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Adler, Alfred: Studie über Minderwertigkeit von Organen. Berlin u. a., 1907.

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oder in der übernormalen Ausnutzung des minderwertigen Organes. Der
vorläufige Ausgang hängt von den vorhandenen Reservekräften ab.
Die Pathologie dieser Zustände erschöpft sich in allen denkbaren Ano-
malien der Leistung, der Sekretion und des Wachstums. Die Tätigkeit
des mehr beanspruchten Organes oder Organteiles vollzieht sich unter
erhöhten äußeren und inneren Anforderungen, so daß an einem be-
stimmten Punkte des Organismus einem gesteigerten Reizzustande
Genüge geleistet werden muß, um ein auch nur labiles Gleichgewicht
zu gewährleisten. Erschütterungen irgendwelcher Art, Infektionen, Er-
schöpfungszustände, Überarbeit körperlicher und psychischer Natur,
Störungen im Wärmehaushalt werden zumeist an dieser gefährdeten
Stelle ihre Wirkung äußern. Es ist aber auch leicht einzusehen, daß
selbst die gewöhnlichen Anforderungen des Lebens, der Kultur, gleich-
falls an diesem kritischen Punkte, dem "locus minoris resistentiae" häufig
mit Schädigungen einsetzen können.

Die Beobachtungen über das Vikariieren symmetrischer Organe
sind alt und beziehen sich sowohl auf angeborene wie im Leben er-
worbene Unterschiede der Gestalt und Funktion. Hier wären anzu-
führen: Eintreten der beiden Gehirnhälften füreinander, ebenso der
Schilddrüsenhälften, der Lungen, der Nieren, der Ovarien, der Hoden.
Scheiden wir die sicher erworbene Minderwertigkeit in diesen Fällen
aus, die sich nur selten finden dürfte, so sehen wir uns gezwungen,
auch bei Feststellung der Erscheinungen des Vikariierens
vorkommendenfalls die Diagnose einer Organminderwertig-
keit aussprechen zu müssen
. Dieser Umstand, ferner die später zu
erwähnende, häufig nachweisbare gesteigerte Wachstumstendenz minder-
wertiger Organe, der nicht seltene Befund gleicher und gleichmäßig
verteilter Anomalien beiderseits, wie sie einseitig beim Vikariieren an-
zutreffen sind, analoge Befunde bei asymmetrischen Organen auf Grund-
lage einer primären Minderwertigkeit legen die Annahme nahe, daß
gerade primär minderwertige Organe unter gewissen Be-
dingungen prädestiniert erscheinen, für kürzere oder längere
Zeit eine gesteigerte Funktionsleistung auf sich zu nehmen
.
Außer den bekannten Typen, Emphysem bei funktioneller Minder-
wertigkeit der anderen Lunge, Struma parenchymatosa lateralis bei
Atrophie der anderen Seite, Nierenhypertrophie bei atrophischen Pro-
zessen der zweiten Niere etc., möchte ich hier noch nennen Links-
händigkeit (partieller situs viscerum inversus) und das Vikariieren der
Hälften des Zentralnervensystems. Ist bei allen diesen Erscheinungen
auch an der Minderwertigkeit nicht zu zweifeln, so stellen sie sicher-

oder in der übernormalen Ausnutzung des minderwertigen Organes. Der
vorläufige Ausgang hängt von den vorhandenen Reservekräften ab.
Die Pathologie dieser Zustände erschöpft sich in allen denkbaren Ano-
malien der Leistung, der Sekretion und des Wachstums. Die Tätigkeit
des mehr beanspruchten Organes oder Organteiles vollzieht sich unter
erhöhten äußeren und inneren Anforderungen, so daß an einem be-
stimmten Punkte des Organismus einem gesteigerten Reizzustande
Genüge geleistet werden muß, um ein auch nur labiles Gleichgewicht
zu gewährleisten. Erschütterungen irgendwelcher Art, Infektionen, Er-
schöpfungszustände, Überarbeit körperlicher und psychischer Natur,
Störungen im Wärmehaushalt werden zumeist an dieser gefährdeten
Stelle ihre Wirkung äußern. Es ist aber auch leicht einzusehen, daß
selbst die gewöhnlichen Anforderungen des Lebens, der Kultur, gleich-
falls an diesem kritischen Punkte, dem „locus minoris resistentiae“ häufig
mit Schädigungen einsetzen können.

Die Beobachtungen über das Vikariieren symmetrischer Organe
sind alt und beziehen sich sowohl auf angeborene wie im Leben er-
worbene Unterschiede der Gestalt und Funktion. Hier wären anzu-
führen: Eintreten der beiden Gehirnhälften füreinander, ebenso der
Schilddrüsenhälften, der Lungen, der Nieren, der Ovarien, der Hoden.
Scheiden wir die sicher erworbene Minderwertigkeit in diesen Fällen
aus, die sich nur selten finden dürfte, so sehen wir uns gezwungen,
auch bei Feststellung der Erscheinungen des Vikariierens
vorkommendenfalls die Diagnose einer Organminderwertig-
keit aussprechen zu müssen
. Dieser Umstand, ferner die später zu
erwähnende, häufig nachweisbare gesteigerte Wachstumstendenz minder-
wertiger Organe, der nicht seltene Befund gleicher und gleichmäßig
verteilter Anomalien beiderseits, wie sie einseitig beim Vikariieren an-
zutreffen sind, analoge Befunde bei asymmetrischen Organen auf Grund-
lage einer primären Minderwertigkeit legen die Annahme nahe, daß
gerade primär minderwertige Organe unter gewissen Be-
dingungen prädestiniert erscheinen, für kürzere oder längere
Zeit eine gesteigerte Funktionsleistung auf sich zu nehmen
.
Außer den bekannten Typen, Emphysem bei funktioneller Minder-
wertigkeit der anderen Lunge, Struma parenchymatosa lateralis bei
Atrophie der anderen Seite, Nierenhypertrophie bei atrophischen Pro-
zessen der zweiten Niere etc., möchte ich hier noch nennen Links-
händigkeit (partieller situs viscerum inversus) und das Vikariieren der
Hälften des Zentralnervensystems. Ist bei allen diesen Erscheinungen
auch an der Minderwertigkeit nicht zu zweifeln, so stellen sie sicher-

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[11/0023] oder in der übernormalen Ausnutzung des minderwertigen Organes. Der vorläufige Ausgang hängt von den vorhandenen Reservekräften ab. Die Pathologie dieser Zustände erschöpft sich in allen denkbaren Ano- malien der Leistung, der Sekretion und des Wachstums. Die Tätigkeit des mehr beanspruchten Organes oder Organteiles vollzieht sich unter erhöhten äußeren und inneren Anforderungen, so daß an einem be- stimmten Punkte des Organismus einem gesteigerten Reizzustande Genüge geleistet werden muß, um ein auch nur labiles Gleichgewicht zu gewährleisten. Erschütterungen irgendwelcher Art, Infektionen, Er- schöpfungszustände, Überarbeit körperlicher und psychischer Natur, Störungen im Wärmehaushalt werden zumeist an dieser gefährdeten Stelle ihre Wirkung äußern. Es ist aber auch leicht einzusehen, daß selbst die gewöhnlichen Anforderungen des Lebens, der Kultur, gleich- falls an diesem kritischen Punkte, dem „locus minoris resistentiae“ häufig mit Schädigungen einsetzen können. Die Beobachtungen über das Vikariieren symmetrischer Organe sind alt und beziehen sich sowohl auf angeborene wie im Leben er- worbene Unterschiede der Gestalt und Funktion. Hier wären anzu- führen: Eintreten der beiden Gehirnhälften füreinander, ebenso der Schilddrüsenhälften, der Lungen, der Nieren, der Ovarien, der Hoden. Scheiden wir die sicher erworbene Minderwertigkeit in diesen Fällen aus, die sich nur selten finden dürfte, so sehen wir uns gezwungen, auch bei Feststellung der Erscheinungen des Vikariierens vorkommendenfalls die Diagnose einer Organminderwertig- keit aussprechen zu müssen. Dieser Umstand, ferner die später zu erwähnende, häufig nachweisbare gesteigerte Wachstumstendenz minder- wertiger Organe, der nicht seltene Befund gleicher und gleichmäßig verteilter Anomalien beiderseits, wie sie einseitig beim Vikariieren an- zutreffen sind, analoge Befunde bei asymmetrischen Organen auf Grund- lage einer primären Minderwertigkeit legen die Annahme nahe, daß gerade primär minderwertige Organe unter gewissen Be- dingungen prädestiniert erscheinen, für kürzere oder längere Zeit eine gesteigerte Funktionsleistung auf sich zu nehmen. Außer den bekannten Typen, Emphysem bei funktioneller Minder- wertigkeit der anderen Lunge, Struma parenchymatosa lateralis bei Atrophie der anderen Seite, Nierenhypertrophie bei atrophischen Pro- zessen der zweiten Niere etc., möchte ich hier noch nennen Links- händigkeit (partieller situs viscerum inversus) und das Vikariieren der Hälften des Zentralnervensystems. Ist bei allen diesen Erscheinungen auch an der Minderwertigkeit nicht zu zweifeln, so stellen sie sicher-

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Zitationshilfe: Adler, Alfred: Studie über Minderwertigkeit von Organen. Berlin u. a., 1907, S. 11. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/adler_studie_1907/23>, abgerufen am 28.03.2024.