruft, die
Verfügung unter ſeinen Schuz ſtellt, und erklärt, daß
er bei vollkommnem Gebrauche ſeines Verſtandes und
Willens ſei, lauten ſo: „Wie ein jeder Menſch außer
ſeinem Amte und ſeinem Berufe noch etwas findet, oder
ſuchen ſoll, das er zu verrichten hat, damit er alles
thue, was er in ſeinem Leben zu thun hat, ſo habe
auch ich etwas gefunden, was ich neben meiner Seel¬
ſorge verrichten muß: ich muß die Gefahr der Kinder
der Steinhäuſer und Karhäuſer aufheben. Die Zirder
ſchwillt oft an, und kann dann ein reißendes Waſſer
ſein, das in Schnelle daher kömmt, wie es ja in den
erſten Jahren meiner Pfarre zweimal durch Wolken¬
brüche alle Stege und Brüken weggenommen hat.
Die Ufer ſind niedrig, und das am Kar iſt noch nie¬
driger als das Steinhäuſer Ufer. Da ſind drei Fälle
möglich: entweder iſt das Karufer überſchwemmt,
oder es iſt auch das Steinhäuſer Ufer überſchwemmt,
oder es wird ſogar der Steg hinweggetragen. Die
Kinder aus den Steinhäuſern und Karhäuſern müſſen
aber über den Steg ins Kar in die Schule gehen.
Wenn nun das Karufer überſchwemmt iſt, und ſie
von dem Stege in das Waſſer gehen, ſo können
manche in eine Grube oder in eine Vertiefung gera¬
then, und dort verunglüken; denn das kothige Waſſer
der Überſchwemmung läßt den Boden nicht ſehen:
oder es kann das Waſſer, während die Kinder in ihm
waten, ſo ſchnell ſteigen, daß ſie das Trokene nicht
mehr erreichen können, und alle verloren ſind: oder
ſie können noch von dem Steinhäuſer Ufer auf den
Steg kommen, können das Waſſer auf dem Karufer
zu tief finden, können ſich durch Berathſchlagen oder
Zaudern ſo lange aufhalten, daß indeſſen auch das
Steinhäuſer Ufer mit zu tiefem Waſſer bedekt wird;
dann iſt der Steg eine Inſel, die Kinder ſtehen auf
ihm, und können mit ihm fortgeſchwemmt werden.
Und wenn auch dieſes alles nicht geſchieht, ſo gehen
ſie mit ihren Füßlein im Winter in das Schneewaſſer,
das auch Eisſchollen hat, und fügen ihrer Geſundheit
großen Schaden zu.“
„Damit dieſe Gefahr in der Zukunft aufhöre,
habe ich zu ſparen begonnen, und verordne, wie
folgt: von der Geldſumme, welche nach meinem
Tode als mein Eigenthum gefunden wird, vermehrt
um die Geldſumme, welche aus dem Verkaufe meiner
hinterlaſſenen Habe entſteht, ſoll in der Mitte der
Schulkinder der Steinhäuſer und Karhäuſer ein
Schulhaus gebaut werden, dann ſoll ein ſolcher
Theil der Geldſumme auf Zinſen angelegt werden,
daß durch das Erträgniß die Lehrer der Schule erhal¬
ten werden können, ferner ſoll noch ein Theil nuz¬
bringend gemacht werden, daß aus den Zinſen die
jährliche Vergütung des Schadens entrichtet werden
könne, welchen der Schullehrer im Kar durch den
Abgang der Kinder erleidet, und endlich, wenn noch
etwas übrig bleibet, ſo ſoll es meiner Dienerin Sa¬
bine gehören.“
„Ich habe drei gleiche Teſtamente geſchrieben, daß
ſie ſicherer ſeien, und wenn noch was immer für eine
Verfügung oder Meinung in meinem Nachlaſſe ſollte
gefunden werden, welche nicht den Inhalt und Jahres-
und Monatstag dieſer Teſtamente trägt, ſo ſoll ſie
ungültig ſein.“
„Damit aber in der Zeit ſchon die Gefahr vermin¬
dert werde, gehe ich alle Tage auf die Wieſe am
Karufer, und ſehe, ob keine Gräben Gruben und
Vertiefungen ſind, und ſteke eine Stange dazu. Den
Eigenthümer der Wieſe bitte ich, daß er entſtandene
Gruben und Vertiefungen ſo bald ausebnen laſſe, als
es angeht, und er hat meine Bitten immer erfüllt.
Ich gehe hinaus, wenn die Wieſe überſchwemmt iſt,
und ſuche den Kindern zu helfen. Ich lerne das
Wetter kennen, um eine Überſchwemmung voraus¬
ſehen zu können, und die Kinder zu warnen. Ich
entferne mich nicht weit von dem Kar, um keine Ver¬
ſäumniß zu begehen. Und ſo werde ich es auch in der
Zukunft immer thun.“
Dieſen Teſtamenten war die Geldrechnung bis zu
dem Zeitpunkte ihrer Abfaſſung beigelegt. Die Rech¬
nung, die von dieſer Zeit an bis gegen die Sterbetage
des Pfarrers lief, fand man in ſeinen Schriften. Die
Rechnungen waren mit großer Genauigkeit gemacht.
Man erſah auch aus ihnen, wie ſorgſam der Pfarrer
im Sparen war. Die kleinſten Beträge, ſelbſt Pfen¬
nige, wurden zugelegt, und neue Quellen, die un¬
ſcheinbarſten, eröffnet, daraus ein kleines Fädlein floß.
Zur Verſteigerung des Nachlaſſes des Pfarrers
wurde der fünfte Tag nach Eröffnung des Teſtamentes
beſtimmt.
Da wir von dem Gerichtshauſe fort gingen, ſagte
der Miethmann des Pfarrers unter Thränen zu mir:
„O wie habe ich den Mann verkannt, ich hielt ihn
beinahe für geizig: da hat ihn meine Tochter viel
beſſer gekannt, ſie hat den Pfarrer immer ſehr
lieb gehabt. Ich muß ihr die Begebenheit ſogleich
ſchreiben.“
Der Schullehrer im Kar ſegnete den Pfarrer, der
immer ſo gut gegen ihn geweſen ſei, und der ſich ſo
gerne in der Schule aufgehalten habe.
Auch die andern Leute erfuhren den Inhalt des
Teſtamentes.
Nur die einzigen, die er am nächſten anging, die
Kinder in den Steinhäuſern und Karhäuſern, wußten
nichts davon, oder wenn ſie es auch erfuhren, ſo ver¬
ſtanden ſie es nicht, und wußten nicht, was ihnen
zugedacht worden ſei.
Weil ich auch bei der Verſteigerung gegenwärtig
ſein wollte, ſo ging ich wieder in das Kar zurük, und
beſchloß, die vier Tage dazu anzuwenden, um manche
Pläze im Steinkar und andern Gegenden zu beſuchen,
wo ich einſtens gearbeitet hatte. Es war alles unver¬
ändert, als ob dieſe Gegend zu ihrem Merkmale der
Einfachheit auch das der Unveränderlichkeit erhalten
hätte.
Da der fünfte Tag herangekommen war, wurden
die Siegel von den Thüren der Pfarrerswohnung
abgenommen, und die hinterlaſſenen Stüke des Pfar¬
rers verſteigert. Es hatten ſich viele Menſchen einge¬
funden, und die Verſteigerung war in Hinſicht des
Teſtamentes eine merkwürdige geworden. Es tru¬
gen ſich auffallende Begebenheiten bei derſelben zu.
Ein Pfarrer kaufte einen unter den Kleidern des Ver¬
ſtorbenen gefundenen Rok, der das Schlechteſte war,
was man unter nicht zerriſſenen Kleidern finden kann,
um einen anſehnlichen Kaufſchilling. Die Gemeinde
des Kar erſtand die Bibel, um ſie in ihre Kirche zu
ſtiften. Selbſt die hölzerne Bank, die man nicht ein¬
mal eingeſperrt hatte, fand einen Käufer.
Auch ich erwarb etwas in der Verſteigerung,
nehmlich das kleine aus Holz geſchnizte Crucifix von
Nürnberg und ſämmtliche noch übrigen ſo ſchönen
und feinen Leintücher und Tiſchtücher. Ich und meine
Gattin beſizen die Sachen noch bis auf den heutigen
Tag, und haben die Wäſche ſehr ſelten gebraucht.
Wir bewahren ſie als ein Denkmal auf, daß der arme
Pfarrer dieſe Dinge aus einem tiefen dauernden und
zarten Gefühle behalten und nie benuzt hat. Zuweilen
läßt meine Gattin die Linnen durchwaſchen, und
glätten, dann ergözt ſie ſich an der unbeſchreiblichen
Schönheit und Reinheit, und dann werden die zuſam¬
mengelegten Stüke mit den alten ausgebleichten roth¬
ſeidenen Bändchen, die noch vorhanden ſind, umbun¬
den, und wieder in den Schrein gelegt. —
Nun ſtellt ſich die Frage, was die Wirkung von
all dieſen Dingen geweſen ſei.
Die Summe, welche der Pfarrer erſpart hatte,
und die, welche aus der Verſteigerung ſeines Nach¬
laſſes gelöſt worden war, waren zuſammen genommen
viel zu klein, als daß eine Schule daraus hätte ge¬
gründet werden können. Sie waren zu klein, um nur
ein mittleres Haus, wie ſie in jener Gegend gebräuch¬
lich ſind, zu bauen, geſchweige denn ein Schulhaus
mit den Lehrzimmern und den Lehrerswohnungen,
ferner den Gehalt der Lehrer feſtzuſtellen, und den
früheren Lehrer zu entſchädigen.
Es lag das in der Natur des Pfarrers, der die
Weltdinge nicht verſtand, und dreimal beraubt werden
mußte, bis er das erſparte Geld auf Zinſen anlegte.
Aber wie das Böſe ſtets in ſich ſelber zweklos iſt,
und im Weltplane keine Wirkung hat, das Gute aber
Früchte trägt, wenn es auch mit mangelhaften Mit¬
teln begonnen wird, ſo war es auch hier: „Gott
bedurfte zur Krönung dieſes Werkes des Pfarrers
nicht.“ Als die Sache mit dem Teſtamente und deſſen
Unzulänglichkeit bekannt wurde, traten gleich die
Wohlhabenden und Reichen in dem Umkreiſe zuſam¬
men, und unterſchrieben in Kurzem eine Summe, die
hinlänglich ſchien, alle Abſichten des Pfarrers voll¬
ziehen zu können. Und ſollte noch etwas nöthig ſein,
ſo erklärte jeder, daß er eine Nachzahlung leiſten
würde. Ich habe auch mein Scherflein dazu beige¬
tragen.
War ich das erſte Mal mit Wehmuth von der
Gegend geſchieden, ſo floſſen jezt Thränen aus mei¬
nen Augen, als ich die einſamen Steine verließ. —
Jezt, da ich rede, ſteht die Schule längſt in den
Steinhäuſern und Karhäuſern, ſie ſteht in der Mitte
der Schulkinder auf einem geſunden und luftigen
Plaze. Der Lehrer wohnt mit ſeiner Familie und dem
Gehilfen in dem Gebäude, der Lehrer im Kar erhält
ſeine jährliche Entſchädigung, und ſelbſt Sabine iſt
noch mit einem Theile bedacht worden. Sie wollte
ihn aber nicht, und beſtimmte ihn im Vorhinein für
die Tochter des Schullehrers, die ſie immer lieb hatte.
Das einzige Kreuz, das für einen Pfarrer in dem
Kirchhofe des Kar ſteht, ſteht auf dem Hügel des
Gründers dieſer Dinge. Es mag manchmal ein Ge¬
beth dabei verrichtet werden, und mancher wird mit
einem Gefühle davor ſtehen, das dem Pfarrer nicht
gewidmet worden iſt, da er noch lebte.
Stifter, Jugendschriften. I. 13
III.
Turmalin .
13*
Der Turmalin iſt dunkel, und was da erzählt
wird, iſt ſehr dunkel. Es hat ſich in vergangenen
Zeiten zugetragen, wie ſich das, was in den erſten
zwei Stüken erzählt worden iſt, in vergangenen Zeiten
zugetragen hat. Es iſt darin wie in einem traurigen
Briefe zu entnehmen, wie weit der Menſch kömmt,
wenn er das Licht ſeiner Vernunft trübt, die Dinge
nicht mehr verſteht, von dem innern Geſeze, das ihn
unabwendbar zu dem Rechten führt, läßt, ſich unbedingt
der Innigkeit ſeiner Freuden und Schmerzen hingibt,
den Halt verliert, und in Zuſtände geräth, die wir
uns kaum zu enträthſeln wiſſen.
In der Stadt Wien wohnte vor manchen Jahren
ein wunderlicher Menſch, wie in ſolchen großen Städ¬
ten verſchiedene Arten von Menſchen wohnen, und
ſich mit den verſchiedenſten Dingen beſchäftigen. Der
Menſch, von dem wir hier reden, war ein Mann
von ungefähr vierzig Jahren, und wohnte auf dem
Sanct Petersplaze in dem vierten Geſchoße eines
Hauſes. Zu ſeiner Wohnung führte ein Gang, der
mit einem eiſernen Gitter verſchloßen war, an wel¬
chem ein Glokenzug hernieder hing, an dem man
läuten konnte, worauf eine ältliche Magd erſchien,
welche öffnete, und den Weg zu ihrem Herrn hinein
zeigte. Wenn man durch das Gitter eingetreten war,
ſezte ſich der Gang noch fort, rechts hatte er eine
Thür, die in die Küche führte, in welcher die Magd
war, und deren einziges Fenſter auf den Gang heraus
ging, links hatte er ein fortlaufendes eiſernes Gelän¬
der und den offenen Hof. Sein Ende ſtieß an die
Thür zur Wohnung. Wenn man die braune Thür
öffnete, kam man in ein Vorzimmer, welches ziemlich
dunkel war, und in welchem ſich die großen Käſten
befanden, die die Kleider enthielten. Es diente auch
zum Speiſen. Von dieſem Vorzimmer kam man in
das Zimmer des Herrn. Es war aber eigentlich ein
ſehr großes Zimmer und ein kleines Nebenzimmer.
In dem Zimmer waren alle Wände ganz vollſtändig
mit Blättern von Bildniſſen berühmter Männer
beklebt. Es war kein Stükchen auch nur handgroß,
das von der urſprünglichen Wand zu ſehen geweſen
wäre. Damit er, oder gelegentlich auch ein Freund,
wenn einer kam, diejenigen Männer, die ganz nahe
oder hart an dem Fußboden ſich befanden, betrachten
konnte, hatte er ledergepolſterte Ruhebetten von ver¬
ſchiedener Höhe und mit Rollfüßen verſehen machen
laſſen. Das niederſte war eine Hand hoch. Man
konnte ſie zu was immer für Männern rollen, ſich
darauf nieder legen, und die Männer betrachten.
Für die hoch und höher hängenden hatte er doppel¬
geſtellige Rollleitern, deren Räder mit grünem Tuche
überzogen waren, welche Leitern man in jede Gegend
rollen und von deren Stufen aus man verſchiedene
Standpunkte gewinnen konnte. Überhaupt hatten alle
Dinge in der Stube Rollen, daß man ſie leicht von
einer Stelle zu der andern bewegen konnte, um im
Anſchauen der Bildniße nicht beirrt zu ſein. In
Hinſicht des Ruhmes der Männer war es dem Be¬
ſizer einerlei, welcher Lebensbeſchäftigung ſie ange¬
hört hatten, und durch welche ihnen der Ruhm zu
Theil geworden war, er hatte ſie wo möglich alle.
In dem Zimmer ſtand auch ein ſehr großer Flügel,
auf deſſen Pulte viele Notenhefte lagen, und auf dem
er gerne ſpielte. Es waren auch zwei Fächer auf zwei
Geſtellen, in welchen ſich Geigen befanden, auf
welchen er ebenfalls ſpielte. Auf einem Tiſche war
ein Fach mit zwei Flöten, die er zu ſeinem eigenen
Vergnügen und zu ſeiner Vervollkommnung in dieſer
Kunſt behandelte. An einem der Fenſter ſtand eine
Staffelei mit einem Malerkaſten, woran er Bilder in
Öhl malte. In dem Nebenzimmer hatte er einen
großen Schreibtiſch, auf welchem er eine Menge
Papiere liegen hatte, Gedichte machte, Erzählungen
ſchrieb, und neben welchem ſein Bücherkaſten ſtand,
wenn er etwa ein Buch heraus nehmen, und ſich mit
Leſen ergözen wollte. In dieſem Zimmer ſtand auch
ſein Bett, und in dem Hintergrunde des Gemaches
war eine Vorrichtung, in welcher er in Pappe arbei¬
ten konnte, und Fächer Behältniße Schirme und
andere Kunſtſachen verfertigte.
Dieſen Mann hießen ſie im Hauſe den Rentherrn;
die Meiſten aber wußten nicht, ob er den Namen
habe, weil er von einer Rente lebte, oder weil er
in einem Rentamte angeſtellt war. Dies Leztere aber
konnte nicht der Fall ſein, weil er ſonſt zu beſtimmten
Zeiten hätte in ſein Amt gehen müſſen, er aber zu
den verſchiedenſten Zeiten und oft ganze Tage lang zu
Hauſe war, und in den manigfaltigen Geſchäften,
die er ſich aufgeladen hatte, herum arbeitete. Außer¬
dem ging er in das Kaffehaus, um den Schachſpie¬
lern zuzuſchauen, oder er ging in der Stadt herum‚
um die verſchiedenen Dinge zu betrachten, die da zu
ſehen ſind, oder er beſuchte ein Gaſthauskränzchen,
zu dem ſich regelmäßig an beſtimmten Tagen einige
Freunde zuſammen fanden. Er mußte alſo offenbar
eine kleine Rente haben, von welcher er dieſes Leben
führen konnte.
Dieſer Mann hatte eine wunderſchöne Frau von
etwa dreißig Jahren, die ihm ein Kindlein, ein
Mädchen, geboren hatte. Die Frau bewohnte ein
Gemach, das an das große Zimmer ihres Mannes
ſtieß, ebenfalls ſo groß war, und ebenfalls ein klei¬
neres Seitengemach hatte. Man konnte aus dem
Zimmer des Mannes in das der Frau gelangen, man
konnte aber auch aus dem Vorzimmer durch einen
kleinen heimlichen Gang dahin kommen; denn die
vier Zimmer der Wohnung lagen in einer Reihe quer
gegen die Richtung des äußeren Ganges. Der kleine
Gang war darum nüzlich, weil die Frau, wenn
Freunde bei ihrem Manne waren, unbeirrt und die
Männer nicht ſtörend in das Vorzimmer und von da
in die Küche hinaus gehen konnte.
Die Zimmer der Frau waren nach ihrer Art ein¬
gerichtet. Das größere hatte dunkle Vorhänge an den
Fenſtern, es ſtanden weiche Ruheſize von demſelben
Stoffe darin, es ſtand ein ſchöner großer Tiſch da,
der immer auf das Glänzendſte vom Staube rein
gehalten war, und auf ſeiner Platte einige Bücher
oder Zeichnungen oder gelegentlich irgend ein anderes
Ding trug. An den Fenſterpfeilern waren Spiegel,
unter denen ſchmale Pfeilertiſche ſtanden, auf welchen
ſich einige ſchöne Dinge von Silber oder Porzellan
befanden. An einem Fenſter ſtand ein ſehr feines Ar¬
beitstiſchchen, auf dem ſchöne Linnen zarte Stoffe
und andere Arbeitsdinge lagen, und davor ein knap¬
pes in die Fenſtervertiefung paſſendes Stühlchen
ſtand. An dem zweiten Fenſter war der Stikrahmen
mit einem gleichen Stühlchen, und an der kurzen
Seitenwand des dritten ſtand der Schreibtiſch, auf
deſſen reiner grüner Fläche ſich die Mappe das Din¬
tengefäß und geordnete Schreibgeräthe zeigten. Um
den Tiſch wie im Halbkreiſe ſtanden hohe dunkle und
zum Theile breitblätterige Pflanzen. Die große Wand¬
uhr hatte kein Schlagwerk, und ging ſo ſanft, daß
man ſie kaum hörte. Übrigens war im Hintergrunde
des Zimmers noch ein Fachgeſtelle mit Gläſern und
Seidenvorhängen, daß die Frau verſchiedene Dinge
in die Fächer hinein ſtellen, und die Seide davor
zuſammen ziehen konnte.
Das zweite kleinere Zimmer hatte ſchneeweiße in
dichte Falten gelegte Fenſtervorhänge, in der Nähe
der Fenſter ſtand ein Tiſch, aber nicht zum Darauf¬
legen ſchöner Sachen, ſondern zu häuslichen Zweken
beſtimmt. Dann war ein großes Ruhebett verſchiedene
Seſſel und Schemel. Im Hintergrunde ſtand das
weiße Bett der Frau von weißen Vorhängen umhüllt,
an demſelben war ein Nachttiſchchen mit einem Leuch¬
ter mit einer Gloke mit Büchern Zündzeug und ande¬
ren Dingen. In der Nähe dieſes Bettes ſtand auf
einem Geſtelle ein vergoldeter Engel, welcher die
Flügel um die Schultern zuſammengefaltet hielt, mit
der einen Hand ſich ſtüzte, die andere aber ſanft aus¬
ſtrekte, und mit den Fingern die Spize eines weißen
Vorhanges hielt, der in reichen Falten in der Geſtalt
eines Zeltes, auseinander und nieder ging. Unter
dieſem Zelte ſtand auf einem Tiſche ein feiner Korb,
in dem Korbe war ein weißes Bettchen, und in dem
Bettchen war das Kind der beiden Eheleute, das
Mädchen, bei dem ſie öfter ſtanden, und die winzigen
rothen Lippen und die roſigen Wangen und die ge¬
ſchloſſenen Äuglein betrachteten. Zu Schluſſe war
noch ein ſehr ſchön gemaltes großes Bild in dem
Zimmer, die heilige Mutter mit dem Kinde vorſtel¬
lend. Es war mit einer Faltung von dunkelm Samet
umgeben.
Die Frau waltete in ihren Zimmern, ſie beſorgte
alles Nöthige, was das Kindlein brauchte, beſchäf¬
tigte ſich mit Arbeit mit Leſen mit Stiken mit Be¬
ſorgung des Hausweſens und andern Dingen dieſer
Art. Sie verkehrte nicht ſehr viel mit der Außenwelt,
ſo wie auch nicht häufig Frauen zu ihr zum Beſuche
kamen.
Zu derſelben Zeit, da dieſes Ehepaar auf dem
Sanct Petersplaze wohnte, lebte in Wien auch ein
anderer Mann, der von ſich ſehr viel reden machte.
Er war ein glänzender Künſtler, ein Schauſpieler,
und bildete damals das Entzüken der Welt. Mancher
alte Mann unſerer Zeit, der ihn noch in ſeiner Blüthe
gekannt hat, geräth in Begeiſterung, wenn er von
ihm ſpricht, und erzählt, wie er dieſe oder jene Rolle
aufgefaßt und dargeſtellt habe, und gewöhnlich iſt
der Schluß ſolcher Reden, daß man jezt dergleichen
Künſtler nicht mehr habe, und daß alles, was die
neue Zeit bringe, keinen Vergleich mit dem aushalten
könne, was die Väter in dieſer Art geſehen haben.
Manche von uns, die ſich jezt dem höheren Alter
nähern, mögen jenen Schauſpieler noch gekannt, und
mögen Leiſtungen von ihm geſehen haben, aber wahr¬
ſcheinlich haben ſie ihn nicht in der Mitte ſeines
Ruhmes ſondern erſt, da derſelbe ſchon von dem
Gipfel abwärts ging, gekannt, obwohl er ſeinen Glanz
ſehr lange und faſt bis in das Greiſenalter hinein
behauptet hat. Der Mann Namens Dall war vor¬
züglich im Trauerſpiele berühmt, obwohl er auch in
andern Fächern namentlich im Schauſpiele mit unge¬
wöhnlichem Erfolge auftrat. Es haben ſich noch Er¬
zählungen von einzelnen Augenbliken erhalten, in
denen er die Zuſchauer bis zum Äußerſten hinriß, zur
äußerſten Begeiſterung oder zum äußerſten Schauer,
ſo daß ſie nicht mehr im Theater ſondern in der
Wirklichkeit zu ſein meinten, und mit Bangen den
weiteren Verlauf der Dinge erwarteten. Beſonders
ſoll ſeine Darſtellung hoher Perſonen von einer
ſolchen Würde und Majeſtät geweſen ſein, daß ſeither
nichts mehr dem Ähnliches auf der Bühne zum Vor¬
ſcheine gekommen ſei. Ein ſehr gründlicher Kenner
ſolcher Dinge ſagte einſt, daß Dall ſeine Rollen nicht
durch künſtliches Nachſinnen oder durch Vorberei¬
tungen und Einübungen ſich zurecht gelegt, ſondern
daß er ſich in dieſelben, wenn ſie ſeinem Weſen zuſag¬
ten, hineingelebt habe, daß er ſich dann auf ſeine
Perſönlichkeit verließ, die ihm im rechten Augenblike
eingab, was er zu thun habe, und daß er auf dieſe
Weiſe nicht die Rollen ſpielte, ſondern das in ihnen
Geſchilderte wirklich war. Daraus erklärt ſich, daß,
wenn er ſich der Lage grenzenlos hingab, er im
Augenblike Dinge that, die nicht nur ihn ſelber über¬
raſchten, ſondern auch die Zuſchauer überraſchten, und
ungeheure Erfolge hervor brachten. Daraus erklärt
ſich aber auch, daß, wenn er in eine Rolle ſich nicht
hinein zu leben vermochte, er ſie gar nicht, nicht ein¬
mal ſchlecht, darſtellen konnte. Darum übernahm er
ſolche Rollen nie, und war durch kein Zureden und
durch kein noch ſo eindringliches Beweiſen dazu zu
bewegen.
Aus dem Geſagten erklärt ſich aber auch das
Weſen und die Lebensweiſe Dalls außer dem Theater.
Er hatte ein ſehr einnehmendes Äußere, war in ſei¬
nen Bewegungen leicht und gefällig und trug ſeinen
Körper als den Ausdruk eines lebhaften und beweg¬
lichen Geiſtes, der ſich durch dieſes Werkzeug ſehr
deutlich ausſprach. Er war heiter, ſuchte ſeine Freude,
wo er ſie fand, und liebte die geſellige Laune, daher
man, wenn er hinter einem Glaſe guten Weines bei
plaudernden Freunden ſaß, und ſelber plauderte, un¬
möglich glauben konnte, daß das derſelbe Mann ſei,
der unſere Seele in ſeinen großartigen Darſtellungen
zu den tiefſten Erſchütterungen zu Angſt und Entſezen
und zu Freude und Entzüken treiben konnte. Aber
gerade weil er das war, was er ſpielte, und weil er
dafür in ſeinem Körper den treffendſten Ausdruk fand,
ſo ſtellten ſich die Gefühle, die in ſeinem feurigen
Geiſte entſtanden, auf der Oberfläche ſeines Kör¬
pers feurig dar, ſei es in Bewegung in Ausdruk in
Stimme, und rißen hin. Darum war er der Liebling
der Geſellſchaft, er belebte ſie, und gab ihr Empfin¬
dungen. Man ſuchte ihn, und beſtrebte ſich, ihn zu
feßeln. Er bewegte ſich in den manigfachſten Krei¬
ſen, und lernte daraus die leichte und geebnete Frei¬
heit ſeines Benehmens; aber er wurde von keinem
derſelben gebannt: wie er ſich im Spiele von ſeinem
Geiſte leiten ließ, ſo führte ihn derſelbe auch unter
Menſchen, daß er mit ihnen lebe und empfinde, er
führte ihn in die Natur, daß er ſie anſchaue und
fühle; aber er entführte ihn auch wieder von den
Menſchen, wenn ſeinem Geiſte nichts mehr zur Be¬
wegung gegeben wurde, und er entführte ihn von der
Natur, wenn ihre ſanfte Sprache aufhörte ihn zu er¬
regen, und wenn er gewaltigere Eindrüke und tieferen
Wechſel ſuchte. Er lebte daher in Zuſtänden, und
verließ ſie, wie es ihm beliebte.
Dieſer Mann nun war mit dem Rentherrn be¬
kannt, und man konnte ſagen, daß er vielleicht in
nichts ſo beſtändig war als in dieſer Bekanntſchaft.
Er ging ſehr gerne, wenn er in was immer für Um¬
gebungen geweſen war, auf den Sanct Petersplaz,
ſtieg die vier Treppen empor, läutete an der Gloke
des Eiſengitters, ließ ſich von der ältlichen Magd öff¬
nen, und ging durch das Vorzimmer in die Helden¬
ſtube des Rentherrn. Da ſaß er, und plauderte mit
dem Rentherrn über die vielen verſchiedenen Dinge,
die dieſer trieb. Ja vielleicht kam er gerade deßhalb ſo
gerne in die Geſellſchaft des Rentherrn, weil es da ſo
Manigfaltiges gab. Beſonders war es die Kunſt,
die Dall in allen ihren Geſtalten ja ſelbſt Abarten
anzog. Darum wurden die Verſe des Rentherrn be¬
ſprochen, er mußte auf einer ſeiner zwei Geigen ſpie¬
len, er mußte auf der Flöte blaſen, er mußte das eine
oder das andere Muſikſtük auf dem Flügel vortragen,
oder man ſaß an der Staffelei, und ſprach über die
Farben eines Bildes oder über die Linien einer Zeich¬
nung. Gerade in dem Lezteren war Dall am erfah¬
renſten, und war ſelber ein bedeutender Zeichner. Zu
den Pappgeſtalten des Rentherrn gab er Länge und
Breite er gab Beziehungen und Verhältniſſe an.
In Bezug auf die an die Wände geklebten
Bildniße berühmter Männer legte er ſich auf das nie¬
derſte Ruhebett, und muſterte die untere Reihe durch.
Der Rentherr mußte ihm bei jedem erzählen, was er
von ihm wußte, und wenn beide nichts Ausreichendes
von einem Manne ſagen konnten, als daß er berühmt
ſei, ſo ſuchten ſie Bücher hervor, und forſchten ſo
lange, bis ſie Befriedigendes fanden. Dann legte er
ſich auf die höheren Ruhebette, dann ſaß er auf den
nächſten, dann ſtand er, und endlich befand er ſich
auf den verſchiedenen Stufen der Leiter. Bei dieſer
Gelegenheit lernte er die Bequemlichkeit ſolcher Ruhe¬
bette kennen, und der Rentherr mußte ihm einen gro¬
ßen Rollſeſſel machen laſſen, der eine gepolſterte
Rüklehne und gute Seitenarme hatte.
In dieſem Rollſeſſel ſaß er gerne, wenn er kam,
und man überließ ſich der Plauderei.
Auf dieſe Weiſe verging eine geraume Zeit.
Endlich fing Dall ein Liebesverhältniß mit der
Frau des Rentherrn an, und ſezte es eine Weile fort.
Die Frau ſelber ſagte es endlich in ihrer Angſt dem
Manne.
Dall mußte davon gewußt haben, oder er mußte
es an dem Gewiſſen der Frau gemerkt haben, daß ſie
ihrem Manne das Verhältniß mit ſeinem Freunde be¬
kennen würde. Denn er kam in dieſen Tagen nicht,
obwohl er ſonſt in der lezten Zeit häufiger in die
Wohnung am Sanct Petersplaze gekommen war, als
es in der früheren Zeit der Fall geweſen war.
Der Rentherr war in einer außerordentlichen
Wuth, er wollte zu Dall rennen, ihm Vorwürfe ma¬
Stifter, Jugendſchriften. I. 14
chen, ihn ermorden; aber auch in ſeiner Wohnung
war Dall nicht zu finden, er ſpielte auch in jener Zeit
nicht im Theater, und man wußte nicht, wo er war.
Der Rentherr gab ſich Mühe, Dall aufzufinden, er
ging alle Tage zu verſchiedenen Zeiten in deſſen Woh¬
nung, aber er fand ihn niemals, und die Leute ſag¬
ten, Dall habe eine kleine Erholungsreiſe gemacht.
Dasſelbe war auch in der Stadt in allen Kreiſen be¬
kannt, und man ſagte, der Künſtler werde wohl bald
wieder zurük kehren, und die Welt mit ſeinem Glanze
erfreuen. Der Rentherr aber ließ ſich nicht irre ma¬
chen, er fuhr fort, Dall zu ſuchen. Er ſuchte ihn in
allen Theilen der Stadt, er ſuchte ihn an öffentlichen
Pläzen in der Kirche an Vergnügungsorten auf
Spaziergängen, er ſuchte ihn neuerdings in ſeiner
Wohnung. Der Geſuchte war nirgends zu finden.
So trieb es der Rentherr eine geraume Weile
fort. Plözlich aber wurde er ſehr ſtille. Seine Freunde
ſahen, daß die Unruhe, die ihn in der lezten Zeit be¬
fallen hatte, verſchwunden war. Er ſaß ruhig und
ſinnend. Da ging er zu ſeinem Weibe, und ſagte, ſie
habe an Dall fallen müſſen, warum habe er ihn ins
Haus geführt, ſie habe ihm das Herz gegeben, wie er
es Tauſenden an einem Schauſpielabende aus dem
Leibe nehme.
Selber gegen Freunde, denen aus leiſen Ver¬
muthungen, die in der Stadt herumgingen, die Sache
im Allgemeinen bekannt wurde, äußerte er ſich bewußt
oder unbewußt in einem Sinne, daß ſie eine Gemüths¬
lage in ihm vermuthen mußten, wie die eben geſchil¬
derte war.
Auch Dall mußte in ſeiner Entfernung von dem
Stande der Sache Nachricht erhalten haben, und er
mußte wiſſen, daß der Rentherr ruhig ſei; denn da
ſich nichts Beſonderes ereignete, und die Dinge ihren
Gang zu gehen ſchienen, war Dall wieder in der
Stadt, und wurde wieder auf der Bühne geſehen.
Eines Tages verſchwand die Frau des Rentherrn.
Sie war ausgegangen, wie ſie gewöhnlich auszuge¬
hen pflegte, und war nicht wieder gekommen.
Der Rentherr hatte gewartet, er hatte bis in die
Nacht gewartet; aber da ſie nicht erſchien, hatte er
gedacht, es könne ſie ein Unglük betroffen haben, und
er fuhr in einem Miethwagen zu allen Bekannten
und Freunden, und fragte, ob ſie ſeine Gattin nicht
geſehen hätten; aber niemand wußte eine Auskunft
zu geben. Am andern Tage zeigte er die Sache bei den
Behörden an, er foderte den Schuz der Ämter, und
er bekümmerte ſich um alle Verunglükten oder Aufge¬
fundenen. Aber auch die Ämter fanden nichts, und
14*
unter den Verunglükten, die ſich vorfanden, war ſie
nicht, und unter den Aufgefundenen, die ſich als hei¬
mathlos auswieſen, war ſie nicht.
Da dachte der Rentherr, Dall könne ſie irgend
wohin geführt haben, und halte ſie dort verborgen.
Er ging zu Dall, und foderte von ihm, daß er ihm
ſage, wo ſein Weib ſei, und daß er ihm daſſelbe zu¬
rük gebe. Dall betheuerte, er wiſſe nichts von der
Frau, er habe ſie ſeit ſeinem lezten Beſuche in der
Wohnung auf dem Sanct Petersplaze nicht mehr
geſehen, er gehe von ſeiner Wohnung nicht viel aus,
und zwar nur in das Theater und wieder zurük.
Der Rentherr ging nach Hauſe.
Nach einiger Zeit kam er wieder zu Dall, kniete
vor ihm nieder, faltete die Hände, und bath ihn um
ſein Weib. Dall erwiederte wieder, er wiſſe von dem
Weibe gar nichts, dasſelbe habe ſich nicht mit ſeinem
Willen entfernt, er kenne deſſen Aufenthalt nicht, und
könne es nicht zurük geben.
Der Rentherr entfernte ſich wieder.
Nach einigen Tagen kam er abermals, kniete aber¬
mals nieder, und bath mit gefalteten Händen um ſein
Weib. Dall ſchwor, daß er nicht wiſſe, wo die Frau
ſei, und daß er ſie nicht zurük geben könne.
Der Rentherr kam nach einigen Tagen noch ein¬
mal, that dasſelbe, und bekam dieſelbe Antwort.
Dann kam er nicht mehr. Er verabſchiedete ſeine
Magd, er nahm das kleine Kindlein aus dem Bette,
er nahm es auf den Arm, ging aus ſeiner Wohnung,
ſperrte hinter ſich zu, und ging fort.
Wenn Freunde zu dem Rentherrn kamen, um ihn
zu beſuchen, ſo hörten ſie von den Leuten in dem
Hauſe, der Rentherr ſei fort, er müſſe eine Reiſe an¬
getreten haben; denn er habe das Kindlein mitgenom¬
men, und habe, obwohl es Sommer war, den Man¬
tel angehabt.
So ſtand die Wohnung in dem vierten Stokwerke
des Hauſes auf dem Sanct Petersplaze leer, und
das eiſerne Gitter auf dem Gange war geſchloſſen.
Als ein halbes Jahr vergangen war, und weder
der Rentherr zurükgekehrt war, noch auch jemand die
Miethe für die Wohnung bezahlt hatte, zeigte der
Beſizer des Hauſes den Vorfall bei der Obrigkeit an.
Man ließ mehrere Freunde des Abweſenden kommen,
und fragte ſie, ob ſie deſſen Aufenthalt wüßten; allein
keiner wußte ihn. Man ließ nach und nach alle kom¬
men, von denen man wußte daß ſie mit dem Rentherrn
in Beziehung geweſen ſeien; aber kein einziger konnte
eine Auskunft geben. Auf das Anrathen des Gerich¬
tes, und weil ihn ſein eigenes Wohlwollen gegen den
Rentherrn dazu trieb, entſchloß ſich der Hausbeſizer
noch eine Zeit zu warten, ob der Rentherr nicht etwa
von ſelber zurükkehren würde. Nach der Ausſage der
Bewohner des Hauſes und des Pförtners desſelben
hatte der Rentherr nicht das Kleinſte von ſeiner Woh¬
nung fortbringen laſſen, ja man erinnerte ſich nicht
einmal genau, ob er bei ſeiner Abreiſe einen Koffer
gehabt habe oder nicht. Da man nun wußte, daß
viele und koſtbare Sachen in der Wohnung ſeien, ſo
war es wahrſcheinlich, daß der Rentherr nur verreiſet
ſei, daß ihn irgend ein Zufall getroffen haben
müſſe, der ihn hindere, zurük zu kehren, oder eine
Nachricht zu geben, und daß er ſchon wieder kommen
werde.
Allein da bereits zwei Jahre vergangen waren,
und da der Rentherr weder ſelber zurük gekehrt war,
noch auch eine Nachricht von ſich gegeben hatte, ließ
man ihn ämtlich durch die Zeitungen auffodern, daß
er von ſich Nachricht zu geben, und ſich auszuſprechen
hätte, ob er ſeine dermalige Wohnung auf dem Sanct
Petersplaze noch ferner behalten, und die Miethe ge¬
ſezmäßig berichten würde. Wenn in einer gegebenen
Friſt keine Nachricht einginge, ſo würde man ſeine
Wohnung als aufgekündet betrachten, würde ſeine
Zurüklaſſenſchaft verſteigern, davon die angelaufene
Miethe bezahlen, und den etwaigen Reſt in gericht¬
liche Verwahrung nehmen.
Allein auch die Friſt verſtrich, ohne daß der Rent¬
herr kam, oder eine Nachricht eintraf, oder jemand
erſchien, der ſich um die Wohnung annahm.
Da ſchritt man zur ämtlichen Öffnung derſelben.
Ein Schloſſer mußte das Schloß des eiſernen
Gitters eröffnen. Die ältliche Magd erſchien nicht
mehr, die Leute in das Vorzimmer und in die Stube
des Rentherrn zu geleiten, ihr Küchenfenſter war nicht
glatt und rein wie ehedem, ſondern es war voll Staub
und hing voll Spinneweben. In der Küche war alles,
wie nach dem Gebrauche, die Magd hatte vor ihrem Weg¬
gange alles noch gereinigt, und an ſeinen Plaz geſtellt,
nur war jedes Ding voll Staub, und die hölzernen Kü¬
ferarbeiten waren zerfallen, und die Reifen lagen um
ſie. In dem Vorzimmer waren die großen Käſten mit
Kleidern erfüllt, von den wollenen flog eine Wolke
Motten auf, die andern waren unverſehrt. Es hingen
auch die Sachen der Frau da, und darunter ſchöne
ſeidene Gewänder. In dem Speiſekaſten befanden ſich
die Eßgeräthe und das Silbergeſchirr.
Da man das Zimmer des Rentherrn eröffnet
hatte, fand ſich alles, wie es ſonst geweſen war. Der
Flügel ſtand eröffnet, die zwei Geigen waren da, die
Fächer mit den Flöten, nur eine Flöte fehlte. Auf
der Staffelei war ein angefangenes Bild, auf dem
Schreibtiſche lagen Bücher und Schriften, und das
Bett war mit ſeiner feinen Deke überzogen. Die be¬
rühmten Männer waren beſtaubt und von der einge¬
ſchloſſenen Luft vergelbt. Die Ruhebetten ſtanden
umher, aber ſie waren lange nicht gerollt worden.
Der große Armſeſſel des Schauſpielers ſtand mitten
in dem Zimmer.
In der Wohnung der Frau war ſchier keine Ver¬
änderung, es ſtanden die Geräthe in der alten Ord¬
nung, und es lagen die alten Sachen auf ihnen; aber
die kleinen Veränderungen die doch vor ſich gegangen
waren, zeigten, wie es hier anders geworden ſei.
Die ſchweren Vorhänge hingen ruhig herab, da ſie
doch ſonſt bei den geöffneten Fenſtern ſich leicht bewegt
hatten, die Blumen und Pflanzen ſtanden als ver¬
dorrte Reiſer, die Uhr mit dem ſanften Gange hatte
auch dieſen nicht, das Pendel hing ſtille, und ſie zeigte
unabänderlich auf dieſelbe Stunde. Die Linnen und
anderen Arbeiten lagen wohl auf den Tiſchen, aber
ſie zeigten keine anfaſſende Hand, und trauerten unter
dem Staube. In dem Seitengemache hingen die wei¬
ßen Vorhänge in den vielen Falten hernieder, aber
in den Falten war der leichte ſchnell rieſelnde Staub,
die heilige Mutter ſchaute von dem Bilde nieder, die
rothe Umhüllung war grau, der vergoldete Engel hielt
die Spize des Linnenzeltes, aber auf den Linnen lag
der Staub und unter ihnen war der leere Korb, und
in ihm nicht mehr das roſige Angeſicht des Kindes.
Das Amt nahm alle Gegenſtände dadurch in Em¬
pfang, daß es dieſelben in ein Buch verzeichnete.
Dann wurden ſie in zwei Zimmer zuſammen geſtellt,
daß man ſie beſſer überſehen, und überwachen könnte.
Hierauf wurde die Wohnung wieder verſchloſſen, und
verſiegelt.
Unter den vorgefundenen Sachen war nichts,
was von dem Aufenthalte und den weiteren Verhält¬
niſſen des Rentherrn hätte Kunde geben können. Auch
kein Geld wurde gefunden, man vermuthete, daß er
alles bare auf die Reiſe mitgenommen habe.
Der Tag der Verſteigerung wurde anberaumt,
und als dieſe vor ſich gegangen war, wurde ein Theil
des Erlöſes dem Beſizer des Hauſes als angewachſener
Miethbetrag ſammt deſſen Zinſen gegeben, der Reſt
für den abweſenden Rentherrn von dem Amte in Ver¬
wahrung genommen. Die Helden waren ſämmtlich
von den Wänden abgelöſet worden, die Wohnung
in dem vierten Stokwerke im Hauſe auf dem Sanct
Petersplaze ſtand leer, und auf einem an dem Thore
desſelben angeſchlagenen Zettel war zu leſen, daß ſie
an einen neuen Miether zu vergeben ſei.
Die Sache hatte in Wien großes Aufſehen ge¬
macht, man hatte mehr oder minder eine Ahnung von
dem wahren Sachverhalte, und redete eine geraume
Zeit davon. Einmal ging die Sage, der Rentherr ſei
in den böhmiſchen Wäldern, wohne dort in einer
Höhle, halte das Kind in derſelben verborgen, gehe
unter Tags aus, um ſich den Lebensunterhalt zu
erwerben, und kehre Abends wieder in die Höhle
zurük. Aber es kamen andere Ereigniſſe der großen
Stadt, wie ſich überhaupt die Dinge in ſolchen Orten
drängen, man redete von etwas anderem, und nach
Kurzem war der Rentherr und ſeine Begebenheit ver¬
geſſen.
Es war ſeit der Zeit, in welcher ſich das zuge¬
tragen hatte, was oben erzählt worden iſt, eine
Reihe von Jahren vergangen. Die Erzählung rührt
von einer Freundin her, welche den Künſtler recht gut
gekannt hat, und welche das genauere Verhältniß
desſelben zur Familie des Rentherrn von ſeinen
Freunden erfahren hatte. Denn ſie ſelber war zur
Zeit, da die Begebenheit ſich zugetragen hatte, noch
zu jung geweſen, um viel von ihr berührt zu
werden.
Wir laſſen nun aus ihrem Munde das Weitere
folgen.
Vor ziemlich langer Zeit, erzählte ſie, als ich mit
meinem Gatten erſt einige Jahre vermählt war, hatten
wir eine ſehr angenehme und freundliche Vorſtadt¬
wohnung. Mein Gatte konnte recht leicht den kleinen
Weg in die Stadt, in welche ihn täglich ſeine Amts¬
geſchäfte riefen, zurüklegen; ich kam nicht oft hinein,
weil ich mit meiner Häuslichkeit ſehr viel beſchäftigt
war, weil mir damals die kleinen Kinder viel zu thun
gaben, weil ich mich ihrer Pflege ſehr gerne widmete,
und wenn ich doch in die Stadt mußte, ſo war,
wenn es ſchön war, der Weg nur ein Spaziergang,
und am Ende koſtete bei ſchlechtem Wetter ein Wagen
auch nicht gar viel. Für die Kinder aber war die luf¬
tige und freie Wohnung, zu welcher auch ein geräu¬
miger Garten gehörte, von entſchiedenem Vortheile,
und ein bedeutender Arzt, der Freund meines Mannes
widerrieth, als der leztere einmal die Wohnung auf¬
geben wollte, ihm dieſen Vorſaz auf das Eindring¬
lichſte. Die Fenſter eines Theils der Wohnung gingen
auf den Garten und über ihn weg auf andere Gärten
und endlich auf die nahen Weinberge und Waldhügel
der Umgebung. Hier war hauptſächlich ich mit den
Kindern. Die vorderen Fenſter ſahen auf die breite
gerade und ſchöne Hauptſtraſſe der Vorſtadt, in
welcher ein angenehmes nicht zu bewegtes Leben
herrſchte, Kaufbuden und Waarenſtände waren, und
Wägen fuhren, und Menſchen gingen. In dieſem
Theile der Wohnung war unſer Geſellſchaftszimmer
noch ein ſchönes Zimmer und das Arbeitsgemach
meines Mannes. Die Entfernung zwiſchen der
Stadt und dem Lande war ſo gleich und ſo kurz,
daß wir zu keinem einen großen Weg zurük zu legen
hatten.
Als einmal ein ſehr ſchöner milder Morgen war, ich
glaube, es war zur Zeit des Frühlingsanbruches, als
mein Gatte bereits in der Stadt war, die Kinder aber
ſich in der Schule befanden, ließ ich mich von der
einſchmeichelnden Luft bewegen, die Fenſter zu öffnen,
um die Wohnung zu lüften, und bei dieſer Gelegen¬
heit, wie das immer ſo folgt, auch ein wenig Staub
abzuwiſchen, aufzuräumen, und dergleichen. Wir
hörten in unſere Wohnung gerne das Kirchenglöklein
des Krankenhauſes, wenn es zur Meſſe rief, und ich
ging nicht ſelten, wenn ich eben darnach angekleidet
war, hinüber meine Andacht zu verrichten. Eben
tönte auch wieder das Glöklein durch die Lüfte, als
ich bei einem Fenſter unſers ſchönſten Zimmers gegen
die Straſſe hinaus ſah, und ein Abwiſchtuch aus¬
ſchwang. Ich hatte aber außer dem Klingen des
Glökleins auch noch einen andern Eindruk, der mich
bewog, noch ein Weilchen an dem Fenſter zu bleiben.
Da ich nehmlich hinunter ſah, was denn für Leute
gingen, erblikte ich ein ſeltſames Paar. Ein Mann,
nach dem Rüken zu ſchließen, den er mir zukehrte,
ſchon ziemlich bejahrt, mit einem dünnen gelben Moll¬
donrökchen blaßblauen Beinkleidern großen Schuhen
und einem kleinen runden Hütchen angethan, ging auf
der Straße dahin; er führte ein Mädchen, das eben
ſo ſeltſam gekleidet war, in einen braunen Überwurf,
der ihr faſt wie eine Toga um die Schultern lag.
Das Mädchen hatte aber einen ſo großen Kopf, daß
es zum Erſchreken gereichte, und daß man immer nach
demſelben hin ſah. Beide gingen mäßig ſchnell ihres
Weges; aber beide ſo unbeholfen und ungeſchikt, daß
man ſogleich ſah, daß ſie Wien nicht gewohnt ſeien,
und daß ſie ſich nicht ſo zu bewegen verſtünden wie
die anderen Menſchen. Aber bei aller Unbeholfenheit
und Ungeſchiklichkeit war der Mann doch noch befliſ¬
ſen, das Mädchen zu leiten, mit ihm den fahrenden
Wägen auszuweichen, und es vor dem Zuſammen¬
ſtoße mit Perſonen zu hüthen. Sie ſchlugen gerade
den Weg ein, der zu dem Kirchlein führte, von dem
eben das Glöklein tönte.
Von Neugierde getrieben, und weil ich dachte,
daß der Mann etwa das Mädchen in die Meſſe führe,
beſchloß ich, auch dahin zu gehen, meine Andacht zu
verrichten, und nebenbei auch etwas Näheres von
den Beiden zu erfahren oder ſie zu betrachten. Ich
kleidete mich ſchnell an, warf ein Tuch um, ſezte den
Hut auf, und ging fort. Ich bog in das kleine
Gäßchen ein, das von unſerer Hauptſtraſſe um die
Eke der Soldatenarzneiſchule herum gegen die Gegend
des Kirchleins führt, wohin ich die zwei Menſchen
hatte einlenken geſehen; allein ich erblikte ſie nicht
in dem Gäßchen. Ich ging dasſelbe entlang, ging
durch den Schwibbogen, der dasſelbe damals noch
ſchloß, wendete mich um die Häuſereke, und wandelte
bis zur Kirche; aber ich ſah ſie nirgends. Auch in der
Kirche, in der wenig Menſchen waren, erblikte ich ſie
nicht. Ich verrichtete nun meine gewöhnliche Andacht,
vertiefte mich in dieſelbe, und da die Meſſe vorüber war,
und ich mich zum Fortgehen rüſtete, ſah ich mich noch
einmal rings herum, um ihnen Hilfe anzubiethen,
wenn ſie deren vielleicht bedürften; allein ich hatte
mich geirrt, das Paar war wirklich nicht in der Kirche.
Ich verfügte mich nun auch wieder nach Hauſe.
Es war ſeit dieſem Vorfalle eine bedeutende Zeit
vergangen, und ich hatte ihn längſt vergeſſen, als ich
mit meinem Gatten einmal in einer ſehr ſchönen
Nacht von der Stadt nach Hauſe ging. Wir waren
in dem Theater in der Hofburg geweſen, und da die
Nacht gar ſo ſchön und heiter war, ſo beſtimmte uns
dieſer Umſtand, das Anerbiethen eines Freundes, der
mit uns der Vorſtellung beigewohnt hatte, anzuneh¬
men, und bevor wir nach Hauſe gingen, noch ein
wenig bei ſeiner Familie einzutreten. Wie es zu
geſchehen pflegt, man ſprach dort von dem Stüke,
man ſtritt hinüber und herüber, man brachte Er¬
friſchungen, und es wurde Mitternacht, ehe wir auf¬
brachen. Wir lehnten den Antrag unſeres Freundes,
uns ſeinen Wagen zu geben, ab, und ſagten, es
wäre ein Raub an dieſer ſchönen Nacht wenn wir in
dem Wagen ſäßen, und den freien Raum, der zwiſchen
der Stadt und der Vorſtadt iſt, durchflögen, ſtatt ihn
langſam zu durchwandeln, und ſeine freie erhellte
Schönheit zu genießen. Man widerſprach uns nicht
mehr, und wir machten uns zu Fuſſe auf.
Als wir aus dem Thore hinaus traten, und die
Stadt hinter uns ließen, empfing uns der heitere
große Grasplaz mit ſeinen vielen Bäumen, und eine
wirklich herrliche Mondnacht ſtand über dem Raume.
Ein ungeheurer Himmel wie aus einem Edelſteine
gegoſſen war über der großen Rundſicht der Vorſtädte,
nicht ein einziges Wölkchen war an ihm, und von
ſeinem Gipfel ſchien das Rund des Mondes lichtaus¬
gießend nieder. Wir wandelten an der Reihe der
Bäume, die den Fahrweg ſäumten, dahin, mancher
einzelne Wanderer und manches Paar begegnete uns.
Weil die Nacht ſo duftend und beinahe ſüdlich war,
machten wir den Weg über den freien Raum noch
einmal hin und zurük, ſo daß wir endlich beinahe
die Lezten auf dem Plaze waren. Wir wendeten
uns nun auch, um nach Hauſe zu gehen. Als wir an
der Häuſerreihe unſerer Vorſtadt hin gingen, und
uns kein Menſch mehr begegnete, merkten wir, daß
wir doch nicht die einzigen wären, welche von dieſer
ſchönen Mondnacht angezogen würden, ſondern daß
auch noch ein anderer von ihren Strahlen in ſeinem
Herzen erregt wäre; denn wir hörten in der allge¬
meinen Stille, die nur durch unſere Tritte und durch
manchen fernen Ruf einer Nachtigall unterbrochen
wurde, ein ſeltſames Flötenſpiel. Wir hörten es
Anfangs ganz leiſe, dann da wir weiter kamen,
lauter. Wir blieben ein wenig ſtehen, um zu horchen.
Wenn es ein gewöhnliches Flötenſpiel geweſen wäre,
würden wir wahrſcheinlich bald weiter gegangen ſein;
denn es iſt nichts Seltenes, daß man auch noch ſpät
in der Nacht aus irgend einem Hauſe unſerer Stadt
Muſik hört; aber das Flötenſpiel war ſo ſonderbar,
daß wir länger ſtehen blieben. Es war nicht ein aus¬
gezeichnetes Spiel, es war nicht ganz ſtümperhaft,
aber was die Aufmerkſamkeit ſo erregte, war, daß
es von allem abwich, was man gewöhnlich Muſik
nennt, und wie man ſie lernt. Es hatte keine uns
bekannte Weiſe zum Gegenſtande, wahrſcheinlich
ſprach der Spieler ſeine eigenen Gedanken aus, und
wenn es auch nicht ſeine eigenen Gedanken waren, ſo
gab er doch jedenfalls ſo viel hinzu, daß man es als
ſolche betrachten konnte. Was am meiſten reizte, war,
daß, wenn er einen Gang angenommen, und das
Ohr verleitet hatte, mit zu gehen, immer etwas
anderes kam, als was man erwartete, und das Recht
hatte, zu erwarten, ſo daß man ſtets von vorne an¬
fangen, und mitgehen mußte, und endlich in eine
Verwirrung gerieth, die man beinahe irrſinnig hätte
nennen können. Und dennoch war troz des Unzuſam¬
menhanges eine Trauer und eine Klage und noch
etwas Fremdartiges in dem Spiele, als erzählte der
Spieler in ungefügen Mitteln ſeinen Kummer. Man
war beinahe gerührt.
„Das iſt ſonderbar,“ ſagte mein Gatte, „Der muß
Stifter, Jugendſchriften. I. 15
das Flötenſpiel auf einem eigenthümlichen Wege ge¬
lernt haben, er ſtimmt richtig an, er fährt nicht fort,
er verhaftet die Sache, er kann mit dem Hauche nicht
haushalten, er überſtürzt ihn, und reißt ihn ab, und
hat doch eine Gattung Herz darin.“
Wir konnten auch nicht ergründen, woher das
Spiel kam, faſt hätten wir geglaubt, daß es aus dem
alten Perronſchen Hauſe klinge, in deſſen Nähe wir
uns befanden; aber das Haus war im Begriffe abge¬
tragen zu werden, es war ſchon nur mehr ſehr wenig
bewohnt, und die Töne klangen durchaus nicht, als
kämen ſie von irgend einem Fenſter herab.
Als wir noch ein Weilchen geſtanden waren, gin¬
gen wir weiter, das ſeltſame Flötenſpiel wurde hinter
uns undeutlich, endlich hörten wir es gar nicht mehr,
wir kamen nach Hauſe, und begaben uns neben un¬
ſern Kindern, die ſchon mehr als die Hälfte ihres er¬
quikenden Schlafes ausgeſchlafen hatten, zur Ruhe.
Nach dieſer Begebenheit verging wieder eine ge¬
raume Zeit.
Wer ſchon länger in unſerer Stadt lebt, wird ſich
noch des alten Perronſchen Hauſes erinnern. Wer
überhaupt etwa fünfzehn bis zwanzig Jahre her Wien
kennt, der wird wiſſen, daß dieſe Stadt in beſtändigem
Umwandeln begriffen, und daß ſie troz ihres Alters eine
neue Stadt iſt; denn die Häuſer werden immer nach
neuer Art und zu dem Zweke der Benüzung umge¬
baut, alte unveränderliche Denkmale wie etwa die
Kirche von Sanct Stephan gibt es zu wenige, als
daß ſie der Stadt ein allgemeines Ausſehen aufdrüken
könnten, und ſo ſieht ſie immer wie eine von geſtern
aus. Das alte Perronſche Haus ſtand an der Haupt¬
ſtraße der Vorſtadt, in welcher wir wohnten, und war
nicht gar weit von unſerer Wohnung entfernt. Es
hatte noch die Eigenthümlichkeit, welche die jezigen
jungen Bewohner der Hauptſtadt nicht mehr kennen,
daß es unterirdiſche Wohnungen hatte. Die Fenſter
ſolcher Wohnungen gingen gewöhnlich dicht an dem
Pflaſter der Straßen heraus. Sie waren nicht ſehr
groß, hatten ſtarke eiſerne Stäbe, hinter denen ſich
gewöhnlich noch ein dichtes eiſernes Drahtgitter be¬
fand, das, wenn der Bewohner nicht beſonders rein¬
lichkeitliebend war, mit dem hingeſchleuderten und
getrokneten Kothe der Straße bedekt war, und einen
traurigen Anblik gewährte. Das Perronſche Haus war
auch ohnedem ſchon ein ſehr altes Haus, es ſah
ſchwarz aus, und hatte Verzierungen aus ſehr alten
Zeiten. Es ging nur mit ſeiner ſchmäleren Seite auf
die Straße, mit den größeren Räumen ging es gegen
einen Garten zurük. Es hatte ein kleines Pförtlein,
15*
das mit dunkelrother faſt ſchwarz gewordener Farbe
angeſtrichen und mit vielen metallenen Nägeln be¬
ſchlagen war, deren Stoff man nicht mehr erkennen
konnte, weil ſich die breiten Köpfe mit Schwärze über¬
zogen hatten. Es war wohl neben dem Pförtchen ein
größeres Hausthor, aber dasſelbe war ſeit undenkli¬
chen Zeiten nicht mehr benüzt worden, es war ge¬
ſchloſſen, es war voll Straßenkoth und Staub, und
hatte zwei Querbalken, die mit eiſernen Klammern
an der Mauer befeſtigt waren.
Wir hatten damals einen Freund, der es auch in
allen folgenden Zeiten geblieben iſt. Es war der Pro¬
feßor Andorf. Er war unvermählt, war ein heiterer
freundlicher Mann voll geiſtiger Anlagen, er hatte ein
warmes empfindendes Herz, und war für alles Gute
und Schöne empfänglich. Er kam ſehr oft zu uns,
war mit meinem Manne in gelehrten Verbindungen,
und es wurde öfter etwas Schönes vorgeleſen oder
Muſik gemacht, oder traulich von verſchiedenen Dingen
geſprochen. Dieſer Profeßor Andorf wohnte in dem
Perronſchen Hauſe, er wohnte nicht einmal auf die
Gaſſe heraus ſondern in dem Hofe. Er hatte freiwil¬
lig dieſe Wohnung gewählt, weil ſie für ſeine Be¬
ſchäftigungen, die in Leſen Schreiben oder etwas
Klavierſpielen beſtanden, ſehr ruhig war; und obwohl
er ein heiterer geſelliger Mann war, hatte er doch
gerade dieſe Wohnung gewählt, weil es ſeinen dich¬
tenden Kräften, die ſich nicht ſowohl im Hervorbrin¬
gen als vielmehr im Empfangen äußerten, zuſagte,
das allmähliche Verſinken Vergehen Verkommen zu
beobachten, und zu betrachten, wie die Vögel und
andere Thiere nach und nach von dem Mauerwerke
Beſiz nahmen, aus dem ſich die Menſchen zurük gezo¬
gen hatten; es gehe ihm in der Welt nichts darüber,
pflegte er zu ſagen, an einem Regentage an ſeinem
Fenſter zu ſtehen, und das Waſſer von den Dieſteln
dem Huflattig und den andern Pflanzen, die in dem
Hofe ſtehen, niederträufeln, und die Näſſe ſich in den
alten Mauern herabziehen zu ſehen.
Einmal ſagte mein Gatte, da er ſchon angezogen
war, und eben in ſein Amt gehen wollte: „Da iſt ein
Buch, es gehört dem Profeßor Andorf, es iſt ſehr
wichtig, mir iſt daran gelegen, daß es nicht in fremde
Hände komme, ſei ſo gut, ſchlage es in ein Papier
ein, ſiegle das Papier zu, und ſchike das Buch durch
jemand Zuverläſſigen an den Profeßor. Ich hatte nicht
mehr Zeit das Geſchäft ſelber zu beſorgen, und wende
mich daher an dich.“
Er legte das Buch auf mein Nähtiſchchen, ich
ſagte ihm zu, daß ich ſeinen Auftrag vollziehen würde,
und er ging fort, um ſich an ſeine Dienſtgeſchäfte zu
begeben.
Da mir aber im Laufe des Vormittages einfiel,
daß ich ohnedem in die Stadt gehen müſſe, und daß
ich da an dem Perronſchen Hauſe vorübergehe, ſo
dachte ich, daß ich ja bei dieſer Gelegenheit das Buch
ſelber abgeben könnte, ſo könne es ganz gewiß in keine
unrechten Hände kommen. Ich beſchloß alſo, ſo zu
thun. Da die Zeit gekommen war, kleidete ich mich
an, that das Buch in meine Arbeitstaſche, die ich
gerne am Arme mitzutragen pflege, und machte mich
auf den Weg. Als ich zu dem Perronſchen Hauſe ge¬
kommen war, drükte ich auf die Klinke des kleinen rothen
Pförtchens. Ich war nie in dem Hauſe geweſen. Die
Klinke gab leicht nach, und das Pförtchen öffnete ſich.
Als ich aber in dem Gange ſtand, der ſich hinter dem
Pförtchen öffnete, ſah ich mich vergeblich nach einer
Stube oder Wohnung um, in der ein Pförtner oder
dergleichen wäre, der mir Auskunft geben könnte. Ich
ging alſo in dem Gange weiter, der mir keine Treppe
in die höhern Stokwerke zeigte, und gelangte in den
Hof. Derſelbe war mit großen aber zum Theile ſchon
zerbrochenen Steinen gepflaſtert. Ich ſah da die
Pflanzen des Profeßors Andorf ſtehen, die ihn bei
dem Regen mit ihrem triefenden Waſſer ergözten, ich
ſah aber auch bei allen Fugen der Steine das Gras
heraus ſtehen, das ſchön und unzertreten wuchs. An
den Mauern, die den Hof bildeten, ſah ich mehrere
Thore, die zu Stallungen oder Wagenbehältern füh¬
ren mochten, aber die Thore wurden nie geöffnet,
was ihr ausgewittertes vertroknetes und zum Theil
zerfallenes Ausſehen das hohe Gras zu ihren Füſſen
und die braunverroſteten Angeln bewieſen. Es waren
auch drei Mündungen, die zu Treppen führten, aber
die Mündungen ſahen unwirthlich aus, und die Trep¬
pen ſchienen nicht betreten zu werden. Unter den
erblindeten oder bläulich ſchillernden oder theils mit
hölzernen Läden verſchloſſenen Fenſtern ſah ich auch
einige mit reinem Glaſe, hinter denen weiße Vor¬
hänge waren. Ich ſchloß, daß dieſe zu der Wohnung
des Profeßors gehören möchten, wußte aber nicht,
wie ich zu dieſer Wohnung hinan gelangen könnte.
In dieſem Augenblike hörte ich leiſe Tritte hinter
mir, und vernahm eine nicht unangenehme etwas
feine Männerſtimme, die ſagte: „Wünſchen Sie
etwas?“
Ich wendete mich um, und ſah ein Männchen
hinter mir ſtehen, das ſpärliche graue Haare auf dem
Haupte und einen ſchlichten Ausdruk in dem Ange¬
ſichte hatte. Es war nicht eigentlich angekleidet; denn
es hatte nur linnene Beinkleider an, eine ähnliche
Jake, auf dem Kopfe nichts, und an den Füſſen
Pantoffel.
„Ich ſuche den Herrn Profeßor Andorf,“ ſagte ich.
„Was wünſchen Sie denn von dem Herrn Pro¬
feßor Andorf?“ erwiederte er, „kann ich vielleicht eine
Botſchaft oder eine Übergabe beſtellen, der Herr
Profeßor iſt nicht zu Hauſe.“
Ich ſah den Mann näher an. Er hatte ein läng¬
liches Angeſicht und blaue Augen. Seine Miene ſtieß
nicht ab.
„Ich hätte ein Buch zu übergeben,“ ſagte ich,
„das nur in ſeine Hände gehört, aber da er nicht zu
Hauſe iſt, ſo kann das Buch auch ein anderes Mal
zu ihm kommen, mein Gatte kann es ein anders Mal
herüber ſchiken.“
„Ich bin der Pförtner des Hauſes“ erwiederte er,
„Sie können mir das Buch ſchon anvertrauen; wenn
Sie es aber vorziehen, es ihm ſelbſt zu übergeben,
oder durch jemand Ihrer Leute übergeben zu laſſen,
ſo treffen Sie den Profeßor täglich bis neun Uhr
früh, und meiſtens auch zwiſchen vier Uhr und ſechs
Uhr Nachmittags.“
Da ich unſchlüßig zauderte, und ihn anſah, ſagte
er: „Verehrte Frau, geben Sie mir das Buch, ich
werde es behutſam anfaſſen, daß es nicht ſchmuzig
werde, ich werde nicht in dasſelbe hinein ſehen, und
werde es ſogleich, wenn der Herr Profeßor Andorf
nach Hauſe kömmt, in ſeine Hände geben.“
Ich ſah ihn wieder an. Das Anſtändige in ſeiner
Stellung fiel mir auf. Seine Worte waren in dem
Wenigen, was er mir ſagte, ſehr gewählt, wie man
es in der beſſern Geſellſchaft findet, nur ſeine blauen
Augen hatten etwas Unſtättes, als blikten ſie immer
hin und her. Ich hatte nicht den Muth, ihn durch
Mißtrauen zu kränken, ich neſtelte meine Arbeitstaſche
auf, zog das Buch hervor, und gab es in ſeine
Hände. Ich hatte es in kein Papier eingeſchlagen,
weil ich es ſelber zu übergeben gedachte. Er bemerkte
den Umſtand gleich, und ſagte: „Ich werde das Buch
in ein Papier einwikeln, werde es ſo liegen laſſen,
bis der Herr Profeßor kömmt, und werde es ihm ſo
übergeben.“
„Ja thun Sie das,“ ſagte ich, und mit dieſen
Worten ſchied ich aus dem Hauſe.
Aber kaum war ich auf der Gaſſe, ſo bemächtigte
ſich meiner eine Unruhe. Etwa zwanzig Schritte von
dem rothen Pförtlein an der Mauer des nächſten
Hauſes ſaß gerne eine Obſtfrau. Sie ſaß jeden Tag
da, wenn nicht gar ein zu abſcheuliches Wetter war;
denn an gewöhnlichen Regentagen hatte ſie einen
breiten Schirm über ihr Waarenlager ausgebreitet.
Ich kannte die Frau ſehr gut, und hatte oft ſchon für
die Kinder von ihr Obſt gekauft. Zu dieſer Frau
ging ich hin. Ich fragte ſie, ob ſie den Pförtner des
Perronſchen Hauſes kenne. Sie ſagte, daß ſie ihn
kenne, daß er ein ordentlicher Mann ſei, daß, wenn
er ausgehe, er gewiß immer vor Anbruch der Nacht
nach Hauſe komme. Man könne ihm nichts nachſa¬
gen, er ſei ſehr ſtille. Übrigens ſei es ſchon daran,
daß man das Perronſche Haus umbauen müſſe, es
wohnen ſchon nicht mehr viele Leute darinnen, vor¬
nehme ſchon gar nicht, wenn man den Herrn Profeßor
Andorf ausnehme, wie ich ja ſelber ſehr gut wiſſe,
und in wenig Jahren werde gar niemand mehr drin
wohnen wollen. Wenn Herr Perron nicht immer
in fremden Ländern wäre, ſo würde er wiſſen, wie es
mit dem Hauſe ſtehe, daß es ihm nicht viel eintrage,
und daß er beſſer fahren würde, wenn er es nieder
riſſe, und ein anderes an deſſen Stelle aufbaute.
Ich kaufte von der Frau einiges Obſt, that es in
meine Taſche, und ſezte meinen Weg in die Stadt
fort.
Als mein Gatte nach Hauſe gekommen war, und
wir bei dem Mittageſſen ſaſſen, drükte mich das Ge¬
wiſſen, und ich ſagte ihm, was ich gethan habe: aber
er nach ſeiner ihm von jeher innwohnenden Güte und
Milde beruhigte mich, und ſagte, ich hätte vollkommen
recht gethan, er ſelber, wenn er das Buch hinüber
getragen hätte, und ihm das Gleiche begegnet wäre,
hätte nicht anders gehandelt. Das Buch würde ſchon
in die rechten Hände kommen. Deßohngeachtet fragte
ich den Profeßor, als er das erſte Mal nach dieſer
Begebenheit zu uns kam, ob er das Buch erhalten
habe, ich hätte es in die Hände des Pförtners des
Perronſchen Hauſes gegeben.
„Das Buch habe ich erhalten,“ ſagte der Profeßor,
„aber ich habe geglaubt, daß Sie es mir durch jenen
alten Mann überſchikt haben. Daß wir im Perron¬
ſchen Hauſe einen Pförtner beſizen, habe ich gar nicht
gewußt, und wenn wir einen haben, ſo muß es der
ſtillſte Pförtner der Welt ſein; denn ich habe nie
etwas von ihm vernommen. Ich habe einen Schlüſ¬
ſel, durch den ich mir das Pförtchen öffne, wenn ich
ſo ſpät nach Hauſe komme, daß es ſchon verſchloſſen
iſt. Übrigens thut es mir leid, daß ich nicht zu Hauſe
geweſen bin, da Sie in das Perronſche Haus ge¬
kommen ſind, daß ich Sie hätte empfangen, und
Ihnen die vorkommenden Merkwürdigkeiten des
Hauſes hätte zeigen können.“
Wieder war ſeit dieſem Vorfalle eine bedeutende
Zeit vergangen, als ſich ein neues Merkmal zutrug.
Unſer älteſter Sohn Alfred kam einmal von der Schule
nach Hauſe. Er lief eifrig die Treppe heran, er
ſtürzte in die Stube, und rief: „Mutter, ich habe
ihm nichts gethan, Mutter ich habe ihm nichts
gethan.“
„Alfred,“ ſagte ich, „was iſt dir denn?“
„Mutter, du weißt das Perronſche Haus,“ erwie¬
derte er, „da ging ich auf dem breiten Pflaſter des
Weges für die Fußgeher, und da ſah ich einen Raben
auf dem Pflaſter ſizen, der ſich nicht fürchtete, der
nicht fliegen zu können ſchien, und der vor mir, da
ich mich näherte, her ging. Ich dukte mich ein wenig,
ſprach zu ihm, langte nach ihm, und er ließ ſich fan¬
gen. Mutter, ich habe ihm nichts gethan, ich habe
ihn nur geſtreichelt. Da ſah bei den Erdfenſtern
des Perronſchen Hauſes ein fürchterlich großes Ange¬
ſicht heraus, und ſchrie: „Laß, laß.“
„Ich blikte nach dem Kopfe hin, er hatte ſtarre
Augen, war ſehr blaß, und war erſchrekend groß.
Ich ließ den Raben aus, richtete mich empor, und
lief nach Hauſe. Mutter, ich habe ihm wirklich nichts
gethan, ich habe ihn blos ſtreicheln wollen.“
„Ich weiß, Alfred, ich weiß,“ ſagte ich, „lege
deinen Schulſak ab, gehe in die Kinderſtube, da wirſt
du dein Nachmittagbrot bekommen, und ſchlage dir
den Raben aus dem Sinn, es liegt nichts an ihm.“
Der Knabe küßte mir die Hand, und ging leichten
Gemüthes in die Kinderſtube.
Aber mein Gemüth war nicht ſo leicht, es war nach¬
denklich geworden. Mir fiel nun das vor vieler Zeit
geſehene Paar ein, dem ich einmal in der Richtung
nach der Kirche des Krankenhauſes nachgegangen bin.
Das Mädchen hatte auch damals einen nach des
Knaben Ausdruk fürchterlich großen Kopf gehabt.
Ich fing nun an, die Begebenheiten zu verbinden.
Wenn der von Alfred geſehene Kopf der nehmliche
geweſen iſt, den ich an jenem Mädchen wahrgenom¬
men hatte, ſo muß das Mädchen in einer unterirdi¬
ſchen Wohnung des Perronſchen Hauſes wohnen.
Wenn ich nun an den Pförtner des Perronſchen
Hauſes dachte, dem ich das Buch für den Profeßor
Andorf gegeben hatte, ſo dürfte derſelbe, wie mir
jezt vorkam, ungefähr die Geſtalt und Größe des
Mannes haben, den ich mit dem Mädchen über die
Straſſe gehen geſehen hatte. Dann war der Pförtner
vielleicht der Vater des Mädchens.
Mir fiel auch noch einmal auf, wie ordentlich ja
anſtändig ſich damals der Pförtner benommen hatte‚
als er mir das Buch für den Profeßor Andorf abge¬
nöthigt hatte, wie ausgewählt und gut ſeine Sprache
geweſen ſei, ſo daß es den Anſchein hat, als ſei hier
etwas Beſonderes im Spiele. Dies ſteigerte meine
Theilnahme noch mehr, und ich nahm mir vor, gele¬
gentlich dem Pförtner des Perronſchen Hauſes nach
zu forſchen, und wenn etwa eine Hilfe nothwendig
ſein ſollte, ſie nach den kleinen Mitteln, die mir zu
dieſem Zweke gegeben waren, zu leiſten.
Die Zeit, in welcher Alfred die Begegnung mit
dem Raben gehabt hatte, war im Spätherbſte gewe¬
ſen. In dem ſehr milden Winter, der darauf folgte,
ging ich oft mit meinem Gatten in die Stadt. Wir
gingen zum Theile zu Freunden, zum Theile beſuchten
wir auch das Theater, von dem ich damals eine ſehr
große Freundin geweſen war. Wenn wir in der Nacht
nach Hauſe gingen, hörten wir noch einige Male das
ſeltſame Flötenſpiel, das wir in jener Mondnacht
gehört hatten, und wir vernahmen jezt deutlich, daß
es aus den unterirdiſchen Wohnungen des Perron¬
ſchen Hauſes kam.
Die Gelegenheit aber, mit dem Pförtner des
Perronſchen Hauſes bekannt zu werden, war nicht
leicht zu finden. Zuerſt wollte ich nicht zudringlich
ſein, dann war der Profeßor Andorf ſo wenig mit dem
Pförtner des Hauſes bekannt, daß er nicht einmal
gewußt hatte, daß das Haus einen Pförtner habe,
und endlich kam überhaupt niemand in das Perron¬
ſche Haus, durch den eine Verbindung hätte eingelei¬
tet werden können. Es verging ein Theil des Winters
ohne daß ich mein Vorhaben ins Werk ſezen konnte.
Einmal war ich damit beſchäftigt, unſere ſchöne¬
ren Zimmer ein wenig zu ordnen. Wir hatten am
Tage vorher eine Geſellſchaft bei uns gehabt, und es
war manches in Unordnung gerathen. Da hörte ich
von der Gaſſe herauf ein Geſumme und Gebrauſe,
und da ich ein Fenſter öffnete, und hinab ſchaute, ſah
ich mehrere Menſchen an dem Pförtchen des Perron¬
ſchen Hauſes ſtehen, und ſah, daß noch immer
mehrere hinzu gingen, und ſich zu ihnen geſellten.
Ich rief eines meiner Dienſtmädchen, und ſchikte
dasſelbe hinab, um fragen zu laſſen, was es denn
gäbe.
Das Mädchen kam nach einer Weile zurük, und
ſagte, der Pförtner des Perronſchen Hauſes habe ſich
erſchlagen. Ich warf ſogleich einen Mantel um, ging
hinab, und ging gegen das Perronſche Haus. Ich
wollte mich aber mit den Leuten, die vor dem rothen
Pförtchen ſtanden, in kein Geſpräch einlaſſen, ſondern
ging zu der mir bekannten Obſtfrau, die bei ihrem
Stande ſaß, und fragte: „Was iſt es denn gewe¬
ſen, und wie kann ſich denn ein Menſch ſelber
erſchlagen?“
„Es hat ſich niemand erſchlagen,“ antwortete die
Frau, „es iſt nur der Pförtner des Perronſchen Hauſes
geſtorben. Vor einer Viertelſtunde, da eben niemand
an dieſer Seite der Häuſer ging, kam das Mädchen
ſeine Tochter aus der Wohnung zu mir, und ſagte
mir heimlich, daß der Vater todt ſei. Dann ging es
gleich wieder in das Perronſche Haus zurük. Ich
aber rief den Lehrling des Schuſters da herüber, ſagte
es ihm, und ſagte, daß er auf das Stadthaus gehen,
und dort die Meldung von dem machen möge, was
mir das Mädchen geſagt habe. Der Lehrling wird es
auf dem Wege den Leuten vertraut haben, darum
ſind ſie ſchon gekommen. Aber von dem Stadthauſe
muß auch bald jemand da ſein, ein Amtmann ein
Arzt ein Beſchauer ein Geſchworner, oder wer es
ſein mag.“
Während der Rede der Frau hatten ſich noch
mehr Menſchen angeſammelt, es ging aber niemand
von ihnen durch das rothe Pförtchen hinein, ent¬
weder aus Achtung vor dem Todten, der im Innern
lag, oder aus Scheu vor dem ſeltſamen Perronſchen
Hauſe.
Endlich kamen auch die von dem Amte Abgeord¬
neten, den Befund aufzunehmen.
„Dieſe Frau hat es mir geſagt,“ ſagte der Lehr¬
ling, der auf die Obſtfrau zeigte.
Die Obſtfrau mußte mit den Amtsabgeordneten
gehen. Sie that es gerne, nachdem ſie zuvor ein
großes weißes Tuch auf ihren Obſtkram gebreitet
hatte. Ich nannte mich den Amtsleuten, und bath,
mich mit in die Wohnung zu nehmen, weil ich im
Sinne habe zu helfen, wenn dort etwas noth thun
ſollte. Man geſtand es gerne zu. Der Lehrling als
in der Anzeige betheiligt mußte ebenfalls mit.
Als wir zu dem Pförtchen gelangt waren, drängte
ſich alles nach demſelben, aber die Männer des Am¬
tes ſagten, daß niemand, der nicht zu dem Amte
gehöre, oder von demſelben aufgefordert ſei, in das
Innere des Hauſes dürfe. Hierauf wurden zwei
Diener der öffentlichen Sicherheit zu beiden Seiten
des Pförtchens geſtellt, das Pförtchen wurde geöff¬
net, wir gingen hinein, die Sicherheitsdiener ſtellten
ſich dann in die Mündung des Pförtchens, und ließen
niemand mehr hinein.
Wir begaben uns durch den Gang, der hinter
dem Pförtchen war, in den Hof, und von dem Hofe
unter die Einfahrt, welche durch das Thor geſchloſſen
Stifter, Jugendſchriften. I. 16
war, und in der Seitenmauer der Einfahrt zeigte ſich
eine Thür. Die Thür wurde geöffnet. Hinter ihr
ging eine Treppe in die Tiefe hinunter. Als dort
gelegen wurde die Wohnung des Pförtners ange¬
geben.
Da wir die Treppe hinunter geſtiegen waren, und
die Wohnung betreten hatten, ſahen wir, daß die¬
ſelbe nur aus einem einzigen Zimmer beſtehe. Neben
einer Leiter, die gegen das Fenſter empor lehnte, lag
der alte todte Mann. Er hatte ein gelbes Molldon¬
röklein und blaßblaue Beinkleider an. Als ihn die
Männer aufgehoben, und auf ein Bett, das das
ſeinige ſchien, gelegt hatten, ſah ich aus den Zügen,
daß es wirklich der nehmliche Mann ſei, dem ich das
Buch gegeben hatte. Man hatte Anfangs die Abſicht
gehabt, Verſuche zu machen, ihn ins Leben zurük zu
rufen, aber beim Anfaſſen hatte man ſchon empfun¬
den, daß er kalt ſei, und bei näherer Beſchauung
zeigte ſich auch, daß er unzweifelhaft todt ſei.
Wann mußte er denn geſtorben ſein?
Sonſt war niemand in dem Zimmer als das
Mädchen mit dem großen Haupte. Es ſaß tief zurük
auf einem weißen unangeſtrichenen Stuhle, und ſah
von ferne zu, was man mit dem Manne beginne.
Auf einem Schirme, der vor einem Bette ſtand, das
ich für das des Mädchens hielt, ſaß die Dohle, denn
eine ſolche kein Rabe war es geweſen, was Alfred
hatte fangen wollen. Der Vogel nikte mit dem
Kopfe, und ſprach ſchier Laute, die aber unverſtänd¬
lich verſtümmelt und kaum menſchenähnlich waren.
Auf dem Tiſche, der nicht weit von dem Size des
Mädchens ſtand, ſah ich die Flöte liegen.
Ich wollte, während die Männer die Leiche beſa¬
hen, und auf dem Bette in eine anſtändige Lage zu
bringen ſuchten, das Mädchen anſprechen, wollte es
zutraulich machen, und es dann mit mir nehmen,
um es aus der traurigen Umgebung zu bringen. Ich
näherte mich, und ſprach es an, wobei ich die höf¬
lichſte aber einfachſte Sprache verſuchte. Das Mäd¬
chen antwortete mir zu meinem Erſtaunen in der
reinſten Schriftſprache, aber was es ſagte, war kaum
zu verſtehen. Die Gedanken waren ſo ſeltſam, ſo von
Allem, was ſich immer und täglich in unſerem Um¬
gange ausſpricht, verſchieden, daß man das Ganze
für blödſinnig hätte halten können, wenn es nicht
zum Theile wieder ſehr verſtändig geweſen wäre.
Ich hatte zufällig in meinem Mantel einige
Stüke Zukerbäkerei und etwas Obſt. Ich nahm ein
Stükchen Bakwerk heraus, und both es dem Mädchen
an. Es langte darnach, aß es, und zeigte in den
l6*
Zügen des großen Antlizes einen augenfälligen Schein
von Freude. Ich verſuchte bei dieſer Gelegenheit
auch, ob ich aus den Zügen heraus leſen könnte, wie
alt das Mädchen ſein möge; aber es war mir wegen
der ungewöhnlichen Bildung des Hauptes und des
Angeſichtes nicht möglich. Es konnte ſechzehn Jahre
alt ſein, es konnte aber auch zwanzig Jahre alt ſein.
Ich gab ihm nun noch ein zweites Stük, dann
ein drittes, und dann mehrere.
Ich werde den Sinn deſſen, was es ſagte, unge¬
fähr in unſerer Sprache oder Sprechweiſe geben, weil
man die Gedankenfolge des Mädchens nicht verſtehen
würde, und weil ich auch nicht im Stande wäre, die
Dinge genau ſo aus dem Gedächtniſſe zu wiederho¬
len, wie es dieſelben geſagt hatte.
Ich fragte es, ob es ſolche Speiſen gerne äße,
wenn es dieſelben hätte, ob ſie gut ſeien.
„Ja, gut,“ ſagte es, „gib mir noch mehr.“
„Ich werde dir mehr geben,“ antwortete ich,
„wenn du mit mir gehſt, und in einer anderen Stube
bleibſt, bis es Nacht wird, und bis es wieder Tag
wird. Dann werde ich dich wieder in dieſe deine
Stube zurük führen. Ich habe hier keine ſolchen ſüſſen
Dinge mehr, aber in der Stube, in welche du mit
mir gehen ſollſt, ſind viele.“
„Ich gehe mit dir,“ ſagte es, „aber wenn der Tag
kömmt, gehen wir wieder zu uns her.“
„Ja, da gehen wir wieder in dieſe Stube,“
ſagte ich.
Ich gab dem Mädchen nun auch einen Apfel von
einer beſſeren Gattung. Es aß ihn mit dem Zeichen,
daß er ihm angenehm ſei.
Ich fragte das Mädchen auch, ob es keine Mutter
habe, oder ob keine Geschwiſter am Leben ſeien.
Es habe keine Mutter, antwortete es, und es
ſei immer nur bei dem Vater allein geweſen. Den
Begrif Geſchwiſter ſchien es gar nicht zu kennen.
Ich fragte es hierauf, wie denn der Vater geſtor¬
ben ſei.
„Er iſt auf die Leiter geſtiegen,“ antwortete es,
„die zu unſerem Fenſter hinauf führt. Ich weiß nicht,
was er thun wollte, und da iſt er herab gefallen,
und iſt liegen geblieben. Ich wartete, bis er wieder
geſund werden würde; aber er iſt nicht mehr geſund
geworden. Er war todt. Da eine Nacht und ein Tag
vergangen waren, ſagte ich es der Frau, die immer
nicht weit von unſerm Pförtlein ſizt. Seit dem ſind
die Leute gekommen.“
Ich theilte den Männern die Nachricht mit, und
ſagte, daß ich das Mädchen in mein Haus führen,
und einſtweilen dasſelbe verpflegen würde. Die Be¬
hörden, welche die Sache leiten, könnten das Mädchen
immer bei mir finden, wenn ſie dasſelbe zurükfodern
ſollten. Ich würde auch die Begebenheit meinen
Freunden und Bekannten anzeigen, daß wir eine
Sammlung von Geld machen, damit man den Mann
anſtändig begraben könne. Die Männer wendeten
dagegen nichts ein.
Sie waren unterdeſſen mit der Leiche fertig ge¬
worden. Es hatte ſich gezeigt, daß der arme Mann
aus was immer für einer Urſache gefallen ſein müſſe,
und zwar wie der Anſchein zeige, und das Mädchen
ausſage, von der Leiter, die gegen das Fenſter lehnte,
und daß er ſich hiebei die Wirbel des Genikes verlezt
haben müſſe, was den Tod augenbliklich zur Folge
gehabt habe. Man bedeutete mir, daß den Geſezen
zufolge eine gerichtliche Zergliederung ſtatt haben
müſſe, und daß es daher um ſo erwünſchter erſcheine,
wenn das Mädchen aus der Wohnung entfernt würde.
Die Ausſage der Obſtfrau und des Lehrlings waren
zu Papier gebracht worden, und man erklärte ihnen,
daß nichts im Wege ſtehe, daß ſie ſich entfernen
könnten.
Ich trat noch ein wenig zu der Leiche. Sie lag jezt
in ihren Kleidern auf dem Bette. Die Züge waren
wenig verändert, und waren faſt ſo, wie an jenem
Vormittage, als der Mann in dem Hofe des Perron¬
ſchen Hauſes vor mir geſtanden war, und mir das
Buch abgedrungen hatte. Die blauen Augen waren
geſchloſſen, und da ihre etwas auffällige Unruhe durch
die Lider bedekt war, ſo hatte die Miene ſogar einen
Ausdruk von Milde. Das mochten auch die andern
fühlen; denn man ſtand einen Augenblik ſchweigend
um das Bett herum, und betrachtete den Mann.
Endlich entfernten ſich der Lehrling und die Obſtfrau
aus dem Zimmer. Ich trat auch von dem Anblike
hinweg.
Ich näherte mich dem Mädchen, und ſagte ihm,
daß ich es jezt mit mir führen würde, und daß es mir
folgen möge, wie es früher geſagt habe.
Das Mädchen erwiederte, daß es ſchon mit mir
gehe, und daß wir, wenn wieder der Tag kommen
würde, auch wieder in die Stube zurükkehren ſollen.
Ich antwortete, das werde ganz gewiß geſchehen.
Es folgte mir nun ganz willig. Wir ſtiegen die
Treppe hinan, ich nahm es bei der Hand, wir gingen
über den Hof durch den Gang und bei dem rothen
Pförtchen auf die Gaſſe hinaus. Auf der Gaſſe ſtan¬
den noch immer die Leute, die ſich im Gegentheile eher
vermehrt hatten. Eine dichte Gruppe umgab die Obſt¬
frau und den Lehrling, die erzählten, was ſie im In¬
nern des Hauſes geſehen und erfahren hatten. Ich
beeilte meine Schritte, um mich und das Mädchen
aus der Menge zu bringen, und den Betrachtungen
und Verwunderungen zu entziehen, die durch den An¬
blik des ungewöhnlichen Hauptes des Mädchens
angeregt worden waren.
Ich führte es in meine Wohnung.
Dort gab ich ihm eine ordentliche Speiſe zu eſſen,
da ich vermuthen konnte, daß es ſeit geſtern zu keinem
regelmäßigen Eſſen werde gekommen ſein. Es mußte
auch ſo geweſen ſein; denn das Mädchen aß mit ſicht¬
lichem Vergnügen, und es ſchien ſehr erquikt zu wer¬
den. Es ſagte mir nachträglich, daß es alles Brod
gegeſſen habe, was in der Wohnung geweſen ſei.
Wir hatten ein nach dem Garten gelegenes Ge¬
mach, das von einer alten Kinderwärterin, die ſchon
bei meinen Eltern im Dienſte geweſen war, und
dann meine Kinder gepflegt hatte, ſo lange bewohnt
geweſen war, bis endlich ihre Tochter geheirathet
hatte, zu der ſie dann ging, um bei ihr zu leben, und
allenfalls auch an ihren Kindern zu thun, was ſie, ſo
lange an fremden gethan hatte. Seit jener Zeit ſtand
das Gemach leer; aber die Geräthe waren in demſel¬
ben geblieben. Ich ließ es nun für das mitgebrachte
Mädchen zuſammen richten. Ich ließ ein Bett machen,
und das Stübchen recht warm beheizen. Dann führte
ich das Mädchen in dasſelbe zurük. Ich hatte Sorge
getragen, daß das Mädchen keinem meiner Dienſtleute
zu Geſichte gekommen war, damit ſie es nicht etwa
durch unvernünftiges Anſtaunen oder gar Ausrufen
einſchüchterten. Darum hatte ich ihm die Speiſen in
unſer Speiſezimmer, in dem es war, ehe es in das
Rükſtübchen geführt werden konnte, ſelber gebracht,
und hatte den Befehl gegeben, daß niemand in das
Speiſezimmer eintreten dürfe.
Wir hatten eine ältliche Magd, die ſeit unſerer
Verehlichung ſchon bei uns geweſen war, die eine
große Anhänglichkeit an uns und unſere Kinder hatte,
und eine Art Vorrecht genoß, bei Familienangelegen¬
heiten oder bei andern wichtigen Sachen ein Wort
mit zu reden. Dieſe Magd rief ich, ſezte ihr den Fall
mit dem fremden Mädchen auseinander, und bath ſie,
daß ſie bei dem Mädchen in dem Stübchen bleiben,
daß ſie mit ihm freundlich reden, ihm beiſtehen,
und ihm den Aufenthalt angenehm machen ſolle.
Sie verſprach, alles dieſes zu thun. Ich ſorgte
auch für Wäſche, wenn bei dem fremden Mädchen
hierin etwas nothwendig ſein ſollte. Auch gab ich
ihm in dem Stübchen noch Zukerwerk und Obſt,
um mein Verſprechen, das ich gegeben hatte, zu
löſen.
Ich ſagte dem Mädchen, daß ich mich jezt entfer¬
nen müſſe, weil ich andere Dinge zu thun hätte, daß
die Magd bei ihm bleiben, und daß ich ſchon wieder
kommen würde, um nachzuſehen, wie es ſich befinde.
Das Mädchen ſchien dies alles vollkommen zu
begreifen.
Ich ging in mein Arbeitszimmer, ſezte mich nie¬
der, und ſchrieb an mehrere meiner Bekannten und
Freunde, um ſie um Beihilfe anzugehen.
Als am Abende mein Gatte nach Hauſe kam,
erzählte ich ihm alles, was vorgefallen war, und was
ich gethan hatte, und fragte ihn, ob es recht gewe¬
ſen ſei.
Er ſagte, daß alles recht geweſen ſei, er billigte
alles, und ſchloß ſich ſelber der Sache an. Er ſchrieb
auch noch einige Briefe, dann nahm er einen Wagen,
um perſönlich noch zu mehreren Freunden zu fahren.
Als er ſpät in der Nacht nach Hauſe kam, brachte er
gute Zuſicherungen, und es waren auch freundliche
Antworten auf mehrere Briefe noch an demſelben
Abende eingegangen. Wir legten uns zufrieden
ſchlafen.
Am andern Morgen ging mein Gatte mit mir in
die unterirdiſche Wohnung. Die gerichtliche Zerglie¬
derung hatte ſtatt gefunden. Das Rükenmark war
an einer Stelle, wo der feinſte Siz des Lebens zu ſein
ſcheint, durch Quetſchung der Nakenwirbel verlezt
worden, und dadurch iſt der Tod erfolgt. Die Leiche
war bereits in einem Sarge, und war bereitet, beer¬
digt werden zu können. Wir machten die Anzeige an
die Kirche, um die Art der Beerdigung einzuleiten.
Während mein Gatte noch mehrere Vorbereitungen
machte, ging ich nach Hauſe, um das fremde Mädchen
zu veranlaſſen, daß es in meiner Wohnung bleibe, bis
die Beerdigung vorüber wäre.
Es war ſchon erwacht, und angezogen. Es ver¬
langte nach Hauſe. Ich ſagte ihm, daß ich jezt nicht
Zeit habe, daß mehrere Dinge zu verrichten wären,
und daß ich nach deren Beendigung gewiß kommen
und daß ich es dann ſelber wieder in ſeine Woh¬
nung zurük führen würde. Es fügte ſich in dieſe
Dinge, es erhielt ein Frühſtük, und die Magd, welche
ihm beigegeben worden war, blieb bei ihm.
Der Profeßor Andorf war herüber gekommen; er
hatte die Sache erfahren. Andere Freunde, an die wir
geſchrieben hatten, waren gekommen, um den Fall
perſönlich zu ſehen. Viele Menſchen hatten ſich wie¬
der an dem rothen Pförtchen geſammelt. Es waren
größtentheils Perſonen aus den niederen Ständen,
welche die Neugierde und eine Art dumpfer Theil¬
nahme, die dieſer Gattung eigen iſt, herbei geführt
hatte, dann, wie es in einer großen Stadt geſchieht,
waren die Vorübergehenden ſtehen geblieben, hatten
gefragt, was es gäbe, und hatten ſich nach Erhaltung
der Antwort, wenn es ihre Zeit nur ein wenig er¬
laubte, an die Wartenden angeschloſſen.
Gegen Ende des Vormittags erſchien der Prie¬
ſter, die Leiche wurde eingeſegnet, wurde dann in die
Kirche gebracht, erhielt dort wieder die gebräuchlichen
Gebethe, und wurde dann auf den Kirchhof geführt.
Wir hatten die Beerdigung auf einfache Weise veran¬
ſtaltet, damit von dem geſammelten Gelde etwas für
das hinterlaſſene Mädchen erübrigt werden könnte.
Nach der Wegführung der Leiche hatten ſich alle Men¬
ſchen von dem rothen Pförtchen entfernt.
Ich hielt es nun an der Zeit, das Mädchen wie¬
der in ſeine unterirdiſche Wohnung zu führen. Ich
ſah deutlich ein, daß ich mir nur durch genaues Wort¬
halten Zutrauen zu erwerben im Stande wäre; denn
das Mädchen hatte unter andern merkwürdigen Eigen¬
ſchaften auch die, daß es den Worten eines andern
blind glaubte. Ich ging daher in das Hinterſtübchen,
ſagte, daß ich die Dinge, die mich früher verhindert
hätten, verrichtet habe, und daß ich jezt das Mädchen
wieder in ſeine Wohnung führen wolle. Es ſtand
heiter von dem Stuhle auf, und folgte mir.
Als wir in die unterirdiſche Stube gekommen
waren, fragte es nach dem Vater. Ich war in Verle¬
genheit; denn ich hatte gedacht, daß es wiſſe, daß
der Vater todt ſei; denn es hatte ſelbſt das Wort ge¬
braucht; und daß es daher wiſſen werde, wohin er
gebracht worden ſei, wenn es denſelben nicht mehr in
der Wohnung finden würde. Ich ſagte daher, daß es
ja wiſſe, daß der Vater geſtorben ſei, daß es ja ſelber
geſagt habe, daß er nicht mehr geſund geworden, ſon¬
dern todt ſei, und daß er daher nach dem Gebrauche
unſerer Religion begraben worden ſei.
Es ſtuzte eine Weile, dann ſagte es: „Er wird
gar nicht mehr kommen?“
Ich hatte nicht den Muth, ja zu ſagen, und ich
hatte nicht den Muth, das Mädchen durch Täuſchung
zu tröſten, ſondern blieb mitten in meiner Halbheit
von Zugeben.
Es ſagte nach einer Weile wieder fragend: „Er
wird gar nicht mehr kommen?“
Nun hatte ich den Muth nicht mehr, unwahr zu
ſein, ſondern ich ſagte dem Mädchen, daß der Vater
todt ſei, daß er ſich nie mehr regen könne, daß er von
uns unter die Erde gethan worden ſei, wie man es
mit allen Todten thue, und daß er dort in Ruhe lie¬
gen bleiben werde.
Da fing es heftig zu weinen an, ich ſuchte es zu
tröſten, aber meine Worte verfingen nichts, es weinte
fort, bis es ſich ſelber nach und nach ein wenig ſänf¬
tigte. Ich fragte es, da es ſtiller geworden war, ob
es wieder mit mir in meine Wohnung gehen wolle,
ich würde es, ſobald es wollte, abermals hieher zu¬
rük führen. Da die Wohnung leer war, machte das
Mädchen wenig Widerſtand, und ich führte es in das
Stübchen, in dem es geſchlafen hatte. Nach einer
Weile gingen wir wieder in die unterirdiſche Woh¬
nung. Und ſo wiederholte ich das Verfahren im Laufe
des Tages mehrere Male, theils um das Mädchen zu
beſchäftigen, theils um es an eine Veränderung ſeiner
Lage zu gewöhnen, und ihm den Schein von Freiheit
zu laſſen, damit es nicht durch Empfindung eines
Zwanges widerſezlich und unbehandelbar würde.
Ich gab ihm auch Speiſen, von denen ich ver¬
muthete, daß ſie ihm zuſagen könnten.
GegendGegen Abend, da wir in der unterirdiſchen Stube
waren, ſchlug ich vor, daß es wieder in dem Stübchen
ſchlafen ſolle, in welchem es in der vorigen Nacht
geſchlafen habe, es ſei dort warm, es ſei ein gutes
Bett, es ſei die freundliche Magd dort, und es ſei
ein Abendmal bereitet.
Es ſagte, daß es mitgehe, wenn es die Dohle
mitnehmen dürfe.
Ich erlaubte es gerne.
Es näherte ſich der Dohle, gab ihr ſeltſamliche
unverſtändliche Namen, und ſuchte ſie zu haſchen.
Die Dohle dukte ſich auf dem Schirme, und ließ ſich
mit beiden Händen des Mädchens nehmen. So trug
es dieſelbe fort, ſo kamen wir in mein Hinterſtübchen.
Ich ſezte das Mädchen in einen geräumigen Armſtuhl
nahe an den Ofen, ich rief die Magd herbei, daß ſie
Geſellſchaft leiſte, ſorgte für ein Abendmal, und begab
mich nach den Anſtrengungen des Tages in mein
Zimmer.
Die Sachen waren in der Wohnung des Pfört¬
ners verſiegelt, und das Bewegliche in Beſchlag ge¬
nommen worden. Nur den Schlüſſel zur Stubenthür
ließ man mir, damit ich öfter mit der hinterlaſſenen
Tochter die Stube beſuchen könnte. Meinen Gatten
hatte man gefragt, ob er die Vormundſchaft über
das Mädchen übernehmen wolle, und er hatte einge¬
willigt.
Ich wußte nicht, was ich mit dem Mädchen thun
ſollte. Wir beſchloßen daher dasſelbe ſo lange bei
uns zu behalten, bis meinem Manne alle Papiere
und etwaigen anderen Dinge des Verſtorbenen einge¬
händigt würden, woraus man dann die Verhältniſſe
des Verſtorbenen würde entnehmen und wiſſen können,
was mit dem Mädchen weiter zu geſchehen hätte.
Sehr ſchwer war es, das Mädchen von dem un¬
terirdiſchen Gewölbe zu entwöhnen. Es hing mit
einer Hartnäkigkeit an dem Gemache, die unbegreif¬
lich war. Nur durch den öfteren Beſuch der unterirdi¬
ſchen Wohnung, den ich mit ihm anſtellte, durch
zutrauliches Reden über gleichgültige Dinge, und
endlich durch ſorgfältige Pflege, die ihm wohlthat,
gewöhnte ich es nach und nach an ſein neues Stüb¬
chen. Ich gab ihm gute Wäſche, und ließ ihm Kleider
von unſeren Mägden verfertigen, die ihm gut ſtanden,
in denen es ſich wohl befand, und durch die es nicht
mehr ſo auffiel. Faſt noch mehr als alles andere
ſcheute es die freie Luft, und wenn ich es ein wenig
in den winterlichen Garten hinunter brachte, benahm
es ſich linkiſch, und ſtarrte die entlaubten Zweige an.
In den erſten Tagen kam niemand zu ihm als ich
und die ältliche Magd, nach und nach gewöhnte es
ſich aber auch an den Anblik von andern aus unſerer
Familie, und jedem Mitgliede derſelben war einge¬
ſchärft, das Mädchen freundlich zu behandeln, und
es etwa nicht durch auffälliges Betrachten zu er¬
ſchreken.
Ich begann nach und nach zu unterſuchen, was
es denn gelernt habe. Allein ſo gut gewählt und
rein ſeine Worte waren, die es ſprach, ſo gut ſie geſezt
waren, wenn auch die Gedanken oft ſchwer errathen
werden konnten, ſo wenig hatte es eine Vorſtellung oder
eine Kenntniß von der geringſten weiblichen Arbeit.
Nicht einmal von dem Waſchen und Reinigen eines Lap¬
pens von dem Zuſammennähen zweier Fleke hatte es
einen Begrif. Der Vater mußte alles das außer dem
Hauſe beſorgt haben. Dafür ſprach es oft, für uns un¬
verſtändlich, mit der Dohle, wir trafen es zuweilen
leiſe ſingend an, und es konnte auf der Flöte des Va¬
ters, die wir ihm hatten verſchaffen müſſen, ein wenig
ſpielen.
Als es eine bedeutende Anhänglichkeit an mich
gewonnen hatte, veranlaßte ich es, von ſeiner Ver¬
gangenheit zu ſprechen. Allein entweder hatte es alles
Frühere vergeſſen, oder es hatten die unmittelbar zu¬
lezt vergangenen Dinge eine ſolche Gewalt über ſein
Gedächtniß ausgeübt, daß es ſich an das, was vor¬
her war, nicht mehr erinnerte. Es erzählte nur immer
von dem unterirdiſchen Gemache.
„Der Vater,“ ſagte es, „ging fort, nahm die Flöte
Stifter, Jugendſchriften. I. 17
mit, und kam oft erſt zur Zeit, da die Lichter brannten,
zurük. Er brachte in einem Topfe Speiſen, die wir
in dem kleinen Ofen wärmten und dann aßen. Oft
legte ich auch Holzſpäne in den Ofen, wenn er nicht
da war, und machte mir eine Speiſe warm, die in
einem Topfe auf dem Geſtelle ſtand; denn es blieb
zuweilen viel übrig. Ein anderes Mal hatte ich nichts
als Brod, welches ich aß. Zuweilen blieb er auch zu
Hauſe. Er lehrte mich mancherlei Dinge, und er¬
zählte viel. Er ſperrte immer zu, wenn er fort ging.
Wenn ich fragte, was ich für eine Aufgabe habe,
während er nicht da ſei, antwortete er: Beſchreibe den
Augenblik, wenn ich todt auf der Bahre liegen werde,
und wenn ſie mich begraben; und wenn ich dann
ſagte: Vater, das habe ich ja ſchon oft beſchrieben,
antwortete er: So beſchreibe, wie deine Mutter von
ihrem Herzen gepeinigt in der Welt herumirrt, wie
ſie ſich nicht zurük getraut, und wie ſie in der
Verzweiflung ihrem Leben ein Ende macht. Wenn ich
ſagte: Vater, das habe ich auch ſchon oft beſchrieben,
antwortete er: So beſchreibe es noch einmal. Wenn
ich dann mit der Aufgabe, wie der Vater todt auf
der Bahre liegt, und wie die Mutter in der Welt um¬
her irrt, und in der Verzweiflung ihrem Leben ein
Ende macht, fertig war, ſtieg ich auf die Leiter, und
ſchaute durch die Drahtlöcher des Fenſters hinaus.
Da ſah ich die Säume von Frauenkleidern vorbei
gehen, ſah die Stiefel von Männern, ſah ſchöne
Spizen von Röken oder die vier Füſſe eines Hundes.
Was an den jenſeitigen Häuſern vorging, war nicht
deutlich.“
Als ich das Mädchen fragte, wo es die Ausar¬
beitungen der Aufgaben habe, antwortete es, daß
der Vater dieſelben alle geſammelt habe, und daß ſie
irgendwo aufbewahrt ſeien. Etwas weniges ſei da.
Mit dieſen Worten ging es zu einem Kleiderkaſten, in
welchem es ſeine Kleider hatte, that aus dem Sake
eines alten abgelegten Rokes einige verknitterte
Papiere heraus, und reichte ſie mir. Ich faltete ſie
auseinander. Sie waren theils mit Dinte theils mit
Bleifeder beſchrieben, und häufig durch Kreuze und
andere Zeichen ausgeſtrichen. Es war nicht viel
daraus zu entnehmen.
Ich befragte es über Gott über die Schöpfung
der Welt und über andere religiöſe Gegenſtände. Es
ſagte die betreffenden Stellen aus dem Katechismus
ſehr geläufig auf, und blikte mit den ruhigen und
ausdruksloſen Augen umher. Ich ſuchte zu ergründen,
ob es den religiöſen Handlungen unſerer Kirche bei¬
gewohnt habe, und brachte heraus, daß es wieder¬
17*
holt die Kirche mit dem Vater beſucht habe, daß es
dort aber nie eine Muſik, das heißt ein Flötenſpiel,
wie es ſich ausdrükte, gehört, noch mit jemand
geſprochen habe. Es mußte alſo höchſtens bei ſtillen
Meſſen geweſen ſein.
Endlich wurde meinem Gatten die Vormundſchaft
übertragen, und ihm die gerichtlich vorgefundene und
aufgezeichnete Verlaſſenſchaft gegen Beſcheinigung
übergeben. Aus den Papieren, die er ſogleich ſorg¬
fältig unterſuchte, ging hervor, daß der Verſtorbene
niemand anders war als jener Rentherr, der einmal
abgereiſet, und ſodann ſpurlos verſchwunden war.
Wir hatten die Geſchichte jenes Mannes nur ſo im
Allgemeinen gewußt, und ſie ſchon längſt wieder ver¬
geſſen. Jezt wurde ſie auf's Neue aus der Erinnerung
hervorgeholt, und von Manchem, der es wiſſen
konnte, das nähere Einzelne erforſcht.
Das Mädchen mit dem großen Haupte und den
breiten Zügen war alſo das roſige Kind geweſen, das
unter dem Gezelte geſchlafen hatte, deſſen Spize der
vergoldete Engel mit ſeinen Fingern gehalten hatte,
deſſen Falten rings um das Bettchen auseinander ge¬
gangen waren, und das die Eltern mit Wonne betrach¬
tet hatten.
Von Eigenthum hatten ſich nur einige ſchlechte
Geräthe einige alte Kleider und die Betten vorgefun¬
den. Von Barſchaft war ein kleiner Sak mit Kupfer¬
münzen gefüllt vorhanden. Weiter gar nichts.
Mein Gatte forſchte unter den Papieren nach einer
Aufklärung über den Vermögensſtand des Verſtorbe¬
nen; denn ein ſolcher mußte doch vorhanden geweſen
ſein; denn alle die befragt worden waren, erinnerten
ſich nicht, daß der Rentherr, als er das Haus auf
dem Sanct Petersplaze bewohnt hatte, in irgend
einem Amte geſtanden ſei, noch daß er irgend einen
Erwerb getrieben habe, und dennoch habe er anſtän¬
dig und wohlhabend gelebt. Er mußte daher von
irgend einem Anliegen Bezüge genoſſen haben. Aber
in den geſammten Schriften und den kleinſten Zettel¬
chen war nicht das Geringſte zu finden. Mein Gatte
ging nun in Wien zu allen Ämtern, die mit Gelde
oder irgend anderen Werthen auch nur von ferne zu
thun hatten, und fragte an; aber nirgends konnte
eine Auskunft erhalten werden. Er beſuchte nun nach
und nach alle Geſchäftsführer Stellvertreter Anwälte,
und wie dieſe Männer alle heißen; aber bei keinem
konnte er etwas in Erfahrung bringen. Endlich
grif er zu dem Mittel, den Fall in den Zeitungen
bekannt zu geben, in wieferne er ſich auf die Ver¬
mögensfrage bezog, und jedermann zur Mittheilung
aufzufodern, der etwa Kenntniß haben könnte; aber
es erfolgte keine Antwort. Das Vermögen des armen
Mädchens, wenn noch eines vorhanden war, mußte
alſo verloren gegeben werden.
Die Summe, welche nach der Verſteigerung der
Geräthe und andern Dinge, die der Rentherr in
ſeiner Wohnung auf dem Sanct Petersplaze zurük
gelaſſen hatte, und nach der Bezahlung der Schuld
an den Hausbeſizer noch übrig geblieben, und in die
Verwahrung der Gerichte gegeben worden war, wurde
meinem Gatten für das Mädchen eingehändigt.
Sie war durch die Zinſen während einer Reihe von
Jahren nicht unbeträchtlich angewachſen.
Von der Lebensweiſe und den Schikſalen des
Verſtorbenen ſeit ſeiner Abreiſe von Wien konnte mein
Gatte nichts Beſtimmtes erfahren. Nur, da er alle
Wege zur Ermittlung des Lebenslaufes des Verſtor¬
benen und in Folge deſſen zur Ermittlung des Schik¬
ſales des Vermögens des Mädchens einſchlug, war
das Eine zu ſeiner Kenntniß gekommen, daß ein
Mann, deſſen Beſchreibung ganz auf den Verſtorbenen
paßte, in den Vorſtädten, welche ſehr weit von der
Wohnung des Verſtorbenen entfernt waren, oft
geſehen worden war, daß er mit ſeiner Flöte in
Gaſthäuſern in Gärten und an öffentlichen Orten
erſchienen war, und dort für kleine Gaben geſpielt
habe. Aus Küchen habe er gerne Speiſen, die man
ihm ſchenkte, in ſeinem Topfe fortgetragen. Daß er
in der Nähe ſeiner Wohnung geſpielt habe, konnte
man nicht erfahren.
Von dem Verwalter des Perronſchen Hauſes
erfuhr mein Gatte, daß der Verſtorbene zu irgend
einer Zeit, er wiſſe es ſelbſt nicht mehr genau, wann
es geweſen, unentgeldlich in die unterirdiſche Woh¬
nung aufgenommen worden ſei, um Pförtnerdienſte
zu verrichten, obwohl bis dahin die Inwohner
Schlüſſel zu dem rothen Pförtchen gehabt hatten, die
ſie auch fernerhin noch behielten. Überhaupt konnte
von dem Verwalter des Perronſchen Hauſes nicht
viel in Erfahrung gebracht werden, da er ſich der
Verfallenheit des Hauſes wegen wenig um dasſelbe
kümmerte, und von dem Beſizer auch nicht dazu ange¬
halten wurde.
Eines Tages brachte mein Gatte einen großen
Stoß von Schriften in mein Zimmer, und reichte ſie
mir. Ich ſah ſie an, blätterte ſie durch, und ſah, daß
es die Ausarbeitungen und ſchriftlichen Aufſäze des
Mädchens waren. Ich nahm mir nun, wenn ich Zeit
hatte, die Mühe, den größten Theil dieſer Papiere
zu durchleſen. Was ſoll ich davon ſagen? Ich würde
ſie Dichtungen nennen, wenn Gedanken in ihnen
geweſen wären, oder wenn man Grund Urſprung
und Verlauf des Ausgeſprochenen hätte enträthſeln
können. Von einem Verſtändniſſe, was Tod was
Umirren in der Welt und ſich aus Verzweiflung das
Leben nehmen heiße, war keine Spur vorhanden,
und doch war dieſes alles der trübſelige Inhalt
der Ausarbeitungen. Der Ausdruk war klar und
bündig, der Sazbau richtig und gut, und die Worte
obwohl ſinnlos waren erhaben.
Ich nahm von dieſem Umſtande Veranlaſſung,
aus Dichtern oder andern Schriftſtellern Säze mit
beſtimmter gehobner Betonung vorzutragen. Das
Mädchen merkte hoch auf. Bald ſagte es ſelber ſolche
Dinge her, und ſpäter trug es mit einer Art Schau¬
ſtellung Theile aus den beſten und herrlichſten Schrif¬
ten unſeres Volkes vor. Wenn man aber näher in
das Werk einging, von dem es eine Stelle geſagt
hatte, und nach deſſen Inhalt Bedeutung und Geſtalt
forſchte, verſtand es nicht, was man wollte. Auch
war in der Verlaſſenſchaft kein einziges der betreffen¬
den Bücher vorhanden. Das Aufſagen ſolcher Stellen
war ein Reiz für das Mädchen, dem es ſich ſchwär¬
meriſch hingab. Wir kamen dahinter, daß die leiſen
Worte, die es zur Dohle ſagte, ähnliche Dinge
enthielten, ſo wie die Weiſen, die es der Flöte des
Vaters abzuloken ſuchte, in demſelben G eiſte er¬
ſchienen.
Mein Gatte forſchte auch der Mutter des Mäd¬
chens nach. Seine Abſicht war, dem Mädchen ſeine
natürliche und erſte Verwandte und Stüze zu ver¬
ſchaffen, dann aber auch, von der erkundeten Mutter
Angaben zu erfahren, aus denen ſich über die Lage
des Vermögens etwas entnehmen ließe. Mein Gatte
forſchte Anfangs vorſichtig auf dem Wege der Ämter
dann mit der größten Schonung theils durch einzelne
Perſonen theils durch öffentliche Blätter; aber wie ge¬
nau auch dieſe Forſchungen angeſtellt wurden, wie viele
Briefe geſchrieben, wie viele Aufträge ertheilt, wie
viele Antworten eingegangen waren: von der Frau
iſt keine Auskunft angelangt, niemand hatte bis
auf den Tag etwas von ihr gehört, ſie iſt auch nie
wieder zurük gekommen.
Von den früheren Schikſalen des Mädchens iſt uns
durch ſeine Ausſagen nie etwas bekannt geworden.
Wir hatten unſern Hausarzt, den Freund meines
Gatten, zu uns bitten laſſen, daß er den körperlichen
Zuſtand des Mädchens unterſuche, da das auffallend
große Haupt auf etwas Ungewöhnliches ſchließen
laſſe. Er meinte, daß in dumpfen Aufenthaltsorten
und etwa durch Wahnſinn des Vaters dieſes Wuchern
hervorgerufen worden ſei, daß ſich Auftreibungen und
Drüſenleiden eingeſtellt haben. Der Gebrauch von
Jodbädern würde in beiden Richtungen vielleicht gute
Dienſte thun. Da ich nun im Frühlinge ohnehin in
die Gegend, wo ſich das Bad befindet, eine Reiſe zu
dem Bruder meines Gatten vorhatte, um mehrere
Wochen bei ihm zuzubringen, ſo beſchloß ich, das
Mädchen mit zu nehmen. Ich hoffte von der guten
Luft und der Reiſe nicht minder gute Wirkungen als
von dem Bade. Das Haupt wurde in der That nach
einem zweimonatlichen Aufenthalte auf dem Lande
und nach dem vorgeſchriebenen Gebrauche des Bades
etwas kleiner und gebildeter, und die Züge des Ange¬
ſichtes wurden geſchmeidiger klarer und ſprechender.
Wir unterrichteten das Mädchen auch in den ge¬
wöhnlichen Dingen, und ſuchten es zu den unentbehr¬
lichſten Verrichtungen des Lebens anzuleiten. Wir
ſuchten ihm Geſchmak an Verfertigung von allerlei
weiblichen Handarbeiten beizubringen, und endlich
durch Geſpräche und durch Leſen einfacher Bücher
hauptſächlich aber durch Umgang jene wilde und zer¬
riſſene ja faſt unheimliche Unterweiſung in einfache
übereinſtimmende und verſtandene Gedanken umzu¬
wandeln, und ein Verſtehen der Dinge der Welt
anzubahnen. Wie ſchwer das war, geht ſchon aus der
Thatſache hervor, daß Monate vergehen mußten, ehe
es ertragen konnte, daß Alfred mit der Dohle ſprach,
oder gar mit ihr ſpielte, gelegentlich auch die Flöte
des Vaters anrührte.
Als wir es endlich wagen konnten, mietheten wir
dem Mädchen in unſerer Nähe ein Zimmer, in dem
es wohnte. Die Frau, welche das Zimmer vermie¬
thete, nahm ſich um das Mädchen an, ein Prieſter
unterwies es in der Religion, wir kamen ſehr oft zu
ihm hinüber, und ſo geſtaltete es ſich milder, ſeine
körperliche Beſchaffenheit wurde nachträglich auch beſ¬
ſer, ſo daß es ſich in den Lauf der Dinge ſchiken
konnte, daß ihm mein Gatte, nachdem es die Voll¬
jährigkeit erreicht hatte, die Urkunden über ſeine ge¬
richtlich anliegende Summe und über das, was bei
der Beerdigung des Vaters übrig geblieben war,
einhändigen konnte, und daß es endlich ſogar Tep¬
piche Deken und dergleichen Dinge anfertigte, von
denen es im Vereine mit den Zinſen aus ſeinem klei¬
nen Vermögen lebte, was um ſo eher möglich wurde,
als ihm die Leute gerührt durch ſeine Schikſale die
fertigen Stüke immer gerne abkauften. —
So erzählte die Frau, und das Mädchen lebte ſo
in den folgenden Jahren fort.
Der große Künſtler iſt längſt todt, der Profeßor
Andorf iſt todt, die Frau wohnt ſchon lange nicht mehr
in der Vorſtadt, das Perronſche Haus beſteht nicht
mehr, eine glänzende Häuſerreihe ſteht jezt an deſſen
und der nachbarlichen Häuſer Stelle, und das junge
Geſchlecht weiß nicht, was dort geſtanden war, und
was ſich dort zugetragen hatte.