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Arnim, Bettina von: Die Günderode. Bd. 2. Grünberg u. a., 1840.

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die Vögel in den besonnten Gipfel fliegen, um der schei¬
denden Sonne nachzusingen, da war der Taubenschlag
meine Tempelzinne, da kamen mir Melodieen, sie ent¬
sproßten aus leiser Berührung zwischen Ton und Ge¬
fühl, sie lösten die Fesseln dem was in meiner Brust
wie im Kerker schmachtete, dem gaben sie Flügel auf
einmal, daß es sich heben konnt, und ganz frei aus¬
dehnen. -- Ich hab oft darüber gedacht daß Musik,
so leicht und gleichsam von selbst sich melodisch ins
Metrum füge, die doch vom Verstand weit weniger er¬
faßt und regiert wild wie die Sprache die nie ohne
Anstrengung das Metrum des Gedankens ergründet
und entwickelt. Die Melodie, die so in der Singezeit
auffliegt, in sich fertig gebildet, der Kehle entsteigt
ohne von dem Geist gebildet zu sein, ist so überra¬
schend daß sie mir immer als Wunder erscheint. --
Ist die Sprache eine geistige Musik und noch nicht voll¬
kommen organisch gebildet? -- und Dichter-drang, ist
der, Trieb des Sprachgeistes sich zu reifen? -- sollen
vielleicht Gefühl, Em-pfindung, Geist in einander durch
die Sprache der Poesie organisch verbunden werden
als selbstständige wirkende Erscheinungen? -- haben
Gedichte nicht geistige Verwandtschaften? nicht Leiden¬

die Vögel in den beſonnten Gipfel fliegen, um der ſchei¬
denden Sonne nachzuſingen, da war der Taubenſchlag
meine Tempelzinne, da kamen mir Melodieen, ſie ent¬
ſproßten aus leiſer Berührung zwiſchen Ton und Ge¬
fühl, ſie löſten die Feſſeln dem was in meiner Bruſt
wie im Kerker ſchmachtete, dem gaben ſie Flügel auf
einmal, daß es ſich heben konnt, und ganz frei aus¬
dehnen. — Ich hab oft darüber gedacht daß Muſik,
ſo leicht und gleichſam von ſelbſt ſich melodiſch ins
Metrum füge, die doch vom Verſtand weit weniger er¬
faßt und regiert wild wie die Sprache die nie ohne
Anſtrengung das Metrum des Gedankens ergründet
und entwickelt. Die Melodie, die ſo in der Singezeit
auffliegt, in ſich fertig gebildet, der Kehle entſteigt
ohne von dem Geiſt gebildet zu ſein, iſt ſo überra¬
ſchend daß ſie mir immer als Wunder erſcheint. —
Iſt die Sprache eine geiſtige Muſik und noch nicht voll¬
kommen organiſch gebildet? — und Dichter-drang, iſt
der, Trieb des Sprachgeiſtes ſich zu reifen? — ſollen
vielleicht Gefühl, Em-pfindung, Geiſt in einander durch
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[175/0189] die Vögel in den beſonnten Gipfel fliegen, um der ſchei¬ denden Sonne nachzuſingen, da war der Taubenſchlag meine Tempelzinne, da kamen mir Melodieen, ſie ent¬ ſproßten aus leiſer Berührung zwiſchen Ton und Ge¬ fühl, ſie löſten die Feſſeln dem was in meiner Bruſt wie im Kerker ſchmachtete, dem gaben ſie Flügel auf einmal, daß es ſich heben konnt, und ganz frei aus¬ dehnen. — Ich hab oft darüber gedacht daß Muſik, ſo leicht und gleichſam von ſelbſt ſich melodiſch ins Metrum füge, die doch vom Verſtand weit weniger er¬ faßt und regiert wild wie die Sprache die nie ohne Anſtrengung das Metrum des Gedankens ergründet und entwickelt. Die Melodie, die ſo in der Singezeit auffliegt, in ſich fertig gebildet, der Kehle entſteigt ohne von dem Geiſt gebildet zu ſein, iſt ſo überra¬ ſchend daß ſie mir immer als Wunder erſcheint. — Iſt die Sprache eine geiſtige Muſik und noch nicht voll¬ kommen organiſch gebildet? — und Dichter-drang, iſt der, Trieb des Sprachgeiſtes ſich zu reifen? — ſollen vielleicht Gefühl, Em-pfindung, Geiſt in einander durch die Sprache der Poeſie organiſch verbunden werden als ſelbſtſtändige wirkende Erſcheinungen? — haben Gedichte nicht geiſtige Verwandtſchaften? nicht Leiden¬

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Zitationshilfe: Arnim, Bettina von: Die Günderode. Bd. 2. Grünberg u. a., 1840, S. 175. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_guenderode02_1840/189>, abgerufen am 19.04.2024.