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Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919.

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Wenn es einen gemeinsamen Gedanken gab, der alle
Parteien gleichzeitig leitete, so war es der Gedanke der
deutschen Einheit; die republikanische Auffassung jedoch,
die Mazzini den italienischen Einheitsbestrebungen zu verleihen
wusste, war in verschwindender Minderheit. Was wirklich die
Köpfe bewegte, war -- ob man es sich eingestand oder
nicht -- , der napoleonisch-macchiavellistische Kaisergedanke,
dessen Glanz und Gewalt den deutschen Kleinbürger vom
ersten Jahr des Empire an beherrschte. Napoleon rief das
mittelalterliche Hohenstaufentum aus der Rumpelkammer
hervor. Predikanten wie Arndt zählten der Nation an den
Fingern die Heldentaten der Kaiser von Otto bis Konradin
vor, und es handelte sich nur darum, ob Preussen oder
Oesterreich die neue deutsche Einheit und das Kaisertum
"annehmen" würden.

Und wiederum Bakunin über die Revolution von 1848,
-- es ist das Zutreffendste, was über diese Revolution
geäussert wurde: "Wären die deutschen Demokraten
weniger doktrinär und dafür revolutionärer gewesen, als
sie es in Wirklichkeit waren; hätten sie, statt ihr Heil in
National- und Provinzparlamenten zu suchen, die Hand
jener spontanen Bauernbewegung reichen wollen; hätten
sie sich dazu mit dem städtischen Proletariat verbunden, --
so wäre bei der allgemeinen Verwirrung und der voll-
kommenen Ohnmacht, in der sich die Regierungen befanden,
im März und April der Triumph einer ernstlichen Revo-
lution in Deutschland möglich gewesen. Die deutschen
Parlamente von 1848 brachten, was alle Parlamente der
Welt in Zeiten der Revolution bringen: sehr viele Phrasen
und eine Flut wenn nicht direkt reaktionärer, so doch die
Reaktion begünstigender Akte. Die deutschen Parlamente
von 1848 haben für die Freiheit Ernstes und Bleibendes
tatsächlich nicht geleistet. Sie bereiteten im Gegenteil die
Elemente der gegenwärtigen deutschen Einheit vor. Und
so kann man sagen, dass der Pseudorevolutionarismus der

Wenn es einen gemeinsamen Gedanken gab, der alle
Parteien gleichzeitig leitete, so war es der Gedanke der
deutschen Einheit; die republikanische Auffassung jedoch,
die Mazzini den italienischen Einheitsbestrebungen zu verleihen
wusste, war in verschwindender Minderheit. Was wirklich die
Köpfe bewegte, war — ob man es sich eingestand oder
nicht — , der napoleonisch-macchiavellistische Kaisergedanke,
dessen Glanz und Gewalt den deutschen Kleinbürger vom
ersten Jahr des Empire an beherrschte. Napoleon rief das
mittelalterliche Hohenstaufentum aus der Rumpelkammer
hervor. Predikanten wie Arndt zählten der Nation an den
Fingern die Heldentaten der Kaiser von Otto bis Konradin
vor, und es handelte sich nur darum, ob Preussen oder
Oesterreich die neue deutsche Einheit und das Kaisertum
„annehmen“ würden.

Und wiederum Bakunin über die Revolution von 1848,
— es ist das Zutreffendste, was über diese Revolution
geäussert wurde: „Wären die deutschen Demokraten
weniger doktrinär und dafür revolutionärer gewesen, als
sie es in Wirklichkeit waren; hätten sie, statt ihr Heil in
National- und Provinzparlamenten zu suchen, die Hand
jener spontanen Bauernbewegung reichen wollen; hätten
sie sich dazu mit dem städtischen Proletariat verbunden, —
so wäre bei der allgemeinen Verwirrung und der voll-
kommenen Ohnmacht, in der sich die Regierungen befanden,
im März und April der Triumph einer ernstlichen Revo-
lution in Deutschland möglich gewesen. Die deutschen
Parlamente von 1848 brachten, was alle Parlamente der
Welt in Zeiten der Revolution bringen: sehr viele Phrasen
und eine Flut wenn nicht direkt reaktionärer, so doch die
Reaktion begünstigender Akte. Die deutschen Parlamente
von 1848 haben für die Freiheit Ernstes und Bleibendes
tatsächlich nicht geleistet. Sie bereiteten im Gegenteil die
Elemente der gegenwärtigen deutschen Einheit vor. Und
so kann man sagen, dass der Pseudorevolutionarismus der

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[154/0162] Wenn es einen gemeinsamen Gedanken gab, der alle Parteien gleichzeitig leitete, so war es der Gedanke der deutschen Einheit; die republikanische Auffassung jedoch, die Mazzini den italienischen Einheitsbestrebungen zu verleihen wusste, war in verschwindender Minderheit. Was wirklich die Köpfe bewegte, war — ob man es sich eingestand oder nicht — , der napoleonisch-macchiavellistische Kaisergedanke, dessen Glanz und Gewalt den deutschen Kleinbürger vom ersten Jahr des Empire an beherrschte. Napoleon rief das mittelalterliche Hohenstaufentum aus der Rumpelkammer hervor. Predikanten wie Arndt zählten der Nation an den Fingern die Heldentaten der Kaiser von Otto bis Konradin vor, und es handelte sich nur darum, ob Preussen oder Oesterreich die neue deutsche Einheit und das Kaisertum „annehmen“ würden. Und wiederum Bakunin über die Revolution von 1848, — es ist das Zutreffendste, was über diese Revolution geäussert wurde: „Wären die deutschen Demokraten weniger doktrinär und dafür revolutionärer gewesen, als sie es in Wirklichkeit waren; hätten sie, statt ihr Heil in National- und Provinzparlamenten zu suchen, die Hand jener spontanen Bauernbewegung reichen wollen; hätten sie sich dazu mit dem städtischen Proletariat verbunden, — so wäre bei der allgemeinen Verwirrung und der voll- kommenen Ohnmacht, in der sich die Regierungen befanden, im März und April der Triumph einer ernstlichen Revo- lution in Deutschland möglich gewesen. Die deutschen Parlamente von 1848 brachten, was alle Parlamente der Welt in Zeiten der Revolution bringen: sehr viele Phrasen und eine Flut wenn nicht direkt reaktionärer, so doch die Reaktion begünstigender Akte. Die deutschen Parlamente von 1848 haben für die Freiheit Ernstes und Bleibendes tatsächlich nicht geleistet. Sie bereiteten im Gegenteil die Elemente der gegenwärtigen deutschen Einheit vor. Und so kann man sagen, dass der Pseudorevolutionarismus der

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Zitationshilfe: Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919, S. 154. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919/162>, abgerufen am 24.04.2024.