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[Arnim, Bettina von]: Tagebuch. Berlin, 1835.

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Spiegel knieend, bei dem unsicheren Flackern der Nacht-
lampe, Hülfe suchend im eignen Auge, das mir mit
Thränen antwortete, die Lippen zuckten, die Hände so
festgefaltet auf der Brust, die bedrängt erfüllt war von
Seufzern. Siehe da! -- Wie oft hatte ich gewünscht
auch einmal vor ihm seine eigne Dichtung ausspre-
chen
zu dürfen, plötzlich fielen mir die großen gewal-
tigen Eichen ein, wie die vor wenig Stunden im
Mondlicht über uns gerauscht hatten, und zugleich der
Monolog der Iphygenia auf Tauris, der so beginnt:
"Heraus in eure Schatten, rege Wipfel, des alten hei-
ligen dichtbelaubten Haines." -- Ich stand aufrecht
vor dem Spiegel, es war mir als ob Goethe zuhöre,
ich sagte den ganzen Monolog her, laut, mit einer ge-
wiß zum höchsten Grad des Kunstgefühls gesteigerten
Begeistrung. Oft mußte ich inne halten, das leise ver-
haltne Beben der Stimme gab mir die Pausen ein, die
in diesem Monolog so wesentlich sind, weil unmöglich
die nach allen Seiten sich scharfrichtenden Blicke auf Zu-
kunft, Vergangenheit und Gegenwart, die seinen Inhalt
ausmachen, alles in einem ununterbrochnen Lauf auf-
fassen können. Meine Rührung, mein tief von Goethes
Geist erschütterter Geist, waren also Veranlassung mein
dramatisches Kunstgefühl zu steigern; ich empfand deut-

Tagebuch. 10

Spiegel knieend, bei dem unſicheren Flackern der Nacht-
lampe, Hülfe ſuchend im eignen Auge, das mir mit
Thränen antwortete, die Lippen zuckten, die Hände ſo
feſtgefaltet auf der Bruſt, die bedrängt erfüllt war von
Seufzern. Siehe da! — Wie oft hatte ich gewünſcht
auch einmal vor ihm ſeine eigne Dichtung ausſpre-
chen
zu dürfen, plötzlich fielen mir die großen gewal-
tigen Eichen ein, wie die vor wenig Stunden im
Mondlicht über uns gerauſcht hatten, und zugleich der
Monolog der Iphygenia auf Tauris, der ſo beginnt:
„Heraus in eure Schatten, rege Wipfel, des alten hei-
ligen dichtbelaubten Haines.“ — Ich ſtand aufrecht
vor dem Spiegel, es war mir als ob Goethe zuhöre,
ich ſagte den ganzen Monolog her, laut, mit einer ge-
wiß zum höchſten Grad des Kunſtgefühls geſteigerten
Begeiſtrung. Oft mußte ich inne halten, das leiſe ver-
haltne Beben der Stimme gab mir die Pauſen ein, die
in dieſem Monolog ſo weſentlich ſind, weil unmöglich
die nach allen Seiten ſich ſcharfrichtenden Blicke auf Zu-
kunft, Vergangenheit und Gegenwart, die ſeinen Inhalt
ausmachen, alles in einem ununterbrochnen Lauf auf-
faſſen können. Meine Rührung, mein tief von Goethes
Geiſt erſchütterter Geiſt, waren alſo Veranlaſſung mein
dramatiſches Kunſtgefühl zu ſteigern; ich empfand deut-

Tagebuch. 10
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[217/0227] Spiegel knieend, bei dem unſicheren Flackern der Nacht- lampe, Hülfe ſuchend im eignen Auge, das mir mit Thränen antwortete, die Lippen zuckten, die Hände ſo feſtgefaltet auf der Bruſt, die bedrängt erfüllt war von Seufzern. Siehe da! — Wie oft hatte ich gewünſcht auch einmal vor ihm ſeine eigne Dichtung ausſpre- chen zu dürfen, plötzlich fielen mir die großen gewal- tigen Eichen ein, wie die vor wenig Stunden im Mondlicht über uns gerauſcht hatten, und zugleich der Monolog der Iphygenia auf Tauris, der ſo beginnt: „Heraus in eure Schatten, rege Wipfel, des alten hei- ligen dichtbelaubten Haines.“ — Ich ſtand aufrecht vor dem Spiegel, es war mir als ob Goethe zuhöre, ich ſagte den ganzen Monolog her, laut, mit einer ge- wiß zum höchſten Grad des Kunſtgefühls geſteigerten Begeiſtrung. Oft mußte ich inne halten, das leiſe ver- haltne Beben der Stimme gab mir die Pauſen ein, die in dieſem Monolog ſo weſentlich ſind, weil unmöglich die nach allen Seiten ſich ſcharfrichtenden Blicke auf Zu- kunft, Vergangenheit und Gegenwart, die ſeinen Inhalt ausmachen, alles in einem ununterbrochnen Lauf auf- faſſen können. Meine Rührung, mein tief von Goethes Geiſt erſchütterter Geiſt, waren alſo Veranlaſſung mein dramatiſches Kunſtgefühl zu ſteigern; ich empfand deut- Tagebuch. 10

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Zitationshilfe: [Arnim, Bettina von]: Tagebuch. Berlin, 1835, S. 217. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe03_1835/227>, abgerufen am 28.03.2024.