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Allgemeine Zeitung. Nr. 93. Augsburg, 2. April 1840.

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die stärksten Arme und die heißesten Köpfe sind für sie, und an ihrer Spitze stehen Leute von hohen Geistesgaben und hinreißender Beredsamkeit - Leute die nichts zu verlieren haben, die seit zehn Jahren von nichts sehr viel geworden sind, und nun Alles werden wollen. Sie sitzen in ihren Cabinetten und berechnen kalten Blutes, was sie zu hoffen und zu befürchten haben; sie ziehen eine Parallele zwischen ihren Kräften, denen der Umwälzung, und den gegenüberstehenden, der Bestechung. Sie prüfen mit geübtem Auge, wie viel sie daran wagen, wie hoch der Gewinn ist den sie zu hoffen haben, wenn Alles gut ausschlägt, und mit welchem Profit sie sich jedenfalls aus der Schlinge ziehen können, wie auch immer die Würfel fallen mögen. Frankreich ist für sie die Börse, dieser schauderhafte Sündentempel, in dem sie täglich im Kleinem versuchen, was sie einst als große Agioteurs an ihrem Vaterlande und seinen 34 Millionen Einwohnern vollbringen wollen. Ist die Berechnung zu Ende, so wird der Schluß gemacht, und der heißt - Temporisiren oder Durchführen - Aufgeben heißt er nie, dazu ist die Berechnung zu systematisch und der Erfolg zu gewiß.

Diesem drohenden Kolosse gegenüber stehen die conservativen Parteien auf sich selbst beschränkt, strenger in der Kammer als im Volke geschieden. Dieser Unterschied kann nicht auffallen, wenn man erwägt, daß seit 1830 in stets steigender Progression sich die Omnipotenz der Deputirtenkammer, als einzige Staatsgewalt, entwickelte. Das constitutionelle Princip der drei Mächte im Staat ist nach und nach auf die Seite geschoben worden: die Pairskammer hat alle Bedeutung verloren, und die verantwortlichen Minister des Königs sind nach den Bedürfnissen des Augenblicks öfters wechselnde Secretäre, meist gehorsame Ausführer seiner höchsten Befehle geworden. So stehen sich denn in Frankreich König und Deputirtenkammer allein und einzig gegenüber. Das größte Geheimniß der Regierungskunst ist die Erlangung einer Majorität in der Deputirtenkammer, damit sie das Budget votirt, und überwiegender Einfluß auf die Electoralcollegien, damit die Getreuen stets wieder gewählt werden. Diese Operationen anzugeben und in allen ihren Verzweigungen zu leiten, versteht Ludwig Philipp meisterhaft; dieser Kunst verdankt er die Majorität in der Kammer, die einzige, wenn gleich bedeutende, die er in Frankreich für sich hat. Denn darüber macht auch Ludwig Philipp sich keine Illusionen, und sein blasses, kummervolles Antlitz bei Eröffnung der jetzigen Kammer zeugte deutlich davon, daß er gar wohl wisse, das Herz des Volkes sey von ihm abgewandt. Wenn Ludwig Philipp nicht sagen will: Apres moi le deluge, muß er mit Angst an die Zukunft seines Hauses denken, denn die Orleanisten, Philippisten, Dynastiker, oder wie sie sich noch nennen werden, bilden das kleinste und schwächste Häuflein unter allen jenen, die zum bevorstehenden Kampf unter ihren Fahnen sich versammeln.

Die Partei, welche der jetzigen Regierung am meisten hilft, ihre eigentliche Stütze, ist die mittlere, begüterte Classe der Bürger von Paris. Sie sind nicht Orleanisten, noch mit dem jetzigen Stande der Dinge zufrieden; doch sind sie Freunde der Ruhe und Ordnung, und werden zur Aufrechterhaltung derselben jeder factischen, positiv etablirten Regierung, welche die Gewalt in Händen hat, ihren Beistand leihen. Sie wollen ihr Hab und Gut, ihre Häuser und Gewerbe, ihre Läden und Manufacturen erhalten. Sie bilden die Nationalgarde, zu deren beschwerlichem Dienst sie sich eben nur aus Liebe zur Ordnung und zum Frieden hergegeben haben. Nun währt es ihnen aber schon zu lange, und Niemand kann läugnen, daß der kriegerische Eifer, der die Legionen der Stadt Paris in den drei Tagen befeuerte, seit zehn Jahren seltsam abgenommen hat. Die geringe Anzahl Nationalgarden, die sich am letztverflossenen 12 Mai versammelten, kann als triftiger Beweis des Angeführten gelten. Dessenungeachtet werden die Bürger von Paris sich in größerer oder geringerer Anzahl jedesmal einfinden, so oft es sich darum handelt, durch die Straßen zu patrouilliren, lärmende Excesse zu unterdrücken, ja wohl auch gegen vereinzelte Aufstände mit bewaffneter Hand Widerstand zu leisten.

Wehe aber der Ruhe und Sicherheit Frankreichs, wenn ihre Erhaltung allein auf der Pariser Nationalgarde beruhen sollte, wenn die lange gegebene und sorgsam gefüllte Mine zum allgemeinen Ausbruch kommt, wenn jene dunkeln Verzweigungen aller Unzufriedenen ans Licht treten und sich die Hand geben werden! Ist der Aufstand allgemein, lodert der Brand von einem Ende Frankreichs zum andern, da zieht sich der Bürger in sein Haus zurück, bringt Familie und Habe in Sicherheit, und überläßt den Kampfplatz der Partei der Bewegung, die, wenn sie im rechten Augenblicke zuschlägt, stets leicht und sicher den Sieg davon tragen wird. Lassen wir nur einen Mann von Geist an die Spitze des Aufstandes treten, der sogleich den gewöhnlichen Verkehr und Umlauf in den Straßen der Hauptstadt wieder herstellt, so ist Paris beruhigt und zufrieden, wie auch immer die neue Regierung heißen möge; die Provinz erhält durch die Mallepost die Decretalien der Metropole, und fügt sich, wie sie sich zu allen Zeiten gefügt hat. Sollte 24 Stunden darauf ein partieller Aufstand sich zu Gunsten der umgestürzten Regierung erheben, so wird die Nationalgarde als Wächterin der bürgerlichen Ordnung die Meuterer einfangen und vor den Gerichtshof stellen.

Dieses Bild ist nicht zu schwarz - es ist die Geschichte der letzten 50 Jahre, die ewig wiederkehren wird, bis Frankreich ausgegohren hat. Der Krater muß ausbrennen: Gott gebe nur, daß die nächsten Felder, Fluren und Saaten nicht mit in den Abgrund gezogen oder durch die Explosion zu tief erschüttert werden. Denn die bleibt nicht aus; ihr Datum steht in den Sternen geschrieben: Ludwig Philipp ist am 6 October 1773 geboren; als höchstes Menschenalter im gewöhnlichen Laufe der Dinge werden 70 bis 80 Jahre angenommen; ich zweifle, daß er eines von beiden erreicht.

Ist er aber abgetreten von der Bühne, dieser meisterhafte Lenker, dann wird die Welt erst sehen, welchen riesengroßen Platz er in ihr eingenommen, und wie unausfüllbar die Lücke ist, die er zurückläßt. Durch Ludwig Philipps Tod berstet bis in seine Grundfesten der Damm, den er mit sicherer Hand der revolutionären Propaganda gesetzt; sie wird unaufhaltsam hervorbrechen, durch beständigen Widerstand geschärft und durch langen Druck wüthender geworden, als je zuvor. Zuerst wird sie sich gegen den wenden, der durch seinen Namen der Erbe ihres Hasses und durch seine neue Stellung ihr natürlicher Feind geworden. Für ihn spricht keiner der Gründe, die seinen Vater auf die höchste Stufe gehoben und auf derselben erhalten haben: weder die Wahl des Volkes, das nicht eingestehen will, daß es sich getäuscht hat, noch eine 15jährige Opposition, die mit ihrem Chef ergraut ist, noch endlich jene tiefe, erfahrungsreiche Kenntniß seines Landes und seiner Leute, die dem Sohn abgehen muß, der nicht durch die herbe und lange Schule des Vaters gegangen. Dem Sohne Ludwig Philipps bleibt nur Ein Weg, um die Krone seines Vaters zu behalten: er muß sein Volk beschäftigen, den Nationalgeist der Franzosen wecken und all dieser beweglichen Masse einen Ablauf eröffnen, daß sie in innerer Gährung sich und ihn nicht verzehre.

Es gibt Eine Frage, die wurzelt fest im Herzen eines jeden Franzosen, und weckt ihn, wäre er auch in lethargischem Schlafe versunken.

die stärksten Arme und die heißesten Köpfe sind für sie, und an ihrer Spitze stehen Leute von hohen Geistesgaben und hinreißender Beredsamkeit – Leute die nichts zu verlieren haben, die seit zehn Jahren von nichts sehr viel geworden sind, und nun Alles werden wollen. Sie sitzen in ihren Cabinetten und berechnen kalten Blutes, was sie zu hoffen und zu befürchten haben; sie ziehen eine Parallele zwischen ihren Kräften, denen der Umwälzung, und den gegenüberstehenden, der Bestechung. Sie prüfen mit geübtem Auge, wie viel sie daran wagen, wie hoch der Gewinn ist den sie zu hoffen haben, wenn Alles gut ausschlägt, und mit welchem Profit sie sich jedenfalls aus der Schlinge ziehen können, wie auch immer die Würfel fallen mögen. Frankreich ist für sie die Börse, dieser schauderhafte Sündentempel, in dem sie täglich im Kleinem versuchen, was sie einst als große Agioteurs an ihrem Vaterlande und seinen 34 Millionen Einwohnern vollbringen wollen. Ist die Berechnung zu Ende, so wird der Schluß gemacht, und der heißt – Temporisiren oder DurchführenAufgeben heißt er nie, dazu ist die Berechnung zu systematisch und der Erfolg zu gewiß.

Diesem drohenden Kolosse gegenüber stehen die conservativen Parteien auf sich selbst beschränkt, strenger in der Kammer als im Volke geschieden. Dieser Unterschied kann nicht auffallen, wenn man erwägt, daß seit 1830 in stets steigender Progression sich die Omnipotenz der Deputirtenkammer, als einzige Staatsgewalt, entwickelte. Das constitutionelle Princip der drei Mächte im Staat ist nach und nach auf die Seite geschoben worden: die Pairskammer hat alle Bedeutung verloren, und die verantwortlichen Minister des Königs sind nach den Bedürfnissen des Augenblicks öfters wechselnde Secretäre, meist gehorsame Ausführer seiner höchsten Befehle geworden. So stehen sich denn in Frankreich König und Deputirtenkammer allein und einzig gegenüber. Das größte Geheimniß der Regierungskunst ist die Erlangung einer Majorität in der Deputirtenkammer, damit sie das Budget votirt, und überwiegender Einfluß auf die Electoralcollegien, damit die Getreuen stets wieder gewählt werden. Diese Operationen anzugeben und in allen ihren Verzweigungen zu leiten, versteht Ludwig Philipp meisterhaft; dieser Kunst verdankt er die Majorität in der Kammer, die einzige, wenn gleich bedeutende, die er in Frankreich für sich hat. Denn darüber macht auch Ludwig Philipp sich keine Illusionen, und sein blasses, kummervolles Antlitz bei Eröffnung der jetzigen Kammer zeugte deutlich davon, daß er gar wohl wisse, das Herz des Volkes sey von ihm abgewandt. Wenn Ludwig Philipp nicht sagen will: Après moi le déluge, muß er mit Angst an die Zukunft seines Hauses denken, denn die Orleanisten, Philippisten, Dynastiker, oder wie sie sich noch nennen werden, bilden das kleinste und schwächste Häuflein unter allen jenen, die zum bevorstehenden Kampf unter ihren Fahnen sich versammeln.

Die Partei, welche der jetzigen Regierung am meisten hilft, ihre eigentliche Stütze, ist die mittlere, begüterte Classe der Bürger von Paris. Sie sind nicht Orleanisten, noch mit dem jetzigen Stande der Dinge zufrieden; doch sind sie Freunde der Ruhe und Ordnung, und werden zur Aufrechterhaltung derselben jeder factischen, positiv etablirten Regierung, welche die Gewalt in Händen hat, ihren Beistand leihen. Sie wollen ihr Hab und Gut, ihre Häuser und Gewerbe, ihre Läden und Manufacturen erhalten. Sie bilden die Nationalgarde, zu deren beschwerlichem Dienst sie sich eben nur aus Liebe zur Ordnung und zum Frieden hergegeben haben. Nun währt es ihnen aber schon zu lange, und Niemand kann läugnen, daß der kriegerische Eifer, der die Legionen der Stadt Paris in den drei Tagen befeuerte, seit zehn Jahren seltsam abgenommen hat. Die geringe Anzahl Nationalgarden, die sich am letztverflossenen 12 Mai versammelten, kann als triftiger Beweis des Angeführten gelten. Dessenungeachtet werden die Bürger von Paris sich in größerer oder geringerer Anzahl jedesmal einfinden, so oft es sich darum handelt, durch die Straßen zu patrouilliren, lärmende Excesse zu unterdrücken, ja wohl auch gegen vereinzelte Aufstände mit bewaffneter Hand Widerstand zu leisten.

Wehe aber der Ruhe und Sicherheit Frankreichs, wenn ihre Erhaltung allein auf der Pariser Nationalgarde beruhen sollte, wenn die lange gegebene und sorgsam gefüllte Mine zum allgemeinen Ausbruch kommt, wenn jene dunkeln Verzweigungen aller Unzufriedenen ans Licht treten und sich die Hand geben werden! Ist der Aufstand allgemein, lodert der Brand von einem Ende Frankreichs zum andern, da zieht sich der Bürger in sein Haus zurück, bringt Familie und Habe in Sicherheit, und überläßt den Kampfplatz der Partei der Bewegung, die, wenn sie im rechten Augenblicke zuschlägt, stets leicht und sicher den Sieg davon tragen wird. Lassen wir nur einen Mann von Geist an die Spitze des Aufstandes treten, der sogleich den gewöhnlichen Verkehr und Umlauf in den Straßen der Hauptstadt wieder herstellt, so ist Paris beruhigt und zufrieden, wie auch immer die neue Regierung heißen möge; die Provinz erhält durch die Mallepost die Decretalien der Metropole, und fügt sich, wie sie sich zu allen Zeiten gefügt hat. Sollte 24 Stunden darauf ein partieller Aufstand sich zu Gunsten der umgestürzten Regierung erheben, so wird die Nationalgarde als Wächterin der bürgerlichen Ordnung die Meuterer einfangen und vor den Gerichtshof stellen.

Dieses Bild ist nicht zu schwarz – es ist die Geschichte der letzten 50 Jahre, die ewig wiederkehren wird, bis Frankreich ausgegohren hat. Der Krater muß ausbrennen: Gott gebe nur, daß die nächsten Felder, Fluren und Saaten nicht mit in den Abgrund gezogen oder durch die Explosion zu tief erschüttert werden. Denn die bleibt nicht aus; ihr Datum steht in den Sternen geschrieben: Ludwig Philipp ist am 6 October 1773 geboren; als höchstes Menschenalter im gewöhnlichen Laufe der Dinge werden 70 bis 80 Jahre angenommen; ich zweifle, daß er eines von beiden erreicht.

Ist er aber abgetreten von der Bühne, dieser meisterhafte Lenker, dann wird die Welt erst sehen, welchen riesengroßen Platz er in ihr eingenommen, und wie unausfüllbar die Lücke ist, die er zurückläßt. Durch Ludwig Philipps Tod berstet bis in seine Grundfesten der Damm, den er mit sicherer Hand der revolutionären Propaganda gesetzt; sie wird unaufhaltsam hervorbrechen, durch beständigen Widerstand geschärft und durch langen Druck wüthender geworden, als je zuvor. Zuerst wird sie sich gegen den wenden, der durch seinen Namen der Erbe ihres Hasses und durch seine neue Stellung ihr natürlicher Feind geworden. Für ihn spricht keiner der Gründe, die seinen Vater auf die höchste Stufe gehoben und auf derselben erhalten haben: weder die Wahl des Volkes, das nicht eingestehen will, daß es sich getäuscht hat, noch eine 15jährige Opposition, die mit ihrem Chef ergraut ist, noch endlich jene tiefe, erfahrungsreiche Kenntniß seines Landes und seiner Leute, die dem Sohn abgehen muß, der nicht durch die herbe und lange Schule des Vaters gegangen. Dem Sohne Ludwig Philipps bleibt nur Ein Weg, um die Krone seines Vaters zu behalten: er muß sein Volk beschäftigen, den Nationalgeist der Franzosen wecken und all dieser beweglichen Masse einen Ablauf eröffnen, daß sie in innerer Gährung sich und ihn nicht verzehre.

Es gibt Eine Frage, die wurzelt fest im Herzen eines jeden Franzosen, und weckt ihn, wäre er auch in lethargischem Schlafe versunken.

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[0741/0013] die stärksten Arme und die heißesten Köpfe sind für sie, und an ihrer Spitze stehen Leute von hohen Geistesgaben und hinreißender Beredsamkeit – Leute die nichts zu verlieren haben, die seit zehn Jahren von nichts sehr viel geworden sind, und nun Alles werden wollen. Sie sitzen in ihren Cabinetten und berechnen kalten Blutes, was sie zu hoffen und zu befürchten haben; sie ziehen eine Parallele zwischen ihren Kräften, denen der Umwälzung, und den gegenüberstehenden, der Bestechung. Sie prüfen mit geübtem Auge, wie viel sie daran wagen, wie hoch der Gewinn ist den sie zu hoffen haben, wenn Alles gut ausschlägt, und mit welchem Profit sie sich jedenfalls aus der Schlinge ziehen können, wie auch immer die Würfel fallen mögen. Frankreich ist für sie die Börse, dieser schauderhafte Sündentempel, in dem sie täglich im Kleinem versuchen, was sie einst als große Agioteurs an ihrem Vaterlande und seinen 34 Millionen Einwohnern vollbringen wollen. Ist die Berechnung zu Ende, so wird der Schluß gemacht, und der heißt – Temporisiren oder Durchführen – Aufgeben heißt er nie, dazu ist die Berechnung zu systematisch und der Erfolg zu gewiß. Diesem drohenden Kolosse gegenüber stehen die conservativen Parteien auf sich selbst beschränkt, strenger in der Kammer als im Volke geschieden. Dieser Unterschied kann nicht auffallen, wenn man erwägt, daß seit 1830 in stets steigender Progression sich die Omnipotenz der Deputirtenkammer, als einzige Staatsgewalt, entwickelte. Das constitutionelle Princip der drei Mächte im Staat ist nach und nach auf die Seite geschoben worden: die Pairskammer hat alle Bedeutung verloren, und die verantwortlichen Minister des Königs sind nach den Bedürfnissen des Augenblicks öfters wechselnde Secretäre, meist gehorsame Ausführer seiner höchsten Befehle geworden. So stehen sich denn in Frankreich König und Deputirtenkammer allein und einzig gegenüber. Das größte Geheimniß der Regierungskunst ist die Erlangung einer Majorität in der Deputirtenkammer, damit sie das Budget votirt, und überwiegender Einfluß auf die Electoralcollegien, damit die Getreuen stets wieder gewählt werden. Diese Operationen anzugeben und in allen ihren Verzweigungen zu leiten, versteht Ludwig Philipp meisterhaft; dieser Kunst verdankt er die Majorität in der Kammer, die einzige, wenn gleich bedeutende, die er in Frankreich für sich hat. Denn darüber macht auch Ludwig Philipp sich keine Illusionen, und sein blasses, kummervolles Antlitz bei Eröffnung der jetzigen Kammer zeugte deutlich davon, daß er gar wohl wisse, das Herz des Volkes sey von ihm abgewandt. Wenn Ludwig Philipp nicht sagen will: Après moi le déluge, muß er mit Angst an die Zukunft seines Hauses denken, denn die Orleanisten, Philippisten, Dynastiker, oder wie sie sich noch nennen werden, bilden das kleinste und schwächste Häuflein unter allen jenen, die zum bevorstehenden Kampf unter ihren Fahnen sich versammeln. Die Partei, welche der jetzigen Regierung am meisten hilft, ihre eigentliche Stütze, ist die mittlere, begüterte Classe der Bürger von Paris. Sie sind nicht Orleanisten, noch mit dem jetzigen Stande der Dinge zufrieden; doch sind sie Freunde der Ruhe und Ordnung, und werden zur Aufrechterhaltung derselben jeder factischen, positiv etablirten Regierung, welche die Gewalt in Händen hat, ihren Beistand leihen. Sie wollen ihr Hab und Gut, ihre Häuser und Gewerbe, ihre Läden und Manufacturen erhalten. Sie bilden die Nationalgarde, zu deren beschwerlichem Dienst sie sich eben nur aus Liebe zur Ordnung und zum Frieden hergegeben haben. Nun währt es ihnen aber schon zu lange, und Niemand kann läugnen, daß der kriegerische Eifer, der die Legionen der Stadt Paris in den drei Tagen befeuerte, seit zehn Jahren seltsam abgenommen hat. Die geringe Anzahl Nationalgarden, die sich am letztverflossenen 12 Mai versammelten, kann als triftiger Beweis des Angeführten gelten. Dessenungeachtet werden die Bürger von Paris sich in größerer oder geringerer Anzahl jedesmal einfinden, so oft es sich darum handelt, durch die Straßen zu patrouilliren, lärmende Excesse zu unterdrücken, ja wohl auch gegen vereinzelte Aufstände mit bewaffneter Hand Widerstand zu leisten. Wehe aber der Ruhe und Sicherheit Frankreichs, wenn ihre Erhaltung allein auf der Pariser Nationalgarde beruhen sollte, wenn die lange gegebene und sorgsam gefüllte Mine zum allgemeinen Ausbruch kommt, wenn jene dunkeln Verzweigungen aller Unzufriedenen ans Licht treten und sich die Hand geben werden! Ist der Aufstand allgemein, lodert der Brand von einem Ende Frankreichs zum andern, da zieht sich der Bürger in sein Haus zurück, bringt Familie und Habe in Sicherheit, und überläßt den Kampfplatz der Partei der Bewegung, die, wenn sie im rechten Augenblicke zuschlägt, stets leicht und sicher den Sieg davon tragen wird. Lassen wir nur einen Mann von Geist an die Spitze des Aufstandes treten, der sogleich den gewöhnlichen Verkehr und Umlauf in den Straßen der Hauptstadt wieder herstellt, so ist Paris beruhigt und zufrieden, wie auch immer die neue Regierung heißen möge; die Provinz erhält durch die Mallepost die Decretalien der Metropole, und fügt sich, wie sie sich zu allen Zeiten gefügt hat. Sollte 24 Stunden darauf ein partieller Aufstand sich zu Gunsten der umgestürzten Regierung erheben, so wird die Nationalgarde als Wächterin der bürgerlichen Ordnung die Meuterer einfangen und vor den Gerichtshof stellen. Dieses Bild ist nicht zu schwarz – es ist die Geschichte der letzten 50 Jahre, die ewig wiederkehren wird, bis Frankreich ausgegohren hat. Der Krater muß ausbrennen: Gott gebe nur, daß die nächsten Felder, Fluren und Saaten nicht mit in den Abgrund gezogen oder durch die Explosion zu tief erschüttert werden. Denn die bleibt nicht aus; ihr Datum steht in den Sternen geschrieben: Ludwig Philipp ist am 6 October 1773 geboren; als höchstes Menschenalter im gewöhnlichen Laufe der Dinge werden 70 bis 80 Jahre angenommen; ich zweifle, daß er eines von beiden erreicht. Ist er aber abgetreten von der Bühne, dieser meisterhafte Lenker, dann wird die Welt erst sehen, welchen riesengroßen Platz er in ihr eingenommen, und wie unausfüllbar die Lücke ist, die er zurückläßt. Durch Ludwig Philipps Tod berstet bis in seine Grundfesten der Damm, den er mit sicherer Hand der revolutionären Propaganda gesetzt; sie wird unaufhaltsam hervorbrechen, durch beständigen Widerstand geschärft und durch langen Druck wüthender geworden, als je zuvor. Zuerst wird sie sich gegen den wenden, der durch seinen Namen der Erbe ihres Hasses und durch seine neue Stellung ihr natürlicher Feind geworden. Für ihn spricht keiner der Gründe, die seinen Vater auf die höchste Stufe gehoben und auf derselben erhalten haben: weder die Wahl des Volkes, das nicht eingestehen will, daß es sich getäuscht hat, noch eine 15jährige Opposition, die mit ihrem Chef ergraut ist, noch endlich jene tiefe, erfahrungsreiche Kenntniß seines Landes und seiner Leute, die dem Sohn abgehen muß, der nicht durch die herbe und lange Schule des Vaters gegangen. Dem Sohne Ludwig Philipps bleibt nur Ein Weg, um die Krone seines Vaters zu behalten: er muß sein Volk beschäftigen, den Nationalgeist der Franzosen wecken und all dieser beweglichen Masse einen Ablauf eröffnen, daß sie in innerer Gährung sich und ihn nicht verzehre. Es gibt Eine Frage, die wurzelt fest im Herzen eines jeden Franzosen, und weckt ihn, wäre er auch in lethargischem Schlafe versunken.

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung. Nr. 93. Augsburg, 2. April 1840, S. 0741. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/augsburgerallgemeine_093_18400402/13>, abgerufen am 25.04.2024.