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Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919.

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der volksfremde Kastengeist und die Scholastik sogar der
humanistischen Glanzperiode Deutschlands, deren Repräsen-
tanten Kant, Fichte, Schelling, Humboldt und Hegel in
ihren politischen Spekulationen sämtlich noch von der Bös-
artigkeit und Verworfenheit der Individuen ausgehen, auf
denen der Staat zu errichten ist. Der deutsche Schulmeister,
der die Kriege von 1866 und 1870 gewonnen haben soll,
hütete sich, die liberalistische Attitüde der deutschen Denker
ins Volk und bessere Meinungen vom Volk und der
"Herde" in die hagestolzen Gelehrtenzirkel zu tragen. Es
fehlte an Liebe, Hingabe und Leid. Russische Nihilisten,
Pioniere der Intelligenz für das Volk, gab es in Deutsch-
land nicht. Es gab nur Pedanten, Träumer und Streber.

Und so gebe ich wie zu Beginn so zum Ende in
tiefer Verehrung und Liebe Dostojewsky das Wort, der
1870 aus Dresden an Maikow schreibt: "Die Professoren,
Doctoren und Studenten sind es, die die Aufregung und
das Gezeter machen, nicht das Volk. Ein Gelehrter mit
weissen Haaren schreit: ,Man muss Paris bombardieren!'
So weit brachte sie ihre Albernheit, wenn nicht ihre Wissen-
schaft. Mögen sie immer Gelehrte sein, sie sind darum nicht
weniger kindisch. Eine andere Bemerkung: das Volk kann
hier lesen und schreiben, aber es ist trotzdem unglaublich
ungebildet, stupide, beschränkt und von den niedrigsten
Interessen geleitet". Oder am 5. Februar 1871: "Sie
schreien: ,Jungdeutschland!' Ganz umgekehrt ist es. Sie
sind eine Nation, die ihre Kräfte erschöpft hat, denn sie
bekennt sich zur Schwert-, Blut- und Gewaltidee. Sie hat
nicht die geringste Ahnung, was ein spiritueller Sieg ist,
und sie lacht darüber mit einer soldatischen Brutalität".

Was Dostojewsky in Deutschland sah, war der ver-
wilderte Doctor Faust, die martialische Totenmaske einer
erschöpften Theokratie.

der volksfremde Kastengeist und die Scholastik sogar der
humanistischen Glanzperiode Deutschlands, deren Repräsen-
tanten Kant, Fichte, Schelling, Humboldt und Hegel in
ihren politischen Spekulationen sämtlich noch von der Bös-
artigkeit und Verworfenheit der Individuen ausgehen, auf
denen der Staat zu errichten ist. Der deutsche Schulmeister,
der die Kriege von 1866 und 1870 gewonnen haben soll,
hütete sich, die liberalistische Attitüde der deutschen Denker
ins Volk und bessere Meinungen vom Volk und der
„Herde“ in die hagestolzen Gelehrtenzirkel zu tragen. Es
fehlte an Liebe, Hingabe und Leid. Russische Nihilisten,
Pioniere der Intelligenz für das Volk, gab es in Deutsch-
land nicht. Es gab nur Pedanten, Träumer und Streber.

Und so gebe ich wie zu Beginn so zum Ende in
tiefer Verehrung und Liebe Dostojewsky das Wort, der
1870 aus Dresden an Maikow schreibt: „Die Professoren,
Doctoren und Studenten sind es, die die Aufregung und
das Gezeter machen, nicht das Volk. Ein Gelehrter mit
weissen Haaren schreit: ‚Man muss Paris bombardieren!‘
So weit brachte sie ihre Albernheit, wenn nicht ihre Wissen-
schaft. Mögen sie immer Gelehrte sein, sie sind darum nicht
weniger kindisch. Eine andere Bemerkung: das Volk kann
hier lesen und schreiben, aber es ist trotzdem unglaublich
ungebildet, stupide, beschränkt und von den niedrigsten
Interessen geleitet“. Oder am 5. Februar 1871: „Sie
schreien: ‚Jungdeutschland!‘ Ganz umgekehrt ist es. Sie
sind eine Nation, die ihre Kräfte erschöpft hat, denn sie
bekennt sich zur Schwert-, Blut- und Gewaltidee. Sie hat
nicht die geringste Ahnung, was ein spiritueller Sieg ist,
und sie lacht darüber mit einer soldatischen Brutalität“.

Was Dostojewsky in Deutschland sah, war der ver-
wilderte Doctor Faust, die martialische Totenmaske einer
erschöpften Theokratie.

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[235/0243] der volksfremde Kastengeist und die Scholastik sogar der humanistischen Glanzperiode Deutschlands, deren Repräsen- tanten Kant, Fichte, Schelling, Humboldt und Hegel in ihren politischen Spekulationen sämtlich noch von der Bös- artigkeit und Verworfenheit der Individuen ausgehen, auf denen der Staat zu errichten ist. Der deutsche Schulmeister, der die Kriege von 1866 und 1870 gewonnen haben soll, hütete sich, die liberalistische Attitüde der deutschen Denker ins Volk und bessere Meinungen vom Volk und der „Herde“ in die hagestolzen Gelehrtenzirkel zu tragen. Es fehlte an Liebe, Hingabe und Leid. Russische Nihilisten, Pioniere der Intelligenz für das Volk, gab es in Deutsch- land nicht. Es gab nur Pedanten, Träumer und Streber. Und so gebe ich wie zu Beginn so zum Ende in tiefer Verehrung und Liebe Dostojewsky das Wort, der 1870 aus Dresden an Maikow schreibt: „Die Professoren, Doctoren und Studenten sind es, die die Aufregung und das Gezeter machen, nicht das Volk. Ein Gelehrter mit weissen Haaren schreit: ‚Man muss Paris bombardieren!‘ So weit brachte sie ihre Albernheit, wenn nicht ihre Wissen- schaft. Mögen sie immer Gelehrte sein, sie sind darum nicht weniger kindisch. Eine andere Bemerkung: das Volk kann hier lesen und schreiben, aber es ist trotzdem unglaublich ungebildet, stupide, beschränkt und von den niedrigsten Interessen geleitet“. Oder am 5. Februar 1871: „Sie schreien: ‚Jungdeutschland!‘ Ganz umgekehrt ist es. Sie sind eine Nation, die ihre Kräfte erschöpft hat, denn sie bekennt sich zur Schwert-, Blut- und Gewaltidee. Sie hat nicht die geringste Ahnung, was ein spiritueller Sieg ist, und sie lacht darüber mit einer soldatischen Brutalität“. Was Dostojewsky in Deutschland sah, war der ver- wilderte Doctor Faust, die martialische Totenmaske einer erschöpften Theokratie.

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Zitationshilfe: Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919, S. 235. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919/243>, abgerufen am 29.03.2024.