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Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 2. Leipzig, 1858.

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Freundschaft begründet, als auf der Furcht, daß der schwache und
bewußtlose Genosse zu irgendeinem Verrath Anlaß geben könnte.
Der Todte wird mit Gleichgültigkeit, ja mit Furcht und Abscheu
verlassen, obschon auch hier rührende Züge von Mutterliebe vor-
liegen. Es gibt Beispiele, daß eine Mutter tagelang mit der
Leiche ihres Kindes von Ort zu Ort zog, und sich nicht eher von
derselben trennte, als bis sie ihr mit Gewalt abgenommen wurde.

Soviel zur allgemeinen Skizzirung der gesellschaftlichen Ver-
hältnisse der bunten, beweglichen, schlüpfenden Masse, die erst recht
begriffen werden können, wenn man zu dem bereits in historischer
und literarischer Hinsicht Gegebenen den Gauner in seinen ein-
zelnen Unternehmungen thätig sieht, und vor allem in das wun-
derbare Geheimniß seiner charakteristischen Sprache und Verstän-
digungsweise eindringt.



Zweites Kapitel.
2) Psychologische Wahrnehmungen.

So bunt und wirr das Gaunertreiben seit Jahrhunderten
vor den Augen des geschichtlichen Forschers steht, so geheim und
künstlich das Wesen des Gaunerthums waltet, so deutlich ersieht
man doch aus den geschichtlichen, inquisitorischen und sprachlichen
Offenbarungen, die im Laufe der Jahrhunderte kund geworden
sind, daß das in so vielen Atomen bewegliche Gesammtganze doch
immer einen von dem allmählichen Fortschreiten der social-politi-
schen Verhältnisse abhängigen Gang genommen hat, in welchem
sich das Gaunerthum recht eigentlich zum Gewerbe constituirt hat,
und den man als Conjunctur des Gaunerthums bezeichnen
kann. So begann im frühen Mittelalter des Räuberthum mit
der Wegelagerei auf die Waarenzüge des monopolistischen Han-
dels, bis es, durch die Zeit des Faust- und Fehderechts hindurch,
bei den unablässigen Kriegsbewegungen seine hauptsächlichsten
Repräsentanten in den Landsknechten fand, während schon der

Freundſchaft begründet, als auf der Furcht, daß der ſchwache und
bewußtloſe Genoſſe zu irgendeinem Verrath Anlaß geben könnte.
Der Todte wird mit Gleichgültigkeit, ja mit Furcht und Abſcheu
verlaſſen, obſchon auch hier rührende Züge von Mutterliebe vor-
liegen. Es gibt Beiſpiele, daß eine Mutter tagelang mit der
Leiche ihres Kindes von Ort zu Ort zog, und ſich nicht eher von
derſelben trennte, als bis ſie ihr mit Gewalt abgenommen wurde.

Soviel zur allgemeinen Skizzirung der geſellſchaftlichen Ver-
hältniſſe der bunten, beweglichen, ſchlüpfenden Maſſe, die erſt recht
begriffen werden können, wenn man zu dem bereits in hiſtoriſcher
und literariſcher Hinſicht Gegebenen den Gauner in ſeinen ein-
zelnen Unternehmungen thätig ſieht, und vor allem in das wun-
derbare Geheimniß ſeiner charakteriſtiſchen Sprache und Verſtän-
digungsweiſe eindringt.



Zweites Kapitel.
2) Pſychologiſche Wahrnehmungen.

So bunt und wirr das Gaunertreiben ſeit Jahrhunderten
vor den Augen des geſchichtlichen Forſchers ſteht, ſo geheim und
künſtlich das Weſen des Gaunerthums waltet, ſo deutlich erſieht
man doch aus den geſchichtlichen, inquiſitoriſchen und ſprachlichen
Offenbarungen, die im Laufe der Jahrhunderte kund geworden
ſind, daß das in ſo vielen Atomen bewegliche Geſammtganze doch
immer einen von dem allmählichen Fortſchreiten der ſocial-politi-
ſchen Verhältniſſe abhängigen Gang genommen hat, in welchem
ſich das Gaunerthum recht eigentlich zum Gewerbe conſtituirt hat,
und den man als Conjunctur des Gaunerthums bezeichnen
kann. So begann im frühen Mittelalter des Räuberthum mit
der Wegelagerei auf die Waarenzüge des monopoliſtiſchen Han-
dels, bis es, durch die Zeit des Fauſt- und Fehderechts hindurch,
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[15/0027] Freundſchaft begründet, als auf der Furcht, daß der ſchwache und bewußtloſe Genoſſe zu irgendeinem Verrath Anlaß geben könnte. Der Todte wird mit Gleichgültigkeit, ja mit Furcht und Abſcheu verlaſſen, obſchon auch hier rührende Züge von Mutterliebe vor- liegen. Es gibt Beiſpiele, daß eine Mutter tagelang mit der Leiche ihres Kindes von Ort zu Ort zog, und ſich nicht eher von derſelben trennte, als bis ſie ihr mit Gewalt abgenommen wurde. Soviel zur allgemeinen Skizzirung der geſellſchaftlichen Ver- hältniſſe der bunten, beweglichen, ſchlüpfenden Maſſe, die erſt recht begriffen werden können, wenn man zu dem bereits in hiſtoriſcher und literariſcher Hinſicht Gegebenen den Gauner in ſeinen ein- zelnen Unternehmungen thätig ſieht, und vor allem in das wun- derbare Geheimniß ſeiner charakteriſtiſchen Sprache und Verſtän- digungsweiſe eindringt. Zweites Kapitel. 2) Pſychologiſche Wahrnehmungen. So bunt und wirr das Gaunertreiben ſeit Jahrhunderten vor den Augen des geſchichtlichen Forſchers ſteht, ſo geheim und künſtlich das Weſen des Gaunerthums waltet, ſo deutlich erſieht man doch aus den geſchichtlichen, inquiſitoriſchen und ſprachlichen Offenbarungen, die im Laufe der Jahrhunderte kund geworden ſind, daß das in ſo vielen Atomen bewegliche Geſammtganze doch immer einen von dem allmählichen Fortſchreiten der ſocial-politi- ſchen Verhältniſſe abhängigen Gang genommen hat, in welchem ſich das Gaunerthum recht eigentlich zum Gewerbe conſtituirt hat, und den man als Conjunctur des Gaunerthums bezeichnen kann. So begann im frühen Mittelalter des Räuberthum mit der Wegelagerei auf die Waarenzüge des monopoliſtiſchen Han- dels, bis es, durch die Zeit des Fauſt- und Fehderechts hindurch, bei den unabläſſigen Kriegsbewegungen ſeine hauptſächlichſten Repräſentanten in den Landsknechten fand, während ſchon der

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Zitationshilfe: Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 15. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/avelallemant_gaunerthum02_1858/27>, abgerufen am 28.03.2024.