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Allgemeine Zeitung. Nr. 145. Augsburg, 24. Mai 1840.

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der Verfasser an Fleiß und Belesenheit, an Methode und Geschick vermag.

Oekonomisch zerfällt die Schrift in sechs Abschnitte, die ihrerseits zum größern Theil wieder selbst nur Bruchstücke mit kaum fühlbarem Zusammenhang sind. Bei dieser Einrichtung - eine andere ist nicht wohl denkbar - sind hie und da Wiederholungen oder selbst kleine Widersprüche nicht überall zu vermeiden. Hr. Neumann führt aber den Leser selbst darauf hin und verweist redlich genug ad melius informandum. Vom hochmüthigen Charlatanismus und von der überraschenden, ohne vorgängige Studien wie durch Inspiration plötzlich hereinstürmenden Gelehrsamkeit der neuern Schule wird in Neumanns Buch selbst der strengste Richter keine Spur entdecken.

Ist hier auch nicht Ort und Raum für eine erschöpfende Anzeige, so darf man doch einen Schattenriß der einzelnen Abschnitte hinwerfen. *)*) Der erste, gleichsam die Vorhalle, mit der besondern Aufschrift: "Der Kaukasus und seine Bewohner," gibt das Panorama der Gebirgswelt. Namen und ihre Bedeutung, Gestalt des Bodens, Vegetation, Wassersystem und Volksstämme, letztere nach Sprache, Sitte und Gemüthsart, werden hier nicht phantastisch, sondern aus geprüften Quellen, und so weit man sie kennt, kurz und bündig geschildert, wozu dem Verfasser die Kunde des Armenischen von wesentlichem Nutzen ist.

Der zweite: "Bruchstücke aus der ältern Geschichte der Tscherkessen," gibt in gedrängter Uebersicht das Wenige, was man aus griechischen Geographen, aus Prokopius und den spätern Byzantinern, aus den flüchtigen Notizen der Armenier, Sasaniden, Moslim, Perser und Mongolen bis in die Mitte des 13ten Jahrhunderts erfährt, wo die Minoriten-Brüder, mit dem Evangelium in der Hand, bei den Tscherkessen vorübergingen und auf ihre Fußstapfen hin genuesische und venezianische Handelsleute die erste Brücke zwischen Cirkassien und dem christlichen Occident schlugen.

Im dritten Abschnitt: "Bruchstücke aus der neuern Geschichte der Tscherkessen," gewinnt man an der Hand Interiano's das erstemal eigentlich historischen Boden. Interiano, eine merkwürdige Erscheinung des 15ten Jahrhunderts, hatte etwas vom Geiste der Colombo, Diaz, Gama und Magelhaens, übertrifft sie aber alle durch besondere Anmuth und eigenthümlichen Schmelz seiner Sittengemälde. Wie in unsern Tagen der Engländer Bell, drang damals jener reisende Genueser in das Innere Cirkassiens, aß, trank und verkehrte mit den Eingebornen, wie es scheint, auf hinlänglich vertrautem Fuß, um ein wohlgetroffenes Bild ihres Lebens zu entwerfen. Zugleich zeigt sich hier schon, nach Verdrängung der Italiener aus dem Stromgebiet des Kuban und sämmtlichen Landschaften ums schwarze Meer durch die Osmanli, das eifersüchtige Buhlen der Höfe von Stambul und Isphahan, um das schöne Blut und die reichen Producte der Kaukasier in ihr Rinnsal zu lenken. Leise auftretend, gesellte sich diesen, als dritter Competent, Rußland unter Iwan IV bei, und begann das Spiel, welches bei völliger Vertreibung der Nebenbuhler mit abwechselndem Glücke heute noch fortdauert.

Der vierte Abschnitt: "Rußland und der Kaukasus," bringt das Riesengenie Peters I und seine weitaussehenden Plane auf die Bühne. Kirchliche und politische Hebel, Missionäre, Agenten, Schulen, Häfen, Festungen und bleibende Erwerbungen zu beiden Seiten des Gebirgs durch Peters Nachfolger bis zu den neuesten Friedensverträgen von Turkman-tschai und Adrianopel, bereiten mit gänzlichem Erlöschen alles moslimischen Einflusses den letzten Act kaukasischer Freiheits-Tragödie vor. Hier treffen wir zuerst auf officielle Beschreibung des Gewonnenen, auf annähernde Schätzung des noch Fehlenden, so wie auf die neurussische Staatsdoctrin, welche Vertheidigung uralter und angestammter Freiheit für Aufstand und Usurpation erklärt.

Wichtigster Theil, und gleichsam Kern des Buchs ist der Abschnitt fünf, mit der Aufschrift: "Die Tscherkessen." Die Russen, vorzugsweise das Volk der Ebene, der Geduld, der eisernen Standhaftigkeit und Disciplin, beginnen Mann gegen Mann einen Kampf auf Leben und Tod gegen die schönen, ritterlich heldenmüthigen und für Naturschönheiten begeisterten Räuber im Hochgebirge. Paskjewitsch, der Besieger von Iran und Rum, eröffnet den Reigen. Zehnjährige Stürme auf die unermeßliche, von der Natur selbst zur Abwehr fremden Dranges aufgemauerte Festung blieben ohne Wirkung. Circassien ist noch unbesiegt.

In dieser Periode erwacht erst eigentlich Europa's Theilnahme an dem mit romanhaftem Muth kämpfenden Volk im Kaukasus, und alle öffentlichen und heimlichen Gegner der Russen schöpfen frische Hoffnung, knüpfen Verbindungen an, senden Unterhändler, Abenteurer, Gelehrte, Philologen und Botaniker, Kriegsbedarf, Ueberläufer und guten Rath, um Land und Leute näher zu erforschen, Sitten, Religion und Gebräuche, Zahl, Hülfsmittel, Art und Gemüth zu erkennen. Bequem wäre es freilich, könnte sich das verfeinerte Abendland, ohne eigene Mühe, mit fremdem Muth und Blut die Russen vom Halse schaffen.

Ueber Kriegsereignisse und Politik redet der Verfasser natürlich nur kurz und beinahe oberflächlich, um die ganze Kraft für Schilderung des Volkswesens im weitesten Sinne aufzusparen. Hier ist nichts übersehen, und man erinnert sich auch nicht, irgendwo über einen einzelnen Gegenstand der Völkerkunde eine solche Masse kernhafter Notizen, auf Einen Punkt zusammengedrängt, gelesen zu haben. Aus dem in hundert Schriften zertragenen und verschwemmten Material wird mit gelehrter und intelligenter Hand ein schöner Strauß gebunden.

Pallentes violas et summa papavera carpens,
Narcissum, et florem jungit bene olentis anethi.

Wie fruchtbringend für Untersuchungen dieser Art geschickte Benützung linguistischer Studien sey, hat der Verfasser unter andern hauptsächlich in Deutung der alten einheimischen Volksnamen Zichen und Tscherkessen bewiesen. Der Name des Volks Zychen oder Zichen und Tscherkessen komme nicht aus dem Persischen, und bedeute nicht, wie man sonderbar genug vermuthete, einen Räuber, sondern er sey einheimischen Ursprungs und heiße, wie die meisten ursprünglich in der Heimath selbst entstandenen Namen der Völker und Klane, Menschen,Leute. Mensch heißt im Tscherkessischen Zichu oder Dsich, und nach Sjögrens Schreibart selbst Dtsuch. Hängt man noch den Artikel r sammt der Pluralendung sche an, so habe man Dsichursche. Der Name Zychoi (Zukhoi) bei Griechen und Byzantinern sey demnach bloß aus dem griechischen Plural des tscherkessischen Worts Dsich (Mensch) entstanden; so wie andrerseits die moderne Benennung Zarkase oder Tscherkesse ebenfalls aus demselben tscherkessischen Worte Zich oder Dsichursche hervorgegangen sey.

Zur Bekräftigung dieser natur- und sprachgemäßen Erklärung fügt man hinzu, daß sich der tscherkessische Appellativname

*) Die Rüge kleiner Uebersehen, z. B die irrig aus dem italienischen Original ins Deutsche übertragene Schreibform Eschisumuni statt Eski-Sumuni, ist gleichfalls den brittischen Blättern zu überlassen.

der Verfasser an Fleiß und Belesenheit, an Methode und Geschick vermag.

Oekonomisch zerfällt die Schrift in sechs Abschnitte, die ihrerseits zum größern Theil wieder selbst nur Bruchstücke mit kaum fühlbarem Zusammenhang sind. Bei dieser Einrichtung – eine andere ist nicht wohl denkbar – sind hie und da Wiederholungen oder selbst kleine Widersprüche nicht überall zu vermeiden. Hr. Neumann führt aber den Leser selbst darauf hin und verweist redlich genug ad melius informandum. Vom hochmüthigen Charlatanismus und von der überraschenden, ohne vorgängige Studien wie durch Inspiration plötzlich hereinstürmenden Gelehrsamkeit der neuern Schule wird in Neumanns Buch selbst der strengste Richter keine Spur entdecken.

Ist hier auch nicht Ort und Raum für eine erschöpfende Anzeige, so darf man doch einen Schattenriß der einzelnen Abschnitte hinwerfen. *)*) Der erste, gleichsam die Vorhalle, mit der besondern Aufschrift: „Der Kaukasus und seine Bewohner,“ gibt das Panorama der Gebirgswelt. Namen und ihre Bedeutung, Gestalt des Bodens, Vegetation, Wassersystem und Volksstämme, letztere nach Sprache, Sitte und Gemüthsart, werden hier nicht phantastisch, sondern aus geprüften Quellen, und so weit man sie kennt, kurz und bündig geschildert, wozu dem Verfasser die Kunde des Armenischen von wesentlichem Nutzen ist.

Der zweite: „Bruchstücke aus der ältern Geschichte der Tscherkessen,“ gibt in gedrängter Uebersicht das Wenige, was man aus griechischen Geographen, aus Prokopius und den spätern Byzantinern, aus den flüchtigen Notizen der Armenier, Sasaniden, Moslim, Perser und Mongolen bis in die Mitte des 13ten Jahrhunderts erfährt, wo die Minoriten-Brüder, mit dem Evangelium in der Hand, bei den Tscherkessen vorübergingen und auf ihre Fußstapfen hin genuesische und venezianische Handelsleute die erste Brücke zwischen Cirkassien und dem christlichen Occident schlugen.

Im dritten Abschnitt: „Bruchstücke aus der neuern Geschichte der Tscherkessen,“ gewinnt man an der Hand Interiano's das erstemal eigentlich historischen Boden. Interiano, eine merkwürdige Erscheinung des 15ten Jahrhunderts, hatte etwas vom Geiste der Colombo, Diaz, Gama und Magelhaens, übertrifft sie aber alle durch besondere Anmuth und eigenthümlichen Schmelz seiner Sittengemälde. Wie in unsern Tagen der Engländer Bell, drang damals jener reisende Genueser in das Innere Cirkassiens, aß, trank und verkehrte mit den Eingebornen, wie es scheint, auf hinlänglich vertrautem Fuß, um ein wohlgetroffenes Bild ihres Lebens zu entwerfen. Zugleich zeigt sich hier schon, nach Verdrängung der Italiener aus dem Stromgebiet des Kuban und sämmtlichen Landschaften ums schwarze Meer durch die Osmanli, das eifersüchtige Buhlen der Höfe von Stambul und Isphahan, um das schöne Blut und die reichen Producte der Kaukasier in ihr Rinnsal zu lenken. Leise auftretend, gesellte sich diesen, als dritter Competent, Rußland unter Iwan IV bei, und begann das Spiel, welches bei völliger Vertreibung der Nebenbuhler mit abwechselndem Glücke heute noch fortdauert.

Der vierte Abschnitt: „Rußland und der Kaukasus,“ bringt das Riesengenie Peters I und seine weitaussehenden Plane auf die Bühne. Kirchliche und politische Hebel, Missionäre, Agenten, Schulen, Häfen, Festungen und bleibende Erwerbungen zu beiden Seiten des Gebirgs durch Peters Nachfolger bis zu den neuesten Friedensverträgen von Turkman-tschai und Adrianopel, bereiten mit gänzlichem Erlöschen alles moslimischen Einflusses den letzten Act kaukasischer Freiheits-Tragödie vor. Hier treffen wir zuerst auf officielle Beschreibung des Gewonnenen, auf annähernde Schätzung des noch Fehlenden, so wie auf die neurussische Staatsdoctrin, welche Vertheidigung uralter und angestammter Freiheit für Aufstand und Usurpation erklärt.

Wichtigster Theil, und gleichsam Kern des Buchs ist der Abschnitt fünf, mit der Aufschrift: „Die Tscherkessen.“ Die Russen, vorzugsweise das Volk der Ebene, der Geduld, der eisernen Standhaftigkeit und Disciplin, beginnen Mann gegen Mann einen Kampf auf Leben und Tod gegen die schönen, ritterlich heldenmüthigen und für Naturschönheiten begeisterten Räuber im Hochgebirge. Paskjewitsch, der Besieger von Iran und Rum, eröffnet den Reigen. Zehnjährige Stürme auf die unermeßliche, von der Natur selbst zur Abwehr fremden Dranges aufgemauerte Festung blieben ohne Wirkung. Circassien ist noch unbesiegt.

In dieser Periode erwacht erst eigentlich Europa's Theilnahme an dem mit romanhaftem Muth kämpfenden Volk im Kaukasus, und alle öffentlichen und heimlichen Gegner der Russen schöpfen frische Hoffnung, knüpfen Verbindungen an, senden Unterhändler, Abenteurer, Gelehrte, Philologen und Botaniker, Kriegsbedarf, Ueberläufer und guten Rath, um Land und Leute näher zu erforschen, Sitten, Religion und Gebräuche, Zahl, Hülfsmittel, Art und Gemüth zu erkennen. Bequem wäre es freilich, könnte sich das verfeinerte Abendland, ohne eigene Mühe, mit fremdem Muth und Blut die Russen vom Halse schaffen.

Ueber Kriegsereignisse und Politik redet der Verfasser natürlich nur kurz und beinahe oberflächlich, um die ganze Kraft für Schilderung des Volkswesens im weitesten Sinne aufzusparen. Hier ist nichts übersehen, und man erinnert sich auch nicht, irgendwo über einen einzelnen Gegenstand der Völkerkunde eine solche Masse kernhafter Notizen, auf Einen Punkt zusammengedrängt, gelesen zu haben. Aus dem in hundert Schriften zertragenen und verschwemmten Material wird mit gelehrter und intelligenter Hand ein schöner Strauß gebunden.

Pallentes violas et summa papavera carpens,
Narcissum, et florem jungit bene olentis anethi.

Wie fruchtbringend für Untersuchungen dieser Art geschickte Benützung linguistischer Studien sey, hat der Verfasser unter andern hauptsächlich in Deutung der alten einheimischen Volksnamen Zichen und Tscherkessen bewiesen. Der Name des Volks Zychen oder Zichen und Tscherkessen komme nicht aus dem Persischen, und bedeute nicht, wie man sonderbar genug vermuthete, einen Räuber, sondern er sey einheimischen Ursprungs und heiße, wie die meisten ursprünglich in der Heimath selbst entstandenen Namen der Völker und Klane, Menschen,Leute. Mensch heißt im Tscherkessischen Zichu oder Dsich, und nach Sjögrens Schreibart selbst Dtsuch. Hängt man noch den Artikel r sammt der Pluralendung sche an, so habe man Dsichursche. Der Name Zychoi (Ζύχοι) bei Griechen und Byzantinern sey demnach bloß aus dem griechischen Plural des tscherkessischen Worts Dsich (Mensch) entstanden; so wie andrerseits die moderne Benennung Zarkase oder Tscherkesse ebenfalls aus demselben tscherkessischen Worte Zich oder Dsichursche hervorgegangen sey.

Zur Bekräftigung dieser natur- und sprachgemäßen Erklärung fügt man hinzu, daß sich der tscherkessische Appellativname

*) Die Rüge kleiner Uebersehen, z. B die irrig aus dem italienischen Original ins Deutsche übertragene Schreibform Eschisumuni statt Eski-Sumuni, ist gleichfalls den brittischen Blättern zu überlassen.
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[1154/0010] der Verfasser an Fleiß und Belesenheit, an Methode und Geschick vermag. Oekonomisch zerfällt die Schrift in sechs Abschnitte, die ihrerseits zum größern Theil wieder selbst nur Bruchstücke mit kaum fühlbarem Zusammenhang sind. Bei dieser Einrichtung – eine andere ist nicht wohl denkbar – sind hie und da Wiederholungen oder selbst kleine Widersprüche nicht überall zu vermeiden. Hr. Neumann führt aber den Leser selbst darauf hin und verweist redlich genug ad melius informandum. Vom hochmüthigen Charlatanismus und von der überraschenden, ohne vorgängige Studien wie durch Inspiration plötzlich hereinstürmenden Gelehrsamkeit der neuern Schule wird in Neumanns Buch selbst der strengste Richter keine Spur entdecken. Ist hier auch nicht Ort und Raum für eine erschöpfende Anzeige, so darf man doch einen Schattenriß der einzelnen Abschnitte hinwerfen. *) *) Der erste, gleichsam die Vorhalle, mit der besondern Aufschrift: „Der Kaukasus und seine Bewohner,“ gibt das Panorama der Gebirgswelt. Namen und ihre Bedeutung, Gestalt des Bodens, Vegetation, Wassersystem und Volksstämme, letztere nach Sprache, Sitte und Gemüthsart, werden hier nicht phantastisch, sondern aus geprüften Quellen, und so weit man sie kennt, kurz und bündig geschildert, wozu dem Verfasser die Kunde des Armenischen von wesentlichem Nutzen ist. Der zweite: „Bruchstücke aus der ältern Geschichte der Tscherkessen,“ gibt in gedrängter Uebersicht das Wenige, was man aus griechischen Geographen, aus Prokopius und den spätern Byzantinern, aus den flüchtigen Notizen der Armenier, Sasaniden, Moslim, Perser und Mongolen bis in die Mitte des 13ten Jahrhunderts erfährt, wo die Minoriten-Brüder, mit dem Evangelium in der Hand, bei den Tscherkessen vorübergingen und auf ihre Fußstapfen hin genuesische und venezianische Handelsleute die erste Brücke zwischen Cirkassien und dem christlichen Occident schlugen. Im dritten Abschnitt: „Bruchstücke aus der neuern Geschichte der Tscherkessen,“ gewinnt man an der Hand Interiano's das erstemal eigentlich historischen Boden. Interiano, eine merkwürdige Erscheinung des 15ten Jahrhunderts, hatte etwas vom Geiste der Colombo, Diaz, Gama und Magelhaens, übertrifft sie aber alle durch besondere Anmuth und eigenthümlichen Schmelz seiner Sittengemälde. Wie in unsern Tagen der Engländer Bell, drang damals jener reisende Genueser in das Innere Cirkassiens, aß, trank und verkehrte mit den Eingebornen, wie es scheint, auf hinlänglich vertrautem Fuß, um ein wohlgetroffenes Bild ihres Lebens zu entwerfen. Zugleich zeigt sich hier schon, nach Verdrängung der Italiener aus dem Stromgebiet des Kuban und sämmtlichen Landschaften ums schwarze Meer durch die Osmanli, das eifersüchtige Buhlen der Höfe von Stambul und Isphahan, um das schöne Blut und die reichen Producte der Kaukasier in ihr Rinnsal zu lenken. Leise auftretend, gesellte sich diesen, als dritter Competent, Rußland unter Iwan IV bei, und begann das Spiel, welches bei völliger Vertreibung der Nebenbuhler mit abwechselndem Glücke heute noch fortdauert. Der vierte Abschnitt: „Rußland und der Kaukasus,“ bringt das Riesengenie Peters I und seine weitaussehenden Plane auf die Bühne. Kirchliche und politische Hebel, Missionäre, Agenten, Schulen, Häfen, Festungen und bleibende Erwerbungen zu beiden Seiten des Gebirgs durch Peters Nachfolger bis zu den neuesten Friedensverträgen von Turkman-tschai und Adrianopel, bereiten mit gänzlichem Erlöschen alles moslimischen Einflusses den letzten Act kaukasischer Freiheits-Tragödie vor. Hier treffen wir zuerst auf officielle Beschreibung des Gewonnenen, auf annähernde Schätzung des noch Fehlenden, so wie auf die neurussische Staatsdoctrin, welche Vertheidigung uralter und angestammter Freiheit für Aufstand und Usurpation erklärt. Wichtigster Theil, und gleichsam Kern des Buchs ist der Abschnitt fünf, mit der Aufschrift: „Die Tscherkessen.“ Die Russen, vorzugsweise das Volk der Ebene, der Geduld, der eisernen Standhaftigkeit und Disciplin, beginnen Mann gegen Mann einen Kampf auf Leben und Tod gegen die schönen, ritterlich heldenmüthigen und für Naturschönheiten begeisterten Räuber im Hochgebirge. Paskjewitsch, der Besieger von Iran und Rum, eröffnet den Reigen. Zehnjährige Stürme auf die unermeßliche, von der Natur selbst zur Abwehr fremden Dranges aufgemauerte Festung blieben ohne Wirkung. Circassien ist noch unbesiegt. In dieser Periode erwacht erst eigentlich Europa's Theilnahme an dem mit romanhaftem Muth kämpfenden Volk im Kaukasus, und alle öffentlichen und heimlichen Gegner der Russen schöpfen frische Hoffnung, knüpfen Verbindungen an, senden Unterhändler, Abenteurer, Gelehrte, Philologen und Botaniker, Kriegsbedarf, Ueberläufer und guten Rath, um Land und Leute näher zu erforschen, Sitten, Religion und Gebräuche, Zahl, Hülfsmittel, Art und Gemüth zu erkennen. Bequem wäre es freilich, könnte sich das verfeinerte Abendland, ohne eigene Mühe, mit fremdem Muth und Blut die Russen vom Halse schaffen. Ueber Kriegsereignisse und Politik redet der Verfasser natürlich nur kurz und beinahe oberflächlich, um die ganze Kraft für Schilderung des Volkswesens im weitesten Sinne aufzusparen. Hier ist nichts übersehen, und man erinnert sich auch nicht, irgendwo über einen einzelnen Gegenstand der Völkerkunde eine solche Masse kernhafter Notizen, auf Einen Punkt zusammengedrängt, gelesen zu haben. Aus dem in hundert Schriften zertragenen und verschwemmten Material wird mit gelehrter und intelligenter Hand ein schöner Strauß gebunden. Pallentes violas et summa papavera carpens, Narcissum, et florem jungit bene olentis anethi. Wie fruchtbringend für Untersuchungen dieser Art geschickte Benützung linguistischer Studien sey, hat der Verfasser unter andern hauptsächlich in Deutung der alten einheimischen Volksnamen Zichen und Tscherkessen bewiesen. Der Name des Volks Zychen oder Zichen und Tscherkessen komme nicht aus dem Persischen, und bedeute nicht, wie man sonderbar genug vermuthete, einen Räuber, sondern er sey einheimischen Ursprungs und heiße, wie die meisten ursprünglich in der Heimath selbst entstandenen Namen der Völker und Klane, Menschen,Leute. Mensch heißt im Tscherkessischen Zichu oder Dsich, und nach Sjögrens Schreibart selbst Dtsuch. Hängt man noch den Artikel r sammt der Pluralendung sche an, so habe man Dsichursche. Der Name Zychoi (Ζύχοι) bei Griechen und Byzantinern sey demnach bloß aus dem griechischen Plural des tscherkessischen Worts Dsich (Mensch) entstanden; so wie andrerseits die moderne Benennung Zarkase oder Tscherkesse ebenfalls aus demselben tscherkessischen Worte Zich oder Dsichursche hervorgegangen sey. Zur Bekräftigung dieser natur- und sprachgemäßen Erklärung fügt man hinzu, daß sich der tscherkessische Appellativname *) Die Rüge kleiner Uebersehen, z. 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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung. Nr. 145. Augsburg, 24. Mai 1840, S. 1154. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/augsburgerallgemeine_145_18400524/10>, abgerufen am 18.04.2024.