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Arnim, Bettina von: Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde. Bd. 2. Berlin, 1835.

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nicht durfte der unreife jünglinghafte Mann so entwur-
zelt weggeschleudert werden, und was hilft mich aller
Geist und alles Gefühl in Ottiliens Tagebuch? nicht
kindlich ist's, daß sie dem Geliebten verläßt und nicht
von Ihm die Entfaltung ihres Geschicks erwartet, nicht
weiblich ist's, daß sie nicht blos sein Geschick berathet;
und nicht mütterlich, da sie ahnen muß die jungen Keime
alle, deren Wurzeln mit den ihrigen verwebt sind, daß
sie ihrer nicht achtet und alles mit sich zu Grunde
richtet.

Es giebt eine Grenze zwischen einem Reich was
aus der Nothwendigkeit entsteht und jenem höheren was
der freie Geist anbaut; in die Nothwendigkeit sind wir
geboren, wir finden uns zuerst in ihr, aber zu jenem
freien werden wir erhoben. Wie die Flügel den Vogel
in die Lüfte tragen, der unbefiedert vorher in's Nest ge-
bannt war, so trägt jener Geist unser Glück stolz und
unabhängig in die Freiheit; hart an diese Grenze führst
Du deine Lieben, kein Wunder! wir alle die wir den-
ken und lieben, harren an dieser Grenze unserer Erlösung;
ja die ganze Welt kommt mir vor wie am Strand ver-
sammelt und einer Überfahrt harrend, durch alle Vorur-
theile böse Begierden und Laster hindurch zum Land da
einer himmlischen Freiheit gepflegt werde. Wir thun

un-

nicht durfte der unreife jünglinghafte Mann ſo entwur-
zelt weggeſchleudert werden, und was hilft mich aller
Geiſt und alles Gefühl in Ottiliens Tagebuch? nicht
kindlich iſt's, daß ſie dem Geliebten verläßt und nicht
von Ihm die Entfaltung ihres Geſchicks erwartet, nicht
weiblich iſt's, daß ſie nicht blos ſein Geſchick berathet;
und nicht mütterlich, da ſie ahnen muß die jungen Keime
alle, deren Wurzeln mit den ihrigen verwebt ſind, daß
ſie ihrer nicht achtet und alles mit ſich zu Grunde
richtet.

Es giebt eine Grenze zwiſchen einem Reich was
aus der Nothwendigkeit entſteht und jenem höheren was
der freie Geiſt anbaut; in die Nothwendigkeit ſind wir
geboren, wir finden uns zuerſt in ihr, aber zu jenem
freien werden wir erhoben. Wie die Flügel den Vogel
in die Lüfte tragen, der unbefiedert vorher in's Neſt ge-
bannt war, ſo trägt jener Geiſt unſer Glück ſtolz und
unabhängig in die Freiheit; hart an dieſe Grenze führſt
Du deine Lieben, kein Wunder! wir alle die wir den-
ken und lieben, harren an dieſer Grenze unſerer Erlöſung;
ja die ganze Welt kommt mir vor wie am Strand ver-
ſammelt und einer Überfahrt harrend, durch alle Vorur-
theile böſe Begierden und Laſter hindurch zum Land da
einer himmliſchen Freiheit gepflegt werde. Wir thun

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[144/0154] nicht durfte der unreife jünglinghafte Mann ſo entwur- zelt weggeſchleudert werden, und was hilft mich aller Geiſt und alles Gefühl in Ottiliens Tagebuch? nicht kindlich iſt's, daß ſie dem Geliebten verläßt und nicht von Ihm die Entfaltung ihres Geſchicks erwartet, nicht weiblich iſt's, daß ſie nicht blos ſein Geſchick berathet; und nicht mütterlich, da ſie ahnen muß die jungen Keime alle, deren Wurzeln mit den ihrigen verwebt ſind, daß ſie ihrer nicht achtet und alles mit ſich zu Grunde richtet. Es giebt eine Grenze zwiſchen einem Reich was aus der Nothwendigkeit entſteht und jenem höheren was der freie Geiſt anbaut; in die Nothwendigkeit ſind wir geboren, wir finden uns zuerſt in ihr, aber zu jenem freien werden wir erhoben. Wie die Flügel den Vogel in die Lüfte tragen, der unbefiedert vorher in's Neſt ge- bannt war, ſo trägt jener Geiſt unſer Glück ſtolz und unabhängig in die Freiheit; hart an dieſe Grenze führſt Du deine Lieben, kein Wunder! wir alle die wir den- ken und lieben, harren an dieſer Grenze unſerer Erlöſung; ja die ganze Welt kommt mir vor wie am Strand ver- ſammelt und einer Überfahrt harrend, durch alle Vorur- theile böſe Begierden und Laſter hindurch zum Land da einer himmliſchen Freiheit gepflegt werde. Wir thun un-

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Zitationshilfe: Arnim, Bettina von: Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde. Bd. 2. Berlin, 1835, S. 144. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe02_1835/154>, abgerufen am 23.04.2024.