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Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 2. Leipzig, 1858.

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großen, jetzt beendigten holsteinischen Untersuchung ist der Haupt-
angeber nach Amerika befördert worden, um sein Leben vor Ver-
folgungen zu schützen, das aber selbst in der Neuen Welt nicht
hinlänglich vor blutiger Rache geschützt sein mag. Zum mindesten
wird der Sslichener gezinkt, in die Wange geschnitten, um
ihn kenntlich zu machen, und jeden vom Verrathe abzuschrecken.
Auch habe ich in meinen Verhören die überraschendsten Erfah-
rungen gemacht über die enorme Gewalt, welche die bloße Er-
scheinung, das bloße Athemholen eines Räubers, auf seinen zum
Geständniß geneigten Genossen zu machen im Stande ist.

Von diesen furchtbaren Banden wird das Ganze zusammen-
gehalten, in welchem jeder einzelne sich hin und her bewegt, wie
sein Jnteresse, seine Neigung und Sinnlichkeit ihn treibt. Weit
untergeordneter sind die stets gesuchten und geförderten verwandt-
schaftlichen Verhältnisse, welche bunt und wirr durcheinander laufen.
Man braucht nur den Stammbaum eines Gauners, wie den des
Vielmetter bei Grolman, a. a. O., S. 226 fg., oder die inter-
essanten verwandtschaftlichen Beziehungen bei Pfeiffer und Eber-
hard anzusehen, um einen Begriff von dieser ungeheuern Ver-
wandtschaft zu bekommen, durch welche fast das ganze Gauner-
thum unter sich verbunden ist. Bei der tiefen Entsittlichung sind
diese Bande jedoch nur locker und lassen nach, so oft Jnteresse
oder Leidenschaft ins Spiel tritt. Aeltern mishandeln ihre Kinder
auf barbarische Weise und werden von ihren Kindern häufig in
gleicher Weise behandelt. Die Kinder ziehen davon und lassen
die Aeltern hülflos im Stiche, sobald der Trieb zum Stehlen
oder zur Sinnlichkeit erwacht. Die durch Trunkenheit geförderten
und gesteigerten rohen Ausbrüche des Zorns, der Eifersucht, der
Rache führen zu den schmählichsten Excessen, wobei häufig Messer
und Pistole den Ausschlag geben. Aber unmittelbar nach dem Ex-
ceß tritt das alte vertraute Verhältniß ein, und Spuren und
Folgen des Tumults werden sorgfältig verdeckt und verhehlt, um
dem Verrath des Ganzen vorzubeugen. Die sorgfältige Pflege
seiner verwundeten oder erkrankten Genossen, welche sich der
Gauner angelegen sein läßt, ist bei weitem weniger auf Liebe und

großen, jetzt beendigten holſteiniſchen Unterſuchung iſt der Haupt-
angeber nach Amerika befördert worden, um ſein Leben vor Ver-
folgungen zu ſchützen, das aber ſelbſt in der Neuen Welt nicht
hinlänglich vor blutiger Rache geſchützt ſein mag. Zum mindeſten
wird der Sſlichener gezinkt, in die Wange geſchnitten, um
ihn kenntlich zu machen, und jeden vom Verrathe abzuſchrecken.
Auch habe ich in meinen Verhören die überraſchendſten Erfah-
rungen gemacht über die enorme Gewalt, welche die bloße Er-
ſcheinung, das bloße Athemholen eines Räubers, auf ſeinen zum
Geſtändniß geneigten Genoſſen zu machen im Stande iſt.

Von dieſen furchtbaren Banden wird das Ganze zuſammen-
gehalten, in welchem jeder einzelne ſich hin und her bewegt, wie
ſein Jntereſſe, ſeine Neigung und Sinnlichkeit ihn treibt. Weit
untergeordneter ſind die ſtets geſuchten und geförderten verwandt-
ſchaftlichen Verhältniſſe, welche bunt und wirr durcheinander laufen.
Man braucht nur den Stammbaum eines Gauners, wie den des
Vielmetter bei Grolman, a. a. O., S. 226 fg., oder die inter-
eſſanten verwandtſchaftlichen Beziehungen bei Pfeiffer und Eber-
hard anzuſehen, um einen Begriff von dieſer ungeheuern Ver-
wandtſchaft zu bekommen, durch welche faſt das ganze Gauner-
thum unter ſich verbunden iſt. Bei der tiefen Entſittlichung ſind
dieſe Bande jedoch nur locker und laſſen nach, ſo oft Jntereſſe
oder Leidenſchaft ins Spiel tritt. Aeltern mishandeln ihre Kinder
auf barbariſche Weiſe und werden von ihren Kindern häufig in
gleicher Weiſe behandelt. Die Kinder ziehen davon und laſſen
die Aeltern hülflos im Stiche, ſobald der Trieb zum Stehlen
oder zur Sinnlichkeit erwacht. Die durch Trunkenheit geförderten
und geſteigerten rohen Ausbrüche des Zorns, der Eiferſucht, der
Rache führen zu den ſchmählichſten Exceſſen, wobei häufig Meſſer
und Piſtole den Ausſchlag geben. Aber unmittelbar nach dem Ex-
ceß tritt das alte vertraute Verhältniß ein, und Spuren und
Folgen des Tumults werden ſorgfältig verdeckt und verhehlt, um
dem Verrath des Ganzen vorzubeugen. Die ſorgfältige Pflege
ſeiner verwundeten oder erkrankten Genoſſen, welche ſich der
Gauner angelegen ſein läßt, iſt bei weitem weniger auf Liebe und

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[14/0026] großen, jetzt beendigten holſteiniſchen Unterſuchung iſt der Haupt- angeber nach Amerika befördert worden, um ſein Leben vor Ver- folgungen zu ſchützen, das aber ſelbſt in der Neuen Welt nicht hinlänglich vor blutiger Rache geſchützt ſein mag. Zum mindeſten wird der Sſlichener gezinkt, in die Wange geſchnitten, um ihn kenntlich zu machen, und jeden vom Verrathe abzuſchrecken. Auch habe ich in meinen Verhören die überraſchendſten Erfah- rungen gemacht über die enorme Gewalt, welche die bloße Er- ſcheinung, das bloße Athemholen eines Räubers, auf ſeinen zum Geſtändniß geneigten Genoſſen zu machen im Stande iſt. Von dieſen furchtbaren Banden wird das Ganze zuſammen- gehalten, in welchem jeder einzelne ſich hin und her bewegt, wie ſein Jntereſſe, ſeine Neigung und Sinnlichkeit ihn treibt. Weit untergeordneter ſind die ſtets geſuchten und geförderten verwandt- ſchaftlichen Verhältniſſe, welche bunt und wirr durcheinander laufen. Man braucht nur den Stammbaum eines Gauners, wie den des Vielmetter bei Grolman, a. a. O., S. 226 fg., oder die inter- eſſanten verwandtſchaftlichen Beziehungen bei Pfeiffer und Eber- hard anzuſehen, um einen Begriff von dieſer ungeheuern Ver- wandtſchaft zu bekommen, durch welche faſt das ganze Gauner- thum unter ſich verbunden iſt. Bei der tiefen Entſittlichung ſind dieſe Bande jedoch nur locker und laſſen nach, ſo oft Jntereſſe oder Leidenſchaft ins Spiel tritt. Aeltern mishandeln ihre Kinder auf barbariſche Weiſe und werden von ihren Kindern häufig in gleicher Weiſe behandelt. Die Kinder ziehen davon und laſſen die Aeltern hülflos im Stiche, ſobald der Trieb zum Stehlen oder zur Sinnlichkeit erwacht. Die durch Trunkenheit geförderten und geſteigerten rohen Ausbrüche des Zorns, der Eiferſucht, der Rache führen zu den ſchmählichſten Exceſſen, wobei häufig Meſſer und Piſtole den Ausſchlag geben. Aber unmittelbar nach dem Ex- ceß tritt das alte vertraute Verhältniß ein, und Spuren und Folgen des Tumults werden ſorgfältig verdeckt und verhehlt, um dem Verrath des Ganzen vorzubeugen. Die ſorgfältige Pflege ſeiner verwundeten oder erkrankten Genoſſen, welche ſich der Gauner angelegen ſein läßt, iſt bei weitem weniger auf Liebe und

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Zitationshilfe: Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 14. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/avelallemant_gaunerthum02_1858/26>, abgerufen am 25.04.2024.