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Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 2. Leipzig, 1858.

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um unter dem Nimbus soldatischer Ehre, Zucht und Pflicht sein
feiges Gewerbe zu treiben.

Auf diesen Mangel an moralischem Muth beruht we-
sentlich die Theorie des Baldowerns und die Eintheilung in
jene flüchtigen Gruppen und singuläre Aufgebote der Chaw-
russen
1), um einzelne bestimmte Unternehmungen auszuführen
und nach der Ausführung sich wieder behende in die Masse zu-
rückzuziehen. Die Chawrussen sind stets so groß, daß den Chäwern
Muth und Gelingen gesichert ist, und stets so klein, daß sie nicht
als größere Masse in die Augen fallen und nicht eine zu gering-
fügige Dividende der Diebsbeute für den Einzelnen bedingen, ob-
wol die letztere Rücksicht die untergeordnetere ist. Jene Wahr-
nehmung ist auch für das sogenannte Brennen wichtig. Obwol
das Sslichnen (der Genossenverrath), wie schon gezeigt ist, furcht-
bar gestraft wird, so hat doch wesentlich die Furcht vor Verrath
das Branntweinsgeld zu einer Art Ehrensache und das Brennen
zu einem zunftmäßigen Grußgeben gemacht. Deshalb zahlt der
glückliche Chessen dem fremden Kochemer, der ihn, sein Unter-
nehmen und dessen Erfolg meistens schon eher kennen gelernt hat,
als der Diebstahl ruchbar wird, ohne Anstand diese lästige und
häufig beträchtliche Steuer seiner gaunerischen Thätigkeit, nament-
lich wenn die Brenner Vigilanten sind, denen jener nicht ganz
trauen kann.

Charakteristisch ist noch für das heutige Gaunerthum, daß
die Meuchelmorde und Raubmorde, mit denen früher bei Unter-
nehmungen größerer Räuberbanden gewöhnlich sogleich, ohne die
Gegenwehr abzuwarten, der Anfang gemacht wurde, mindestens
in Norddeutschland selten oder gar nicht mehr vorfallen 2), so

1) Chawrusse, auch Chäwre, von [fremdsprachliches Material - fehlt] (Chawer), der Genosse, Kame-
rad; Femininum [fremdsprachliches Material - fehlt] (Chaweress); [fremdsprachliches Material - fehlt] (Choweress), die Verbindung,
Genossenschaft, Diebsgesellschaft, Diebsverbindung.
2) Eines einzigen Falls neuerer Zeit erinnere ich mich, daß ein von
einer Chawrusse unternommener Diebstahl und Einbruch mit einem Morde
begann, der jedoch wol mehr durch Zufall als durch Vorsatz und Verab-
redung herbeigeführt wurde. Die später am 12. April 1844 zu Stockelsdorf

um unter dem Nimbus ſoldatiſcher Ehre, Zucht und Pflicht ſein
feiges Gewerbe zu treiben.

Auf dieſen Mangel an moraliſchem Muth beruht we-
ſentlich die Theorie des Baldowerns und die Eintheilung in
jene flüchtigen Gruppen und ſinguläre Aufgebote der Chaw-
ruſſen
1), um einzelne beſtimmte Unternehmungen auszuführen
und nach der Ausführung ſich wieder behende in die Maſſe zu-
rückzuziehen. Die Chawruſſen ſind ſtets ſo groß, daß den Chäwern
Muth und Gelingen geſichert iſt, und ſtets ſo klein, daß ſie nicht
als größere Maſſe in die Augen fallen und nicht eine zu gering-
fügige Dividende der Diebsbeute für den Einzelnen bedingen, ob-
wol die letztere Rückſicht die untergeordnetere iſt. Jene Wahr-
nehmung iſt auch für das ſogenannte Brennen wichtig. Obwol
das Sſlichnen (der Genoſſenverrath), wie ſchon gezeigt iſt, furcht-
bar geſtraft wird, ſo hat doch weſentlich die Furcht vor Verrath
das Branntweinsgeld zu einer Art Ehrenſache und das Brennen
zu einem zunftmäßigen Grußgeben gemacht. Deshalb zahlt der
glückliche Cheſſen dem fremden Kochemer, der ihn, ſein Unter-
nehmen und deſſen Erfolg meiſtens ſchon eher kennen gelernt hat,
als der Diebſtahl ruchbar wird, ohne Anſtand dieſe läſtige und
häufig beträchtliche Steuer ſeiner gauneriſchen Thätigkeit, nament-
lich wenn die Brenner Vigilanten ſind, denen jener nicht ganz
trauen kann.

Charakteriſtiſch iſt noch für das heutige Gaunerthum, daß
die Meuchelmorde und Raubmorde, mit denen früher bei Unter-
nehmungen größerer Räuberbanden gewöhnlich ſogleich, ohne die
Gegenwehr abzuwarten, der Anfang gemacht wurde, mindeſtens
in Norddeutſchland ſelten oder gar nicht mehr vorfallen 2), ſo

1) Chawruſſe, auch Chäwre, von [fremdsprachliches Material – fehlt] (Chawer), der Genoſſe, Kame-
rad; Femininum [fremdsprachliches Material – fehlt] (Chaweress); [fremdsprachliches Material – fehlt] (Choweress), die Verbindung,
Genoſſenſchaft, Diebsgeſellſchaft, Diebsverbindung.
2) Eines einzigen Falls neuerer Zeit erinnere ich mich, daß ein von
einer Chawruſſe unternommener Diebſtahl und Einbruch mit einem Morde
begann, der jedoch wol mehr durch Zufall als durch Vorſatz und Verab-
redung herbeigeführt wurde. Die ſpäter am 12. April 1844 zu Stockelsdorf
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[18/0030] um unter dem Nimbus ſoldatiſcher Ehre, Zucht und Pflicht ſein feiges Gewerbe zu treiben. Auf dieſen Mangel an moraliſchem Muth beruht we- ſentlich die Theorie des Baldowerns und die Eintheilung in jene flüchtigen Gruppen und ſinguläre Aufgebote der Chaw- ruſſen 1), um einzelne beſtimmte Unternehmungen auszuführen und nach der Ausführung ſich wieder behende in die Maſſe zu- rückzuziehen. Die Chawruſſen ſind ſtets ſo groß, daß den Chäwern Muth und Gelingen geſichert iſt, und ſtets ſo klein, daß ſie nicht als größere Maſſe in die Augen fallen und nicht eine zu gering- fügige Dividende der Diebsbeute für den Einzelnen bedingen, ob- wol die letztere Rückſicht die untergeordnetere iſt. Jene Wahr- nehmung iſt auch für das ſogenannte Brennen wichtig. Obwol das Sſlichnen (der Genoſſenverrath), wie ſchon gezeigt iſt, furcht- bar geſtraft wird, ſo hat doch weſentlich die Furcht vor Verrath das Branntweinsgeld zu einer Art Ehrenſache und das Brennen zu einem zunftmäßigen Grußgeben gemacht. Deshalb zahlt der glückliche Cheſſen dem fremden Kochemer, der ihn, ſein Unter- nehmen und deſſen Erfolg meiſtens ſchon eher kennen gelernt hat, als der Diebſtahl ruchbar wird, ohne Anſtand dieſe läſtige und häufig beträchtliche Steuer ſeiner gauneriſchen Thätigkeit, nament- lich wenn die Brenner Vigilanten ſind, denen jener nicht ganz trauen kann. Charakteriſtiſch iſt noch für das heutige Gaunerthum, daß die Meuchelmorde und Raubmorde, mit denen früher bei Unter- nehmungen größerer Räuberbanden gewöhnlich ſogleich, ohne die Gegenwehr abzuwarten, der Anfang gemacht wurde, mindeſtens in Norddeutſchland ſelten oder gar nicht mehr vorfallen 2), ſo 1) Chawruſſe, auch Chäwre, von _ (Chawer), der Genoſſe, Kame- rad; Femininum _ (Chaweress); _ (Choweress), die Verbindung, Genoſſenſchaft, Diebsgeſellſchaft, Diebsverbindung. 2) Eines einzigen Falls neuerer Zeit erinnere ich mich, daß ein von einer Chawruſſe unternommener Diebſtahl und Einbruch mit einem Morde begann, der jedoch wol mehr durch Zufall als durch Vorſatz und Verab- redung herbeigeführt wurde. Die ſpäter am 12. April 1844 zu Stockelsdorf

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Zitationshilfe: Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 18. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/avelallemant_gaunerthum02_1858/30>, abgerufen am 29.03.2024.