Die weibliche Persönlichkeit und das Wahlrecht.
Man hatte das Recht des Menschen entdeckt. Wo Jahr-
tausende nur Herren und Sklaven kannten, Herrscher und Be-
herrschte, da sollte nun der Mensch regieren. Der Mensch als
solcher sollte endlich das Bürgerrecht genießen, das Recht der
Mitbestimmung über das, was ihn am nächsten anging: die
Stellung des einzelnen im ganzen, den Aufbau des Gesell-
schaftsorganismus, in dem das Einzeldasein sich abspielte.
Aber sonderbar genug! Die Revolution, die den Menschen
auf den Thron erhob, begriff darunter nur die Hälfte des
Menschengeschlechts. Als Olympe de Gouges unter dem Menschen
auch das Weib verstanden wissen wollte, als sie in ihrer be-
rühmten Erklärung der Rechte der Frau sagte: „Die Frau ist
frei geboren und von Rechts wegen dem Manne gleich“, „die
Frau hat das Recht, das Schafott zu besteigen, die Tribüne
zu besteigen sollte sie dasselbe Recht besitzen“; als sie die Frauen
aufrief, sich zum Kampfe für ihre politischen Rechte zusammen-
zuschließen: da lehnten bis auf wenige Zukunftsdenker die
Führer der französischen Revolution einmütig solche Forde-
rungen ab. Die Frauenklubs, die ihre Stimme gar zu laut
erhoben, wurden gewaltsam unterdrückt.
Auch jetzt, nach mehr als einem Jahrhundert, ringt die Frau
fast in der ganzen Kulturwelt noch vergeblich um das selbst-
verständliche Menschen- und Bürgerrecht. Jetzt aber steht ein
Heer von gleichgesinnten Männern ihr zur Seite, und besonders
kämpft die Partei mit ihr und für sie, die heute das Recht
des Menschen auf ihren Fahnen trägt: die Sozialdemokratie.
Was hat sich seitdem im Dasein des Weibes gewandelt?
Vieles ist anders geworden im äußeren Leben der Frauen.
Millionen mußten in die Erwerbsarbeit hinaus, um sich in
eigenem Ringen das tägliche Brot zu erobern, Hunderttausende
von Ehefrauen steuern im schweren Daseinskampf des Prole-
tariats zum Unterhalt der Familie bei. Diese selbständig schaf-
fende Frau fordert nun das Stimmrecht auf Grund ihrer wirt-
schaftlichen Selbständigkeit, ihrer tatsächlichen Gleichstellung mit
dem Manne im sozialen Getriebe.
Damit aber hat sich zugleich eine Wandlung von höchster
Bedeutsamkeit vollzogen. Aus der prosaisch realen Notdurft
des praktischen Lebens glühte für die Frauen langsam ein Licht
empor, das mit magischem Scheine eine ganz neue Zukunfts-
wirklichkeit erhellt. Zu einem neuen Sinn ist das Weib in
die Geschichte der Menschheit eingetreten. Ebenbürtig steht
es erst jetzt neben dem Manne. Nicht mehr allein abhängig
von ihm und seiner Arbeit, nicht mehr ausschließlich an die
Formen gebunden, die er dem Leben schuf, hat die Seele der
Frau die Fesseln gesprengt, die sie umklammert hielten. Jhr
Geist ist aus träumendem Schlummer zu wacher Tatkraft er-
standen, und mit freiem, hellem Blick wagt sie die Welt und
ihr Geschehen zu umspannen. Sie mißt Menschen und Dinge
an dem Maß ihres eigenen Wesens und beginnt zum ersten-
mal in der Geschichte das Gepräge dieses Wesens auch dem
äußeren Daseins aufzuprägen. Die Frau – das will dies alles
sagen – ist zur Persönlichkeit erwachsen. Der Mensch
umfaßt nun beides: Weib und Mann.
Nicht als Berufsarbeiterin allein heischt nun das Weib von
der Gesellschaft gleiches Maß und Recht; als Mensch bedarf
es dessen. Und wäre es zehnmal richtig, daß jeder denkende
Politiker die Jnteressen der Frauen seiner Klasse gleich seinen
eigenen wahren wird, auch dann noch dürfte die Frau sie ihm
nicht anvertrauen. Denn das Gesetz der vollen Menschenpersön-
lichkeit fordert nicht nur die Lösung bestimmter Aufgaben, und
wäre diese Lösung denkbar vollkommen. Es fordert eigene Tat
und eigene Verantwortung für alles, was uns selber und was
das Ganze angeht.
W. Zepler.