Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Adler, Alfred: Studie über Minderwertigkeit von Organen. Berlin u. a., 1907.

Bild:
<< vorherige Seite

sind gesund, haben niemals an Lymphdrüsenschwellungen gelitten. Wohl
aber ein Onkel mütterlicherseits. Die ältere Schwester der Patientin
weist in der linken Supraklavikulargrube einen Naevus pigmentosus
(siehe oben) auf. Ebenso die Mutter.

Man wird in solchen Fällen wohl nur von einer vererbten Min-
derwertigkeit der Lymphdrüsen, nicht aber von hereditärer Tuberkulose
sprechen müssen.

Dieser Auffassung folgend, sehen wir uns zu folgenden wichtigen
Schlüssen gezwungen, die sowohl auf die Tuberkulose als auf alle an-
deren Infektionskrankheiten Bezug haben.

1. Alle Infektionen, die durch natürliche Schutzkräfte des Orga-
nismus überwunden werden können, bedrohen in erster Linie jenes
Organ, welches dieses Schutzes im geringsten Grade teilhaftig ist, das
ist in der Mehrzahl der Fälle das minderwertige Organ.

2. Speziell bei der Tuberkulose ist ein therapeutischer Erfolg nur
insofern zu erhoffen, als es gelingt, das minderwertige Organ so weit
zu fördern, daß es aus eigener Kraft sich der Infektion erwehren kann.
Soweit die Serumtherapie in Betracht kommt, fallen also der aktiven
Immunisierung die größeren Chancen zu. Bei passiver Immunisierung
allein dürften sich einzelne Parasiten lebensfähig erhalten, und das
minderwertige Organ fällt wieder der nächsten Ausbreitung des Infek-
tionsstoffes zum Opfer.

Wir wollen dieses Kapitel nicht abschließen, ohne die Karzinom-
frage, soweit sie hierher gehört, in Betracht gezogen zu haben. Dabei
kommt es uns weniger darauf an, der Frage nach der parasitären oder
nichtparasitären Ätiologie nachzugehen. Sondern wir verlegen auch hier
die ätiologischen Momente um eine Schicht tiefer. Das Karzinom
kann sich nur in einem minderwertigen Organ entwickeln.

Die weiteren Bedingungen sind derzeit unbekannt. Für unsere Auffas-
sung, die der Billroths von der karzinomatösen Disposition am nächsten
steht, sprechen eine Reihe von Tatsachen. So die der Karzinoment-
wicklung vorausgehende Krankheitsgeschichte des Organes. Die gegen-
wärtige Auffassung sieht die vorausgegangenen Erkrankungen als ätio-
logisch wichtig, wir sehen sie getreu unseren bisherigen Erörterungen
als historisch bedeutungsvoll an. Alle die Veränderungen des Organes
in der Anamnese des Karzinoms, seien sie katarrhalischer, entzündlich-
infektiöser Natur, hypertrophischen oder atrophischen Charakters, kenn-
zeichnen dieses Organ als von vornherein minderwertig. Ich habe in
den vorhergehenden Kapiteln davon gesprochen. Ferner verweise ich
auf die hervorragende Variabilität und die Wachstumsenergie der Kar-

sind gesund, haben niemals an Lymphdrüsenschwellungen gelitten. Wohl
aber ein Onkel mütterlicherseits. Die ältere Schwester der Patientin
weist in der linken Supraklavikulargrube einen Naevus pigmentosus
(siehe oben) auf. Ebenso die Mutter.

Man wird in solchen Fällen wohl nur von einer vererbten Min-
derwertigkeit der Lymphdrüsen, nicht aber von hereditärer Tuberkulose
sprechen müssen.

Dieser Auffassung folgend, sehen wir uns zu folgenden wichtigen
Schlüssen gezwungen, die sowohl auf die Tuberkulose als auf alle an-
deren Infektionskrankheiten Bezug haben.

1. Alle Infektionen, die durch natürliche Schutzkräfte des Orga-
nismus überwunden werden können, bedrohen in erster Linie jenes
Organ, welches dieses Schutzes im geringsten Grade teilhaftig ist, das
ist in der Mehrzahl der Fälle das minderwertige Organ.

2. Speziell bei der Tuberkulose ist ein therapeutischer Erfolg nur
insofern zu erhoffen, als es gelingt, das minderwertige Organ so weit
zu fördern, daß es aus eigener Kraft sich der Infektion erwehren kann.
Soweit die Serumtherapie in Betracht kommt, fallen also der aktiven
Immunisierung die größeren Chancen zu. Bei passiver Immunisierung
allein dürften sich einzelne Parasiten lebensfähig erhalten, und das
minderwertige Organ fällt wieder der nächsten Ausbreitung des Infek-
tionsstoffes zum Opfer.

Wir wollen dieses Kapitel nicht abschließen, ohne die Karzinom-
frage, soweit sie hierher gehört, in Betracht gezogen zu haben. Dabei
kommt es uns weniger darauf an, der Frage nach der parasitären oder
nichtparasitären Ätiologie nachzugehen. Sondern wir verlegen auch hier
die ätiologischen Momente um eine Schicht tiefer. Das Karzinom
kann sich nur in einem minderwertigen Organ entwickeln.

Die weiteren Bedingungen sind derzeit unbekannt. Für unsere Auffas-
sung, die der Billroths von der karzinomatösen Disposition am nächsten
steht, sprechen eine Reihe von Tatsachen. So die der Karzinoment-
wicklung vorausgehende Krankheitsgeschichte des Organes. Die gegen-
wärtige Auffassung sieht die vorausgegangenen Erkrankungen als ätio-
logisch wichtig, wir sehen sie getreu unseren bisherigen Erörterungen
als historisch bedeutungsvoll an. Alle die Veränderungen des Organes
in der Anamnese des Karzinoms, seien sie katarrhalischer, entzündlich-
infektiöser Natur, hypertrophischen oder atrophischen Charakters, kenn-
zeichnen dieses Organ als von vornherein minderwertig. Ich habe in
den vorhergehenden Kapiteln davon gesprochen. Ferner verweise ich
auf die hervorragende Variabilität und die Wachstumsenergie der Kar-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0035" n="23"/>
sind gesund, haben niemals an Lymphdrüsenschwellungen gelitten. Wohl<lb/>
aber ein Onkel mütterlicherseits. Die ältere Schwester der Patientin<lb/>
weist in der linken Supraklavikulargrube einen Naevus pigmentosus<lb/>
(siehe oben) auf. Ebenso die Mutter.</p><lb/>
          <p>Man wird in solchen Fällen wohl nur von einer vererbten Min-<lb/>
derwertigkeit der Lymphdrüsen, nicht aber von hereditärer Tuberkulose<lb/>
sprechen müssen.</p><lb/>
          <p>Dieser Auffassung folgend, sehen wir uns zu folgenden wichtigen<lb/>
Schlüssen gezwungen, die sowohl auf die Tuberkulose als auf alle an-<lb/>
deren Infektionskrankheiten Bezug haben.</p><lb/>
          <p>1. Alle Infektionen, die durch natürliche Schutzkräfte des Orga-<lb/>
nismus überwunden werden können, bedrohen in erster Linie jenes<lb/>
Organ, welches dieses Schutzes im geringsten Grade teilhaftig ist, das<lb/>
ist in der Mehrzahl der Fälle das minderwertige Organ.</p><lb/>
          <p>2. Speziell bei der Tuberkulose ist ein therapeutischer Erfolg nur<lb/>
insofern zu erhoffen, als es gelingt, das minderwertige Organ so weit<lb/>
zu fördern, daß es aus eigener Kraft sich der Infektion erwehren kann.<lb/>
Soweit die Serumtherapie in Betracht kommt, fallen also der aktiven<lb/>
Immunisierung die größeren Chancen zu. Bei passiver Immunisierung<lb/>
allein dürften sich einzelne Parasiten lebensfähig erhalten, und das<lb/>
minderwertige Organ fällt wieder der nächsten Ausbreitung des Infek-<lb/>
tionsstoffes zum Opfer.</p><lb/>
          <p>Wir wollen dieses Kapitel nicht abschließen, ohne die Karzinom-<lb/>
frage, soweit sie hierher gehört, in Betracht gezogen zu haben. Dabei<lb/>
kommt es uns weniger darauf an, der Frage nach der parasitären oder<lb/>
nichtparasitären Ätiologie nachzugehen. Sondern wir verlegen auch hier<lb/>
die ätiologischen Momente um eine Schicht tiefer. <hi rendition="#g">Das Karzinom<lb/>
kann sich nur in einem minderwertigen Organ entwickeln.</hi><lb/>
Die weiteren Bedingungen sind derzeit unbekannt. Für unsere Auffas-<lb/>
sung, die der <hi rendition="#i">Billroths</hi> von der karzinomatösen Disposition am nächsten<lb/>
steht, sprechen eine Reihe von Tatsachen. So die der Karzinoment-<lb/>
wicklung vorausgehende Krankheitsgeschichte des Organes. Die gegen-<lb/>
wärtige Auffassung sieht die vorausgegangenen Erkrankungen als ätio-<lb/>
logisch wichtig, wir sehen sie getreu unseren bisherigen Erörterungen<lb/>
als historisch bedeutungsvoll an. Alle die Veränderungen des Organes<lb/>
in der Anamnese des Karzinoms, seien sie katarrhalischer, entzündlich-<lb/>
infektiöser Natur, hypertrophischen oder atrophischen Charakters, kenn-<lb/>
zeichnen dieses Organ als von vornherein minderwertig. Ich habe in<lb/>
den vorhergehenden Kapiteln davon gesprochen. Ferner verweise ich<lb/>
auf die hervorragende Variabilität und die Wachstumsenergie der Kar-<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[23/0035] sind gesund, haben niemals an Lymphdrüsenschwellungen gelitten. Wohl aber ein Onkel mütterlicherseits. Die ältere Schwester der Patientin weist in der linken Supraklavikulargrube einen Naevus pigmentosus (siehe oben) auf. Ebenso die Mutter. Man wird in solchen Fällen wohl nur von einer vererbten Min- derwertigkeit der Lymphdrüsen, nicht aber von hereditärer Tuberkulose sprechen müssen. Dieser Auffassung folgend, sehen wir uns zu folgenden wichtigen Schlüssen gezwungen, die sowohl auf die Tuberkulose als auf alle an- deren Infektionskrankheiten Bezug haben. 1. Alle Infektionen, die durch natürliche Schutzkräfte des Orga- nismus überwunden werden können, bedrohen in erster Linie jenes Organ, welches dieses Schutzes im geringsten Grade teilhaftig ist, das ist in der Mehrzahl der Fälle das minderwertige Organ. 2. Speziell bei der Tuberkulose ist ein therapeutischer Erfolg nur insofern zu erhoffen, als es gelingt, das minderwertige Organ so weit zu fördern, daß es aus eigener Kraft sich der Infektion erwehren kann. Soweit die Serumtherapie in Betracht kommt, fallen also der aktiven Immunisierung die größeren Chancen zu. Bei passiver Immunisierung allein dürften sich einzelne Parasiten lebensfähig erhalten, und das minderwertige Organ fällt wieder der nächsten Ausbreitung des Infek- tionsstoffes zum Opfer. Wir wollen dieses Kapitel nicht abschließen, ohne die Karzinom- frage, soweit sie hierher gehört, in Betracht gezogen zu haben. Dabei kommt es uns weniger darauf an, der Frage nach der parasitären oder nichtparasitären Ätiologie nachzugehen. Sondern wir verlegen auch hier die ätiologischen Momente um eine Schicht tiefer. Das Karzinom kann sich nur in einem minderwertigen Organ entwickeln. Die weiteren Bedingungen sind derzeit unbekannt. Für unsere Auffas- sung, die der Billroths von der karzinomatösen Disposition am nächsten steht, sprechen eine Reihe von Tatsachen. So die der Karzinoment- wicklung vorausgehende Krankheitsgeschichte des Organes. Die gegen- wärtige Auffassung sieht die vorausgegangenen Erkrankungen als ätio- logisch wichtig, wir sehen sie getreu unseren bisherigen Erörterungen als historisch bedeutungsvoll an. Alle die Veränderungen des Organes in der Anamnese des Karzinoms, seien sie katarrhalischer, entzündlich- infektiöser Natur, hypertrophischen oder atrophischen Charakters, kenn- zeichnen dieses Organ als von vornherein minderwertig. Ich habe in den vorhergehenden Kapiteln davon gesprochen. Ferner verweise ich auf die hervorragende Variabilität und die Wachstumsenergie der Kar-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax. (2013-01-07T09:54:31Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Wikimedia Commons: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2013-01-07T09:54:31Z)
Frank Wiegand: Konvertierung von Wikisource-Markup nach XML/TEI gemäß DTA-Basisformat. (2013-01-07T09:54:31Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/adler_studie_1907
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/adler_studie_1907/35
Zitationshilfe: Adler, Alfred: Studie über Minderwertigkeit von Organen. Berlin u. a., 1907, S. 23. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/adler_studie_1907/35>, abgerufen am 24.04.2024.