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Arnim, Bettina von: Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde. Bd. 2. Berlin, 1835.

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zu wissen was dort vorgeht; ich käme mir vor wie ein
feiger Freund, wenn ich mich dem Einfluß, den die Nähe
des bedrängten Landes auf mich hat, entziehen wollte;
wahrhaftig wenn ich Abends von meinem Schnecken-
thurm die Sonne dort untergehen sehe, da muß ich im-
mer mit ihr.

Wir haben schon seit Wochen schlecht Wetter. Ne-
bel und Gewölk, Wind und Regen und schmerzliche
Botschaft wird indessen durch dein Andenken wie durch
einen Sonnenstrahl erhellt. -- Beinah vier Wochen hab
ich nicht geschrieben, aber ich hab Dich diese ganze Zeit
über bedacht mit Gedanken, Wort und Werken, und
nun will ich's gleich auseinander setzen: Es ist auf der
hiesigen Gallerie ein Bild von Albrecht Dürrer, in sei-
nem achtundzwanzigsten Jahre von ihm selbst gemalt;
es hat die graziösesten Züge eines weisheitvollen, ern-
sten, tüchtigen Antlitzes; aus der Miene spricht ein Geist,
der die jetzigen elenden Weltgesichter niederkracht. Als
ich Dich zum erstenmal sah war es mir auffallend, und
bewegte zugleich zu inniger Verehrung, zu entschiedener
Liebe, daß sich in deiner ganzen Gestalt aussprach, was
David von den Menschen sagt: ein jeder mag König
sein über sich selber. So meine ich nämlich, daß die
Natur des inneren Menschen die Oberhand erringe über

zu wiſſen was dort vorgeht; ich käme mir vor wie ein
feiger Freund, wenn ich mich dem Einfluß, den die Nähe
des bedrängten Landes auf mich hat, entziehen wollte;
wahrhaftig wenn ich Abends von meinem Schnecken-
thurm die Sonne dort untergehen ſehe, da muß ich im-
mer mit ihr.

Wir haben ſchon ſeit Wochen ſchlecht Wetter. Ne-
bel und Gewölk, Wind und Regen und ſchmerzliche
Botſchaft wird indeſſen durch dein Andenken wie durch
einen Sonnenſtrahl erhellt. — Beinah vier Wochen hab
ich nicht geſchrieben, aber ich hab Dich dieſe ganze Zeit
über bedacht mit Gedanken, Wort und Werken, und
nun will ich's gleich auseinander ſetzen: Es iſt auf der
hieſigen Gallerie ein Bild von Albrecht Dürrer, in ſei-
nem achtundzwanzigſten Jahre von ihm ſelbſt gemalt;
es hat die graziöſeſten Züge eines weisheitvollen, ern-
ſten, tüchtigen Antlitzes; aus der Miene ſpricht ein Geiſt,
der die jetzigen elenden Weltgeſichter niederkracht. Als
ich Dich zum erſtenmal ſah war es mir auffallend, und
bewegte zugleich zu inniger Verehrung, zu entſchiedener
Liebe, daß ſich in deiner ganzen Geſtalt ausſprach, was
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[80/0090] zu wiſſen was dort vorgeht; ich käme mir vor wie ein feiger Freund, wenn ich mich dem Einfluß, den die Nähe des bedrängten Landes auf mich hat, entziehen wollte; wahrhaftig wenn ich Abends von meinem Schnecken- thurm die Sonne dort untergehen ſehe, da muß ich im- mer mit ihr. Wir haben ſchon ſeit Wochen ſchlecht Wetter. Ne- bel und Gewölk, Wind und Regen und ſchmerzliche Botſchaft wird indeſſen durch dein Andenken wie durch einen Sonnenſtrahl erhellt. — Beinah vier Wochen hab ich nicht geſchrieben, aber ich hab Dich dieſe ganze Zeit über bedacht mit Gedanken, Wort und Werken, und nun will ich's gleich auseinander ſetzen: Es iſt auf der hieſigen Gallerie ein Bild von Albrecht Dürrer, in ſei- nem achtundzwanzigſten Jahre von ihm ſelbſt gemalt; es hat die graziöſeſten Züge eines weisheitvollen, ern- ſten, tüchtigen Antlitzes; aus der Miene ſpricht ein Geiſt, der die jetzigen elenden Weltgeſichter niederkracht. Als ich Dich zum erſtenmal ſah war es mir auffallend, und bewegte zugleich zu inniger Verehrung, zu entſchiedener Liebe, daß ſich in deiner ganzen Geſtalt ausſprach, was David von den Menſchen ſagt: ein jeder mag König ſein über ſich ſelber. So meine ich nämlich, daß die Natur des inneren Menſchen die Oberhand erringe über

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Zitationshilfe: Arnim, Bettina von: Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde. Bd. 2. Berlin, 1835, S. 80. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe02_1835/90>, abgerufen am 25.04.2024.