Ich hatte einst einen Lehrer und der Lehrer hatte einen Zopf. Dieser, der Lehrer, sagte öfter mit wichtiger Miene und hohen Augenbraunen: "Der Mensch ißt um zu leben, lebt aber nicht um zu essen." Das ganze Ansehen des Mannes dabei verrieth unverkennbar, daß er dachte, damit wirklich etwas ge- sagt zu haben, ja man hätte ihn wohl für den ersten Erfinder dieses Sinnspruchs halten können, mit so viel Antheil pflegte er ihn vorzubringen. Es war dieß in der Trivialschule, und da gehörte es hin. Ich habe nun im Verlaufe des Lebens diese Worte öfter gehört und gelesen und, wie nun Vorstellungs-Asso- ciationen eben sind, jedesmal dachte ich dabei an meinen Schul- meister und seinen Zopf.
Dieses stete Handeln irgend eines Nutzens und äußerlichen Zweckes wegen, dieses ängstliche Rück- und Vorwärtslauern bei jedem Tritt und Schritt, diese gemeine Absichtlichkeit macht unsere Zeit über die Maaßen schaal und trivial. Man riecht an eine Rose um zu nießen, wenn man keine Prise Schnupf- tabak bei der Hand hat. Der Motion wegen wird, ärztlicher Vorschrift gemäß, ein Spaziergang durch Flur und Wald un- ternommen, und der Blick wendet sich kaum von dem üppigen Wuchs der Wiesen, weil Grün den Augen so gesund ist. Man sieht und hört ein Kunstwerk, eine Gemäldeausstellung, eine neue Oper, um doch Antwort geben zu können, wenn Seine Excellenz etwa darüber fragen sollte. Man geht zu einem Gastmahl, nicht um zu essen, -- nein um zu leben.
Fünfte Vorleſung. Moraliſche Beziehungen.
Ich hatte einſt einen Lehrer und der Lehrer hatte einen Zopf. Dieſer, der Lehrer, ſagte oͤfter mit wichtiger Miene und hohen Augenbraunen: „Der Menſch ißt um zu leben, lebt aber nicht um zu eſſen.“ Das ganze Anſehen des Mannes dabei verrieth unverkennbar, daß er dachte, damit wirklich etwas ge- ſagt zu haben, ja man haͤtte ihn wohl fuͤr den erſten Erfinder dieſes Sinnſpruchs halten koͤnnen, mit ſo viel Antheil pflegte er ihn vorzubringen. Es war dieß in der Trivialſchule, und da gehoͤrte es hin. Ich habe nun im Verlaufe des Lebens dieſe Worte oͤfter gehoͤrt und geleſen und, wie nun Vorſtellungs-Aſſo- ciationen eben ſind, jedesmal dachte ich dabei an meinen Schul- meiſter und ſeinen Zopf.
Dieſes ſtete Handeln irgend eines Nutzens und aͤußerlichen Zweckes wegen, dieſes aͤngſtliche Ruͤck- und Vorwaͤrtslauern bei jedem Tritt und Schritt, dieſe gemeine Abſichtlichkeit macht unſere Zeit uͤber die Maaßen ſchaal und trivial. Man riecht an eine Roſe um zu nießen, wenn man keine Priſe Schnupf- tabak bei der Hand hat. Der Motion wegen wird, aͤrztlicher Vorſchrift gemaͤß, ein Spaziergang durch Flur und Wald un- ternommen, und der Blick wendet ſich kaum von dem uͤppigen Wuchs der Wieſen, weil Gruͤn den Augen ſo geſund iſt. Man ſieht und hoͤrt ein Kunſtwerk, eine Gemaͤldeausſtellung, eine neue Oper, um doch Antwort geben zu koͤnnen, wenn Seine Excellenz etwa daruͤber fragen ſollte. Man geht zu einem Gaſtmahl, nicht um zu eſſen, — nein um zu leben.
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[[96]/0110]
Fünfte Vorleſung.
Moraliſche Beziehungen.
Ich hatte einſt einen Lehrer und der Lehrer hatte einen
Zopf. Dieſer, der Lehrer, ſagte oͤfter mit wichtiger Miene und
hohen Augenbraunen: „Der Menſch ißt um zu leben, lebt aber
nicht um zu eſſen.“ Das ganze Anſehen des Mannes dabei
verrieth unverkennbar, daß er dachte, damit wirklich etwas ge-
ſagt zu haben, ja man haͤtte ihn wohl fuͤr den erſten Erfinder
dieſes Sinnſpruchs halten koͤnnen, mit ſo viel Antheil pflegte er
ihn vorzubringen. Es war dieß in der Trivialſchule, und da
gehoͤrte es hin. Ich habe nun im Verlaufe des Lebens dieſe
Worte oͤfter gehoͤrt und geleſen und, wie nun Vorſtellungs-Aſſo-
ciationen eben ſind, jedesmal dachte ich dabei an meinen Schul-
meiſter und ſeinen Zopf.
Dieſes ſtete Handeln irgend eines Nutzens und aͤußerlichen
Zweckes wegen, dieſes aͤngſtliche Ruͤck- und Vorwaͤrtslauern
bei jedem Tritt und Schritt, dieſe gemeine Abſichtlichkeit macht
unſere Zeit uͤber die Maaßen ſchaal und trivial. Man riecht
an eine Roſe um zu nießen, wenn man keine Priſe Schnupf-
tabak bei der Hand hat. Der Motion wegen wird, aͤrztlicher
Vorſchrift gemaͤß, ein Spaziergang durch Flur und Wald un-
ternommen, und der Blick wendet ſich kaum von dem uͤppigen
Wuchs der Wieſen, weil Gruͤn den Augen ſo geſund iſt. Man
ſieht und hoͤrt ein Kunſtwerk, eine Gemaͤldeausſtellung, eine
neue Oper, um doch Antwort geben zu koͤnnen, wenn Seine
Excellenz etwa daruͤber fragen ſollte. Man geht zu einem
Gaſtmahl, nicht um zu eſſen, — nein um zu leben.
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Antonius Anthus [i. e. Blumröder, Gustav]: Vorlesungen über Esskunst. Leipzig, 1838, S. [96]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/anthus_esskunst_1838/110>, abgerufen am 07.12.2023.
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