feinere Betrug durch Simulation eines Gebrechens oder äußer- lichen Nothstandes auf die christliche Barmherzigkeit speculirte oder, bei der dominirenden Gewalt der Hierarchie, durch den Vorschub kirchlicher Pönitenz sich den Weg in das Haus des Bürgers und Landmanns bahnte. So gibt es in der spätern Geschichte unter den unzähligen Ereignissen keine politische Bewegung, keine Um- gestaltung des social-politischen Lebens, bei welchem nicht auch das Gaunerthum seine Conjunctur gefunden hätte. So sind denn auch in neuerer Zeit, seitdem das Kapital immer weiter und mächtiger zu arbeiten angefangen hat, die Nachschlüssel- und Geld- diebstähle, sowie das Chilfen viel häufiger geworden, und auch in kürzerm periodischen Wechsel werden einzelne Jndustrien gleich- zeitig an verschiedenen Orten cultivirt, als gäbe es eine bestimmte Saison für diese oder jene Jndustrie. So waren z. B. die Zefir- gänger im Sommer 1856 vorherrschend im Gange, und zwar gleichzeitig besonders in Berlin, Dresden, Hamburg, Lübeck u. s. w. Bei dieser beweglichen Conjunctur, in welcher man das Gauner- thum recht deutlich als Totalität hervortreten sieht, werden aber auch bestimmte allgemeine Charakterzüge des Gaunerthums sicht- bar, die man weniger an den einzelnen Jndividuen als im pe- riodischen Fortleben des Ganzen beobachten, und die man als allgemeine psychologische Momente bezeichnen kann. So charakterisirt sich das moderne Gaunerthum gegen das frühere auf- fällig durch den Mangel an wirklichem moralischen Muth. Zur Zeit des Faust- und Fehderechts machte der romantische Kampf gegen das bewaffnete Geleite der Waarenzüge die Wege- lagerei sogar mit der Ritterehre verträglich, und die Parteigänge der Landsknechte und der Soldaten des Dreißigjährigen Kriegs 1) wurden als kühne Abenteuer betrieben, bei den es immer auf Entschlossenheit und Tapferkeit ankam. Nachdem es aber der
1) Die vom Grafen von Merode dem Wallenstein zugeführten Soldaten zeichneten sich besonders durch Diebereien und Gewaltthätigkeiten aus, und sind daher dem Wesen und Namen nach die Stammväter der modernen Ma- rodeurs.
feinere Betrug durch Simulation eines Gebrechens oder äußer- lichen Nothſtandes auf die chriſtliche Barmherzigkeit ſpeculirte oder, bei der dominirenden Gewalt der Hierarchie, durch den Vorſchub kirchlicher Pönitenz ſich den Weg in das Haus des Bürgers und Landmanns bahnte. So gibt es in der ſpätern Geſchichte unter den unzähligen Ereigniſſen keine politiſche Bewegung, keine Um- geſtaltung des ſocial-politiſchen Lebens, bei welchem nicht auch das Gaunerthum ſeine Conjunctur gefunden hätte. So ſind denn auch in neuerer Zeit, ſeitdem das Kapital immer weiter und mächtiger zu arbeiten angefangen hat, die Nachſchlüſſel- und Geld- diebſtähle, ſowie das Chilfen viel häufiger geworden, und auch in kürzerm periodiſchen Wechſel werden einzelne Jnduſtrien gleich- zeitig an verſchiedenen Orten cultivirt, als gäbe es eine beſtimmte Saiſon für dieſe oder jene Jnduſtrie. So waren z. B. die Zefir- gänger im Sommer 1856 vorherrſchend im Gange, und zwar gleichzeitig beſonders in Berlin, Dresden, Hamburg, Lübeck u. ſ. w. Bei dieſer beweglichen Conjunctur, in welcher man das Gauner- thum recht deutlich als Totalität hervortreten ſieht, werden aber auch beſtimmte allgemeine Charakterzüge des Gaunerthums ſicht- bar, die man weniger an den einzelnen Jndividuen als im pe- riodiſchen Fortleben des Ganzen beobachten, und die man als allgemeine pſychologiſche Momente bezeichnen kann. So charakteriſirt ſich das moderne Gaunerthum gegen das frühere auf- fällig durch den Mangel an wirklichem moraliſchen Muth. Zur Zeit des Fauſt- und Fehderechts machte der romantiſche Kampf gegen das bewaffnete Geleite der Waarenzüge die Wege- lagerei ſogar mit der Ritterehre verträglich, und die Parteigänge der Landsknechte und der Soldaten des Dreißigjährigen Kriegs 1) wurden als kühne Abenteuer betrieben, bei den es immer auf Entſchloſſenheit und Tapferkeit ankam. Nachdem es aber der
1) Die vom Grafen von Merode dem Wallenſtein zugeführten Soldaten zeichneten ſich beſonders durch Diebereien und Gewaltthätigkeiten aus, und ſind daher dem Weſen und Namen nach die Stammväter der modernen Ma- rodeurs.
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feinere Betrug durch Simulation eines Gebrechens oder äußer-
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kirchlicher Pönitenz ſich den Weg in das Haus des Bürgers und
Landmanns bahnte. So gibt es in der ſpätern Geſchichte unter
den unzähligen Ereigniſſen keine politiſche Bewegung, keine Um-
geſtaltung des ſocial-politiſchen Lebens, bei welchem nicht auch
das Gaunerthum ſeine Conjunctur gefunden hätte. So ſind denn
auch in neuerer Zeit, ſeitdem das Kapital immer weiter und
mächtiger zu arbeiten angefangen hat, die Nachſchlüſſel- und Geld-
diebſtähle, ſowie das Chilfen viel häufiger geworden, und auch
in kürzerm periodiſchen Wechſel werden einzelne Jnduſtrien gleich-
zeitig an verſchiedenen Orten cultivirt, als gäbe es eine beſtimmte
Saiſon für dieſe oder jene Jnduſtrie. So waren z. B. die Zefir-
gänger im Sommer 1856 vorherrſchend im Gange, und zwar
gleichzeitig beſonders in Berlin, Dresden, Hamburg, Lübeck u. ſ. w.
Bei dieſer beweglichen Conjunctur, in welcher man das Gauner-
thum recht deutlich als Totalität hervortreten ſieht, werden aber
auch beſtimmte allgemeine Charakterzüge des Gaunerthums ſicht-
bar, die man weniger an den einzelnen Jndividuen als im pe-
riodiſchen Fortleben des Ganzen beobachten, und die man als
allgemeine pſychologiſche Momente bezeichnen kann. So
charakteriſirt ſich das moderne Gaunerthum gegen das frühere auf-
fällig durch den Mangel an wirklichem moraliſchen Muth.
Zur Zeit des Fauſt- und Fehderechts machte der romantiſche
Kampf gegen das bewaffnete Geleite der Waarenzüge die Wege-
lagerei ſogar mit der Ritterehre verträglich, und die Parteigänge
der Landsknechte und der Soldaten des Dreißigjährigen Kriegs 1)
wurden als kühne Abenteuer betrieben, bei den es immer auf
Entſchloſſenheit und Tapferkeit ankam. Nachdem es aber der
1) Die vom Grafen von Merode dem Wallenſtein zugeführten Soldaten
zeichneten ſich beſonders durch Diebereien und Gewaltthätigkeiten aus, und
ſind daher dem Weſen und Namen nach die Stammväter der modernen Ma-
rodeurs.
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Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 16. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/avelallemant_gaunerthum02_1858/28>, abgerufen am 10.10.2024.
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