Alles was wir aussprechen, muß wahr sein weil wir es empfinden. Mehr müssen wir für andre auch nicht thun, denn das sondert jene nur von dem kindlichen ursprünglichen Begriff. -- Wir müssen des andern Geist nicht als Gast in unsre Begriffe einführen, so wie ein Gast auch weniger das Heimathliche begreift, er muß selbst durch das Manglende im Ausdruck auf die Spur des Begriffs geleitet werden, da nur im unverfälschten Vertrauen, oder im vollkommnen Hingehenlassen, selbst in scheinbar Nachlässigem (was doch nur vertrauungs¬ volle heilige Scheu der Liebe ist) sich der Geist oft erst orientirt; zum wenigsten wirds ihm viel leichter. --
Mag nicht oft tiefere Wahrheitsspur verschwunden sein, wo nach ihrer Bekräftigung suchend, ihr ursprüng¬ licher Keim verletzt wurde.
Haben nicht die geistschmiedenden Cyclopen mit dem einen erhabenen Aug auf der Stirne die Welt ange¬ schielt, statt daß sie mit beiden Augen sie gesund wür¬ den angeschaut haben? -- Das frag ich in Deinem Sinne die Philosophen, um somit hier alle weitere Un¬ tersuchung aufzuheben, und erinnere mich zu rechter Zeit an Deine leichte Reizbarkeit.
Leb wohl! an meinem Fenster giebts heute zu viel Einladendes als daß ich widerstehen könnt der Muse
Alles was wir ausſprechen, muß wahr ſein weil wir es empfinden. Mehr müſſen wir für andre auch nicht thun, denn das ſondert jene nur von dem kindlichen urſprünglichen Begriff. — Wir müſſen des andern Geiſt nicht als Gaſt in unſre Begriffe einführen, ſo wie ein Gaſt auch weniger das Heimathliche begreift, er muß ſelbſt durch das Manglende im Ausdruck auf die Spur des Begriffs geleitet werden, da nur im unverfälſchten Vertrauen, oder im vollkommnen Hingehenlaſſen, ſelbſt in ſcheinbar Nachläſſigem (was doch nur vertrauungs¬ volle heilige Scheu der Liebe iſt) ſich der Geiſt oft erſt orientirt; zum wenigſten wirds ihm viel leichter. —
Mag nicht oft tiefere Wahrheitsſpur verſchwunden ſein, wo nach ihrer Bekräftigung ſuchend, ihr urſprüng¬ licher Keim verletzt wurde.
Haben nicht die geiſtſchmiedenden Cyclopen mit dem einen erhabenen Aug auf der Stirne die Welt ange¬ ſchielt, ſtatt daß ſie mit beiden Augen ſie geſund wür¬ den angeſchaut haben? — Das frag ich in Deinem Sinne die Philoſophen, um ſomit hier alle weitere Un¬ terſuchung aufzuheben, und erinnere mich zu rechter Zeit an Deine leichte Reizbarkeit.
Leb wohl! an meinem Fenſter giebts heute zu viel Einladendes als daß ich widerſtehen könnt der Muſe
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Alles was wir ausſprechen, muß wahr ſein weil wir
es empfinden. Mehr müſſen wir für andre auch nicht
thun, denn das ſondert jene nur von dem kindlichen
urſprünglichen Begriff. — Wir müſſen des andern Geiſt
nicht als Gaſt in unſre Begriffe einführen, ſo wie ein
Gaſt auch weniger das Heimathliche begreift, er muß
ſelbſt durch das Manglende im Ausdruck auf die Spur
des Begriffs geleitet werden, da nur im unverfälſchten
Vertrauen, oder im vollkommnen Hingehenlaſſen, ſelbſt
in ſcheinbar Nachläſſigem (was doch nur vertrauungs¬
volle heilige Scheu der Liebe iſt) ſich der Geiſt oft erſt
orientirt; zum wenigſten wirds ihm viel leichter. —
Mag nicht oft tiefere Wahrheitsſpur verſchwunden
ſein, wo nach ihrer Bekräftigung ſuchend, ihr urſprüng¬
licher Keim verletzt wurde.
Haben nicht die geiſtſchmiedenden Cyclopen mit dem
einen erhabenen Aug auf der Stirne die Welt ange¬
ſchielt, ſtatt daß ſie mit beiden Augen ſie geſund wür¬
den angeſchaut haben? — Das frag ich in Deinem
Sinne die Philoſophen, um ſomit hier alle weitere Un¬
terſuchung aufzuheben, und erinnere mich zu rechter Zeit
an Deine leichte Reizbarkeit.
Leb wohl! an meinem Fenſter giebts heute zu viel
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Arnim, Bettina von: Die Günderode. Bd. 2. Grünberg u. a., 1840, S. 21. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_guenderode02_1840/35>, abgerufen am 28.03.2024.
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