Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Allgemeine Zeitung. Nr. 90. Augsburg, 30. März 1840.

Bild:
<< vorherige Seite

Versen zu einer völlig schönen Stelle gelangen. So auch verliert unser Dichter, der in vielen Fällen äußerst kurz, äußerst prägnant ist, und nicht selten eine ganzes Reich von Gedanken in einen einzigen Vers, wie den weiten Himmel in des Auges engen Rahmen einschließt, sich oft in eine Redseligkeit ohne Gränzen, die bei dem bestgestimmten Leser nothwendig Ermüdung herbeiführt. Wenn er von den Matadoren der Gegenwart, gleichviel in welchem Fache, sagt:
Gott legt die Hand auf Jeden und wählet Keinen aus,
so hat er in diesem einzigen Satze angedeutet, was nur immer die Epoche auszeichnet, und was nur immer ihr fehlt: Reichthum der Anlagen bei Mangel an Ordnung, Geschick ohne Weihe, Tüchtigkeit, die sich auf Kleines wendet, machtloser Wille, Herrliches zu thun, Fleiß ohne höhere Anschauung, Genialität ohne Ausdauer, Leidenschaft ohne Zügel, Berechnung ohne Gemüth, ein buntes Heer von Kenntnissen geführt von glänzenden Eigenschaften ohne beschränkende Gegensätze, und daher die unnatürliche, tolle Erscheinung vielseitiger Einseitigkeit, überall Streben nach Verbesserung und fortschreitender Sieg über die Natur durch die Wirksamkeit vereinter Kräfte und aufeinanderfolgender Einfälle, überraschende Größe nirgendwo, Werth genug bei Vielen, um unter den Ersten zu stehen, bei keinem so viel, um unbestritten der Erste zu seyn - all die Vorstellungen sind hier in ein einziges kleines Bild gegossen, in dem sie alle, wie die Linien des Gesichts, sich wiederfinden. Auch sich selbst spricht der Dichter, mit vielleicht unbewußter Bescheidenheit, das Urtheil, gestehend durch jenen Ausspruch, daß er so hoch, so vorangestellt unter seinen Zeitgenossen, doch nicht zum Leiter und Souverän der Geister berufen sey.

Aehnliche Verse weisen beinahe alle seine Werke in großer Anzahl auf, allein er stumpft nicht selten ihre Wirkung durch den gereimten Commentar, mit dem er sie begleitet, ab; er sagt in zwei Worten hundert Dinge, und fügt in hundert Worten, was er sagen wollte, bei. Auch ein andere Makel seiner Dichtungen, die häufige Wiederholung desselben Gedankens in kaum verschiedener Form, desselben Bildes für eine kaum geänderte Idee, kann zwar nicht durch eine unmittelbare Einwirkung jener Flüchtigkeit der jugendlichen Studien, wohl aber durch eine Gewohnheit der Hast und Vernachlässigung, wogegen Geduld im Forschen und Lernen das beste Schutzmittel ist, erklärt werden. Lyrischen Naturen muß man die öftere Rückkehr zu den Idolen ihrer Seele verzeihen; Lamartine mag seinen Jehovah so oft besingen, als Raffael die Madonna malte und Petrarca seine Laura vergötterte; wie in den modernen Opern, mag in all seinen Gedichten eine Preghiera vorkommen, allein in den Gesangsweisen sollte sich ein größerer Wechsel bemerkbar machen, denn selbst die ansprechendsten Motive müssen durch die Berührung zu vieler Reminiscenzen ihre Blüthe und Frische verlieren. Der Anblick der gestirnten Nacht stimmt gewiß die Seele zu heiligen Betrachtungen, und kein Buch der Andacht, keine fromme Harmonie, kein geweihter Bau, sey er noch so groß und mächtig, lehret brünstigere Gebete, weckt höhere Gedanken, als die Feuerschrift dieses erhabenen Domes; allein Hr. v. Lamartine mißbraucht den Himmel so gut, wie den Herrn des Himmels. Der lichtbesäete Aether ist gar zu oft die Scene seiner Ergießungen, während doch die Phantasie des ächten Dichters den Tempel so oft, als die Melodie des Gebets zu ändern liebt.

Nicht allein aber auf das sinnliche Maaß und die äußerlichen Erfordernisse seines Styls hat jene Abwesenheit gründlicher Studien gewirkt, auch in der innern Fügung, in den Geweben seiner Fabeln, worüber die bloße Lyrik hinausgeht, ist ihr verderblicher Einfluß sichtbar. Hier hör' ich einen Einwurf, der Erwiederung fordert. Trotz dem, daß er gleichfalls nur wenig Wissen, noch weniger wohl besessen als Lamartine, dem man doch eine vertraute Bekanntschaft mit der Sprache und Poesie Italiens nicht absprechen könne, sey Shakspeare, führt man an, doch einer der größten Dichter nicht nur seines Volks und seiner Zeit, sondern aller Nationen und aller Jahrhunderte geworden. Der Fleischer von Strafford hatte allerdings in seiner Jugend nicht sehr viel Gelegenheit zum Erwerb geregelter Bildung; aber was er vermochte, that er: der Dämon des Lernens waltete in ihm, und seine Muse, die ewig junge Königin der Träume, nützte mit Ehrfurcht den Rath der Wissenschaft, wie den der Erfahrung, wo sie nur immer ihn haben konnte; Lamartine dagegen, für den seine Stellung von Jugend auf, und später die Gunst des Glücks Alles gethan, um ihm das systematische Erlangen ernster Kenntnisse zu erleichtern, ging mit Vorliebe jenen Phänomenen der Seele nach, die weder in einem Reiche der Natur, noch in einem Alter der Geschichte ihre Heimath finden, in der warmen Luft des Geistes, wie aus sich selbst, entstehen und Sonnenstäubchen ähnlich in ihr schimmern. Dieselbe Mißachtung der Gränzen und Verhältnisse daher, die man an der materiellen Entfaltung seiner Gedanken wahrnimmt, tritt noch störender da hervor, wo es sich um die Wahrheit und den poetischen Eindruck seiner Erfindungen handelt. Jocelyn, diese in Frankreich so geliebte Dichtung, in der die mannichfachsten Blumen der Natur und des menschlichen Gemüths in reichen Kranz geflochten sind, büßt einen Theil seiner Schönheit durch die erwähnten Mängel ein. Würde man seinen "Fall des Engels" nach der Ueppigkeit der Phantasie und der Gewalt über die Sprache, die er beurkundet, abschätzen, man müßte ihn für ein Meisterwerk erklären, allein die Verletzung aller Gesetze des Angemessenen und Möglichen, die es entstellt, hat dieß Epos in der fast einstimmigen Meinung der Richter zu einer durchaus verunglückten Arbeit gemacht. Spätere und daher ruhigere Untersuchung wird die Strenge manches Urtheils mildern, man wird die eingeborne Kraft und großartige Weltansicht des Dichters an vielen Stellen, wo sie bisher zu flüchtige Prüfung oder leidenschaftliche Verblendung übersehen, ohne Schwierigkeit anerkennen; immer aber wird dieses Werk von dem heillosen Einfluß, den die Verwirrung der Zeit, in der er lebte, über Alles, was thunlich oder unausführbar, glaublich oder unglaublich, schicklich oder abstoßend, kühn oder tollkühn sey, auf Alfons v. Lamartine geübt, seinen wenigen Lesern Zeugniß geben, und gänzlicher Vergessenheit nur durch den Ruhm seiner älteren Geschwister entgehen.

(Beschluß folgt.)

Die englische Presse über den Krieg gegen China.

Ob sich die Regierung Großbritanniens aller Folgen des riesenhaften Unternehmens, nicht des Krieges, sondern der Eroberung und Besetzung des chinesischen Reiches bewußt ist? Ob man unter den bestehenden Verhältnissen des indischen Reiches und der Wirren in der Heimath sich stark genug fühlt, und ob man endlich es wünschenswerth findet, die brittische Herrschaft bis zu dem Gestade des östlichen Meeres auszudehnen? Wir haben guten Grund dieß zu bezweifeln. Hatte doch schon im Jahr 1795 das Parlament auf eine feierliche Weise erklärt, "weitaussehende Plane der Eroberung und der Ausdehnung der Herrschaft in Indien seyen durchaus entgegen dem Willen, der Ehre und den Staatsmaximen (Policy) der englischen Nation!" *)*) Es handelt sich aber jetzt nicht

*) Stat. 33. Georg III, c. 52, s. 42.

Versen zu einer völlig schönen Stelle gelangen. So auch verliert unser Dichter, der in vielen Fällen äußerst kurz, äußerst prägnant ist, und nicht selten eine ganzes Reich von Gedanken in einen einzigen Vers, wie den weiten Himmel in des Auges engen Rahmen einschließt, sich oft in eine Redseligkeit ohne Gränzen, die bei dem bestgestimmten Leser nothwendig Ermüdung herbeiführt. Wenn er von den Matadoren der Gegenwart, gleichviel in welchem Fache, sagt:
Gott legt die Hand auf Jeden und wählet Keinen aus,
so hat er in diesem einzigen Satze angedeutet, was nur immer die Epoche auszeichnet, und was nur immer ihr fehlt: Reichthum der Anlagen bei Mangel an Ordnung, Geschick ohne Weihe, Tüchtigkeit, die sich auf Kleines wendet, machtloser Wille, Herrliches zu thun, Fleiß ohne höhere Anschauung, Genialität ohne Ausdauer, Leidenschaft ohne Zügel, Berechnung ohne Gemüth, ein buntes Heer von Kenntnissen geführt von glänzenden Eigenschaften ohne beschränkende Gegensätze, und daher die unnatürliche, tolle Erscheinung vielseitiger Einseitigkeit, überall Streben nach Verbesserung und fortschreitender Sieg über die Natur durch die Wirksamkeit vereinter Kräfte und aufeinanderfolgender Einfälle, überraschende Größe nirgendwo, Werth genug bei Vielen, um unter den Ersten zu stehen, bei keinem so viel, um unbestritten der Erste zu seyn – all die Vorstellungen sind hier in ein einziges kleines Bild gegossen, in dem sie alle, wie die Linien des Gesichts, sich wiederfinden. Auch sich selbst spricht der Dichter, mit vielleicht unbewußter Bescheidenheit, das Urtheil, gestehend durch jenen Ausspruch, daß er so hoch, so vorangestellt unter seinen Zeitgenossen, doch nicht zum Leiter und Souverän der Geister berufen sey.

Aehnliche Verse weisen beinahe alle seine Werke in großer Anzahl auf, allein er stumpft nicht selten ihre Wirkung durch den gereimten Commentar, mit dem er sie begleitet, ab; er sagt in zwei Worten hundert Dinge, und fügt in hundert Worten, was er sagen wollte, bei. Auch ein andere Makel seiner Dichtungen, die häufige Wiederholung desselben Gedankens in kaum verschiedener Form, desselben Bildes für eine kaum geänderte Idee, kann zwar nicht durch eine unmittelbare Einwirkung jener Flüchtigkeit der jugendlichen Studien, wohl aber durch eine Gewohnheit der Hast und Vernachlässigung, wogegen Geduld im Forschen und Lernen das beste Schutzmittel ist, erklärt werden. Lyrischen Naturen muß man die öftere Rückkehr zu den Idolen ihrer Seele verzeihen; Lamartine mag seinen Jehovah so oft besingen, als Raffael die Madonna malte und Petrarca seine Laura vergötterte; wie in den modernen Opern, mag in all seinen Gedichten eine Preghiera vorkommen, allein in den Gesangsweisen sollte sich ein größerer Wechsel bemerkbar machen, denn selbst die ansprechendsten Motive müssen durch die Berührung zu vieler Reminiscenzen ihre Blüthe und Frische verlieren. Der Anblick der gestirnten Nacht stimmt gewiß die Seele zu heiligen Betrachtungen, und kein Buch der Andacht, keine fromme Harmonie, kein geweihter Bau, sey er noch so groß und mächtig, lehret brünstigere Gebete, weckt höhere Gedanken, als die Feuerschrift dieses erhabenen Domes; allein Hr. v. Lamartine mißbraucht den Himmel so gut, wie den Herrn des Himmels. Der lichtbesäete Aether ist gar zu oft die Scene seiner Ergießungen, während doch die Phantasie des ächten Dichters den Tempel so oft, als die Melodie des Gebets zu ändern liebt.

Nicht allein aber auf das sinnliche Maaß und die äußerlichen Erfordernisse seines Styls hat jene Abwesenheit gründlicher Studien gewirkt, auch in der innern Fügung, in den Geweben seiner Fabeln, worüber die bloße Lyrik hinausgeht, ist ihr verderblicher Einfluß sichtbar. Hier hör' ich einen Einwurf, der Erwiederung fordert. Trotz dem, daß er gleichfalls nur wenig Wissen, noch weniger wohl besessen als Lamartine, dem man doch eine vertraute Bekanntschaft mit der Sprache und Poesie Italiens nicht absprechen könne, sey Shakspeare, führt man an, doch einer der größten Dichter nicht nur seines Volks und seiner Zeit, sondern aller Nationen und aller Jahrhunderte geworden. Der Fleischer von Strafford hatte allerdings in seiner Jugend nicht sehr viel Gelegenheit zum Erwerb geregelter Bildung; aber was er vermochte, that er: der Dämon des Lernens waltete in ihm, und seine Muse, die ewig junge Königin der Träume, nützte mit Ehrfurcht den Rath der Wissenschaft, wie den der Erfahrung, wo sie nur immer ihn haben konnte; Lamartine dagegen, für den seine Stellung von Jugend auf, und später die Gunst des Glücks Alles gethan, um ihm das systematische Erlangen ernster Kenntnisse zu erleichtern, ging mit Vorliebe jenen Phänomenen der Seele nach, die weder in einem Reiche der Natur, noch in einem Alter der Geschichte ihre Heimath finden, in der warmen Luft des Geistes, wie aus sich selbst, entstehen und Sonnenstäubchen ähnlich in ihr schimmern. Dieselbe Mißachtung der Gränzen und Verhältnisse daher, die man an der materiellen Entfaltung seiner Gedanken wahrnimmt, tritt noch störender da hervor, wo es sich um die Wahrheit und den poetischen Eindruck seiner Erfindungen handelt. Jocelyn, diese in Frankreich so geliebte Dichtung, in der die mannichfachsten Blumen der Natur und des menschlichen Gemüths in reichen Kranz geflochten sind, büßt einen Theil seiner Schönheit durch die erwähnten Mängel ein. Würde man seinen „Fall des Engels“ nach der Ueppigkeit der Phantasie und der Gewalt über die Sprache, die er beurkundet, abschätzen, man müßte ihn für ein Meisterwerk erklären, allein die Verletzung aller Gesetze des Angemessenen und Möglichen, die es entstellt, hat dieß Epos in der fast einstimmigen Meinung der Richter zu einer durchaus verunglückten Arbeit gemacht. Spätere und daher ruhigere Untersuchung wird die Strenge manches Urtheils mildern, man wird die eingeborne Kraft und großartige Weltansicht des Dichters an vielen Stellen, wo sie bisher zu flüchtige Prüfung oder leidenschaftliche Verblendung übersehen, ohne Schwierigkeit anerkennen; immer aber wird dieses Werk von dem heillosen Einfluß, den die Verwirrung der Zeit, in der er lebte, über Alles, was thunlich oder unausführbar, glaublich oder unglaublich, schicklich oder abstoßend, kühn oder tollkühn sey, auf Alfons v. Lamartine geübt, seinen wenigen Lesern Zeugniß geben, und gänzlicher Vergessenheit nur durch den Ruhm seiner älteren Geschwister entgehen.

(Beschluß folgt.)

Die englische Presse über den Krieg gegen China.

Ob sich die Regierung Großbritanniens aller Folgen des riesenhaften Unternehmens, nicht des Krieges, sondern der Eroberung und Besetzung des chinesischen Reiches bewußt ist? Ob man unter den bestehenden Verhältnissen des indischen Reiches und der Wirren in der Heimath sich stark genug fühlt, und ob man endlich es wünschenswerth findet, die brittische Herrschaft bis zu dem Gestade des östlichen Meeres auszudehnen? Wir haben guten Grund dieß zu bezweifeln. Hatte doch schon im Jahr 1795 das Parlament auf eine feierliche Weise erklärt, „weitaussehende Plane der Eroberung und der Ausdehnung der Herrschaft in Indien seyen durchaus entgegen dem Willen, der Ehre und den Staatsmaximen (Policy) der englischen Nation!“ *)*) Es handelt sich aber jetzt nicht

*) Stat. 33. Georg III, c. 52, s. 42.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div type="jArticle" n="2">
          <p><pb facs="#f0010" n="0714"/>
Versen zu einer völlig schönen Stelle gelangen. So auch verliert unser Dichter, der in vielen Fällen äußerst kurz, äußerst prägnant ist, und nicht selten eine ganzes Reich von Gedanken in einen einzigen Vers, wie den weiten Himmel in des Auges engen Rahmen einschließt, sich oft in eine Redseligkeit ohne Gränzen, die bei dem bestgestimmten Leser nothwendig Ermüdung herbeiführt. Wenn er von den Matadoren der Gegenwart, gleichviel in welchem Fache, sagt:<lb/>
Gott legt die Hand auf Jeden und wählet Keinen aus,<lb/>
so hat er in diesem einzigen Satze angedeutet, was nur immer die Epoche auszeichnet, und was nur immer ihr fehlt: Reichthum der Anlagen bei Mangel an Ordnung, Geschick ohne Weihe, Tüchtigkeit, die sich auf Kleines wendet, machtloser Wille, Herrliches zu thun, Fleiß ohne höhere Anschauung, Genialität ohne Ausdauer, Leidenschaft ohne Zügel, Berechnung ohne Gemüth, ein buntes Heer von Kenntnissen geführt von glänzenden Eigenschaften ohne beschränkende Gegensätze, und daher die unnatürliche, tolle Erscheinung vielseitiger Einseitigkeit, überall Streben nach Verbesserung und fortschreitender Sieg über die Natur durch die Wirksamkeit vereinter Kräfte und aufeinanderfolgender Einfälle, überraschende Größe nirgendwo, Werth genug bei Vielen, um unter den Ersten zu stehen, bei keinem so viel, um unbestritten der Erste zu seyn &#x2013; all die Vorstellungen sind hier in ein einziges kleines Bild gegossen, in dem sie alle, wie die Linien des Gesichts, sich wiederfinden. Auch sich selbst spricht der Dichter, mit vielleicht unbewußter Bescheidenheit, das Urtheil, gestehend durch jenen Ausspruch, daß er so hoch, so vorangestellt unter seinen Zeitgenossen, doch nicht zum Leiter und Souverän der Geister berufen sey.</p><lb/>
          <p>Aehnliche Verse weisen beinahe alle seine Werke in großer Anzahl auf, allein er stumpft nicht selten ihre Wirkung durch den gereimten Commentar, mit dem er sie begleitet, ab; er sagt in zwei Worten hundert Dinge, und fügt in hundert Worten, was er sagen wollte, bei. Auch ein andere Makel seiner Dichtungen, die häufige Wiederholung desselben Gedankens in kaum verschiedener Form, desselben Bildes für eine kaum geänderte Idee, kann zwar nicht durch eine unmittelbare Einwirkung jener Flüchtigkeit der jugendlichen Studien, wohl aber durch eine Gewohnheit der Hast und Vernachlässigung, wogegen Geduld im Forschen und Lernen das beste Schutzmittel ist, erklärt werden. Lyrischen Naturen muß man die öftere Rückkehr zu den Idolen ihrer Seele verzeihen; Lamartine mag seinen Jehovah so oft besingen, als Raffael die Madonna malte und Petrarca seine Laura vergötterte; wie in den modernen Opern, mag in all seinen Gedichten eine Preghiera vorkommen, allein in den Gesangsweisen sollte sich ein größerer Wechsel bemerkbar machen, denn selbst die ansprechendsten Motive müssen durch die Berührung zu vieler Reminiscenzen ihre Blüthe und Frische verlieren. Der Anblick der gestirnten Nacht stimmt gewiß die Seele zu heiligen Betrachtungen, und kein Buch der Andacht, keine fromme Harmonie, kein geweihter Bau, sey er noch so groß und mächtig, lehret brünstigere Gebete, weckt höhere Gedanken, als die Feuerschrift dieses erhabenen Domes; allein Hr. v. Lamartine mißbraucht den Himmel so gut, wie den Herrn des Himmels. Der lichtbesäete Aether ist gar zu oft die Scene seiner Ergießungen, während doch die Phantasie des ächten Dichters den Tempel so oft, als die Melodie des Gebets zu ändern liebt.</p><lb/>
          <p>Nicht allein aber auf das sinnliche Maaß und die äußerlichen Erfordernisse seines Styls hat jene Abwesenheit gründlicher Studien gewirkt, auch in der innern Fügung, in den Geweben seiner Fabeln, worüber die bloße Lyrik hinausgeht, ist ihr verderblicher Einfluß sichtbar. Hier hör' ich einen Einwurf, der Erwiederung fordert. Trotz dem, daß er gleichfalls nur wenig Wissen, noch weniger wohl besessen als Lamartine, dem man doch eine vertraute Bekanntschaft mit der Sprache und Poesie Italiens nicht absprechen könne, sey Shakspeare, führt man an, doch einer der größten Dichter nicht nur seines Volks und seiner Zeit, sondern aller Nationen und aller Jahrhunderte geworden. Der Fleischer von Strafford hatte allerdings in seiner Jugend nicht sehr viel Gelegenheit zum Erwerb geregelter Bildung; aber was er vermochte, that er: der Dämon des Lernens waltete in ihm, und seine Muse, die ewig junge Königin der Träume, nützte mit Ehrfurcht den Rath der Wissenschaft, wie den der Erfahrung, wo sie nur immer ihn haben konnte; Lamartine dagegen, für den seine Stellung von Jugend auf, und später die Gunst des Glücks Alles gethan, um ihm das systematische Erlangen ernster Kenntnisse zu erleichtern, ging mit Vorliebe jenen Phänomenen der Seele nach, die weder in einem Reiche der Natur, noch in einem Alter der Geschichte ihre Heimath finden, in der warmen Luft des Geistes, wie aus sich selbst, entstehen und Sonnenstäubchen ähnlich in ihr schimmern. Dieselbe Mißachtung der Gränzen und Verhältnisse daher, die man an der materiellen Entfaltung seiner Gedanken wahrnimmt, tritt noch störender da hervor, wo es sich um die Wahrheit und den poetischen Eindruck seiner Erfindungen handelt. Jocelyn, diese in Frankreich so geliebte Dichtung, in der die mannichfachsten Blumen der Natur und des menschlichen Gemüths in reichen Kranz geflochten sind, büßt einen Theil seiner Schönheit durch die erwähnten Mängel ein. Würde man seinen &#x201E;Fall des Engels&#x201C; nach der Ueppigkeit der Phantasie und der Gewalt über die Sprache, die er beurkundet, abschätzen, man müßte ihn für ein Meisterwerk erklären, allein die Verletzung aller Gesetze des Angemessenen und Möglichen, die es entstellt, hat dieß Epos in der fast einstimmigen Meinung der Richter zu einer durchaus verunglückten Arbeit gemacht. Spätere und daher ruhigere Untersuchung wird die Strenge manches Urtheils mildern, man wird die eingeborne Kraft und großartige Weltansicht des Dichters an vielen Stellen, wo sie bisher zu flüchtige Prüfung oder leidenschaftliche Verblendung übersehen, ohne Schwierigkeit anerkennen; immer aber wird dieses Werk von dem heillosen Einfluß, den die Verwirrung der Zeit, in der er lebte, über Alles, was thunlich oder unausführbar, glaublich oder unglaublich, schicklich oder abstoßend, kühn oder tollkühn sey, auf Alfons v. Lamartine geübt, seinen wenigen Lesern Zeugniß geben, und gänzlicher Vergessenheit nur durch den Ruhm seiner älteren Geschwister entgehen.</p><lb/>
          <p>(Beschluß folgt.)</p><lb/>
        </div>
      </div>
      <div n="1">
        <head> <hi rendition="#b"><hi rendition="#g">Die englische Presse über den Krieg gegen China</hi>.</hi> </head><lb/>
        <p>Ob sich die Regierung Großbritanniens aller Folgen des riesenhaften Unternehmens, nicht des Krieges, sondern der Eroberung und Besetzung des chinesischen Reiches bewußt ist? Ob man unter den bestehenden Verhältnissen des indischen Reiches und der Wirren in der Heimath sich stark genug fühlt, und ob man endlich es wünschenswerth findet, die brittische Herrschaft bis zu dem Gestade des östlichen Meeres auszudehnen? Wir haben guten Grund dieß zu bezweifeln. Hatte doch schon im Jahr 1795 das Parlament auf eine feierliche Weise erklärt, &#x201E;weitaussehende Plane der Eroberung und der Ausdehnung der Herrschaft in Indien seyen durchaus entgegen dem Willen, der Ehre und den Staatsmaximen (Policy) der englischen Nation!&#x201C; <hi rendition="#sup">*)</hi><note place="foot" n="*)"> Stat. 33. Georg III, c. 52, s. 42.</note> Es handelt sich aber jetzt nicht<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0714/0010] Versen zu einer völlig schönen Stelle gelangen. So auch verliert unser Dichter, der in vielen Fällen äußerst kurz, äußerst prägnant ist, und nicht selten eine ganzes Reich von Gedanken in einen einzigen Vers, wie den weiten Himmel in des Auges engen Rahmen einschließt, sich oft in eine Redseligkeit ohne Gränzen, die bei dem bestgestimmten Leser nothwendig Ermüdung herbeiführt. Wenn er von den Matadoren der Gegenwart, gleichviel in welchem Fache, sagt: Gott legt die Hand auf Jeden und wählet Keinen aus, so hat er in diesem einzigen Satze angedeutet, was nur immer die Epoche auszeichnet, und was nur immer ihr fehlt: Reichthum der Anlagen bei Mangel an Ordnung, Geschick ohne Weihe, Tüchtigkeit, die sich auf Kleines wendet, machtloser Wille, Herrliches zu thun, Fleiß ohne höhere Anschauung, Genialität ohne Ausdauer, Leidenschaft ohne Zügel, Berechnung ohne Gemüth, ein buntes Heer von Kenntnissen geführt von glänzenden Eigenschaften ohne beschränkende Gegensätze, und daher die unnatürliche, tolle Erscheinung vielseitiger Einseitigkeit, überall Streben nach Verbesserung und fortschreitender Sieg über die Natur durch die Wirksamkeit vereinter Kräfte und aufeinanderfolgender Einfälle, überraschende Größe nirgendwo, Werth genug bei Vielen, um unter den Ersten zu stehen, bei keinem so viel, um unbestritten der Erste zu seyn – all die Vorstellungen sind hier in ein einziges kleines Bild gegossen, in dem sie alle, wie die Linien des Gesichts, sich wiederfinden. Auch sich selbst spricht der Dichter, mit vielleicht unbewußter Bescheidenheit, das Urtheil, gestehend durch jenen Ausspruch, daß er so hoch, so vorangestellt unter seinen Zeitgenossen, doch nicht zum Leiter und Souverän der Geister berufen sey. Aehnliche Verse weisen beinahe alle seine Werke in großer Anzahl auf, allein er stumpft nicht selten ihre Wirkung durch den gereimten Commentar, mit dem er sie begleitet, ab; er sagt in zwei Worten hundert Dinge, und fügt in hundert Worten, was er sagen wollte, bei. Auch ein andere Makel seiner Dichtungen, die häufige Wiederholung desselben Gedankens in kaum verschiedener Form, desselben Bildes für eine kaum geänderte Idee, kann zwar nicht durch eine unmittelbare Einwirkung jener Flüchtigkeit der jugendlichen Studien, wohl aber durch eine Gewohnheit der Hast und Vernachlässigung, wogegen Geduld im Forschen und Lernen das beste Schutzmittel ist, erklärt werden. Lyrischen Naturen muß man die öftere Rückkehr zu den Idolen ihrer Seele verzeihen; Lamartine mag seinen Jehovah so oft besingen, als Raffael die Madonna malte und Petrarca seine Laura vergötterte; wie in den modernen Opern, mag in all seinen Gedichten eine Preghiera vorkommen, allein in den Gesangsweisen sollte sich ein größerer Wechsel bemerkbar machen, denn selbst die ansprechendsten Motive müssen durch die Berührung zu vieler Reminiscenzen ihre Blüthe und Frische verlieren. Der Anblick der gestirnten Nacht stimmt gewiß die Seele zu heiligen Betrachtungen, und kein Buch der Andacht, keine fromme Harmonie, kein geweihter Bau, sey er noch so groß und mächtig, lehret brünstigere Gebete, weckt höhere Gedanken, als die Feuerschrift dieses erhabenen Domes; allein Hr. v. Lamartine mißbraucht den Himmel so gut, wie den Herrn des Himmels. Der lichtbesäete Aether ist gar zu oft die Scene seiner Ergießungen, während doch die Phantasie des ächten Dichters den Tempel so oft, als die Melodie des Gebets zu ändern liebt. Nicht allein aber auf das sinnliche Maaß und die äußerlichen Erfordernisse seines Styls hat jene Abwesenheit gründlicher Studien gewirkt, auch in der innern Fügung, in den Geweben seiner Fabeln, worüber die bloße Lyrik hinausgeht, ist ihr verderblicher Einfluß sichtbar. Hier hör' ich einen Einwurf, der Erwiederung fordert. Trotz dem, daß er gleichfalls nur wenig Wissen, noch weniger wohl besessen als Lamartine, dem man doch eine vertraute Bekanntschaft mit der Sprache und Poesie Italiens nicht absprechen könne, sey Shakspeare, führt man an, doch einer der größten Dichter nicht nur seines Volks und seiner Zeit, sondern aller Nationen und aller Jahrhunderte geworden. Der Fleischer von Strafford hatte allerdings in seiner Jugend nicht sehr viel Gelegenheit zum Erwerb geregelter Bildung; aber was er vermochte, that er: der Dämon des Lernens waltete in ihm, und seine Muse, die ewig junge Königin der Träume, nützte mit Ehrfurcht den Rath der Wissenschaft, wie den der Erfahrung, wo sie nur immer ihn haben konnte; Lamartine dagegen, für den seine Stellung von Jugend auf, und später die Gunst des Glücks Alles gethan, um ihm das systematische Erlangen ernster Kenntnisse zu erleichtern, ging mit Vorliebe jenen Phänomenen der Seele nach, die weder in einem Reiche der Natur, noch in einem Alter der Geschichte ihre Heimath finden, in der warmen Luft des Geistes, wie aus sich selbst, entstehen und Sonnenstäubchen ähnlich in ihr schimmern. Dieselbe Mißachtung der Gränzen und Verhältnisse daher, die man an der materiellen Entfaltung seiner Gedanken wahrnimmt, tritt noch störender da hervor, wo es sich um die Wahrheit und den poetischen Eindruck seiner Erfindungen handelt. Jocelyn, diese in Frankreich so geliebte Dichtung, in der die mannichfachsten Blumen der Natur und des menschlichen Gemüths in reichen Kranz geflochten sind, büßt einen Theil seiner Schönheit durch die erwähnten Mängel ein. Würde man seinen „Fall des Engels“ nach der Ueppigkeit der Phantasie und der Gewalt über die Sprache, die er beurkundet, abschätzen, man müßte ihn für ein Meisterwerk erklären, allein die Verletzung aller Gesetze des Angemessenen und Möglichen, die es entstellt, hat dieß Epos in der fast einstimmigen Meinung der Richter zu einer durchaus verunglückten Arbeit gemacht. Spätere und daher ruhigere Untersuchung wird die Strenge manches Urtheils mildern, man wird die eingeborne Kraft und großartige Weltansicht des Dichters an vielen Stellen, wo sie bisher zu flüchtige Prüfung oder leidenschaftliche Verblendung übersehen, ohne Schwierigkeit anerkennen; immer aber wird dieses Werk von dem heillosen Einfluß, den die Verwirrung der Zeit, in der er lebte, über Alles, was thunlich oder unausführbar, glaublich oder unglaublich, schicklich oder abstoßend, kühn oder tollkühn sey, auf Alfons v. Lamartine geübt, seinen wenigen Lesern Zeugniß geben, und gänzlicher Vergessenheit nur durch den Ruhm seiner älteren Geschwister entgehen. (Beschluß folgt.) Die englische Presse über den Krieg gegen China. Ob sich die Regierung Großbritanniens aller Folgen des riesenhaften Unternehmens, nicht des Krieges, sondern der Eroberung und Besetzung des chinesischen Reiches bewußt ist? Ob man unter den bestehenden Verhältnissen des indischen Reiches und der Wirren in der Heimath sich stark genug fühlt, und ob man endlich es wünschenswerth findet, die brittische Herrschaft bis zu dem Gestade des östlichen Meeres auszudehnen? Wir haben guten Grund dieß zu bezweifeln. Hatte doch schon im Jahr 1795 das Parlament auf eine feierliche Weise erklärt, „weitaussehende Plane der Eroberung und der Ausdehnung der Herrschaft in Indien seyen durchaus entgegen dem Willen, der Ehre und den Staatsmaximen (Policy) der englischen Nation!“ *) *) Es handelt sich aber jetzt nicht *) Stat. 33. Georg III, c. 52, s. 42.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Deutsches Textarchiv: Bereitstellung der Texttranskription. (2016-06-28T11:37:15Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition. (2016-06-28T11:37:15Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: gekennzeichnet; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: Lautwert transkribiert; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: gekennzeichnet; Kustoden: gekennzeichnet; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine Angabe; rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: Lautwert transkribiert; Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert; Vollständigkeit: teilweise erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/augsburgerallgemeine_090_18400330
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/augsburgerallgemeine_090_18400330/10
Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung. Nr. 90. Augsburg, 30. März 1840, S. 0714. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/augsburgerallgemeine_090_18400330/10>, abgerufen am 03.10.2024.