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Adler, Alfred: Studie über Minderwertigkeit von Organen. Berlin u. a., 1907.

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daß zumeist erst dann die Feststellung eines Defizits möglich wird und
in die Augen fällt, wenn sich die Minderwertigkeit auch irgendwie im
Ausfall einer Funktion, in einem Mangel der Leistung nachweisen läßt.
Denn in diesem Punkte erst, sei es bei aufrechterhaltener Gesundheit
oder im Stadium der Erkrankung, wird sie fühlbar und zwingt zu einer
Überlegung des Sachverhalts. Was wir der Natur der Sache nach an
Ausfallserscheinungen erwarten können, wird sich darstellen als motori-
sche Insuffizienz, als mangelhafte Produktion zugehöriger Drüsensekrete
und vor allem als dürftigere Ausbildung oder Fehlen von Reflexaktionen
aller Art, aber auch als deren Gegenteil, als motorische Überleistung,
als Hypersekretion und als Steigerung der Reflexe.

Als Paradefall motorischer Schwäche wäre etwa Virchows Hypo-
plasie des Gefäßsystems anzusehen. Mangelhafter Produktion begegnen
wir beispielsweise bei gewissen Schilddrüsenerkrankungen oder bei
der Chlorose (Kahane). Wir wollen unser Augenmerk an dieser Stelle
besonders dem Mangel und den Übertreibungen der Reflexe, insbesondere
der Schleimhautreflexe, zuwenden, weil für diese einigermaßen Material vor-
liegt und mir ihr Zusammentreffen mit anderen Minderwertigkeitszeichen
verbürgt erscheint. So kommt es, daß sich der Befund dieser Reflex-
anomalien vorzüglich zur Aufdeckung einer Organminderwertigkeit eignet.

Die folgende Untersuchung erstreckt sich durchaus nicht auf die
ganze große Zahl der bekannten Haut- und Schleimhautreflexe. Ich
mußte mich begnügen, gerade nur eine Minderzahl einer systematischen
Durchmusterung zu unterziehen und will vor allem nur den Gaumen-
und den Konjunktivalreflex aus ihnen hervorheben. Vorher aber müssen
wir eine Art von Reflexen streifen, deren Vorhandensein sich wohl der
unmittelbaren Erkenntnis entzieht, aber doch kaum geleugnet werden
kann. Es unterliegt nämlich keinem Zweifel, daß im Innern der Or-
gane, insbesondere von der Schleimhaut röhrenförmiger Gebilde aus,
vielleicht an jedem Punkte durch irgend welche Reizvorgänge Reflex-
aktionen ausgelöst werden können, die für die Fortbewegung von Se-
kreten und Exkreten von größter Wichtigkeit sind. Wenn ich aus der
Analogie mit den später anzuführenden Erscheinungen
Schlüsse ziehen darf, so scheint es mir sicher, daß gewisse
Erkrankungen, z. B. Cholelithiasis, Nephrolithiasis, Zylin-
drurie, Curschmanns Spiralen, mit einer verminderten Reflex-
fähigkeit im zugehörigen Organteil zusammenhängen, ohne
etwa durch sie ausschließlich bedingt zu sein.

Der Mangel des Gaumen- und Konjunktivalreflexes sind all-
bekannte Vorkommnisse, die aber bisher in der Medizin eine geringe Rolle

daß zumeist erst dann die Feststellung eines Defizits möglich wird und
in die Augen fällt, wenn sich die Minderwertigkeit auch irgendwie im
Ausfall einer Funktion, in einem Mangel der Leistung nachweisen läßt.
Denn in diesem Punkte erst, sei es bei aufrechterhaltener Gesundheit
oder im Stadium der Erkrankung, wird sie fühlbar und zwingt zu einer
Überlegung des Sachverhalts. Was wir der Natur der Sache nach an
Ausfallserscheinungen erwarten können, wird sich darstellen als motori-
sche Insuffizienz, als mangelhafte Produktion zugehöriger Drüsensekrete
und vor allem als dürftigere Ausbildung oder Fehlen von Reflexaktionen
aller Art, aber auch als deren Gegenteil, als motorische Überleistung,
als Hypersekretion und als Steigerung der Reflexe.

Als Paradefall motorischer Schwäche wäre etwa Virchows Hypo-
plasie des Gefäßsystems anzusehen. Mangelhafter Produktion begegnen
wir beispielsweise bei gewissen Schilddrüsenerkrankungen oder bei
der Chlorose (Kahane). Wir wollen unser Augenmerk an dieser Stelle
besonders dem Mangel und den Übertreibungen der Reflexe, insbesondere
der Schleimhautreflexe, zuwenden, weil für diese einigermaßen Material vor-
liegt und mir ihr Zusammentreffen mit anderen Minderwertigkeitszeichen
verbürgt erscheint. So kommt es, daß sich der Befund dieser Reflex-
anomalien vorzüglich zur Aufdeckung einer Organminderwertigkeit eignet.

Die folgende Untersuchung erstreckt sich durchaus nicht auf die
ganze große Zahl der bekannten Haut- und Schleimhautreflexe. Ich
mußte mich begnügen, gerade nur eine Minderzahl einer systematischen
Durchmusterung zu unterziehen und will vor allem nur den Gaumen-
und den Konjunktivalreflex aus ihnen hervorheben. Vorher aber müssen
wir eine Art von Reflexen streifen, deren Vorhandensein sich wohl der
unmittelbaren Erkenntnis entzieht, aber doch kaum geleugnet werden
kann. Es unterliegt nämlich keinem Zweifel, daß im Innern der Or-
gane, insbesondere von der Schleimhaut röhrenförmiger Gebilde aus,
vielleicht an jedem Punkte durch irgend welche Reizvorgänge Reflex-
aktionen ausgelöst werden können, die für die Fortbewegung von Se-
kreten und Exkreten von größter Wichtigkeit sind. Wenn ich aus der
Analogie mit den später anzuführenden Erscheinungen
Schlüsse ziehen darf, so scheint es mir sicher, daß gewisse
Erkrankungen, z. B. Cholelithiasis, Nephrolithiasis, Zylin-
drurie, Curschmanns Spiralen, mit einer verminderten Reflex-
fähigkeit im zugehörigen Organteil zusammenhängen, ohne
etwa durch sie ausschließlich bedingt zu sein.

Der Mangel des Gaumen- und Konjunktivalreflexes sind all-
bekannte Vorkommnisse, die aber bisher in der Medizin eine geringe Rolle

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[44/0056] daß zumeist erst dann die Feststellung eines Defizits möglich wird und in die Augen fällt, wenn sich die Minderwertigkeit auch irgendwie im Ausfall einer Funktion, in einem Mangel der Leistung nachweisen läßt. Denn in diesem Punkte erst, sei es bei aufrechterhaltener Gesundheit oder im Stadium der Erkrankung, wird sie fühlbar und zwingt zu einer Überlegung des Sachverhalts. Was wir der Natur der Sache nach an Ausfallserscheinungen erwarten können, wird sich darstellen als motori- sche Insuffizienz, als mangelhafte Produktion zugehöriger Drüsensekrete und vor allem als dürftigere Ausbildung oder Fehlen von Reflexaktionen aller Art, aber auch als deren Gegenteil, als motorische Überleistung, als Hypersekretion und als Steigerung der Reflexe. Als Paradefall motorischer Schwäche wäre etwa Virchows Hypo- plasie des Gefäßsystems anzusehen. Mangelhafter Produktion begegnen wir beispielsweise bei gewissen Schilddrüsenerkrankungen oder bei der Chlorose (Kahane). Wir wollen unser Augenmerk an dieser Stelle besonders dem Mangel und den Übertreibungen der Reflexe, insbesondere der Schleimhautreflexe, zuwenden, weil für diese einigermaßen Material vor- liegt und mir ihr Zusammentreffen mit anderen Minderwertigkeitszeichen verbürgt erscheint. So kommt es, daß sich der Befund dieser Reflex- anomalien vorzüglich zur Aufdeckung einer Organminderwertigkeit eignet. Die folgende Untersuchung erstreckt sich durchaus nicht auf die ganze große Zahl der bekannten Haut- und Schleimhautreflexe. Ich mußte mich begnügen, gerade nur eine Minderzahl einer systematischen Durchmusterung zu unterziehen und will vor allem nur den Gaumen- und den Konjunktivalreflex aus ihnen hervorheben. Vorher aber müssen wir eine Art von Reflexen streifen, deren Vorhandensein sich wohl der unmittelbaren Erkenntnis entzieht, aber doch kaum geleugnet werden kann. Es unterliegt nämlich keinem Zweifel, daß im Innern der Or- gane, insbesondere von der Schleimhaut röhrenförmiger Gebilde aus, vielleicht an jedem Punkte durch irgend welche Reizvorgänge Reflex- aktionen ausgelöst werden können, die für die Fortbewegung von Se- kreten und Exkreten von größter Wichtigkeit sind. Wenn ich aus der Analogie mit den später anzuführenden Erscheinungen Schlüsse ziehen darf, so scheint es mir sicher, daß gewisse Erkrankungen, z. B. Cholelithiasis, Nephrolithiasis, Zylin- drurie, Curschmanns Spiralen, mit einer verminderten Reflex- fähigkeit im zugehörigen Organteil zusammenhängen, ohne etwa durch sie ausschließlich bedingt zu sein. Der Mangel des Gaumen- und Konjunktivalreflexes sind all- bekannte Vorkommnisse, die aber bisher in der Medizin eine geringe Rolle

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Zitationshilfe: Adler, Alfred: Studie über Minderwertigkeit von Organen. Berlin u. a., 1907, S. 44. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/adler_studie_1907/56>, abgerufen am 20.04.2024.