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Allgemeine Zeitung. Nr. 145. Augsburg, 24. Mai 1840.

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stand, war das deutsche Volksthum von Jahn. Hierin wehte der feinste Aether des Volksgeistes, die tiefste Verständniß des Deutschthums, die allergeistreichste Vaterlandsliebe. So meinte man. Wer den Geist seines Volks verstehen lernen, wer Vaterlandsliebe sich aneignen wollte, der mußte das Volksthum vom alten Jahn lesen. In jener Zeit hat gewiß auch nicht Einer von uns gewagt, daran zu zweifeln, daß das Volksthum die tiefste Fundgrube für das Verständniß des deutschen Geistes, und daß Jahn der personificirte Urgeist unseres Volks sey. Wenn ich daran zurückdenke, so kann ich mich eines Lächelns nicht enthalten. Was die Jugend doch in ihrer Ehrlichkeit sich selbst vorlügt! in welchen baaren Täuschungen und Einbildungen sie doch lebt! Kein Buch von allen diesen ist gewiß weniger in unsere Seele gedrungen, als eben dieses; keines hat Geist und Gemüth weniger genährt, als dieses. Keiner hatte ein wirkliches, wahres Verhältniß zu ihm, und doch hat gewiß nicht Einer diese Bemerkung zu machen gewagt.

"Jahns Buch imponirte uns durch seine Seltsamkeit und Paradoxen. Die Idee, daß auch in dem Kleinsten, auch im Aeußerlichsten der Geist des Volks sich abdrücke, diese Idee schien uns allen höchst geistreich und plausibel. Wenn Jahn bei seiner Schilderung des deutschen Volksgeists von den hölzernen Wegweisern an den Landstraßen, von dem Gackelhahn in der Fibel, von tausend Alltäglichkeiten unseres gewöhnlichen Lebens sprach, und diesem eine gewisse Beziehung zu unserer Nationalität gab, so überraschte uns das, und wir ahneten das tiefste Gemüth, das innerste Verständniß dahinter.

"Was für eine Kluft liegt doch zwischen jener Bildungsperiode und zwischen unserm jetzigen Standpunkt! Man kann doch daran mit einer gewissen Befriedigung erkennen, daß man fortgeschritten ist. Männer, an denen der leiseste Zweifel früher ein geistiger Hochverrath gewesen, faßt man jetzt ruhig ins Auge, und wagt es, ihnen etwas näher zu treten, um sie zu beschauen. Unzählige Worte und Phrasen, bei denen man sich gar nichts zu denken wagte, aus Furcht sie zu profaniren, haben erst ihre wahre und schöne Bedeutung gewonnen. Man weiß, was man hat und was man genießt, und lügt sich keinen Besitz und keinen Genuß mehr vor, der einem doch nicht zu Gute kommt. Viele Leute jammern freilich über den Verlust ihrer sogenannten Ideale; ich begreife nicht, wie man über den Verlust eines bloßen Phantoms, über den Verlust einer wesenlosen Einbildung, einer Selbstlüge sich grämen kann. Die geschickteste Phantasie kann uns doch nichts Besseres vorgaukeln, als die Wirklichkeit.

"Wir haben allerdings manche von unsern Idealen verloren, aber wir haben dafür auch andere wiedergewonnen. Was Arndt anbetrifft, so gestehe ich, daß meine Verehrung für ihn mit der Zeit nur noch gewachsen ist, und ich weiß jetzt auch warum. Den alten Jahn aber, als Sinnbild unserer deutschen Nationalität, habe ich verloren; ich bin an wirklicher Vaterlandsliebe wohl nicht ärmer geworden, wenn ich auch die Jahn'sche aufgegeben habe; wenn mich auch das Jahn'sche Volksthum nicht mehr anspricht, so weiß ich doch noch den Kern und das Wesen der Deutschen zu verehren. Jahn faßt das Volksthum ganz äußerlich; er unterscheidet nicht zwischen dem Schönen und Edeln im Volke, und zwischen dem Schlechten und Gemeinen, nicht zwischen dem Bedeutenden und Unbedeutenden. Jahns Vaterlandsliebe ist Liebhaberei, nicht Liebe. Er liebt nicht das eigentlich Deutsche, sondern das Nichtfranzösische, das Nichtenglische. An der gemeinsten Pöbelredensart, wie der niedrigsten Sitte erfreut er sich zuletzt eben so wie an einem Goethe'schen Liede, wenn es nur eigenthümlich ist und sich von Fremdvölkern unterscheidet. Jahn schätzt die deutsche Spitzbüberei, die deutsche Grobheit und Rohheit, die deutsche Bosheit eben so hoch, wie die deutsche Redlichkeit, die deutsche Bildung, den deutschen Edelmuth. Das ist nicht die rechte Vaterlandsliebe. Wer wollte läugnen, daß man sich auch an alle die kleinen unzähligen Aeußerlichkeiten gewöhnt, aus denen unser tägliches Leben besteht? Auch diese mögen eine Ingredienz der Vaterlandsliebe seyn. Aber sie sind ganz unmittelbar; zu Ideen lassen sie sich nicht erheben, sie lassen sich nicht anpreisen. Wenn ich nach langer Abwesenheit aus Deutschland zuerst einmal wieder einen deutschen Fluch aus dem Munde eines deutschen Postillons höre, so kann mich das vielleicht erfreuen. Aber einen Engländer lieb gewinnen, ihm Freundschaft auf Tod und Leben zu schwören, weil er, nachdem ihm Jahn absichtlich auf den Fuß getreten, statt eines englischen einen deutschen Fluch ausstößt - wie dieses wörtlich im vorliegenden Buche Jahn von sich erzählt - das ist eine Lächerlichkeit, eine Entweihung wirklicher Vaterlandsliebe. Unser Volksthum ist bei unsern großen Männern, in unsern Anlagen, in unserm Streben nach dem Höheren, nicht in unsern Postillons, Eckenstehern oder gar Spitzbuben.

"Der alte Jahn war zu seiner Zeit recht gut; zur Zeit der französischen Herrschaft mochte ein unbedingter Haß bis ins Aeußerliche gegen alles, was fremd war, namentlich zur Aufregung der untern Masse recht am Platze seyn; es mochte gut seyn, daß zur Wahrung unserer Nationalität auch die Gemeinschaft in Nebendingen mit den Franzosen abgelegt würde. Wenn aber Jahn noch heutzutage in Wuth geräth über ein französisches Wort aus deutschem Munde, so ist das wieder eine Lächerlichkeit, ein Hängenbleiben am Aeußern, ein Verkörpertseyn in eine gewisse Manier, die auf uns, wie jede stehengebliebene Bildung und daraus erwachsene Unwahrheit einer tüchtigen Natur, einen peinlichen Eindruck macht.

"Eine gewisse Pietät, und der Wunsch, nicht mißverstanden zu werden, drängt uns aber, auch die großen früheren Verdienste Jahns, die jetzt noch fortwirken, hier anzudeuten. Zuerst hat sich derselbe große Verdienste um die deutsche Sprache erworben. Er ist Meister in treffenden Wortbildungen. Sind viele auch gekünstelt, so sind doch manche so wahr und entsprechen so ganz unserm Bedürfniß, daß sie sich auf der Stelle allgemein eingebürgert, sobald sie aus Jahns Munde gingen. Wir erinnern nur an das Wort "Volksthum", von dem unsere Leser vielleicht nicht wissen, daß es erst seit dem Jahr 1809 in unserer Sprache existirt; jetzt könnten wir es gar nicht mehr entbehren.

"Jahns Verdienst als Turnlehrer ist ebenfalls höchst bedeutend. Die Idee, durch das Turnen ein ganz neues Geschlecht an Körper und Geist in seinem Sinne zu schaffen, ist eine eben so kolossale, als willkürliche und gewaltsame. Was wollte daraus werden, wenn wir Deutschen lauter Jahns würden? Wahrlich keine angenehme Gesellschaft. Aber die Idee, daß die körperlichen Uebungen der Jugend auch mit einem gewissen Geiste durchdrungen werden müssen, daß auch auf dem Turnplatz eine frische Gesinnung, ein geistiges Streben, Poesie und Jugendlust herrschen müsse, ist eine durchaus wahre und fruchtbare. Der Turngesang, die Turnfahrten, das frische, fröhliche Wander- und Sängerleben der deutschen Jugend hat der alte Jahn mächtig befördert. Schade, daß es von mehreren Seiten später systematisch unterdrückt ward!"

stand, war das deutsche Volksthum von Jahn. Hierin wehte der feinste Aether des Volksgeistes, die tiefste Verständniß des Deutschthums, die allergeistreichste Vaterlandsliebe. So meinte man. Wer den Geist seines Volks verstehen lernen, wer Vaterlandsliebe sich aneignen wollte, der mußte das Volksthum vom alten Jahn lesen. In jener Zeit hat gewiß auch nicht Einer von uns gewagt, daran zu zweifeln, daß das Volksthum die tiefste Fundgrube für das Verständniß des deutschen Geistes, und daß Jahn der personificirte Urgeist unseres Volks sey. Wenn ich daran zurückdenke, so kann ich mich eines Lächelns nicht enthalten. Was die Jugend doch in ihrer Ehrlichkeit sich selbst vorlügt! in welchen baaren Täuschungen und Einbildungen sie doch lebt! Kein Buch von allen diesen ist gewiß weniger in unsere Seele gedrungen, als eben dieses; keines hat Geist und Gemüth weniger genährt, als dieses. Keiner hatte ein wirkliches, wahres Verhältniß zu ihm, und doch hat gewiß nicht Einer diese Bemerkung zu machen gewagt.

„Jahns Buch imponirte uns durch seine Seltsamkeit und Paradoxen. Die Idee, daß auch in dem Kleinsten, auch im Aeußerlichsten der Geist des Volks sich abdrücke, diese Idee schien uns allen höchst geistreich und plausibel. Wenn Jahn bei seiner Schilderung des deutschen Volksgeists von den hölzernen Wegweisern an den Landstraßen, von dem Gackelhahn in der Fibel, von tausend Alltäglichkeiten unseres gewöhnlichen Lebens sprach, und diesem eine gewisse Beziehung zu unserer Nationalität gab, so überraschte uns das, und wir ahneten das tiefste Gemüth, das innerste Verständniß dahinter.

„Was für eine Kluft liegt doch zwischen jener Bildungsperiode und zwischen unserm jetzigen Standpunkt! Man kann doch daran mit einer gewissen Befriedigung erkennen, daß man fortgeschritten ist. Männer, an denen der leiseste Zweifel früher ein geistiger Hochverrath gewesen, faßt man jetzt ruhig ins Auge, und wagt es, ihnen etwas näher zu treten, um sie zu beschauen. Unzählige Worte und Phrasen, bei denen man sich gar nichts zu denken wagte, aus Furcht sie zu profaniren, haben erst ihre wahre und schöne Bedeutung gewonnen. Man weiß, was man hat und was man genießt, und lügt sich keinen Besitz und keinen Genuß mehr vor, der einem doch nicht zu Gute kommt. Viele Leute jammern freilich über den Verlust ihrer sogenannten Ideale; ich begreife nicht, wie man über den Verlust eines bloßen Phantoms, über den Verlust einer wesenlosen Einbildung, einer Selbstlüge sich grämen kann. Die geschickteste Phantasie kann uns doch nichts Besseres vorgaukeln, als die Wirklichkeit.

„Wir haben allerdings manche von unsern Idealen verloren, aber wir haben dafür auch andere wiedergewonnen. Was Arndt anbetrifft, so gestehe ich, daß meine Verehrung für ihn mit der Zeit nur noch gewachsen ist, und ich weiß jetzt auch warum. Den alten Jahn aber, als Sinnbild unserer deutschen Nationalität, habe ich verloren; ich bin an wirklicher Vaterlandsliebe wohl nicht ärmer geworden, wenn ich auch die Jahn'sche aufgegeben habe; wenn mich auch das Jahn'sche Volksthum nicht mehr anspricht, so weiß ich doch noch den Kern und das Wesen der Deutschen zu verehren. Jahn faßt das Volksthum ganz äußerlich; er unterscheidet nicht zwischen dem Schönen und Edeln im Volke, und zwischen dem Schlechten und Gemeinen, nicht zwischen dem Bedeutenden und Unbedeutenden. Jahns Vaterlandsliebe ist Liebhaberei, nicht Liebe. Er liebt nicht das eigentlich Deutsche, sondern das Nichtfranzösische, das Nichtenglische. An der gemeinsten Pöbelredensart, wie der niedrigsten Sitte erfreut er sich zuletzt eben so wie an einem Goethe'schen Liede, wenn es nur eigenthümlich ist und sich von Fremdvölkern unterscheidet. Jahn schätzt die deutsche Spitzbüberei, die deutsche Grobheit und Rohheit, die deutsche Bosheit eben so hoch, wie die deutsche Redlichkeit, die deutsche Bildung, den deutschen Edelmuth. Das ist nicht die rechte Vaterlandsliebe. Wer wollte läugnen, daß man sich auch an alle die kleinen unzähligen Aeußerlichkeiten gewöhnt, aus denen unser tägliches Leben besteht? Auch diese mögen eine Ingredienz der Vaterlandsliebe seyn. Aber sie sind ganz unmittelbar; zu Ideen lassen sie sich nicht erheben, sie lassen sich nicht anpreisen. Wenn ich nach langer Abwesenheit aus Deutschland zuerst einmal wieder einen deutschen Fluch aus dem Munde eines deutschen Postillons höre, so kann mich das vielleicht erfreuen. Aber einen Engländer lieb gewinnen, ihm Freundschaft auf Tod und Leben zu schwören, weil er, nachdem ihm Jahn absichtlich auf den Fuß getreten, statt eines englischen einen deutschen Fluch ausstößt – wie dieses wörtlich im vorliegenden Buche Jahn von sich erzählt – das ist eine Lächerlichkeit, eine Entweihung wirklicher Vaterlandsliebe. Unser Volksthum ist bei unsern großen Männern, in unsern Anlagen, in unserm Streben nach dem Höheren, nicht in unsern Postillons, Eckenstehern oder gar Spitzbuben.

„Der alte Jahn war zu seiner Zeit recht gut; zur Zeit der französischen Herrschaft mochte ein unbedingter Haß bis ins Aeußerliche gegen alles, was fremd war, namentlich zur Aufregung der untern Masse recht am Platze seyn; es mochte gut seyn, daß zur Wahrung unserer Nationalität auch die Gemeinschaft in Nebendingen mit den Franzosen abgelegt würde. Wenn aber Jahn noch heutzutage in Wuth geräth über ein französisches Wort aus deutschem Munde, so ist das wieder eine Lächerlichkeit, ein Hängenbleiben am Aeußern, ein Verkörpertseyn in eine gewisse Manier, die auf uns, wie jede stehengebliebene Bildung und daraus erwachsene Unwahrheit einer tüchtigen Natur, einen peinlichen Eindruck macht.

„Eine gewisse Pietät, und der Wunsch, nicht mißverstanden zu werden, drängt uns aber, auch die großen früheren Verdienste Jahns, die jetzt noch fortwirken, hier anzudeuten. Zuerst hat sich derselbe große Verdienste um die deutsche Sprache erworben. Er ist Meister in treffenden Wortbildungen. Sind viele auch gekünstelt, so sind doch manche so wahr und entsprechen so ganz unserm Bedürfniß, daß sie sich auf der Stelle allgemein eingebürgert, sobald sie aus Jahns Munde gingen. Wir erinnern nur an das Wort „Volksthum“, von dem unsere Leser vielleicht nicht wissen, daß es erst seit dem Jahr 1809 in unserer Sprache existirt; jetzt könnten wir es gar nicht mehr entbehren.

„Jahns Verdienst als Turnlehrer ist ebenfalls höchst bedeutend. Die Idee, durch das Turnen ein ganz neues Geschlecht an Körper und Geist in seinem Sinne zu schaffen, ist eine eben so kolossale, als willkürliche und gewaltsame. Was wollte daraus werden, wenn wir Deutschen lauter Jahns würden? Wahrlich keine angenehme Gesellschaft. Aber die Idee, daß die körperlichen Uebungen der Jugend auch mit einem gewissen Geiste durchdrungen werden müssen, daß auch auf dem Turnplatz eine frische Gesinnung, ein geistiges Streben, Poesie und Jugendlust herrschen müsse, ist eine durchaus wahre und fruchtbare. Der Turngesang, die Turnfahrten, das frische, fröhliche Wander- und Sängerleben der deutschen Jugend hat der alte Jahn mächtig befördert. Schade, daß es von mehreren Seiten später systematisch unterdrückt ward!“

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stand, war das deutsche Volksthum von Jahn. Hierin wehte der feinste Aether des Volksgeistes, die tiefste Verständniß des Deutschthums, die allergeistreichste Vaterlandsliebe. So meinte man. Wer den Geist seines Volks verstehen lernen, wer Vaterlandsliebe sich aneignen wollte, der mußte das Volksthum vom alten Jahn lesen. In jener Zeit hat gewiß auch nicht Einer von uns gewagt, daran zu zweifeln, daß das Volksthum die tiefste Fundgrube für das Verständniß des deutschen Geistes, und daß Jahn der personificirte Urgeist unseres Volks sey. Wenn ich daran zurückdenke, so kann ich mich eines Lächelns nicht enthalten. Was die Jugend doch in ihrer Ehrlichkeit sich selbst vorlügt! in welchen baaren Täuschungen und Einbildungen sie doch lebt! Kein Buch von allen diesen ist gewiß weniger in unsere Seele gedrungen, als eben dieses; keines hat Geist und Gemüth weniger genährt, als dieses. Keiner hatte ein wirkliches, wahres Verhältniß zu ihm, und doch hat gewiß nicht Einer diese Bemerkung zu machen gewagt.</p><lb/>
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[1157/0013] stand, war das deutsche Volksthum von Jahn. Hierin wehte der feinste Aether des Volksgeistes, die tiefste Verständniß des Deutschthums, die allergeistreichste Vaterlandsliebe. So meinte man. Wer den Geist seines Volks verstehen lernen, wer Vaterlandsliebe sich aneignen wollte, der mußte das Volksthum vom alten Jahn lesen. In jener Zeit hat gewiß auch nicht Einer von uns gewagt, daran zu zweifeln, daß das Volksthum die tiefste Fundgrube für das Verständniß des deutschen Geistes, und daß Jahn der personificirte Urgeist unseres Volks sey. Wenn ich daran zurückdenke, so kann ich mich eines Lächelns nicht enthalten. Was die Jugend doch in ihrer Ehrlichkeit sich selbst vorlügt! in welchen baaren Täuschungen und Einbildungen sie doch lebt! Kein Buch von allen diesen ist gewiß weniger in unsere Seele gedrungen, als eben dieses; keines hat Geist und Gemüth weniger genährt, als dieses. Keiner hatte ein wirkliches, wahres Verhältniß zu ihm, und doch hat gewiß nicht Einer diese Bemerkung zu machen gewagt. „Jahns Buch imponirte uns durch seine Seltsamkeit und Paradoxen. Die Idee, daß auch in dem Kleinsten, auch im Aeußerlichsten der Geist des Volks sich abdrücke, diese Idee schien uns allen höchst geistreich und plausibel. Wenn Jahn bei seiner Schilderung des deutschen Volksgeists von den hölzernen Wegweisern an den Landstraßen, von dem Gackelhahn in der Fibel, von tausend Alltäglichkeiten unseres gewöhnlichen Lebens sprach, und diesem eine gewisse Beziehung zu unserer Nationalität gab, so überraschte uns das, und wir ahneten das tiefste Gemüth, das innerste Verständniß dahinter. „Was für eine Kluft liegt doch zwischen jener Bildungsperiode und zwischen unserm jetzigen Standpunkt! Man kann doch daran mit einer gewissen Befriedigung erkennen, daß man fortgeschritten ist. Männer, an denen der leiseste Zweifel früher ein geistiger Hochverrath gewesen, faßt man jetzt ruhig ins Auge, und wagt es, ihnen etwas näher zu treten, um sie zu beschauen. Unzählige Worte und Phrasen, bei denen man sich gar nichts zu denken wagte, aus Furcht sie zu profaniren, haben erst ihre wahre und schöne Bedeutung gewonnen. Man weiß, was man hat und was man genießt, und lügt sich keinen Besitz und keinen Genuß mehr vor, der einem doch nicht zu Gute kommt. Viele Leute jammern freilich über den Verlust ihrer sogenannten Ideale; ich begreife nicht, wie man über den Verlust eines bloßen Phantoms, über den Verlust einer wesenlosen Einbildung, einer Selbstlüge sich grämen kann. Die geschickteste Phantasie kann uns doch nichts Besseres vorgaukeln, als die Wirklichkeit. „Wir haben allerdings manche von unsern Idealen verloren, aber wir haben dafür auch andere wiedergewonnen. Was Arndt anbetrifft, so gestehe ich, daß meine Verehrung für ihn mit der Zeit nur noch gewachsen ist, und ich weiß jetzt auch warum. Den alten Jahn aber, als Sinnbild unserer deutschen Nationalität, habe ich verloren; ich bin an wirklicher Vaterlandsliebe wohl nicht ärmer geworden, wenn ich auch die Jahn'sche aufgegeben habe; wenn mich auch das Jahn'sche Volksthum nicht mehr anspricht, so weiß ich doch noch den Kern und das Wesen der Deutschen zu verehren. Jahn faßt das Volksthum ganz äußerlich; er unterscheidet nicht zwischen dem Schönen und Edeln im Volke, und zwischen dem Schlechten und Gemeinen, nicht zwischen dem Bedeutenden und Unbedeutenden. Jahns Vaterlandsliebe ist Liebhaberei, nicht Liebe. Er liebt nicht das eigentlich Deutsche, sondern das Nichtfranzösische, das Nichtenglische. An der gemeinsten Pöbelredensart, wie der niedrigsten Sitte erfreut er sich zuletzt eben so wie an einem Goethe'schen Liede, wenn es nur eigenthümlich ist und sich von Fremdvölkern unterscheidet. Jahn schätzt die deutsche Spitzbüberei, die deutsche Grobheit und Rohheit, die deutsche Bosheit eben so hoch, wie die deutsche Redlichkeit, die deutsche Bildung, den deutschen Edelmuth. Das ist nicht die rechte Vaterlandsliebe. Wer wollte läugnen, daß man sich auch an alle die kleinen unzähligen Aeußerlichkeiten gewöhnt, aus denen unser tägliches Leben besteht? Auch diese mögen eine Ingredienz der Vaterlandsliebe seyn. Aber sie sind ganz unmittelbar; zu Ideen lassen sie sich nicht erheben, sie lassen sich nicht anpreisen. Wenn ich nach langer Abwesenheit aus Deutschland zuerst einmal wieder einen deutschen Fluch aus dem Munde eines deutschen Postillons höre, so kann mich das vielleicht erfreuen. Aber einen Engländer lieb gewinnen, ihm Freundschaft auf Tod und Leben zu schwören, weil er, nachdem ihm Jahn absichtlich auf den Fuß getreten, statt eines englischen einen deutschen Fluch ausstößt – wie dieses wörtlich im vorliegenden Buche Jahn von sich erzählt – das ist eine Lächerlichkeit, eine Entweihung wirklicher Vaterlandsliebe. Unser Volksthum ist bei unsern großen Männern, in unsern Anlagen, in unserm Streben nach dem Höheren, nicht in unsern Postillons, Eckenstehern oder gar Spitzbuben. „Der alte Jahn war zu seiner Zeit recht gut; zur Zeit der französischen Herrschaft mochte ein unbedingter Haß bis ins Aeußerliche gegen alles, was fremd war, namentlich zur Aufregung der untern Masse recht am Platze seyn; es mochte gut seyn, daß zur Wahrung unserer Nationalität auch die Gemeinschaft in Nebendingen mit den Franzosen abgelegt würde. Wenn aber Jahn noch heutzutage in Wuth geräth über ein französisches Wort aus deutschem Munde, so ist das wieder eine Lächerlichkeit, ein Hängenbleiben am Aeußern, ein Verkörpertseyn in eine gewisse Manier, die auf uns, wie jede stehengebliebene Bildung und daraus erwachsene Unwahrheit einer tüchtigen Natur, einen peinlichen Eindruck macht. „Eine gewisse Pietät, und der Wunsch, nicht mißverstanden zu werden, drängt uns aber, auch die großen früheren Verdienste Jahns, die jetzt noch fortwirken, hier anzudeuten. Zuerst hat sich derselbe große Verdienste um die deutsche Sprache erworben. Er ist Meister in treffenden Wortbildungen. Sind viele auch gekünstelt, so sind doch manche so wahr und entsprechen so ganz unserm Bedürfniß, daß sie sich auf der Stelle allgemein eingebürgert, sobald sie aus Jahns Munde gingen. Wir erinnern nur an das Wort „Volksthum“, von dem unsere Leser vielleicht nicht wissen, daß es erst seit dem Jahr 1809 in unserer Sprache existirt; jetzt könnten wir es gar nicht mehr entbehren. „Jahns Verdienst als Turnlehrer ist ebenfalls höchst bedeutend. Die Idee, durch das Turnen ein ganz neues Geschlecht an Körper und Geist in seinem Sinne zu schaffen, ist eine eben so kolossale, als willkürliche und gewaltsame. Was wollte daraus werden, wenn wir Deutschen lauter Jahns würden? Wahrlich keine angenehme Gesellschaft. Aber die Idee, daß die körperlichen Uebungen der Jugend auch mit einem gewissen Geiste durchdrungen werden müssen, daß auch auf dem Turnplatz eine frische Gesinnung, ein geistiges Streben, Poesie und Jugendlust herrschen müsse, ist eine durchaus wahre und fruchtbare. Der Turngesang, die Turnfahrten, das frische, fröhliche Wander- und Sängerleben der deutschen Jugend hat der alte Jahn mächtig befördert. Schade, daß es von mehreren Seiten später systematisch unterdrückt ward!“

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung. Nr. 145. Augsburg, 24. Mai 1840, S. 1157. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/augsburgerallgemeine_145_18400524/13>, abgerufen am 28.03.2024.