Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Arnim, Bettina von: Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde. Bd. 1. Berlin, 1835.

Bild:
<< vorherige Seite

Wangen glühen vom Denken, und Frostschauer über-
laufen uns, die die Begeistrung zu neuer Gluth an-
fachen. Ja, lieber Freund, heute Morgen da ich er-
wachte, war mir's als hätte ich Großes erlebt, als hät-
ten die Gelübde meines Herzens Flügel, und schwängen
sich über Berg und Thal in's reine, heitre, lichterfüllte
Blau. -- Keinen Schwur, keine Bedingungen, alles nur
angemessne Bewegung, reines Streben nach dem Himm-
lischen. Das ist mein Gelübde: Freiheit von allen Ban-
den, und daß ich nur dem Geist glauben will, der Schö-
nes offenbart, der Seeligkeit prophezeiht.

Der Nachtthau hatte mich gewaschen; der scharfe
Morgenwind trocknete mich wieder; ich fühlte ein leises
Frösteln, aber ich erwärmte mich beim Herabsteigen von
meinem lieben sammtnen Rochus; die Schmetterlinge flo-
gen schon um die Blumen; ich trieb sie alle vor mir
her, und wo ich unterwegs einen sah, da jagte ich ihn
zu meiner Heerde; unten hatte ich wohl an dreißig bei-
sammen, -- ich hätte sie gar zu gerne mit über den
Rhein getrieben, aber da haspelten sie alle aus einander.

Eben kommt eine Ladung frankfurter Gäste; --
Christian Schlosser bringt mir einen Brief von der Mut-
ter und Dir, ich schließe, um zu lesen.

Dein Kind.

Wangen glühen vom Denken, und Froſtſchauer über-
laufen uns, die die Begeiſtrung zu neuer Gluth an-
fachen. Ja, lieber Freund, heute Morgen da ich er-
wachte, war mir's als hätte ich Großes erlebt, als hät-
ten die Gelübde meines Herzens Flügel, und ſchwängen
ſich über Berg und Thal in's reine, heitre, lichterfüllte
Blau. — Keinen Schwur, keine Bedingungen, alles nur
angemeſſne Bewegung, reines Streben nach dem Himm-
liſchen. Das iſt mein Gelübde: Freiheit von allen Ban-
den, und daß ich nur dem Geiſt glauben will, der Schö-
nes offenbart, der Seeligkeit prophezeiht.

Der Nachtthau hatte mich gewaſchen; der ſcharfe
Morgenwind trocknete mich wieder; ich fühlte ein leiſes
Fröſteln, aber ich erwärmte mich beim Herabſteigen von
meinem lieben ſammtnen Rochus; die Schmetterlinge flo-
gen ſchon um die Blumen; ich trieb ſie alle vor mir
her, und wo ich unterwegs einen ſah, da jagte ich ihn
zu meiner Heerde; unten hatte ich wohl an dreißig bei-
ſammen, — ich hätte ſie gar zu gerne mit über den
Rhein getrieben, aber da haſpelten ſie alle aus einander.

Eben kommt eine Ladung frankfurter Gäſte; —
Chriſtian Schloſſer bringt mir einen Brief von der Mut-
ter und Dir, ich ſchließe, um zu leſen.

Dein Kind.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0289" n="257"/>
Wangen glühen vom Denken, und Fro&#x017F;t&#x017F;chauer über-<lb/>
laufen uns, die die Begei&#x017F;trung zu neuer Gluth an-<lb/>
fachen. Ja, lieber Freund, heute Morgen da ich er-<lb/>
wachte, war mir's als hätte ich Großes erlebt, als hät-<lb/>
ten die Gelübde meines Herzens Flügel, und &#x017F;chwängen<lb/>
&#x017F;ich über Berg und Thal in's reine, heitre, lichterfüllte<lb/>
Blau. &#x2014; Keinen Schwur, keine Bedingungen, alles nur<lb/>
angeme&#x017F;&#x017F;ne Bewegung, reines Streben nach dem Himm-<lb/>
li&#x017F;chen. Das i&#x017F;t mein Gelübde: Freiheit von allen Ban-<lb/>
den, und daß ich nur dem Gei&#x017F;t glauben will, der Schö-<lb/>
nes offenbart, der Seeligkeit prophezeiht.</p><lb/>
          <p>Der Nachtthau hatte mich gewa&#x017F;chen; der &#x017F;charfe<lb/>
Morgenwind trocknete mich wieder; ich fühlte ein lei&#x017F;es<lb/>
Frö&#x017F;teln, aber ich erwärmte mich beim Herab&#x017F;teigen von<lb/>
meinem lieben &#x017F;ammtnen Rochus; die Schmetterlinge flo-<lb/>
gen &#x017F;chon um die Blumen; ich trieb &#x017F;ie alle vor mir<lb/>
her, und wo ich unterwegs einen &#x017F;ah, da jagte ich ihn<lb/>
zu meiner Heerde; unten hatte ich wohl an dreißig bei-<lb/>
&#x017F;ammen, &#x2014; ich hätte &#x017F;ie gar zu gerne mit über den<lb/>
Rhein getrieben, aber da ha&#x017F;pelten &#x017F;ie alle aus einander.</p><lb/>
          <p>Eben kommt eine Ladung frankfurter Gä&#x017F;te; &#x2014;<lb/>
Chri&#x017F;tian Schlo&#x017F;&#x017F;er bringt mir einen Brief von der Mut-<lb/>
ter und Dir, ich &#x017F;chließe, um zu le&#x017F;en.</p><lb/>
          <closer>
            <salute> <hi rendition="#et">Dein Kind.</hi> </salute>
          </closer>
        </div><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[257/0289] Wangen glühen vom Denken, und Froſtſchauer über- laufen uns, die die Begeiſtrung zu neuer Gluth an- fachen. Ja, lieber Freund, heute Morgen da ich er- wachte, war mir's als hätte ich Großes erlebt, als hät- ten die Gelübde meines Herzens Flügel, und ſchwängen ſich über Berg und Thal in's reine, heitre, lichterfüllte Blau. — Keinen Schwur, keine Bedingungen, alles nur angemeſſne Bewegung, reines Streben nach dem Himm- liſchen. Das iſt mein Gelübde: Freiheit von allen Ban- den, und daß ich nur dem Geiſt glauben will, der Schö- nes offenbart, der Seeligkeit prophezeiht. Der Nachtthau hatte mich gewaſchen; der ſcharfe Morgenwind trocknete mich wieder; ich fühlte ein leiſes Fröſteln, aber ich erwärmte mich beim Herabſteigen von meinem lieben ſammtnen Rochus; die Schmetterlinge flo- gen ſchon um die Blumen; ich trieb ſie alle vor mir her, und wo ich unterwegs einen ſah, da jagte ich ihn zu meiner Heerde; unten hatte ich wohl an dreißig bei- ſammen, — ich hätte ſie gar zu gerne mit über den Rhein getrieben, aber da haſpelten ſie alle aus einander. Eben kommt eine Ladung frankfurter Gäſte; — Chriſtian Schloſſer bringt mir einen Brief von der Mut- ter und Dir, ich ſchließe, um zu leſen. Dein Kind.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe01_1835
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe01_1835/289
Zitationshilfe: Arnim, Bettina von: Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde. Bd. 1. Berlin, 1835, S. 257. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe01_1835/289>, abgerufen am 29.03.2024.