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Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919.

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die Staatsmaschinerie und ein zynisches Zwangssystem
mündet! Solange wir nicht, anschliessend an die menschlich
reine Tradition unserer wahrhaft Grossen, uns der Irratio-
nalität unseres eigensten Wesens entsinnen, werden wir
nur Spreu im Winde sein, und solange wir die Irrationalität
nicht im Widerspruch des Menschen mit Gott; das Unlogische
aller menschlichen Existenz nicht im Widerspruch des Ideals
mit der Wirklichkeit empfinden; -- solange werden uns
die edelsten Errungenschaften des europäischen Geistes und
aller Menschlichkeit im Götzenglauben an unsere rohe
Ueberlegenheit verschlossen bleiben; solange werden wir
nichts von alledem verstehen, was man gegen uns vorbringt;
solange werden wir Barbaren bleiben trotz aller Anstren-
gungen und Tüchtigkeit.

Man berufe sich doch nicht länger auf die "Göttin
Vernunft", die Abschaffung der Religion und des Gottes-
glaubens durch die Ereignisse von 1793! Die Prinzipien
der französischen Revolution, Freiheit, Gleichheit und
Brüderlichkeit, die weiterwirkten, sind tief christlich und
göttlich. Die Sklavenbefreiung und der Kommunismus, die
in dieser Revolution wieder auflebten, gerade sie sind christ-
lich. Die Evangelisten und die Apostel, die Kirchenväter
und Campanella, Thomas Münzer, die Wiedertäufer und
teilweise die Mönche, die Quäker, die russischen Sektierer,
gerade sie sind Sozialisten 38).

Der christliche Sinn der französischen Revolution konnte
Europa und dem französischen Geiste nicht lange verborgen
bleiben, wenn auch die Aufklärung es war, die den ersten
Anstoss zur Revolution gab. Hat man 1793 die Religion
abgeschafft, so wurde sie 1801 bereits wieder eingeführt
und über die Hälfte der französischen Nation wurde streng
römisch-katholisch. Und war durch die französische Revo-
lution auch ein für allemal das ekklesiastische Dogma
erschüttert, so ist doch die ganze intellektuelle Entwicklung
Frankreichs von 1801 an ein immer bewussteres Sichwieder-

die Staatsmaschinerie und ein zynisches Zwangssystem
mündet! Solange wir nicht, anschliessend an die menschlich
reine Tradition unserer wahrhaft Grossen, uns der Irratio-
nalität unseres eigensten Wesens entsinnen, werden wir
nur Spreu im Winde sein, und solange wir die Irrationalität
nicht im Widerspruch des Menschen mit Gott; das Unlogische
aller menschlichen Existenz nicht im Widerspruch des Ideals
mit der Wirklichkeit empfinden; — solange werden uns
die edelsten Errungenschaften des europäischen Geistes und
aller Menschlichkeit im Götzenglauben an unsere rohe
Ueberlegenheit verschlossen bleiben; solange werden wir
nichts von alledem verstehen, was man gegen uns vorbringt;
solange werden wir Barbaren bleiben trotz aller Anstren-
gungen und Tüchtigkeit.

Man berufe sich doch nicht länger auf die „Göttin
Vernunft“, die Abschaffung der Religion und des Gottes-
glaubens durch die Ereignisse von 1793! Die Prinzipien
der französischen Revolution, Freiheit, Gleichheit und
Brüderlichkeit, die weiterwirkten, sind tief christlich und
göttlich. Die Sklavenbefreiung und der Kommunismus, die
in dieser Revolution wieder auflebten, gerade sie sind christ-
lich. Die Evangelisten und die Apostel, die Kirchenväter
und Campanella, Thomas Münzer, die Wiedertäufer und
teilweise die Mönche, die Quäker, die russischen Sektierer,
gerade sie sind Sozialisten 38).

Der christliche Sinn der französischen Revolution konnte
Europa und dem französischen Geiste nicht lange verborgen
bleiben, wenn auch die Aufklärung es war, die den ersten
Anstoss zur Revolution gab. Hat man 1793 die Religion
abgeschafft, so wurde sie 1801 bereits wieder eingeführt
und über die Hälfte der französischen Nation wurde streng
römisch-katholisch. Und war durch die französische Revo-
lution auch ein für allemal das ekklesiastische Dogma
erschüttert, so ist doch die ganze intellektuelle Entwicklung
Frankreichs von 1801 an ein immer bewussteres Sichwieder-

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[143/0151] die Staatsmaschinerie und ein zynisches Zwangssystem mündet! Solange wir nicht, anschliessend an die menschlich reine Tradition unserer wahrhaft Grossen, uns der Irratio- nalität unseres eigensten Wesens entsinnen, werden wir nur Spreu im Winde sein, und solange wir die Irrationalität nicht im Widerspruch des Menschen mit Gott; das Unlogische aller menschlichen Existenz nicht im Widerspruch des Ideals mit der Wirklichkeit empfinden; — solange werden uns die edelsten Errungenschaften des europäischen Geistes und aller Menschlichkeit im Götzenglauben an unsere rohe Ueberlegenheit verschlossen bleiben; solange werden wir nichts von alledem verstehen, was man gegen uns vorbringt; solange werden wir Barbaren bleiben trotz aller Anstren- gungen und Tüchtigkeit. Man berufe sich doch nicht länger auf die „Göttin Vernunft“, die Abschaffung der Religion und des Gottes- glaubens durch die Ereignisse von 1793! Die Prinzipien der französischen Revolution, Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, die weiterwirkten, sind tief christlich und göttlich. Die Sklavenbefreiung und der Kommunismus, die in dieser Revolution wieder auflebten, gerade sie sind christ- lich. Die Evangelisten und die Apostel, die Kirchenväter und Campanella, Thomas Münzer, die Wiedertäufer und teilweise die Mönche, die Quäker, die russischen Sektierer, gerade sie sind Sozialisten ³⁸⁾ . Der christliche Sinn der französischen Revolution konnte Europa und dem französischen Geiste nicht lange verborgen bleiben, wenn auch die Aufklärung es war, die den ersten Anstoss zur Revolution gab. Hat man 1793 die Religion abgeschafft, so wurde sie 1801 bereits wieder eingeführt und über die Hälfte der französischen Nation wurde streng römisch-katholisch. Und war durch die französische Revo- lution auch ein für allemal das ekklesiastische Dogma erschüttert, so ist doch die ganze intellektuelle Entwicklung Frankreichs von 1801 an ein immer bewussteres Sichwieder-

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Zitationshilfe: Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919, S. 143. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919/151>, abgerufen am 18.04.2024.