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Adler, Alfred: Studie über Minderwertigkeit von Organen. Berlin u. a., 1907.

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wirbelsäule abwärts in Verbindung steht. Nicht selten sind in diese
Minderwertigkeit die unteren Extremitäten mitinbegriffen. Diese Relation
ist wichtig für die Frage der Tabes, der Ischias, der Stuhlinkontinenz
in Enuretikerfamilien. Die Wirbelsäule beteiligt sich daran auch mit
Andeutung von Spina bifida oder Deformität, die unteren Extremitäten
mit Deformität, unproportionierten Beinen oder Gelenkserkrankungen.

Was die gleichzeitige Minderwertigkeit anderer Organe, be-
sonders der Sexualorgane anlangt, so soll das vorliegende Material dafür
sprechen. In der Literatur findet sich davon am häufigsten der Kryptor-
chismus erwähnt, den ich auch oft nachweisen konnte, und etwa noch
Phimose, Hypospadie und Verklebung von Präputium und Eichel, wenn
man diese als Minderwertigkeitszeichen der Sexualorgane gelten lassen
will. Bedeutsamer für meine Behauptungen sind die Fälle von Ge-
schwulstbildungen in den Sexualorganen, wie sie der Enuretikerstamm-
baum aufweist, und die fast regelmäßig nachweisbaren Anomalien im
Sexualverkehr, vor allem Ejaculatio praecox. Auffallend oft sterben die
Mütter aus Enuresisfamilien während oder nach einer Geburt, und man
findet Enuretiker oft als Stiefkinder. Aus meinem Material geht hervor,
daß Minderwertigkeitserkrankungen der Sexualorgane oder der Nieren
solchen frühen Tod veranlassen können, während andere solcher Mütter
durch eine schwere Geburt (Beckenanomalien als segmentale Minder-
wertigkeit), durch Schädigungen während einer der ersten Schwanger-
schaften vor Lebensgefahr infolge einer neuen Gravidität sich bewahren.
In anderen Fällen bleibt die Konzeption aus oder stets wiederholter
Abortus verhindert die Mutterschaft. Als Ursache findet man dann meist
Uterusmyom, Nierenerkrankung oder Infantilität des Uterus (Enge des
Orifiziums).

Die Beziehungen der Enuresis zum Zentralnervensystem und zur
Psyche sind einigermaßen in der Literatur festgehalten, ohne daß die
hier aufgedeckten Zusammenhänge gewürdigt worden wären. Freud,
der am weitesten vorgedrungen war, hat die Bedeutung der infantilen
Enuresis in Traum und Neurose hervorgehoben. Die Breslauer Schule
und viele andere mit ihr halten umgekehrt die Enuresis für ein hyste-
risches Symptom. Den Harndrang und die Inkontinenz bei psychischer
Mehrbelastung, bei Lachen und Weinen (Bechterew), bei Schreck, beim
Anblick von Wasser und Feuer und anderes haben viele Autoren beob-
achtet, ohne wie Freud auf überstandene Enuresis zu schließen. H. Ellis
hebt hervor, daß Musik bei Kindern und Tieren Harndrang hervor-
rufen könne, was übrigens bereits Shakespeare bekannt war, der seinen
Shylok sagen läßt: "Noch andere können, wenn die Sackpfeife durch

wirbelsäule abwärts in Verbindung steht. Nicht selten sind in diese
Minderwertigkeit die unteren Extremitäten mitinbegriffen. Diese Relation
ist wichtig für die Frage der Tabes, der Ischias, der Stuhlinkontinenz
in Enuretikerfamilien. Die Wirbelsäule beteiligt sich daran auch mit
Andeutung von Spina bifida oder Deformität, die unteren Extremitäten
mit Deformität, unproportionierten Beinen oder Gelenkserkrankungen.

Was die gleichzeitige Minderwertigkeit anderer Organe, be-
sonders der Sexualorgane anlangt, so soll das vorliegende Material dafür
sprechen. In der Literatur findet sich davon am häufigsten der Kryptor-
chismus erwähnt, den ich auch oft nachweisen konnte, und etwa noch
Phimose, Hypospadie und Verklebung von Präputium und Eichel, wenn
man diese als Minderwertigkeitszeichen der Sexualorgane gelten lassen
will. Bedeutsamer für meine Behauptungen sind die Fälle von Ge-
schwulstbildungen in den Sexualorganen, wie sie der Enuretikerstamm-
baum aufweist, und die fast regelmäßig nachweisbaren Anomalien im
Sexualverkehr, vor allem Ejaculatio praecox. Auffallend oft sterben die
Mütter aus Enuresisfamilien während oder nach einer Geburt, und man
findet Enuretiker oft als Stiefkinder. Aus meinem Material geht hervor,
daß Minderwertigkeitserkrankungen der Sexualorgane oder der Nieren
solchen frühen Tod veranlassen können, während andere solcher Mütter
durch eine schwere Geburt (Beckenanomalien als segmentale Minder-
wertigkeit), durch Schädigungen während einer der ersten Schwanger-
schaften vor Lebensgefahr infolge einer neuen Gravidität sich bewahren.
In anderen Fällen bleibt die Konzeption aus oder stets wiederholter
Abortus verhindert die Mutterschaft. Als Ursache findet man dann meist
Uterusmyom, Nierenerkrankung oder Infantilität des Uterus (Enge des
Orifiziums).

Die Beziehungen der Enuresis zum Zentralnervensystem und zur
Psyche sind einigermaßen in der Literatur festgehalten, ohne daß die
hier aufgedeckten Zusammenhänge gewürdigt worden wären. Freud,
der am weitesten vorgedrungen war, hat die Bedeutung der infantilen
Enuresis in Traum und Neurose hervorgehoben. Die Breslauer Schule
und viele andere mit ihr halten umgekehrt die Enuresis für ein hyste-
risches Symptom. Den Harndrang und die Inkontinenz bei psychischer
Mehrbelastung, bei Lachen und Weinen (Bechterew), bei Schreck, beim
Anblick von Wasser und Feuer und anderes haben viele Autoren beob-
achtet, ohne wie Freud auf überstandene Enuresis zu schließen. H. Ellis
hebt hervor, daß Musik bei Kindern und Tieren Harndrang hervor-
rufen könne, was übrigens bereits Shakespeare bekannt war, der seinen
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[77/0089] wirbelsäule abwärts in Verbindung steht. Nicht selten sind in diese Minderwertigkeit die unteren Extremitäten mitinbegriffen. Diese Relation ist wichtig für die Frage der Tabes, der Ischias, der Stuhlinkontinenz in Enuretikerfamilien. Die Wirbelsäule beteiligt sich daran auch mit Andeutung von Spina bifida oder Deformität, die unteren Extremitäten mit Deformität, unproportionierten Beinen oder Gelenkserkrankungen. Was die gleichzeitige Minderwertigkeit anderer Organe, be- sonders der Sexualorgane anlangt, so soll das vorliegende Material dafür sprechen. In der Literatur findet sich davon am häufigsten der Kryptor- chismus erwähnt, den ich auch oft nachweisen konnte, und etwa noch Phimose, Hypospadie und Verklebung von Präputium und Eichel, wenn man diese als Minderwertigkeitszeichen der Sexualorgane gelten lassen will. Bedeutsamer für meine Behauptungen sind die Fälle von Ge- schwulstbildungen in den Sexualorganen, wie sie der Enuretikerstamm- baum aufweist, und die fast regelmäßig nachweisbaren Anomalien im Sexualverkehr, vor allem Ejaculatio praecox. Auffallend oft sterben die Mütter aus Enuresisfamilien während oder nach einer Geburt, und man findet Enuretiker oft als Stiefkinder. Aus meinem Material geht hervor, daß Minderwertigkeitserkrankungen der Sexualorgane oder der Nieren solchen frühen Tod veranlassen können, während andere solcher Mütter durch eine schwere Geburt (Beckenanomalien als segmentale Minder- wertigkeit), durch Schädigungen während einer der ersten Schwanger- schaften vor Lebensgefahr infolge einer neuen Gravidität sich bewahren. In anderen Fällen bleibt die Konzeption aus oder stets wiederholter Abortus verhindert die Mutterschaft. Als Ursache findet man dann meist Uterusmyom, Nierenerkrankung oder Infantilität des Uterus (Enge des Orifiziums). Die Beziehungen der Enuresis zum Zentralnervensystem und zur Psyche sind einigermaßen in der Literatur festgehalten, ohne daß die hier aufgedeckten Zusammenhänge gewürdigt worden wären. Freud, der am weitesten vorgedrungen war, hat die Bedeutung der infantilen Enuresis in Traum und Neurose hervorgehoben. Die Breslauer Schule und viele andere mit ihr halten umgekehrt die Enuresis für ein hyste- risches Symptom. Den Harndrang und die Inkontinenz bei psychischer Mehrbelastung, bei Lachen und Weinen (Bechterew), bei Schreck, beim Anblick von Wasser und Feuer und anderes haben viele Autoren beob- achtet, ohne wie Freud auf überstandene Enuresis zu schließen. H. Ellis hebt hervor, daß Musik bei Kindern und Tieren Harndrang hervor- rufen könne, was übrigens bereits Shakespeare bekannt war, der seinen Shylok sagen läßt: „Noch andere können, wenn die Sackpfeife durch

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Zitationshilfe: Adler, Alfred: Studie über Minderwertigkeit von Organen. Berlin u. a., 1907, S. 77. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/adler_studie_1907/89>, abgerufen am 29.03.2024.