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Adler, Alfred: Studie über Minderwertigkeit von Organen. Berlin u. a., 1907.

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sich der hereditäre Charakter der Organminderwertigkeit in
besonderer Weise ausprägen. Die Heredität muß sich nicht stets in
morphologischen Minderwertigkeiten eines und desselben Organes er-
schöpfen, sie kann, wie später ausgeführt wird, durch funktionellen
Ausfall, durch Minderwertigkeit eines zweiten Organes oder, wie vorhin
erwähnt wurde, durch Krankheitsfall ("relative" Minderwertigkeit) in
der Verwandtenreihe nachgewiesen werden.

2. Die meisten der Organe sind dem unmittelbaren Erkennen ent-
zogen, so daß wir häufig darauf angewiesen sind, etwaige Minderwer-
tigkeiten aus Anomalien der Größe, der Form, der Lage zu erschließen.
Ein ungemein wichtiger Behelf bietet sich uns in den Anomalien der
Funktion, die im Zusammenhang mit anderen Charakteren der Organ-
minderwertigkeit als gleichberechtigtes Minderwertigkeitszeichen anzu-
sehen sind. Direkt wahrnehmbar sind dem Auge und Tastsinn die dem
äußeren Integument naheliegenden und mit ihm oft in Verbindung
stehenden morphologischen Organminderwertigkeiten, die uns bis
heute unter dem Namen der äußeren Degenerationszeichen
oder Stigmen geläufig waren. Sie stellen zum größten Teil
nichts anderes dar, als den sichtbaren Ausdruck der Minder-
wertigkeit des zugehörigen Organes
, wobei es allerdings im ein-
zelnen Fall stets des Nachweises bedarf, wie weit sich die Minder-
wertigkeit auf den tieferen Teil des Organes erstreckt.

3. Aus dem fötalen Charakter der morphologischen Organminder-
wertigkeit, aus dem embryonalen Materialmangel, den wir ihm zugrunde
legen müssen, folgt, daß sich häufig mehrfache Organminder-
wertigkeiten
einstellen müssen, die sich entweder durch räumliche
Mißstände oder durch ein auf mehrere Organe ausgedehntes Stoffdefizit
erklären. Die Relation bestimmter Organe zueinander muß dabei eine
Rolle spielen, die gleichfalls schon im embryonalen Stadium ihren
Anfang nimmt. Auch in diesen Fällen, welche die Erfahrung reichlich
bestätigt, kann eine morphologische Anomalie durch einen funktionellen
Defekt ersetzt sein.

2. Funktionelle Minderwertigkeit. Vielleicht ist dies die überge-
ordnete Gruppe, aus der sich dem Auge sichtbar die vorangestellte
heraushebt. Ihre Eigenart besteht, summarisch gekennzeichnet, in einer
der Norm, den äußeren Anforderungen nicht genügenden Arbeitsleistung
oder Arbeitsweise. Der Ausgleich, der in vielen Fällen oft für lange
Zeit statthat, besteht in der vikariierenden Vertretung durch ein sym-
metrisch gelegenes Organ, in der kompensatorischen Hilfeleistung eines
zugehörigen Organteiles, in der Inanspruchnahme eines anderen Organes

sich der hereditäre Charakter der Organminderwertigkeit in
besonderer Weise ausprägen. Die Heredität muß sich nicht stets in
morphologischen Minderwertigkeiten eines und desselben Organes er-
schöpfen, sie kann, wie später ausgeführt wird, durch funktionellen
Ausfall, durch Minderwertigkeit eines zweiten Organes oder, wie vorhin
erwähnt wurde, durch Krankheitsfall („relative“ Minderwertigkeit) in
der Verwandtenreihe nachgewiesen werden.

2. Die meisten der Organe sind dem unmittelbaren Erkennen ent-
zogen, so daß wir häufig darauf angewiesen sind, etwaige Minderwer-
tigkeiten aus Anomalien der Größe, der Form, der Lage zu erschließen.
Ein ungemein wichtiger Behelf bietet sich uns in den Anomalien der
Funktion, die im Zusammenhang mit anderen Charakteren der Organ-
minderwertigkeit als gleichberechtigtes Minderwertigkeitszeichen anzu-
sehen sind. Direkt wahrnehmbar sind dem Auge und Tastsinn die dem
äußeren Integument naheliegenden und mit ihm oft in Verbindung
stehenden morphologischen Organminderwertigkeiten, die uns bis
heute unter dem Namen der äußeren Degenerationszeichen
oder Stigmen geläufig waren. Sie stellen zum größten Teil
nichts anderes dar, als den sichtbaren Ausdruck der Minder-
wertigkeit des zugehörigen Organes
, wobei es allerdings im ein-
zelnen Fall stets des Nachweises bedarf, wie weit sich die Minder-
wertigkeit auf den tieferen Teil des Organes erstreckt.

3. Aus dem fötalen Charakter der morphologischen Organminder-
wertigkeit, aus dem embryonalen Materialmangel, den wir ihm zugrunde
legen müssen, folgt, daß sich häufig mehrfache Organminder-
wertigkeiten
einstellen müssen, die sich entweder durch räumliche
Mißstände oder durch ein auf mehrere Organe ausgedehntes Stoffdefizit
erklären. Die Relation bestimmter Organe zueinander muß dabei eine
Rolle spielen, die gleichfalls schon im embryonalen Stadium ihren
Anfang nimmt. Auch in diesen Fällen, welche die Erfahrung reichlich
bestätigt, kann eine morphologische Anomalie durch einen funktionellen
Defekt ersetzt sein.

2. Funktionelle Minderwertigkeit. Vielleicht ist dies die überge-
ordnete Gruppe, aus der sich dem Auge sichtbar die vorangestellte
heraushebt. Ihre Eigenart besteht, summarisch gekennzeichnet, in einer
der Norm, den äußeren Anforderungen nicht genügenden Arbeitsleistung
oder Arbeitsweise. Der Ausgleich, der in vielen Fällen oft für lange
Zeit statthat, besteht in der vikariierenden Vertretung durch ein sym-
metrisch gelegenes Organ, in der kompensatorischen Hilfeleistung eines
zugehörigen Organteiles, in der Inanspruchnahme eines anderen Organes

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[10/0022] sich der hereditäre Charakter der Organminderwertigkeit in besonderer Weise ausprägen. Die Heredität muß sich nicht stets in morphologischen Minderwertigkeiten eines und desselben Organes er- schöpfen, sie kann, wie später ausgeführt wird, durch funktionellen Ausfall, durch Minderwertigkeit eines zweiten Organes oder, wie vorhin erwähnt wurde, durch Krankheitsfall („relative“ Minderwertigkeit) in der Verwandtenreihe nachgewiesen werden. 2. Die meisten der Organe sind dem unmittelbaren Erkennen ent- zogen, so daß wir häufig darauf angewiesen sind, etwaige Minderwer- tigkeiten aus Anomalien der Größe, der Form, der Lage zu erschließen. Ein ungemein wichtiger Behelf bietet sich uns in den Anomalien der Funktion, die im Zusammenhang mit anderen Charakteren der Organ- minderwertigkeit als gleichberechtigtes Minderwertigkeitszeichen anzu- sehen sind. Direkt wahrnehmbar sind dem Auge und Tastsinn die dem äußeren Integument naheliegenden und mit ihm oft in Verbindung stehenden morphologischen Organminderwertigkeiten, die uns bis heute unter dem Namen der äußeren Degenerationszeichen oder Stigmen geläufig waren. Sie stellen zum größten Teil nichts anderes dar, als den sichtbaren Ausdruck der Minder- wertigkeit des zugehörigen Organes, wobei es allerdings im ein- zelnen Fall stets des Nachweises bedarf, wie weit sich die Minder- wertigkeit auf den tieferen Teil des Organes erstreckt. 3. Aus dem fötalen Charakter der morphologischen Organminder- wertigkeit, aus dem embryonalen Materialmangel, den wir ihm zugrunde legen müssen, folgt, daß sich häufig mehrfache Organminder- wertigkeiten einstellen müssen, die sich entweder durch räumliche Mißstände oder durch ein auf mehrere Organe ausgedehntes Stoffdefizit erklären. Die Relation bestimmter Organe zueinander muß dabei eine Rolle spielen, die gleichfalls schon im embryonalen Stadium ihren Anfang nimmt. Auch in diesen Fällen, welche die Erfahrung reichlich bestätigt, kann eine morphologische Anomalie durch einen funktionellen Defekt ersetzt sein. 2. Funktionelle Minderwertigkeit. Vielleicht ist dies die überge- ordnete Gruppe, aus der sich dem Auge sichtbar die vorangestellte heraushebt. Ihre Eigenart besteht, summarisch gekennzeichnet, in einer der Norm, den äußeren Anforderungen nicht genügenden Arbeitsleistung oder Arbeitsweise. Der Ausgleich, der in vielen Fällen oft für lange Zeit statthat, besteht in der vikariierenden Vertretung durch ein sym- metrisch gelegenes Organ, in der kompensatorischen Hilfeleistung eines zugehörigen Organteiles, in der Inanspruchnahme eines anderen Organes

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Zitationshilfe: Adler, Alfred: Studie über Minderwertigkeit von Organen. Berlin u. a., 1907, S. 10. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/adler_studie_1907/22>, abgerufen am 29.03.2024.